1895 / 10 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 12 Jan 1895 18:00:01 GMT) scan diff

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Meine Herren, auch ein anderes Blatt, der „Sozialdemokrat*“, wird von Ihnen jeßt abgeleugnet und abgeshüttelt. It das alles in der Zeit, da ih nicht die Ehre gehabt habe, Sie hier zu sehen, anders geworden ?

Im Jahre 1884 sagte der Herr Abg. Bebel am 20. März:

Heute wird das offizielle Parteiorgan der Sozialdemokratie in einer Auflage von so und so viel Exemplaren gedruckt.

Meine Herren, ih glaube niht, daß man im Lande Jhnen das glauben wird, wenn Sie alle diese Sachen von sih weisen und von ih abshütteln wollen. Was man Ihnen glauben wird, ift das: Sie sind viel vorsihtiger geworden. Diese Empfindung habe i, nachdem ich ‘nah vielen Jahren wieder neu in das Haus eintrat. Wie ih vorhin fagte, meine Herren, kommt es aber bei allen den Sachen garnicht darauf an, wer sie s{reibt, sondern darauf, daß sie geschrieben werden, und daß dur solhe Preßerzeugnifse und durch solhe Reden in Versammlungen Aufheßerei getrieben wird. (Sebr ritig! rets.)

Ich fühle deshalb die Verpflichtung, Ihnen nachzuweisen, daß solhe Aufbetereien toto die in der Prefse und in Versammlungen ftattfinden.

Meine Herren, wir haben Ihnen vorgeshlagen, die Glorifikation von Verbrechen und von gewissen Vergehen unter Strafe zu stellen, nicht etwa, um einen neuen Strafgeseßbuh-Paragraphen mehr zu baben, das sei fern, sondern aus dem Bewußtsein und aus dem Ge- fübl beraus, daß durch diese Glorifikation von Verbrechen soviel Unglück im Lande unter dem Volke geschieht, daß der Gesetzgeber mit ftrafgeseßlihen Bestimmungen vorgehen muß. Meine Herren, der Diebstahl wird glorifizier. Es war in einer Versammlung in Halle, wo ein Maler Robert Brandt folgende Aeußerung mate:

Ich kann es dem Arbeiter niht verdenken, wenn er Hunger hat und er sieht, wie er seinen Hunger ftillen kann. Ich werde denjenigen nicht verdammen, der sieht, seinen Hunger zu ftillen, selbs wenn er mit der heutigen Gesellshaft in Konflikt gerathen sollte. Nicht alle baben vielleiht den Muth und Charakter in fi, den Weg des Verbrechens zu beschreiten.

(Bewegung rets.) Nun, meine Herren, die Staatëanwaltschaft ver- suchte hier einzuschreiten. Sie hat kein Glück gehabt. Das Verfahren wurde gegen den Mann nicht eingeleitet. Es ift also festgestellt, daß nah Lage unserer bisberigen Strafgesezgebung jemand ganz öffent- li das aussprechen kann, das Verbrechen zu glorifizieren, zu loben urd anzuvreisen. Meine Herren, Sie werden mir vielleicht sagen : es fommt vor, daß ein Phantast einmal eine solche Aeußerung thut. Wie steht es denn aber mit den Aeußerungen auf dem Parteitage in Halle? Dort wurde laut Protokoll gesagt:

In Bezug auf die Zugehörigkeit zur Partei beantragen wir, daß ehrlose Handlungen gegen die Partei von der Partei aus- schließen. Wir können nicht das, was beute der bürgerlichen Moral als ehrlos gilt, auch für uns reflamieren. (Hört, hört! rechts.) Wenn z. B. jemand aus Noth ein Stück Brot s\tiehlt, so kann uns das noch nicht bestimmen, den Mann von uns zu weisen.

Das ift aus dem Protokoll des Parteitages. Meine Herren, das waren Glorifikationen des Diebstahls. JIch werde Ihnen einige andere Glorifikationen vorlesen.

Die Revolution z. B. wird oft ziemlich unverblümt in Ver- sammlungen und in der Presse glorifiziert. Derjenige, von dem ich mittheilte, daß er freigesprochen sei, sagt an einer anderen Stelle seineèr Rede:

Wie die Gewalt auf der einen Seite, zeigt sh die Gewalt auf der anderen, gleihviel in welher Form. Diese Kämpfer müssen sih unserer Sympathie erfreuen. Ich wenigstens habe keine Neigung, alle diejenigen als die gemeinen Verbreher hinzustellen, ich babe feinen Grund, in diesem Rachenehmenden einen gemeinen Verbrecher zu vermuthen, ih habe auch niht Ursache, einen Wahn- finnigen zu vermuthen, sondern ih fage mir, wer weiß, in welcher Zeit vielleiht einer von Ihnen, die heute hier figen, gezwungen ist, sich an der heutigen Gesellshaft zu rächen.

Meéine Herren, ein weiteres Zitat, was ih als Abgeordneter dieses bohen Hauses hon einmal mitgetheilt habe! Im Jahre 1884 schrieb der „Sozialdemokrat“, der do wenigstens damals nach der vorhin verlesenen Erklärung des Herrn Abg. Bebel offizielles Partei- organ war :

Fa wohl, wir sind staatsgefährlih, denn wir wollen Euch ver- nichten; ja wohl, wir sind Feinde Eures Eigenthums, Eurer Ehre, Eurer Religion und Eurer ganzen Ordnung. Ja wohl, wir sind Revolutionäre und Kommunisten; ja wohl, wir werden der Gewalt mit Gewalt begegnen.

Das is aus dem Blatt „Der Sozialdemokrat“ vom Jahre 1884, Seite 209.

