1879 / 59 p. 2 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 10 Mar 1879 18:00:01 GMT) scan diff

Auf Grund 8§. 12 des Reichsgeseßes gegen die gemein- gefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21. Okto- ber 1878 wird hierdurch zur öffentlihen Kenntniß gebracht, daß die von Carl Hagström herausgegebene Druckschrift „Ar- beiter-Trafktat Nr. 2“ von der unterzeihneten Landes- polizeibehörde na §. 11 des gedahten Gesetzes verboten ist.

Hamburg, den 8. März 1879.

Die Polizeibehörde. Senator Kunhardt.

Bekanntmachung für Seefahrer.

Am 1. April cr. beginnt in Leer-Oftfriesland ein Kursus zur Vorbereitung zum Scbiffer auf großer Fahrt.

Anmeldungen nimmt der Unterzeichnete entgegen.

Leer, den 8. März 1879,

Der Königlich preußische Navigations\{hul-Direktor

für die Provinz Hannover. Der Königliche Navigationëelehrer

Wend tlandt.

ΠJ. B:

Nichtamtliches. Deutsches Meiíich.

Preußen. Berlin, 10. März. Se. Majestät der Kaiser und König empfingen am gestrigen Sonntage den mit der Führung der Grozherzoglih hessishen (25.) Division beauftragten Prinzen Heinrih von Hessen und bei Rhein, Großherzogliche Hoheit.

Heute Vormittag nahmen Allerhöchstdieselben die Meldung des zum Commandeur der 16. Division ernannten General- Lieutenants von Wichmann, sowie die des hier cingetroffenen General-Lieutenants à la suite der Armee Grafen von Kaniß entgegen.

Jhre Majestät die Kaiserin - Königin war vor- gestern in dem Vortrage des Wissenschaftlihen Vereins an- wesend.

Gestern wohnte Allerhöchstdieselbe dem Gottesdienste in der Kapelle des Augusta-Hospitals bei.

Heute war Jhre Majestät in der Kaiserin-Augusta-Stif- tung in Charlottenburg anwesend und besuchte zur Gedächt- nißfeier der Königin Luise das Mausoleum.

Ce

Se. Kaiserlihe und Königliche Hoheit der Kronprinz ist am 5. d. M., Nahmittags gleih nach 5 Uhr, auf der Charingcross-Station in London angekommen. Zum Empfange waren Höchstdemselben der deutsche Botschafter Graf zu Münster mit dem Personal der deutschen Botschaft und im Auf- trage Jhrer Majestät der Königin von Großbritannien der General-Lieutenant Hardinge, ter bei Sr. Kaiserlihen Hoheit zum Ehrendienst befohlen is, nach Dover entgegengereist. Auf dem Perron des Bahnhofes waren zum Empfange Jhre Königlichen Hoheiten die Herzöge von Edinburgh und Connaught, ferner der Herzog von Teck, die Hofdame Gräfin Münster, der Kammerherr Jhrer Kaiserlichen Hoheit der Kronprinzessin Graf Seckendorff, der frühere Großbritannische Militärbevollmächtigte in Berlin, General Walker und an- dere Personen von Rang anwesend, Beim Ausfteigen aus dem Waggon begrüßte Se. Kaiserlihe Hoheit zuerst die

ohen Verwandten, verabschiedete Sih hierauf von dem

irektor der South-Eastern-Railway, der den Zug bis Charingcross geführt hatte, und bestieg demnächst mit Sr. Königlichen Hoheit dem Herzog von Edinburgh den Wagen, um Sich nah Buckingham- Palace zu begeben, wohin Fhre Kaiserlihe und Königlihe Hoheit die Kron- prinzessin seit dem 4. d. M. von Windsor übersiedelt ist, um mit Sr. Kaiserlichen Hoheit bis zum 11. d. M. in London zu residiren. Vor dem Bahnhof hatte sich ein zahlreiches Publikum angesammelt, darunter die Mehrzahl Deutsche, welche den Hohen Gast Fhrer Majestät der Königin mit lauten Hochrufen empfingen.

Der Bundesrath, die vereinigten Aus\s{chüsse de f jelben für Eisenbahnen, Post und Telegraphen und für «Zustizwesen, sowie die vereinigten Ausschüsse für Handel und Verkehr und für Justizwesen hielten heute Sißungen.

Der russische Regierungs-Anzeiger konstatirt in seiner Nummer vom 6. d. M., daß neuerdings in Welikije-Lukc (Gouv. Pskow) und in Kologriw (Gouv. Kostroma) Gerüchte über angeblich vorgekommene Erkrankungen an der Pest verbreitet gewesen und in Saposhok (Gouv. Rjäsan) Befürchtungen für Einschleppung der Pest durch einen an- gereisten Fishhändler hervorgetreten sind. Die in Folge dessen angestellten Untersuhungen hätten jedoch erwiesen, daß in den beiden ersten Fällen die Gerüchte auf andere Krankheits- formen zurüdckzuführen, in leßterem die Befürhtungen durch- aus grundlos waren.

__— Fnnerhalb des Amtsbezirks des deutschen Konsulats in Moskau ist auc in leßter Zeit über verdächtige Krank- beitsfälle nichts bekannt geworden.

Die „Wiener Zeitung“ vom 8. d. Mts. veröffentlicht mit der Ueberschrift „Verdächtiger Todesfall“ folgende der „Politischen Korrespondenz“ entnommene Meldung :

„Laut einer telegraphishen Anzeige des Statthalterei- Präsidiums in Lemberg- is der 60 Jahre alte Israelite Mate Walzer, Pferdehändler aus Rußland, in dem Orte Mielnica, Bezirk Borszczow in Galizien, am 1. d. unter be- denklihen Symptomen erkrankt und am 5. d. Mts. daselbst gestorben. Die Krankheit wurde von dem behandelnden Arzte als Carbuncul erklärt. Defsenungeachtet wurde die strengste Jsolirung der Leiche, dann der Perjonen und Effekten, die mit dem Verstorbenen in Berührung kamen, angeordnet und wurden aus Lemberg drei Aerzte, darunter der Prosector des allgemeinen Krankenhauses, Dr. Feigel, behufs Vornahme der Leichensektion und genauen Konflatirung der Krankheit nah Mielnica entsendet.“

Amtlicher Mittheilung zufolge hat die norwegische Regierung für die aus Finland und den russischen Ostsee-Provinzen in Norwegen eintreffenden Schiffe eine Quarantäne angeordnet.