Meine Herren, nun sagen Sie mir: Ja, das sind alte Ge- \chichten von früher her, aber sie find leider immer wieder neu. Weiter schreibt ein Blatt aus der Schweiz Sie werden es viel- Leit auch abschütteln wollen in seiner Nummer vom 8. Januar d. I., also drei Tage alt:

Denn der neue Gewaltmensh, der den großen Tanz der Reaktion anheben foll, wird an der fozialdemokratishen Partei eine Tänzerin finden, in deren robuster Umarmung ihm Hören und Sehen vergehen -foll. Der holde Plan, die „Umsfturzpartei“ wie einen Wurf junger Kaßen zu ersäufen, wird in einer für seine Urheber schrecklihen Enttäushung enden. Man kann die Existenz von Tausenden vernichten, und wir zweifeln gar niht an dem Willen der Reaktion, ihre barbarische Leistungsfähigkeit auf diesem Gebiete zu erproben, aber man wird um so heftigere Schläge von Millionen erhalten. Und diese Millionen kann keine Macht der Welt ver- nichten. Man kann fie aufstacheln, quälen, reizen, aber mit allen Torturen briht man ihre Kraft nicht, sondern stärkt fie. Wir be- glückwünschen die bürgerliche Gesellschafi im voraus zu den angenehmen Zuständen, die sie über sih heraufbeschwören wird, wenn sie sih jeden neuen Tag als wüthende Todfeindin der arbeitenden Klassen offenbart. Und wir können ihr das Kompliment nit versagen, daß fie in ihrer Weise anfängt, Marx zu kapieren: die Gewalt, womit ihr Gewaltmenschen droht, wird die Geburtshelferin der sozialistishen Gesellschaft sein.

Meine Herren, das ist ein Zitat aus neuester Zeit.

Dann, meine Herren, erwähnte vorhin der Abg. Herr von Wolszlegier, dem ih für viele Bemerkungen, die er machte, außer- ordentli dankbar bin, die Zufriedenheit. Er hatte vollständig Recht: die Zufriedenheit ift der {limmste Feind der Sozialdemokratie, und die Unzufriedenheit ihr bester Freund. Meine Herren, ih wollte, daß

zwishen ftaatserhaltenden Parteien das Wort Unzufriedenheit, Streit und Hader auf längere Zeit, weun es nach mir ginge, immerdar begraben würde, und daß man friedlich zusammen wirkte ar den Aufgaben, die zunächst vor der Thür fänd. Meine Herren, der Herr Abg. von Wolszlegier - fprah aúh von bem -sozialdemokratischen Parteitag in Posén. * Es * wär vollständig richtig, als * r hittheilte, daß die eigentlichen Treiber für die sozialdemokratishe Agitatîon ein- gewanderte ‘Deutsche sind. * ‘Es war au richtig, wenn ér“ bemerkte, daß es ibnen theilweise recht s{lecht ergangen ift, aber enfin, fie haben dort eine Partei begründet, die, wenn anders sie ihre Lehren und ihre Erziehung von der deutschen Sozialdemokratie genommen hat, sich recht gut angelernt hat. Ein Bericht des Parteitages, welher am ersten und zweiten Weihnachtêtage des leßten Jahres stattgefunden hat, fing fo an: :

Der Parteitag wurde am 25. Dezember 11 Uhr Vormittags also während der Kirhstunden “(Lachen bei den Sozial- demokraten)

mit einem Hoh auf die internationale revolutionäre Partei dur

dên Genoffen Tischler eröffnet.

Also, meine Herren, sie haben doch wirklich schon etwas gelernt, die

polnishen Sozialdemokraten, und der Herr Abg. von Wolszlegier hat

vollständig Recht das ergiebt das ganze Studium der Agitation în

Posen —, wenn er sagt, dieses Danaergeshenk if keines, was in

Posen groß geworden ift, sondern ist eines, welches uns die deutsche

Sozialdemokratie hineingebraht hat.

Meine Herren, es if weiter an Verbrechen glorifiziert worden in der Presse und in Versammlungen der Meinñeid. Der Meineid ist nah Auffassung des Blattes der Sozialdemokratie eine nicht absolut unebrenhafte Handlung. Es ift ja auch ein Zitat, welches hier |{hon öfters vorgebracht ift. Dergleichen wird doch nur deshalb von Ihnen geschrieben, um diese Auffassung in die Seele Ihrer Leute hinein zu verpflanzen, damit es dort fortwuhern und Frucht tragen soll; es soll den Leuten flar gemaht werden: der Meineid ift keine unehrenhafte Handlung. Meine Herren, auh das mächt gute Schule.

In einem Blatt, vielleiht werden Sie es auch verleugnen wollen es beißt der „Volksbote", ersheint in Stettin und wird ge- druckt im Verlage von Fri Herbert, Stettin, Arendtstr. Nr. 3, ih weiß nicht, ob es der Herr Abgeordnete is —, is vor wenigen Tagen Folgendes veröffentlicht :

Die bürgerlihen Klassen wifsen sehr genau, wie die Sozial- demokraten über einen derartigen Treúeid denken, und wenn die leßteren fih durch einen folhen Zwirnsfaden vom Eintritt ins Parlament abhalten ließen, so wäre das eine riesige Dummheit.

(Hört! bört! rechts.) Ja, meine Herren, ih erinnere Sie noch an

die Verbandlung vom 6. Dezember, wo der Abg. Bebel dem

Abgeordneten von Bennigsen gegenüber sagte: aber führen Sie

doch bier den Eid ein, wir s{wören auch den. In dieser Auffaffung

des Abg. Bebel lag viel.