Der - Gesundheitszustand in Macedonien ist, amt- licher Mittheilung zufolge, im Allgemeinen befriedigend. Die Typhusepidemie in Semikowa ijt im Abnehmen begriffen, au die Sterblichkeit hat fich dort bedeutend vermindert. Jn Serres. find Fälle von Typhus und Blattern vorgekommen, ohne daß jedoch diese Krankheitserscheinungen einen beunruhi- gend epidemischen Charakter angenommen hätten.

Der Gesundheitszustand in Palästina ist, wie aus Jerusalem gemeldet wird, ein durchaus normaler. Man scheint übrigens dort mit Rüdcksicht auf den in diesem Jahre in erhöhtem Maße zu erwartenden Besuch des heiligen Landes durch russishe Pilger besondere Vorsichtsmaßregeln in Aus- siht nehmen zu wollen.

Der internationale Gesundheitsrath in Tanger hat die von ihm \. Z. getroffenen Maßregeln *), wona allen Provenienzen vom Schwarzen und Asowshen Meere sowie vom Griechishen Archipel, und zwar selbst den mit reinem Gesundheitspatent versehenen, die freie Praftik in den marok- kanishen Häfen versagt ist, falls sie niht vorher in einem vorschriftsmäßigen Lazareth einer Quarantäne unterzogen worden sind, neuerdings auf die Provenienzen aus sämmt- lichen Häfen der Türkei, aus Montenegro, Griechenland und Egypten ausgedehnt.

Jm weiteren Verlaufe der vorgestrigen (17.) Sißung seßte der Reichstag die zweite Berathung des Geseßz- entwurfs, betreffend die Feststellung des Reichshaushalts- Etats sür das Etatsiahr 1879/80 fort. Zu Kapitel 2 (fort- dauernde Ausgaben des Reichskanzler-Amtes) Tit. 10 (Ausgaben für Maßregeln gegen die Ninderpest) bemerkte der Abg. von Bethmann-Hollweg (Ober-Barnim), daß die schnelle Wiederkehr der Rinderpest 1877 und 1878 die Frage rehtferiige, ob die bestehen- den Fnstruftivbestimmungen ausreichten. Die revidirte Instruk- tion von 1873 verlange mit Recht energisches Handeln ; er (Redner) möchte hinzufügen : rasches energishes Handeln. Die Fürsorge des preußischenLandwirthschafts-Ministeriums für dasVeterinärwesen lasse zwar die Ausbildung tüchtiger Thierärzte hoffen; doch hange deren sachgemäße Verwendung davon ab, daß auch die Seuchenorte resp. die bedrohten Orte frühzeitiger erkannt würden. Die im §. 4 des Gesetzes von 1869 stipulirte Anzeigepflicht sollte sich deshalb nicht auf E beschränken , sondern schon die Berührung von Vieh mit pestkrankem oder verdächtigen müßte angezeigt werden. Jeder Viehhändler müßte ferner sofort nach Bekanntwerden eines Seuchenheerdes feinen gesammten Bestand und Transport anzeigen. Das Ein- jammeln solher Anzeigen durch den Bundeskommissar - in Hamburg habe im Fahre 1877 die rasche Tilgung der Seuche ermögliht. Der §. 17 der erwähnten Jnstruktion enthalte dagegen einen überflüssigen s{chweren Druck. Die hier vor- geschriebene Bildung von Seuchenbezirken von drei Meilen Durchmesser bewirke eine sehr lästige und kostspielige Beschrän- kung des Verkehrs, namentlich auf dem platten Lande, ohne daß den davon betroffenen Landestheilen eine Entschädigung gewährt werde. Zur Verhütung der Vershleppung auf der Eisenbahn sei ein solcher Bezirk zu eng, mit Bezug auf ander- weitige Vershleppung aber zu weit gegriffen ; denn durch Vieh könne sie nit erfolgen, sofern dessen Ausfuhr aus dem Orte inhibirt werde; durch Menschenverkehr aber sei sie bisher höchstens auf 2 bis 3 Kilometer erfolgt. Der sonst innerhalb des Seuchenheerdes gestattete Transport solle zwar auf be- sondere Erlaubniß freistehen, sie werde aber immer nur für den Export von Rindvieh aus Seuchenbezirken nach einem ganz bestimmten Drt hin, z. B. für die nördlihen Gegenden nah dem Berliner Viehhof gegeben. Dadurh sei der Preis des Viehes auf dem Viehhgf so, gedrückt, daß ohne Schaden neues nicht hingebracht werden könne. Andeterseits könne au dieses Ausfuhrverbot dadurch ganz illusorisch gemacht werden, daß man Vieh nah der nächsten Eisenbahn schaffe und in alle Welt versende. Die Maßregel habe aber bei der jeßigen Rinder- pestinvasion in Folge der Verbreitung dieser kleinen Be- zirke über cinen sehr großen Theil des Landes, über den Um- fang von Regierungsbezirken, ja einer Provinz hinaus den Verkehr für ein volles Vierteljahr lahmgelegt und so der Landwirthschaft {weren Schaden zugefügt. Der 8. 25 des Gesetzes erlaube ferner der Behörde, zur Einschränkung der Rinderpest auch gesundes Vieh zu tödten. Das sei gewiß sehr gut. Aber die im §. 38 der Jnstruktion vorgeschriebene Desinfektion von Ställen, in welchen gesundes Vieh gestanden, koste etwa ebenso viel wie die Tödtung und sci überflüssig, da solhe Ställe niht infizirt gewesen seien. Es bedürfe also theils einer Verschärfung der Maßregeln, theils einer Erleich- terung. Er bitte die Regierung, seine Andeutungen wohl- wollend zu erwägen, sei es behufs Revision der Jnstruftion von 1873, sei es zu einer Novelle zum §8. 4 des Geseßes.

Hierauf ergriff der Reichskanzler Fürst von Bismarck das Wort:

Ich bin dem Herrn Vorredner für seine sabli%e Kritik der Ge- setzgebung, wie fie heute liegt, sehr dankbar und werde anordnen, daß die Rede, die wir so eben gehört haben, bei der Neubearbeitung des Seuchengeseßes und bei der damit zu verbindenden Revision der jeßt gültigen Bestimmungen benußt werde und dazu Anlaß biete, bevor der hberzustellende Geseß-ntvurf in die offentlihe Diskussion im Bundesrathe und im Reichétage gelangen wird, saÞkundige Vertreter der Landwirthschaft, namentlich aus solchen Bezirken, in welchen Seuchenfälle vorgekommen siad und die daber aus eigner Erfahrung beurtheilen können, wo dieser noch wenig probirte Schuh drückt cder niht, daß die hinzugezogen werden mit ih-em gutachtlichen Urtheile. Ih glaube, daß aus der Darlegung des Herrn Vorredners aber doch hervorgeht, daß es für die Be- bandlung der Scuchen, wenn sie einmal unsere Grenze überschritten baben, an Sorgfalt nit fehlt, im Gegentbeil die Sorgfalt vi: lleiht eine zu weit getriebene ist und daher eine Minderung stattzufinden hat. Auf der anderen Seite kann ih mich dem Eindcuck nicht ent- ziehen, daß unsere Grenzen g-:gen die Einschleppung der Seuchen biéher nicht hinreitend ges{ütt find; ich möthte aber bitten, dafür das Reich nicht als verantwortlich anzusehen und die Mängel, die dabei hervortreten, nicht einem Mangel an Sorgfalt von Seiten des Reichs zur Last zu legen. Das Reich hat keine Erekutivmittel und keine eigenen Beamten, um den Grenzshuß zu üben und zu fördern. A selbst die Zollbeamten, die bisher, sei es aus Mangel an Interefse, sei es aus anderen Gründen, nit dem Einscbleppen tes Viehs auf den verbotenen Streden dieselbe Sorgfalt widmen, die sie sonst dem Scbmuggel angedeihen lassen, selbst die Zollbeamten unterliegen in dieser Beziehung nicht der Instruktion des Reiches, sondern der einzelnen Staaten. Es hat mir eizen Eindruck gemacht, der mir manchen Zweifel angeregt hat, wenn ic gesehen habe und aus den Untersfuhungen über die einzelnen Eins&leppungéfälle entnommen babe, daß mit großer Wahrscheinlihkeit Jahr und Tag, ja mehrere Jahre bindurch äuf denselbcn bestimmten Waldpfaden und Furthen die verbotene Einfuhr des Viehes stattgefunden bat, und es scheint mir doch fast unmöglich, daß die patrouillirenden Gen8s- d’armen, die patrouillirenden Grenzbeamten vnd der in seinem Kreise umherfahrende Landrath gar nicht auf den Verdacht kommen sollten, daß dort eine Umgehung der Verbots- geseße, eine Uebertretung der Strafgeseße stattfinden sollte. Ist nun vielleiht die Abneigung gegen irgend eine Art von Denunziation gröoger als die Furt vor der Gefahr der Verseuchung des eigenen

andes, ih weiß niht, woran es liegt, es scheint mir aber absolut unmögli, daß unser Verkehr, wie ih dies angedeutet habe, sich so lange Zeit, wie es der Fall gewesen zu sein sheint, der Kenntniß

*) S. „Reihs-Anz.“ vom 25. v. M]

der zur Beobachtung der Geseßesüberschbreitung angestellten Beamten habe entziehen können. Die neuesten Untersuchungen in Ostpreußen haben ja zur Genüge dargethan, daß Bearite auch selbst von nicht ganz niedrigster Stellung mit falschen Atteîten bei diesen Einschlep- pungen, die uns fo gefährlih gewesen sind, die unsern ganzen Vieh- handel nach England zerstört haben ror der -Hand daß sie dabei mit Ausstellung von falschen Attesten thätig gewesen sind. Welches wird nun die Bestrafung sein dieser Uebertretungen, man finn wobl sagen Angefihts der Kalamität, die dadurch über unser Land berbeigezogen ift, dieser Verbrehen, daß Jemand leicht- finnig, um einen Gewinn zu suchen, das ganze Land der- Gefahr der Seuche aussett? Nun, meine Herren, ich erlaube mir daran zu er- innern, wie das Geseß wegen Bestrafung fahrläisiger oder verbreche- riser Einshleppung von Seuchen vorgebracht wurde, wie außer- ordentlich von der Seite, die für ihre Aufzabe. hält, mehr für den Verbrecher wie für den ehrlihen Mann bei Stellung der Strafsätze si zu interessiren Partei nehmen will ih nit sagen —, aber die mehr Angst haben, daß dem Verbrecher zu viel geschehe, als da- vor, daß die Gefellshaft unzulänglih beschützt sei, es sind die Strafsäßze ganz außerordentlich gemildert worden, so daß sie in ihren Konsfeguenzen kaum noch den nöthigen abs{reckenden Charaiter haben, und i glaube, wir werden durch die Erfahrung dazu g:zwungen ih thue es ja sehr ungern, einen gefaßten Beshluß des Reiché- tags nochmals vorzubrirgen ihn zu ändern, und ih weiß, einen wie \{wierigen Stand ih damit habea würde, aber ih mache darauf aufmerksam, daß die Strafgeseßgebung gegen das verbrecherishe Ein- \{leppen verdächtigen Viehes eine zu milde it und daß wir da späterhin, ib will nit wünschen, daß wir sehr {were Erfahrun- gen maden. Aber wenn si dies häufiger wiederholt, so glaube ih, wird die Mehrheit unter Ihnen sih doc der Pflicht, den Gescbädig- ten zu helfen, niht entziehen fönnen, und wir werden dann vielleidt ein geneigteres Ohr finden. Einstweilen aber möchte i rur bitten, das Reich nicht als verantwortlih anzusehen für diese Einshleppun- gen, für die Mißbräuche, die an der Grenze jedenfalls ftattfinden müßten, um dergleicen ¿u ermöglichen, fondern lieber in den einzel- nen Staaten durch die Landtage der Grerzstaaten und ihre verantwort- lide Verwaltung darüber zu interpelliren, wie dergleichen möglich is. Wir im Reih haben nicht die Mittel, da wir nit einmal über die Zollbeamten ein Verfügungsrecht haben.