Meine Herren, es giebt noch andere Verbrechen, die gefeiert werden. Ich weiß nicht, ob Sie heute noch das vertreten, was Sie früher gefagt haben. Der Herr Abg. Bebel hat im Jahre 1870 das ist ja allerdings lange her und der Herr Abgeordnete if ja in- zwischen, wie wir alle, zu Jahren gekommen gesagt:

: Sie können dem Volke nicht mehr einreden, daß, wenn ein Fürst gemordet ift, dies an und für fich ein größerrs Verbrechen wäre, als wenn ein gewöhnliwer Mensh aus der Welt ge- schafft wird.

(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, diese Auf-

fassung, die Herr Bebel im Jahre 1870 ausgesprohen hat, macht

Schule; das geht weiter. Der Herr Abg. Freiherr von Stumm hat

Ihnen vor einigen Tagen bereits mitgetheilt, wie jeßt {on im

Jahreskalender des Jahres 1895 ungefähr 25 Attentate und derartige

Versuche als merkwürdige und s{chöne Gedenktage für das Volk auf-

geführt sind. Warum thun Sie das? Ohne Grund etwas zu thun,

dazu sind Sie viel zu klug. (Zuruf bei den Sozialdemokraten.)

Richtig! um sie niht zu vergessen; der Herr Abg. Stolle hat Recht.

Meine Herren, in Versammlungen und in der Prefse wird sogar ofen die Revolution gepredigt. Der Schloffer Jakob Müller hat in einer Versammlung des s\ozialdemokratishen Vereins folgende Aeuße-

rung gemacht : Wenn man den Staat \{ädigen und untergraben kann, so soll

man es thun.

(Hört, hört! rechts.) Meine Herren, der Herr Staatsanwalt hat leider ein Einschreiten abgelehnt und gesagt, nach dem jeßigen Strafgeseßbuh is das nicht strafbar. Nun, meine Herren, daraus folgt, wenn die Ansicht des Herrn Staatsanwalts richtig ist, daß wir uns alles Ernstes hier zu fragen haben : if da niht die Lüdke, die der frühere Abg. Dr. Hänel in feinen Bemerkungen andeutete? Halten Sie, meine Herren, die Sie Ordnung im Staatsleben haben wollen, es für denkbar, daß in einer öffentlihen Versammlung, ohne daß es gerügt werden kann, gesagt werden darf: wenn man den Staat \hädigen und untergraben kann, foll man es thun?

Meine Herren, am 3. November 1893 in einer Versammlung hat ein Herr Kramer folgende Aeußerungen gemacht, indem er über die jeßige Gesellschaft sprach:

Diese Gesellschaft vershafft sich Genußmittel durch Betrug und Ausbeutung. Der Zeitpunkt für die Arbeiter ift gekommen, wo sie sich zusammenfinden und Rache nehmen müssen an der Ausbeutung: des Kapitals.

Ein Strafverfahren konnte nicht eingeleitet werden, weil der Richter der Ansicht war, daß das bisherige Strafgesezbuh keine Handhabe biete, gegen eine folhe, in öffentlißer Ver- fammlung gethane Aeußerung einzuschreiten. In einer anderen Versammlung wurde gesagt:

Wir müssen Gewalt gegen Gewalt seßen. Die herrshende Klasse, gleihviel, ob sie Dynastie oder Republik ift, giebt nichts beraus. Gegen das Ausbeutungssystem hilft nur Gewalt. Lieber auf den Barrikaden \terben. Wir haben nur unsere Ketten zu

verlieren ! Dies ift nit gestraft worden unter der Angabe, das Strafgesetz- buch hâtte feine Mittel, es zu strafen. Meine Herren, dann zur Abwechselung wieder einmal ein Preß- erzeugniß! In der „Freiheit“ vom 24. November 1894 steht: Nehmt alle Politiker beim Widckel, hängt sie auf, merzt jede Autorität aus, \orgt für eine fröhlihe Himmels- oder Höllenfahrt der Pfaffen, laßt alles über die Klinge springen und sorget dafür, daß dur gemeinsames freiwilliges Wirken und Schaffen alle Be-

dürfnisse der Gesammtheit reihlih befriedigt werden können. Dann

aber verdammt ! nit eher wird die soziale und damit über-

haupt jede wesentliche Streitfrage gelöst sein.

Gottlofe und kommunistisWe Anarchisten habt Ihr zu werden; im Sinne der hiermit gegebenen Prinzipien habt Ihr die Welt umzufrempeln. Wollt Ihr das niht. nun, so hole Gu der Teufel, d. ‘h. dann mögzt Ihr zur Hölle fahren, respektive in einen Zustand versinken, welcher die Hindus von Indien und die Kulis von China schon seit Jahrhunderten foltert. Entweder oder!

(Zwischenrufe bei den Sozialdemokraten.) So die „Freiheit“! Meine Herren, ich habe vorhin \{chon einmal gesagt, daß ich Ihnen das niht alles in die Schuhe schiebe, aber überzeugen Sie si: es ist ge- druckt. Und wenn so etwas gedruckt wird, so ift es empörend, wenn man das muß; im Lande verbreiten \ehen. s

Meine Herren, es giebt aber au Blätter, die hier gedruckt werden Sie beschweren \sich ja immer, wenn ih Zitate aus der „GSretheit" mache —, es haben auch hiesigé Blätter gelernt; die „Freiheit“ hat Schule gemacht. Hier ist ein Blatt, „Der Prole- tarier“ aus Langenbielau. Jch weiß nicht, wie nahe dieses Blatt Ihnen steht. Wenn ih nit irre, ist da ein“Herr August Kühn aus Langenbielau ; wenn mi nicht alles täuscht, ist auch ein Reichstags- Abgeordneter Kühn hier vorhanden. Das Blatt i Nr. 2 dieses Jahrgangs, erschienen Langenbielau, Sonnabend den 5. Januar, also vor drei oder vier Tagen. Es heißt da:

Heilige Ordnung! Segensreihe Himmelstochter! Ja, wenn du in Wahrheit unter uns wandeltest!. Wenn du im Klafsen- staate zu finden wärest! Aber eurè gepriesene Ordnung ist die grenzenloseste, die graufamste Unordnung; euer fo hoch gehaltenes Recht ist nur ein durch Jahrtausende {ih fortpflanzendes , durch sein Alter geheitigtes Unreht; eure tugendhafte Stëte ift die ab- \cheulihste, naturwidrigste Unsitte. : °

Und zum Schluß dieses Artikels, welcher überschrieben ist: „Ordnung, Recht und Sitte“, heißt es:

Ihr \{chwimmt woblig, wie die Enten im Pfubl, in einem Sumvpfe von Niedertraht und Gemeinheit und waget es doch, die zu verlästern, die bemüht sind, der Menschheit eine reinere, beffere Gestaltung, dem Leben einen höheren Inhalt zu geben; die eine wahre Ordnung, ein natürlihes Necht, eine edle Sitte herbeizu- führen mit aller Kraft anstreben. (Sehr s{ön! links.) Doch seid versichert fährt das Blatt fort —, troß alles Sthreiens, trotz aller Unterdrückungêmaßregeln gegen die Zerstörer der „heiligen Weltordnung“ wird doch der Tag erscheinen, wo die alten morschen Pfeiler einer ihrem Ende zustürmenden Geschichtsperiode zusammen- brechen, und wir werden alsdann mit ungeshwähter Kraft auf den Trümmern der alten das Fundament einer neuen, besseren Welt- ordnung errichten. Denn unaufbhaltsam rollt das Rad des Welt- verbängnisses, und Menschenhand vermag es niemalè rückwärts zu drehen.

(Bewegung.) Nun, meine Herren, eins noch! Dieses Blatt, aus dem ih Ihnen eben diese Stellen vorgelesen habe, bat au solch Kalenderlein. Es {eint eine fehr bequeme Art zu sein, in Gestalt von Kalendern derartige Agitationen zu machen. Als ich den zweiten Kalender diefer Art gesehen habe, if mir der Gedanke gekommen: Warum hat man eigentli} den Stempel auf Kalender aufgehoben? Es wäre gut, wenn dieser Stempel noch bestände, wir würden eine Menge Geld haben, und die Herren Sozialdemokraten müßten doch wenigstens ihre paar Groschen Steuern zahlen, falls sie folhe Gedichte in die Welt bringen wcllen. In dem Neujahrêgruß des Kolporteurs für die Abonnenten des „Proletariers* lauten der dritte und vierte Vers:

Seht der Reichen freches Walten,

Wie sie übermüthig schalten

Mit des Volkes Gut und Blut!

Seht, wie ihre feilen Knechte

Treten uns’re Menschenrehte

In den Staub voll Uebermuth!

Laßt uns bess’re Zeit bereiten,

Laßt uns unermüdlih streiten

Für die Wahrheit und das Recht ;

Lüg? und Tücke muß erliegen,

Vorwärts stets zu neuen Siegen,

Bis kein Herr mehr und kein Knecht ! Und so etwas darf unter die Abonnenten des Blattes verbreitet werden!

Meine Herren, das jeßige Strafrecht reiht niht aus. Ich habe Ihnen wiederholte Fälle mitgetheilt, wo seitens der gerihtlihen Behörde eine Verfolgung abgelehnt if, und habe Ihnen auch Fälle angeführt, wo Freisprehung erfolgt i. Jn einer Altonaer Ver- sammlung vom vorigen Jahre hat ein Herr Hartwig geäußert : Gebt mir einen Revolver, und wenn es losgehen soll, hieße ich, oder wenn auf mich das Loos fällt, nehme ich auch eine Bombe zum Werfen. Dies ift in öffentliher Versammlung gesagt. Nach Lage unserer Gesetzgebung hat die Staatsanwaltschaft aber nicht ein- schreiten können. Meine Herren , eins läßt befonders tief blicken in dieser Aeußerung des Herrn Hartwig, die Bemerkung nämlih: wenn mich das Loos treffen sollte. Mir is niht recht verständlich, was damit gemeint ist; vielleiht kann der Herr Abg. Frohme, der nah mir \priht, mih darüber aufklären.

Nun, meine Herren, der Herr Abg. Barth wolle es mir nit ungnädig nehmen, wenn ich folhen Aeußerungen gegenüber sage, daß seine gestrige Bemerkung doch nicht ganz zutrifft, wo er sagte: was sind denn das? Revolutionäre Redensarten, überschäumende Redensarten, die doch nur eine untergeordnete Rolle spielen! Diese Ansiht des Herrn Abg. Barth kann ih allerdings *nicht theilen. Weiter bemerkte er: die Sozialdemokraten müßten doch in der That gewaltige Esel sein, wenn sie einen gewaltsamen Umsturz provozieren wollten. Ja, ih glaube auch, Herr Barth hat darin Recht, daß die Sozialdemokraten den gewaltsamen Umsturz niht proklamieren. Aber bedenktlich möchte ih doch fragen: Haben Sie, die Herren Führer, die jeßt die Partei leiten, Ihre Leute auch dauernd in der Hand? Sind Sie sicher, daß nicht über Ihre Köpfe hinweg gewaltsamer Umsturz versucht wird, wo Sie vielleiht als die ersten Opfer fallen ? (Sehr gut ! rechts; Ach! links.)

Meine Herren, welhe Wirkung solhe Glorifikationen theils in der Preffe, theils in Versammlungen haben, darüber habe ich, glaube ih, nicht eine einseitige Ansicht. Ich zitiere da wieder den früheren Herrn Abg. Hänel, Professor in Kiel, der sagt:

Wir müfsen allerdings zugestehen, daß gewisse Verherrlihungen von Verbrechen, von Attentaten, daß gewisse Glorifikationen des

Widerftandes, der Geseßwidrigkeiten der Revolution allerdings in Naturen, welhe verbreherisch oder fanatisch angelegt sind, die Präbisposition“ zur Begehung derartiger Verbrechen nähren oder verftärken können. Das if zweifellos, das kann niemand leugnen. So sagte Herr Hänel im Jahre 1884! 0 Der Herr Abg. Gröber bemerkte zum § 130: den müssen wir ganz ablehnen, “denn es ist {wer zu definieren: was ist im Sinne eines solhen Paragraphen Religion, Ehe, Familie, Monarchie, Eigenthum? Bei allen Angriffen auf § 130 von ven verschiedensten Seiten i aber eins übersehen oder nah meiner Auffassung niht genügend klar hervorgehoben worden. Det Paragraph lautet nämlih niht, wie es in der ganzen Diskussion den Anschein hatte: dieselbe Strafe trifft denjenigen, welher Religion, Monarchie, Ehe, Familie, Eigenthum dur beschimpfende Aeußerungen öffentlih angreift, sondern er besagt: Wer in einer den öffent- lihen Frieden gefährdenden Weise Religion, Monarchie u. f w. Ih weiß nicht, welher der Herren Abgeordneten es war, der von dem Buche Kain von Byron spra, gegen das auch

' strafrechtlich eingeshritten werden könnte. Jch glaube, kein preußischer

Richter , und am allerwenigsten der Herr Abg. Munckel, würde als Jurist auf den Gedanken kommen , daß durch Verhberrlihung des Brudermordes Abel’s in einem solchen Buche der öffentlihe Frieden gefährdet würde. Ferner wurde ich weiß niht, von welhem Ab- geordneten Schiller's „Tell“ zitiert. Jh glaube auch, kein preußischer oder deutsher Richter würde zu der Auffassung gelangen, daß dur solhe Werke der öffentliche Frieden gestört werde. (Zurufe bei den Sozialdemokraten.)

Also das punctum saliens in dem § 130 ist, daß diese Be- shimpfung von Religion, Monarchie, Ehe, Familie und Eigenthum in der bezeihneten qualifizierten Weise geshehen muß, wenn anders sie strafbar sein soll. Der Herr Abg. Munckel sagte ferner: Was wollen wir? Die bestehende Monarchie brauht nicht ges{hüßt zu werden, die ift {hon durch vershiedene Paragraphen des Strafgesetz- bus geschüßt. Dem ist eben niht so. Es passieren auch in Bezug auf Majestätsbeleidigungen viele Sächen, die nah dem Strafgesetbuh zur Zeit nit gestraft werden können. Herr Auer sagte in scinen Ausführungen: was ist denn los, warum taucht auf einmal das Be- dürfniß auf, die Monarchie als Institution zu {üßen? Ja, meine Herren, früher ist kein Mensch auf die Idee gekommen, s\trafgeseßlih die Monarchie anders {ügen zu wollen, als wie es im Straf- geseßbuch steht; aber, meine Herren, seitdem haben \sich die Zeiten geändert. Nicht wir, die wir die Vorlage machen, sind die Angreifer, Sie ih meine niht die Herren im Hause diejenigen, die draußen solche Artikel \hreiben, oder in Versammlungen derartige Töne an- shlagen, find die Angreifer. Leßtere greifen die Monarchie als Staats- form an, urd wir, die verbündeten Regierungen, finden uns in der Lage, den Schuß des Geseyes anzurufen, um diese Angriffe, die früher kein Mensch kannte, die jeßt aber Mode geworden sind, in an- gemefsener Weise durh das Strafgeseßbuh zurückzuweisen.

Wenn Sie etwa fragen: was sind eigentlih für Angriffe auf die Monarchie erfolgt ? so will ich Ihnen einmal einen Artikel vorlesen, dessen Verfasser ih, wenn ih Richter wäre und eine geeignete Straf- bestimmung hätte, zweifellos verurtheilen würde. Der Artikel steht in der „Freiheit" vom 15. Dezember des abgelaufenen Jahres, und es heißt dort in Beziehung auf die Monarqie:

Will jemand im Ernste behaupten, daß dieselbe eine Ein- rihtung sei, welWe man in ganz Europa auch nur einen einzigen Tag länger ertragen würde, wenn man in der Lage wäre, ohne besondere Kraftanwendung resp. durch bloße Willensäußerung diefelbe zu beseitigen? Jedem kommt die Gottesgnäderei nicht nur lästig, sondern au läherlich vor; troßdem thut man allgemein, als sei man loyal und gut königlih-kaiserlih gesinnt.

Den Schlußsaß kann ich leider nicht vorlesen, das verbieten mir der Anstand und die Rücksicht auf das hohe Haus. Meine Herren, in einer Versammlung vom 12. Februar 1890 hat ein Herr Hille in Frankfurt a. M. die Kaiserlichen Erlasse, betreffend die Arbeiter- shußgeseßgebung, als Wipphen und Wahlmanöver bezeihnet. Man hat niht gegen ihn einschreiten können, weil das Strafgeseßbuh keine Handhabe dazu bietet. Meine Herren, Ehe und Familie wird E als vorsündfluthliher Unflath. Es steht in demselben

latte :

Ob man die Monarchie, die Ehe, die Familie, den Staat, das Eigenthum, die Religion und einigen vorsündfluthlichen Unflath kritisieren darf oder nit, das hat mit dem Kulturfortgang in der Welt absolut nichts zu schaffen.