_Der Abg. Dr. Lasker erklärte, er wisse wirklich nit, welchen Anlaß der Reichskanzier gehabt habe, sich bei dieser an sih so sahlihen Debatte einer persönlichen Gereizt- heit zu bedienen. Dies hänge zusammen mit den Dingen, die neulich im Reichstage verhandelt seien. Wenn der Reichskanzler von Mitgliedern des Reichstages spreche, die sih mehr des Verbrechens als der öffentlihen Wohlfahrt an- nähmen, und diese Worte offenbar an eine bestimmte Adresse rihte, o sei charafierisirt, von welcher Seite die Anregung zu aufregenden Debatten ohne den geringsten Anlaß gegeben werde. Es sei sehr gut, daß der Reichskanzler einmal auf frisher That erfahre, wie ein fsolhes Verfahren wirke. Die vorgetragenen Thatsachen seien nicht rihtig. Ueber das Marimum der Strafe für solche Vergehen, wie der Reichs- kanzler sie geschildert habe, nämli Zuchthaus bis zu 10 Jahren,

habe von vornherein das vollste Einverständniß bestanden ; es“ F

habe si vielmehr um die Frage gehandelt, wie hohdas Minimum festgeseßt werden sollte. Dabei sei ausdrüdälich exemplifizirt, es handele sich dabei nicht um Personen, die in gewinn- süchtiger Absicht, sondern aus Fahrlässigkeit sih an derartigen Dingen betheiligten. Meine denn der Reichskanzler, daß recht hohe Strafen schon eine gute Geseßgebung ausmachten? Wer aus juristishem Sinn neben dem FJnteresse des Verkehrs auch die Natur des Vergehens zu berücsihtigen wünsche, der hóre aus dem Munde des ersten Beamten des Reiches, er be- günstige mehr das Verbrechen als das Wohl des Landes. Nachdem das Haus habe auseinanderseßen hören , daß es sich um das Maximum der Strafe nicht gehandelt habe, das richterliche Urtheil also vollkommen frei sei, die höchste Strafe so zu erkennen, wie die Regierung jie vorgeschlagen, werde das Haus selbst ein Urtheil fällen können, ob die Worte an- gebracht gewesen seien, welche der Reichskanzler bei dieser Gelegenheit auszusprechen für gut befunden habe.

Der Reichskanzler Fürst von Bismarck erwiderte:

Ich rufe den Reichstag und alle Zuhörer zu Richtern an, wer rubiger und sa{chlicher gesprochen bat, ic oder der Hr. Abg. Lasker. Ich habe mi vollständig innerbalb der saclicden Debaite bewegt, ih habe auch Niemand persönlich genannt, id habe namentlich den Hrn. Abg. Lasker nicht genannt, ich alaube nicht, daß ih einen Namen genannt habe. Wenn der Hr. Abg. Lasker sih zu der Be- zeichnung derer meldet, die den Schuß des Verbrebers gegen Unge- recbtigfkeiten {ärfer accentuiren als den Schuß des ehrlihev Mannes gegen die Verbrecher, so kann ih doch nicht dafür. Außerdem muß ih sagen, daz die Art, wie der Herr Abgeordnete mir einen beleb- renden Verweis giebt, wie ich das {hon öfter von ihm erfahren babe, himmelrweit verschieden ift von der sachlichen Kritik, die ih hier ge- übt hake an der Hand unserer Eejeßgebung und im Interesse der Sicherheit unserer Viebzüchter, und i möche den Vorteurf dem Hrn. Abg. Lasker geradezu zurückgeben, daß ih ihn hier auf frisch:r That ertappe, wie er «ine ganz allgemein sachliche Bemerkung, sofern er dea leisesten Stachel der Kritik für etwas, was er einmal im Leben gethan hat, darin findet, sofort zu einer zornigen Strafrede persönlicher Natur mir gegenüber benußtt, um mir zu beweisen, daß ich irgend Jemand allgemein oder besonders verdächtigt bätte. Ich habe an den Abg. Lasker in dem Augenblick, wo ih spra, gar nicht gedacht, und es wird mir jeßt erst vollständig gegenwärtig, daß er einer der Redner war, der, wenn ih nit irre, den Begriff hineinbrahte. es solle dem- jenigen, der Vieh \{muggelt, die gewinnsühtige Absicht erst nach- gewiesen - werden. (Widerspruch des Abg. Dr. Lasker.) Jch glaube, es steht drin, ih will es nit feft behaupten, aber es [chwebt mir so vor. Ich bin auf diese Spezialien nicht vorbereitet, da ih an den bedauerliden Vorgang einer persöalihen Diskussion mit dem Hrn. Abg. Laëéker beute nit im entferntesten gedaht hatte. Er hat ge- sagt, er hate nur das Minimum heruntergeseßzt. Das ift aber für uniere Richter überhaupt ein regelmäßiges Hervnterseten des Durch- \chnitis der Strafe. Wann wird ein Richter je zum Marimum greifea, che die Spannung nicht so ho getrieben ist in dem öffent- lien Gefühl, wie vielleiht durch die {weren Verbrechen dez vorigen Jahres sie getrieben worden war. Aber in den gewöhnlichen Eigen- thums- und eigennüßigen Verbrechen ift es mir noch nie vorgekommen, daß der Richter sofort zum Marimum greift. Das Minimum her- unterseßen heißt also die Strafe bherunterseßen. Jch glaube auch nit, daß in einer folhen Gesetzgebun', die recht sehc praktischer Natur isffst zum Schuß unserer materiellen Interessen, die Herren Juristen das Hauptwort mitreden folltea, fsond:rn die Interessenten.

Der Abg. Pr. Lasker bemerkte, der Reichskanzler hätte viel ruhiger sprehen fönnen, denn der Abg. von Bethmann- Hollweg habe weder ihn, noch sonst Jemand im Hause pro- vozirt. Dagegen seien alle Mitglieder des Reichstages (nicht er allein, sondern die Mehrheit des-Hauses), welche im vorigen Jahre bemüht gewesen seien, das Minimum herunterzuseßen, durch die Worte des Reichskanzlers provozirt worden, indem derselbe über einen Beschluß des Reichstages gesagt habe, daß es Mitglieder gebe, welhe das Verbrehen mehr s{hüßten als die Wohlfahrt des Landes. Ein solches Verfahren scheine ihm nit mehr übereinzustimmen mit dem psychologish rich- tigen Urtheil, welches er sonst vom Reichskanzler gewohnt set. Er (Redner) habe immer wahrgenommen, daß der Reichs- fanzler, der große Meister der Rede, genau jedes Wort ab-