Meine Herren, auch Patriotismus, Vaterlandsliebe wird in solchen Blättern lächerlih gemacht. Man \priht von dem Patriotismus als bon dem dritten Zinken an der Mistgabel dieser Unkultur. (Heiterkeit) Meine Herren, das macht Schule, solhe Sachen. Hier if neulich in Berlin ein Genosse, der \sich als Drehorgelspieler ernährte, veranlaßt worden, entweder von seiner Drehorgel die beiden Lieder „Die Watt am Rhein“ und „Jh bin ein Preuße“ fortzunehmen, oder aus der Partei auszutreten. Der Mann hat, glaube ih, seine Drehorgel umarbeiten lassen müssen, um seine Genossen zu befriedigen.

Meine Herren, ich komme nun zu der allerärgsten Art von Beschimpfung und Lästerung- in der Presse und in Versammlungen : zu den meiner Auffassung nah den öffentlichen Frieden gefährdenden Beschimpfungen der Religion. Jh fange da mit einer Stelle an, die mir zufällig gestern in die Hand gekommen ist, aber ret bezeihnend ist. In Sagan-Sprottau wird in einem fozialistishen Verein zu Anfang des neuen Jahres ein neues Protokollbuch bei Aufnahme neuer Mitglieder eingeweiht, und da findet zufällig einer der Genossen, daß, wie das in folhen Büchern sehr häufig der Fall is Sie Alle werden es ja kennen —, auf dem ersten Blatt die Worte „Mit Gott“ stehen. Jch will nun nichts dagegen sagen, wenn Sie es ein- fah herausgeschnitten hätten; aber es ift ein ausdrüÆliher Beschluß gefaßt worden, daß dieses Blatt entfernt werden müsse. Meine Herren, das ist bezeichnend.

Am 8. Mai 1892 in einer Versammlung in Frankfurt a. M. hat der Banquier Adolf Baumann folgende Aeußerung gemacht:

Schmeißt alle Lehren von der Religion zum Teufel! Der Glaube an ein höheres Wesen ift erfunden, das Vorhandensein 5 Paradieses, des Jenseits, der Hölle u. \. w. ist alles dummes

eug.

Aus § 166 des Strafgeseßbuhes wurde versuht gegen ihn einzu- shreiten, das Verfahren hat eingestellt werden müssen.

Ein Herr Braun hat in einer andern Versammlung am 12. Juli 1893 gesagt :

Wie kann es einen-allmähtigen, allwifsenden Gott geben, der zuläßt, daß Menschen 15 Jahre unschuldig in Zuchthäusern sigen ? Es ift eine Dummheit, das zu glauben. O

Das Strafverfahren, welches aus § 166 versucht wurde einzuleiten, hat ebenfalls eingestellt werden müssen.

Meine Herren, die „Freiheit* sagt über die Religion Folgendes :

Aehnlich liegen die Dinge binsihtlih der Religion. Wer niht ein bloßes Thier ist und damit überhaupt kein Vermögen hat, über irgend welche Attentate auf die gesunde Vernunft nazu- denken, wer Mensh im eigentlihen Sinne des Wortes ist, kann feine Religion haben. Nichtsdestoweniger führt man weit und breit den Herrgott im Munde und giebt \ich den Anstrich, als glaubte man“ an Himmel und Hölle; das if nichts Anderes als Verlogenheit, sei es aus Anpassung an - das Herkömmliche, oder fei-es und das kommt in erster Linie in Betrat aus Geschäftsrüsichten.

Meine Herren, aber niht nur in Versammlungen und unter den älteren und erwahsenen Leuten maten diese Sachen Propaganda, nein, fie fangen auch jeßt an, das unschuldige Gemüth der Kinder mit dem Gift, welches sie in ihre Herzen einträufeln, in frühefter Jugend zu vergiften oder, wie Sie (zu den Sozialdemokraten) sagen werden: auf ihren späteren Beruf vorzubereiten. (Zuruf.) Auf- zuklären! (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)

Nun, meine Herren, frage ich und da wende ih mi nit an die Partei, von der mir soeben zugerufen wurde, sondern an die anderen —: ift das Aufklärung ?

Ich werde hier auf den Tish des Hauses, wenn der Herr Präsident es mir gestattet, ein Buch legen, welches als Weihnachts- gabe für die Kinder bestimmt ist. Zunächst das Bild auf dem Deckel. Sie sehen dort eine weiblihe Person, über ihrem Kopfe geschrieben das Wort: Wahrheit; in der Hand eine Brandfackel, herum lauter kleine Kinder und um den Glorienshein der Person die Aufschrift: Lasset die Kindlein zu mir kommen. (Zurufe rets und bei den Sozialdemokraten.)

Nun, meine Herren, nah dem Strafgeseßbuh ist die Sache nit zu verfolgen. Jch frage Sie: hat die Regierung recht, wenn sie sagt, daß sie nicht mit vershränkten Armen zusehen dürfe, wenn folhe Sachen toto die im Lande passieren? (Sehr gut! rechts.) Das Buch ist aus Hofmann's Verlag in Paukow bei Berlin; wenn sich einer der Herren Abgeordneten die Mübe geben will, die alpha- betisch geordneten Blätter einzusehen, so wird er unter anderem sehen unter L, wie Herr Lafsalle mit einer rothen Fahne einen Berg heraufstürmt und Herr Marx daneben bildlih gefeiert wird.

Meine Herren, ih will niht von anderen Büchern, die ih hier auch auf den Tisch des Hauses niederlegen werde, \prehen. So z. B. „Haß und Liebe“, Roman, s\pielend zwischen einem jungen Paare des Arbeiterstandes, welches ih wegen mangelnder Mittel nicht heirathen kann; dieser Roman {ließt zuleßt mit Worten, die mir der An- stand zu verlesen verbietet. Es wird darin glorifiziert der Gedanke : wenn ich nur im Genuß gelebt habe, dann kommt es nicht darauf an, Selbstmörder zu sein und aus der Welt zu heiden. Auch das ist Lektüre!