zumessen wisse, damit es an die rihtige Adresse komme, und stets fehr wohl wisse, wie das Wort {psychologish wirke. Der Reichskanzler habe ferner gejagt, er hätte niht gewußt, daß er (Redner) sih diefer Sache an- nehmen würde. Er wisse nit, ob der Reichskanzler die „Post“ oder „Norddeutsche Allgemeine E Lee; In diesen Blättern sei es jahrelang Mode gewesen, ihn als solchen Mann zu carakterisiren, wie es der Reichskanzler heute ge- than habe. Vielleicht kämen ihm diese Blätter nicht zu Gesicht und er habe von derartigen Artikeln keine Kenntniß. Uebrigens sei er nit allein getroffen, sondern das ganze Haus sei dabei betheiligt. (Rufe rechts: Nein!) Sachlich liege die Angelegen- heit so, daß sein Antrag gar niht angenommen sei, fondern der, welchen die Regierung mit dem übrigen Theil des Hauses vereinbart habe. Die Gefeße nahträglih in dieser Weije kri- tisiren, die Zustimmung der Regierung als eine solche darstellen, die nur wegen eines Nothstandes erfolgt sei, später dem Reichstag allein die Verantwortlichkeit zuzuwälzen, das sei eine Politik, die niemals zum Guten führen fönne, das sei ene mächtige Agitation gegen den Reichstag im Lande. Wenn im Hause „zemand dies Urtheil gegen die Richter gefällt hätte, würde eine große Entrüstung sich kundgegeben haben. Wenn man ferner be- haupte, daß das Minimum herabseßcn so viel bedeute als die Strafe auf das Minimum herabseßen, dann möchte er den Künstler sehen, der noch im Stande wäre, ein Strafgeseß zu machen. Das Minimum sei durchaus nicht niedrig gegriffen ; wenn das Minimum hoch gegriffen sei und in {weren Fällen bis zum Zuchthause gezogen werden könne, dann werde ein Richter \sih gekränkt fühlen, wenn man sage, ein derartiges Strafgeseß habe für ihn die Bedeutung, als ob das Minimum der Strafe die anzuwendende Strafe wäre. Es hätte nah alledem der Objektivität weit mehr gedient, wenn die Dis- kussion si innerhalb der Grenzen gehalten hätte, welche der Abg. von Bethmann-Hollweg ihr gegeben habe, und niht auf Rekriminationen übergegangen wäre, von denen er wiederholt sagen müsse, daß sie ohne Zwang vom Reichskanzler hier geübt worden feien.

Hierauf erklärte der Reichskanzler Fürst von Bismarck:

Fb glauke, die Di-kussion wird überall den Eindruck gemacht baben, daß die Grenze, die der Herr Abgeordnete zuleßt fixicte, nit verlaîen worden wäre, wenn der Herr Abgeordnete niht das Wort ergriffen hätte; erst von dem Augenblickde hat sie meines Erachtens die Grenze, die der Herr Abgeordnete selbs bezeichnete, verlaffen. F habe mi vollständig in sahliben Grenzen bewegt. Der Herr Abgeordnete hängt sih an den einen Auédruck, mit dem ih Diejenigen bezeibnet habe, die stets für die mildesten Strafbestimmungen, für die Herabscßung der Strafbestimmungén find, daran hängt er si, um mich zu kennzeihnen, wie Jemand, der ganzen Kategorien unüberleate Vorwürfe maht. Jch balte das nicht für unüberlegt, sondern balte es für nothwendig, die Auëdrüde so scharf und prägnant zu brauben, daß sie aub im Publikum einen Eindruck machen, um klar zu stellen, daß das Maß von Schuß, auf welches alle ehrlichen Leute Anspru machen, bei der jeßigen Lage der Gesetzgebung uns vit überall gewährt wird, daß unsere Gesetzgebung in ihren Straf- bestimmungen zum großeu Theil zu milde ist. Jch bin außerdem vollständig berechtigt, wenn ich davon s\prehe, Versuche der Gesetzgebung zu erneuern, daß ich mich ohne Nennung irgend eines Namens an diejenige Richtung wende, die meines Érachtens die früher vorgelegten Geseßze in ihrer Wirkung zu sehr abgestumpft hat, tamit die Herren ihrerseits sich der Folgen dessen, was sie ge- than haben, dur diefe ibre Abmindverung recht tlar bewußt werden. Fch weiß nit, nah der Schärfe, mit der der Herr Abgeordnete mich angegriffen hat, muß i allerdings glauben, daß ih das ihm gegen- über nit erreicht habe, aber mir genügt es, wenn ih im Lande und wenn ich in der großen Mehrheit der Abgeordneten dies erreiche. Jh habe Niemand persênlich genannt, Niemand persönli gekränkt, der Herr Abgeordnete hat sehr unerwartet plöglih mit Schärfe und Hestigkeit des Angriffs mir vorgeworfen, meine Politik wäre nicht die ribtige, um zum Ziele zu kommen. Meine Herren, darüber lassen Sie mich selbft urtheilen. Ich weiß sehr gut, wohin ih strebe, und was ich mit diesem Angriff gegen die zu milden Straf- bestimmungen bezwecke, ist mir vollständig klar und wird auch seine Wirkung thun.

Der Abg. Dr. Lasker bemerkte, er habe also die Absicht des Herrn Reichskanzlers richtig beurtheilt und es deswegen für nothwendig gehalten, sofort nahzuweisen, daß die Dar- stellung nicht richtig sei, um den Vorwurf nachzuweisen, als seien die Bestimmungen in dem Geseß gegen Einschleppung der Rinderpest zu milde getroffen.

Der Abg. Dr. H führte aus, er habe auch zu denen gehört, die seiner Zeit für milde Strafen gestimmt hätten, aber er habe sich dabei nur von der Erwägung leiten lassen, daß damit dem Wohle des Landes am Besten gedient werde. Die Aeußerung des Reichskanzlers, daß man für die mangel- haften Maßnahmen zur Abwehr der Seuchen, niht das Reich verantwortlih machen könne, sondern die Jnitiative den Ein- zelstaaten überlassen müsse, veranlasse ihn mit Rücksicht darauf, daß hier vor Allem Preußen in Betracht komme, zu der Bitte an den Reichskanzler, daß er den preußishen Minister-Präsi- denten auf diesen Uebeistand- aufmerksam machen möge.

Hierauf erwiderte der Reichskanzler Fürst von Bismarck:

Im Namen des preußischen Viinister-Präsidenten kann ih dem Herrn Vorredner sagen, daß diese Versuche bereits von mir gemacht worden sind, ih hoffe, mit Erfolz. Ich bitte ihn aber, zu erwägen, daß Pceußen von verschiedenen Ministerien regiert wird, von denen jedes für sein Ressort verantwortlich ist, und daß der Minister-Prä- dent von Preußen keine verfügende Befugniß gegen irgend eines dieser Ressorts hat. Aber dasjenize, was von Seiten des Minister- Präsidenten in Preußen geschehen kann, ist geschehen, und ih hoffe auch, daß es zum Erfolg führen wird. Jch habe nur die Verant- wortlichkeit des Reiches für das, was bisher gcsc{ehen ift, salviren wollen ; die Verantwortlichkeit des preußischen Minister-Präsidenten bitte ih dafür do nicht unmittelbar in Anspruch zu nehmen, nament- lih da ih jeßt mit vollem Recht seit Jahren dort stellvertreten bin und die Identität in dem Grade, wie der Herr Abgeordnete das mit einer ironischen Wendung vorauszuseten scheint, niht mehr zwischen dem Kanzler und dem Ministec-Präsidenten von Preußen stattfindet.