Nun, meine Herren, noch eins, was meiner Meinung nah alle dem, was ih gelesen habe, die Krone aufseßt: der „Sozialist“ ein Blatt, welches, wie ih zu meiner Freude im „Vorwärts* gelesen habe, aufhören foll zu ersheinen —, welches wiederholt in leßter Zeit konfisciert worden ift, das spriht folgende Sätze in einem Artikel aus:

Wenn die Christen nahdenken wollten, so müßten sie ein- seben, daß ihre ganze orthodoxe Religion auf einem Selbstmord be- ruht, daß die Menschheit durh einen Selbstmord erlöst worden ist, und daß die ganze Welt verloren sein würde, wenn es nicht um diesen Selbstmord wäre.

Falls Christus thatsählich Gott gewesen wäre und den Juden gestattete, ihn zu tödten, so is er mit seiner Zustimmung ge- storben, indem er, obgleich völlig im ftande, es unterließ, sich zu hüten oder zu vertheidigen ; er wäre demnach ein Selbst- mörder gewesen.

Nun, meine Herren , wende ich mich hinaus mit meinen Aus- führungen an das ganze deutsche Volk und das ganze deutsche Land. Willl das deutshe Volk sih in folher Weise seine beiligsten, theuersten Güter, die Religion, bewerfen und beshimpfen lassen? Jh glaube: nein! Und, meine Herren, Sie hier ih wende mich infonderheit an die Partei des Herrn Abg. Gröber, dem ih für seine Worte danke, an das Zentrum: „Sie wollen Religion und Ordnung bei dieser Vorlage s{chüßen.“ Lassen Sie allen Zwiespalt sein! Wir Alle glauben an einen Gott und haben dafür zu kämpfen, daß diese In- famien aufhören. (Lebhaftes Bravo! rets.)

Meine Herren, der Herr Abg. Munckel äußerte auch in seiner Rede: Die Kraft der Bürgerschaft ift noch groß genug, um solche Hilfsmittel entbehren zu können. Was if denn passiert? Was hat sich denn seit dem leßten Jahre geändert? Man foll, sagt der Herr Abg. Mundckel, die Justiz nicht in den Dienft der Politik stellen, von der Justiz habe er eine zu hohe Meinung. Ja, meine Herren- ich finde, es ist nicht nur in der leßten Zeit sehr viel passiert, sondern es passiert in der Beziehung tagtäglih sehr viel. Gott sei Dank, mag den Herren dort drüben diefe Schandliteratur wahrscheinlich nit fo zu Gesicht kommen, wie ich sie in meiner dienstlihen Stellung ja [eider lesen muß. Aber auch Sie drüben werden mir zugeben, daß es doch etwas weit geht, wenn derartige Sachen ungestraft verbreitet, verkauft und den Leuten, auch den Frauen und Kindern, überliefert werden. (Bravo ! rets.)

Meine Herren, die Bewegungen gehen immer weiter. Nicht nur, daß die Männer s\ozialistische Ideen vertreten, es fangen jeßt auch die Frauen und Kinder an (Zuruf links), und leider sind die geseßlichen Bestimmungen nicht der Art, daß man dem Umsichgreifen dieser Bewegung wirksam begegnen kann. Aber man geht immer weiter. Wenn ih nicht irre, liegt diesem hohen Hause eine Petition vor, daß auch Frauen geseßlich das Recht haben sollen, politishen Ver- sammlungen beizuwohnen, politischen Vereinen anzugehören u. \. w. u. f. w. Man will eben aus nahe liegenden Gründen die Frau vollberehtigt in das politishe Getriebe hineinziehen. Jch hoffe aber, die Gefeßzgebung wird andere Wege gehen !

Nur Eines will ich noch kurz erwähnen: Auch die Anarchisten haben leider im Laufe der leßten Jahre an Verbreitung gewonnen. Wir find in 12 Regierungsbezirken mit Anarchisten in größerer oder kleinerer Anzahl beglückt. Bis zu 60, 80, 100 an der Zahl, alles Leute, welche vollständig auf dem anarchistishen Programm stehen ; sie find in den einzelnen Städten bekannt und namhaft zu machen.

Die Gefahren also, die obwalten, sind meiner Ansiht nah nit so gering, wie sie ösfter dargestellt werden.

Wenn der Herr Abg. Auer in seiner Rede äußerte: „Der alte Kurs hatte Kaltblütigkeit, der neue marschiert mit dem Hasen- panier*, fo ift das eine vollständig falshe Auffassung. Ih sehe den Gefahren der Sozialdemokratie mit dem fältesten Blut der Welt entgegen, undi fann versichern, das thun die verbündeten Regierungen insgesammi. (Bravo! rechts.) Aber Kaltblütigkeit oder Heißblütig- keit ist etwas ganz Anderes, als die Hände in den Schooß legen und Scandalen und Infamien im Lande ruhig zusehen. (Sehr richtig ! rets.)

Nun will ich nit unterlafsen, ein Wort des Herrn Abg. Gröber noch hervorzuheben. Herr Gröber sagte und es war mir eine wahre Herzensfreude, das von ihm zu hören: „Wir wollen den revolutionären Tendenzen entgegentreten, wir find bereit, Aus- shreitungen zu unterdrücken, die sich in Vereinen und Ver- sammlungen und in der Presse zeigen, und werden deshalb das Geseg in eine Kommission verweisen.“ Nun, meine Herren, wenn Sie an dem Grundsaß, den weiter Herr Gröber ausgesprochen hat, festhalten, und ih weiß, daß Sie das thun werden an dem Grund- saße: wir treten für Religion, Sitte und Ordnung ein, so hoffe ih, daß wir uns mit Jhrer Partei über die Gesetzesvorlage, sie bleibe so, oder sie werde verbefsert, verständigen werden. Meine Herren, es kommt meines Erachtens zur Zeit darauf an noch ift es Zeit ; wie lange noch, das weiß Gott! —, daß die ftaatserhaltenden Par- teien sih vereinen und unter Zurückstellung allen Zwiespaltes zu- sammenwirken, um unsere heiligen Güter in der Nation "vor In- famie und Angriffen zu shüßen. Dies vereint zu thun, dazu fordere ih Sie, die sämmtlichen staatserhaltenden Parteien bier im RNeichs- tag und im ganzen Lande, auf! (Bravo !)