Der Abg. von Behr-Schmoldow ersuchte die Reichsregie- rung, dem Hause demnähst eine Nachweisung zugehen zu lassen über die rihterlihen Urtheile bei Uebertretungen be- treffss der Seuchen-Einshleppung. Es wäre interessant zu er- fahren, auf wie hohe Strafen erkannt sei. Jm Uebrigen möchte er empfehlen, den Lofkalbehörden an der Grenze An- zeigeprämien zur Verfügung zu stellen; denn wenn ein Schmuggler in einer Nacht 30 Thaler verdienen könne, \o werde viel geholfen sein, wenn ein Anderer wisse, durch dessen Anzeige könne er 25 Thaler verdienen.

Der Abg. Saro hielt die Meinung des Abg. Lasker, daß troy eines niedrigen Minimums die Richter doch niht auf ein zu mildes Strafmaß erkennten, nah seinen langjährigen Erfahrungen als Richter und Staats- anwalt nicht für rihtig. Seine Erfahrung habe ihn gelehrt, daß in den meisten Fällen die Richter nur auf das Minimum erkennten und nur in den seltensten Fällen darüber hinaus-

gingen. Er selbst habe als Richter dieser Richtung gehuldigt. Es fkfönnten ja Fälle vorkommen, wo eine humanere Beurthei- lung angezeigt sei, aber in diesen Fällen werde die Königliche Gnade immer das Korrektiv gegen die Härten des Gesetzes sein. Jn seiner Heimath, in Ostpreußen, seien fdie Strafen gegen die Viehshmuggler niht im Einklang mit dem Rechts- bewußtsein der Majorität der Bevölkerung. Die ruf- sishen Behörden, welhe doch dem Reichskanzler zu so vielem Danke verpflichtet wären, gewährten den Deutschen nit die nöthige Rechtshülfe zur Feststellung des Thatbestandes, wie der demnächst in Stallupönen zum Aus- trag kommende große Prozeß beweisen werde. Rußland habe ein zu großes Jnteresse an dem Viehimport nah Preußen. Hierbei müßte selbst bei geringen Kontraventionen eine ab- fsolut abshreckende Strafe als Minimum festgestellt sein, wegen der unheilvollen Konsequenzen, welche hieraus für das Reich und Europa folgen könnten. Die Gnade der Krone werde als Korrektiv genügen. Er könne dem Abg. Lasker nicht bei- pflihten in dem Nimbus, mit dem er das objektive Urtheil des richterlihen Gewissens umgebe. Jn dem Fohannisburger Kreise seien wegen einer Fensterscheibe im Werthe von 20 Pfennigen, die dem Geistlichen oder dem Apotheker einge- worfen seien, 6 Monate Gefängniß erkannt, während Sach- beshädigungen von erheblich höherem Werthe, die anderen Personen zugefügt seien, mit kaum 8 Tagen Strafe geahndet worden seien. i

Der Abg. Richter (Hagen) hielt es für äußerst bedenklich Richtersprüche hier im Hause so zu kritisiren, wie das in leß- ter Zeit unter dem Vortritt des Reichskanzlers geschehen sei. Es sei allerdings ein Vorwurf gegen die Richter, wenn man sage, sie urtheilten allzu human. Namentlich sei es bedenklich, hier einzelne Fälle zum Gegenstand der Kritik zu machen, wie es der Borrebner gethan habe, die man hier nicht auf ihre Nichtigkeit prüfen könne. Wenn der Reichskanzler sich wieder einmal beklage über die gesunkene Achtung der niederen Volks- klassen vor der Autorität der Geseße und der Behörden, dann möge er si erinnern, daß seine Art, die Richter zu kritisiren, nit dazu beitrage, die Achtung vor ihnen zu erhöhen.

Der Abg. Dr. Lasker erklärte, eine Kritik, wie sie der Abg. Saro hier an Richtersprüchen geübt habe, namentlic) wenn sie niht mit der Politik zusammenhingen, sei ihm noch in keinem Parlamente vorgekommen. Der Abg. Saro habe von si selbst gesagt, er habe als Richter einer krankhaften Richtung bei der Abmefsung der Strafe gehuldigt. Für eine krankhafte Richtung in der Rechtsprehung könne man aber feine Geseße machen. Eine absolute Abshreckung, wie sie der Abg. Saro wünsche, sei nur die Todesstrafe. Damit aber das Land erfahre, welhe Strafen auf diejenigen Verbrechen geseßt seien, auf welche der Reichskanzler exemplifizirt habe, führe er dieselben an. (Redner las’ den betreffenden Paragraph vor, in welhem das Minimum der Strafe auf schchs Monate, das Maximum auf zehn Jahre Zuchthaus festgestellt ist.) Bei Berathung dieses Gesetzes sei hervorgehoben und von den Interessenten bestätigt, daß mit Strafen allein gegen den Viehshmuggel nihts gemacht werden könne, es müßten andere Schußmaßregeln ergriffen werden. Der Reichskanzler selbst habe gesagt, daß die deutsche Grenze niht genügend bewacht fei. Es wäre deshalb besser gewesen, dahin die Aufmerksam- feit zu richten, anstatt die Richter mit einer Kritik zu behaften, die sie nicht verdienten. s ;

Der Abg. Saro bemerkte, er sei weit entfernt davon ge- wesen, dem Richterstande, den er sehr hoch shäße, zu nahe zu treten. Er wisse, daß auch von jener Seite Richtersprüche fritisirt worden seien, namentlich des preußischen Ober-Tri- bunals und zwar in einer Weise, die das Ansehen dieses höchsten Gerichtshofes sehr geschädigt habe. Der Richter fei ein Mensch wie jeder andere, und wenn der Abg. Lasker auf einem idealeren Standpunkte stehe als die meisten Richter, dann beweise das, daß seine praktische Auffassung der Ver- hältnisse, wie sie wirkli lägen, weit entfernt sei von der an- derer Menschen.

Die Vosition wurde bewilligt.

Zu Kap. 3, Tit. 1 und 2 (UVeberwahung des Auswan- derungswesens) bemerkte Abg. Lingens, daß ihm die Aus- gaben durchaus nicht den Leistungen entsprechend erschienen, wie auch aus dem vom Reichskommissar erstatteten Berichte her- vorgehe. Jn dieser Denkschrift stehe u. A., es hätten fast keine Schiffe zu Ausstellungen Anlaß gegeben; er möchte do wünschen, daß diese Schiffe, welhe nicht vorschristsmäßig be- funden seien, dem Hause mitgetheilt würden. Fm Uebrigen wies Redner überhaupt auf die Auswanderung hin, welche er als eine Wunde Deutschlands bezeichnete, da niht nur übershüssige Kräfte fortgingen. Die an der Spitze stichenden Staatsmänner sollten den Ursachen der starken Auswanderung nacforschen, um diese Krankheitsersheinungen vershwinden zu machen, welche allen ohne Unterschied des Parteistandpunkts zu gleiher Betrübniß gereichten. Er wünsche einen voll- ständigen Bericht von der Reichsregierung über die Gründe der zunehmenden Auswanderung aus Deutschland und stati- stishe Erhebungen darüber, welhe Provinzen das hauptsäch- lihste Kontingent zu der Zahl der Auswanderer stellten. Sdtließlich rihtete Redner die Frage an die Reichsregierung, ob sie dieser Materie geseßgeberish nahe zu treten gedenke.

Hierauf erwiderte der Reichskanzler Fürst vonBismar ck:

Der Herr Abgeordnete hat den Wunsch ausgesprochen über das Herkommen der Auswanderung je nab den Provinzen, ausz denen fie bervorgebe, nähere statistisch: Au: kunft zu erhalten. Jch halte diefen Wunsch für einen vollkommen berectizten, und werde für seine Er- füllung meinerseits veranlassen, was nothwendig ist. Jch lege um fo mehr Werth darauf, als sich aus dieser Statistik zugleihß die Fraze des Herrn Abgeordneten nah den Gründen, die einen Deutschen ver- anlassen könnten, sein Vaterland zu verlaffen, bis zu einem gewissen Grade beantworten wird. Es wird nämlich aus der Statistik, fo weit sie mir bekannt is, und zwar auch wenn man Jahre in der- selben zurückgreift, der merkwürdige Umstand sih ergeben, daß die meisten Auswanderer aus den am wenigsten bevölkerten Gegenden kommen, und daß diejenigen fast übervölkerten Länder, die vermöge der Entwickelung ihrer Industrie 10000 und mehr Menschen auf der Quadratmeile nähren, ein sehr dürftiges Kontingent bilden. Ich glaube, der Herr Vorredner wird aus feiner fabrik und in- dustriereihen Heimath niht den Eindruck mitbringen, daz dort sehr viele Anwesen von Auswanderern zum Berkauf kamen und die Auswanderer sehr zahlreich waren. Wenn er hingegen in den hauptsächlich auf den Betrieb der Landwirthschzft angewiesenen Pro- vinzen wohnte, so würde diese Wahrnehmung häufiger vorkommen. Bei weitem die meisten der Auswanderer in den leßten Jahren sind aus Mecklenburg, Pommern, Westpreußen, Posen, kurz und gut aus Gegendea, die in vielen Fällen die Zahl von 2000 Menschen auf die Quadratmeile nicht erheblich übersteigen, ja, in den mir bekannten Landstrichen meiner Varziner Heimath kaum 1200 übersteigen, und da gerade war die Auswanderung außerordentli zahlreich. Was ift nun die Ursache davon? Die Ursachen werden uns vielleicht ein- gehender beschäftigen in einigen Monaten, wenn wir die Tariffragen

prüfen, wenn wir die Vertheilung der Lasten prüfen zwisbea der Landwirthschaft und zwischen den übrigen Theilen der Bevölkerung, zwishen der Bevölkerung, die von der Landwirtbschaft lebt, und zwischen der, die niht davon lebt. Ih will auf die Details jeßt nicht räher eingehen, ih will den Hercen und auch dem Dies Vorredner in Bezuz auf seine Anfragen Rende.vous geben ei den Verhandlungen über die wirthschaftlihen Fragen, da werde ih ikm angeben, warum die Bevölkerung der rein landwirth- schaftlihen Provinzen bei uns in höherem Maße auswandere, als die der übervölferten Fadrikgegenden. Ih werde daraus zu dem Schluß kommen, daß einerseits das landwirthschaftlide Gewerbe bei uns durch unser Abgaben- und Steuerwesen und verschiedene andere Einrichtungen ungleich beshw:rt ist. Ih werde ferner zu dem Schluß kommen, daß es für die rein landwirthschaftlichen Gegenden ein Segen sein würde, wenn sie in ihrem Umfange eine entwideltere Industrie fänden, welche sih weiter bilden könnte, so daß beide sich gegenseitig unterstüßen. In den vorwiegend industriellen Gegenden ilt dem Arbeiter die Carrière nicht vers{lofsen, die Carrière zu den böchsten Vorbildern, die \:ine Phantasie ibm stellen kann. Der Mearschallstab, den angebli der franzöfis{?e Soldat in seinem Tor- nister trägt, befindet i dort in der That in der Hütte des Arbei- ters, wenn ih Leute wie Krupp, wie Diergart, wie Borsig, ib könnte viele Andere nennen, Marschälle der Industrie nennen darf, Die Car- rière ift dort nicht vers{lossen, der Arbeiter in der Industrie hat die Möôg- lichkeit, aufzusteigen, er steigt zuerst auf zu dem höheren Tazelohn als besserer Arbeiter, zu dem höheren Wochenlohn, er befkcmmt eine

bessere Anstellung als Contremaitre, als Werkführer, und die Bei- spiele sind nicht fo sehr selten, daß sie nit die Hoffaung u

cines Jeden shmeicheln sollten, daß Einer unter ihnen sib zum leiteaden Beamten, zum Affocié, ja zum Herrn einer grozen Industcie, eines großen Vermögens aufges{wungen hat. Die Hoffnung, deren der Mensch bedarf, daß in dem gewöhnlichen Einerlei des Arbeiterlebens, wenn nicht für ihn, doch für seine Kinder etwas besser werden könne, die verläßt den industriellen Arbeiter niht. Anders ist es in der Landwirthschaft: Der ländliche Arbeiter, wenn er in dem Alter ift, daz er heirathet und nahdenkt über seine Zukunft, so findet er in rein landwirthschaftlihen Gegen“ en, daß die Kluft zwischen ihm und der nächsten Stufe, zu der ec aufsteigen könnte, für eine Ge:eration eine unübersteigliche ift, daß es eine arbeitsame, glüdliche, insofern, als er durch Krankheiten nit zurückgcbrabt und gestört wird, eine in ihrem Erwerb glücklihe Generation erfordert, um den Arkeitec eine Stufe vorwärts zu bringen und ibm zu einem kleinen Eigen- thum eines Anwesens mit einer Dachtraufe, oder w2s ihm felbst gevört, zu einem fleinen Stü eigenen Landes zu verhelfen. Er fiebt vor sich, daß sein Nachbar, der 60 Jahre lang das Gewerbe eines ländlichen Arbeiters getrieben hat, eben in diesem Verhältniß geblieben ist. Eine große Schädigung der Entwickelung der länd- lichen Bcrhältnisse hat in dieser Hinficht die geseßlihe Aufhebung der Grbpacht gebracht, die ein Mittel war, Jemandem leit zu Land zu verhelfen und zu einem unantastbaren Grundbesitz und ein viel leichteres Mittel, als die Theilung von Domainen, die man vor- genommea hat, und wo man die Theilstelle viel zu hoch gegriffen hat, nah dem Urtheil eines Jeden, der die länd- lien Verhältnisse kennt. Wenn man in unseren aus\{ließ- lich landwirthschaftlihen Provinzen den Erwerb von Grund- eigenthum durch das Syftem der Erbpacht, das keine Kapital- anlage erforderte, erleihterte, wenn es upvserer Gesetzgebung später gelingt, Indastrie, die niht eine Konkurrentin de: Landwirtbschaft ijt, in jenen Gegenden zu fördern, so daß P .oduzenten und Abneh- mer für verschiedene Artikel dicht neben einander Avohnen, dann, glaube ih, wird der Herr Vorredner nicht mehr über die hohen Ziffern der Auswanderung klagen. Sie sind ja in den leßten Jah- ren sehr viel vermindert; das hat aber meines Ecachtens keine dauernden Gründe, sie würden unter gewissen Verhältnisien, die ein- seitig au) in Amirika eiatreten könnten, ebenso gut wieder einen Aufihwung nehmen. Ich erlaube mir also dem Herrn Vocredner zu versprechen, daß die statistisben Nachrichten, die ihm fehlen, nach- geliefert werden sollen, und die Absicht au3zusprecen, auf diese Sta- tistif und die Wirkung unserer bisherigen Gesetzgebung auf die Auêëwanderung zurückzukommen, wenn wir die wirth]chaftlihen Fra- gen hier behandeln werden.

Der Abg. Richter (Hagen) erklärte, die Auswanderung sei zweitweise auch aus industriellen Gegenden sehr stark ge- wesen. Die Auswanderung aus ländlichen Bezirken habe aller- dings vielfach ihren Grund in den Schwierigkeiten für den ländlichen Arbeiter, mehr als Arbeiter zu werden und eigenen Besiß zu erwerben. Darin stimme er mit dem Reichskanzler überein. Aber ob die Wiedereinführung der Erbpacht mit der

| damit verfnüpften Gebundenheit ein geignetes Mittel sei, be-

zweifle er. Näher liege es, der zunehmenden Bildung großer ¿Fideifommißgüter, wie sie beispielsweise in Pommern statt- finne und mwelhe durch die geltende Gesehgebung beträhtlich erleihtert werde, in der Geseßgebung ent- gegenzutreten. DadurÞch würden immer mehr Grund- stücke dauernd der Verkäuflihkeit entzogen und die Bil- dung von Latifundien begünstigt. Die Auswanderung in den östlihen Provinzen, besonders Ostpreußens, habe sich vor einigen Jahren vielfach in die industriellen Bezirke im Westen gelenkt. Die große und rasche Ausdehnung der industriellen Anlagen habe dies verursaht. Ehe noch die Männer ihre Familien nahkommen lassen könnten, hätten sich die Verhält- nisse geändert; die Familien seien vielfah der Armenpflege der Gemeinden im Osten anheimgefallen. Ohne die zahl- reihen Schußzölle, namentlih den damals noch bestehenden Eisenzoll, würde jene krankhafte Entwickelung der Fndustrie damals nicht erfolgt sein; die stärkere Konkurrenz des Aus- landes hätte dagegen reagirt. Es sei dies eine Warnung, nit durch Ausbildung des Schutzollsystems ähnliche Na- theile für die Landwirthschaft wieder herbeizuführen. Die neue Wirthschaftspolitik der Regierung werde aller- dings noch weitere Nachtheile mit sich bringen. Die Bevölkerung in Deutschland vermehre fich jährlih um 400 000 Köpfe. Die Aecker vermehrten sih nicht in demjelben Umfange. Es müsse daher immer mehr Getreide eingeführt werden, um die wachsende Bevölkerung zu ernähren. Was jeßt in Deutschland eingeführt werde, reiche nur hin, die Be- völkerungszunahme der leßten 12 Fahre zu ernähren. Lege die Reichsregierung nun auf das Getreide einen Zoll und vertheuere die Lebensmittel, so ershwere sie die Existenz, ver- hindere die natürlihe Entwickelung der Jndustrie und eincr intensiven Landwirthschaft. Die neue Zollpolitik der Regierung müsse grade zu einer vermehrten Auswanderung führen. Ver- theuere man im Lande das Brod, hindere die Einfuhr, #0 gingen die Menschen selbst dorthin, wo die Nahrungsmittel billiger wären und man unter gün})tigeren Verhältnissen leben könne.

Nach einer kurzen Bemerkung des Abg. Lingens, der dem Reichskanzler für die in Aussicht gestellte Berücksichtigung seiner Anregungen dankte, wurde die Diskussion über Kap. 2 geschlossen. n

Bei Kap. 3 („Reihs-Schulkommission“) machte der Abg. Dr. Lucius geltend, daß die Mittelschulen, auf denen aller- dings nur eine fremde Sprache g:lehrt werde, so lange nicht zur rihtigen Entwickelung gelangen könnten, als ihnen nit die Berechtigung zur Ausstellung von Zeugnissen für den ein- jährig-freiwilligen Dienst zuerkannt würde. Es würde damit feineswegs eine N vera des allgemeinen Bildungs- niveaus herbeigeführt werden, da die Abiturienten dec