_ Abg. Liebermann von Sonnenberg (d. Refy.): Wir müssen vor allem prüfen, ob die in der Vorlage gemachten Borschläge dem von der Regierung genannten Zweck entsprehen. Die Bestim- mungen des Strafgeseßbuchs bedürfen allerdings einer gründlichen Ab- anderung. Sie leiden, wie die „Vossische Zeitung“ jüngst richtig aus- führte, an einem unvollkfommenen, ungerechten Strafsystem, entfernen sich in zahlreichen Fällen von der Volksüberzeugung, erscheinen \chablonen- haft und wirken geradezu antisozial. Dieses Geseß, unter dem das deutshe Volk jeßt jeufzt, verdanken wir hbauptsählich dem früheren Abg. Lasker. Gegen die Sozialdemokratie würde die Verstaatlichung des Handels und der Erzeugung von Sprengstoffen mehr wirken als diese Vorlage. Ih behaupte niht, daß ein Sozialistengesetz immer erfolglos sein wird. Was früher im stande war, die Sozial- demoktratie fester zusammenzufügen, kann heute vielleicht dazu beitragen, sie zu lockern. Die Herren haben heute gar kein Bedürfniß mehr zum Martyrium; sie wollen Revolution treiben, aber im Stlafrock staat- lichen Schugzes und in den Pantoffeln bürgerliher Bebaglichkeit. Fn diefem Sinne sind sie allerdings Revolutionâre in S(hlafrock und Pantoffeln. Der Abg. Mundckel rügte, daß man die Gerichte in den Dienst der Politik stellen wolle; aber gerade seine politishen Freunde haben im Laufe der lezten Jahre den Versuch FEL die Gerichte zu politishen Zwetten auszunußzen. J erinnere an den Stöcker-Prozeß, der ledigli ein- geleitet war, um einen rechts{afffenen Mann in der öffentlihen Mei- nung herabzuseßen. Den Bestimmungen, die sich auf Verschärfung des Militär-Strafgeseßbuhs beziehen und welche die Angehörigen des Heeres vor Verführung {hüten wollen, werden wir zustimmen; denn ein starkes Heer ist die beste Shußwehr gegen die Sozialdemokratie. Gegen § 130 müfßsen wir aber Widerspru erheben, weil dur ibn leiht Unschuldige getroffen werden können. Die Gerichte sind niht unfehlbar und können irren. Au wir Antisemiten kämen unter Um- ständen s{lecht weg. Wenn wir die Thierquälerei des Schächters angreifen, können wir z. B. belangt werden wegen Beschiwpfung einer gottesdienstlihen Handlung. „Die christlibe Religion“, müßte és lauten, nicht einfa: „die Religion!“ Wenn die Sozialdemokraten behaupten, die Republik fei die bef ere Staatsform, so mögen sih die Herren do einmal in der Geschichte umsehen. In den Republiken gedeiht weder die Freiheit noch das Glück besser als in den Monarwien. Niemals sind \heußlihere Verbrechen begangen worden, als im Namen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Monarchie und Freiheit find sehr wohl vereinbar. Den Worten des by. Dr. von Bennigsen über die Monarhie fann ich nur beistimmen. Wenn “es sch um den Schuß der Ehe und Pomie handelt, fo wäre derselbe am wirksamsten durch ein Verbot der

rauen- und Kinderarbeit zu erzielen und dur die Unterdrückung von

Schmußromanen. Bezüglich des Eigenthums dürfte es {wer sein, {üßende Bestimmungen C aten, ohne die berechtigte Kritik zu hindern. Es giebt Formen der Eigenthumserwerbung, die unbedingt gebrandmarkt werden müssen, ich erwähne das Raubeigenthum, das dur die Börse, durch Wucher u. \. w. geschaffen wird. Dem § 131 in feiner jeßigen Faffung müßen wir widersprechen; er würde die Presse bei der Veröffentlichung von Mittheilungen zu sehr einshränken. Die gut- gesinnte Presse darf aber niht lahm gelegt werden. Dagegen sollte man das Preßgeseß erweitern, um die Einrichtung der Sitßredakteure aus der Welt zu schaffen. Schließlich helfen alle Strafbestimmungen

egen den Umsturz nicht, wenn die Grundlage für ein gedeihliches

Wirken im Staat fehlt. Drei Dinge sind bekanntlih nothwendig, um ein Volk ficher zu stellen : ein starkes Heer, geordnete Finanzen und Zufriedenheit im Lande. Das erfte haben wir, Gott sei Dank, noch; auch die Finanzen sind noch relativ gute. Aber Zufrieden- beit im Lande ist faum noch zu finden, und auch bei den Deutschen im Auslande herrscht Teine Zufriedenheit, weil sie sich niht genügend in ihren Interessen ges{üßt fühlen. Die Regierung braucht auch einen zufriedenen énbetläkfigen Beamten- stand. Zur Schaffung eines solhen wäre es nothwendig, mit der Aufbesserung der Beamtengehälter von unten anzufangen statt von oben. Wenn man die Geschichte aller Revolutionen studiert, so findet man, daß die Juden dabei stets am eifrigsten mit betheiligt waren. Ich kann allein siebzig Namen von Juden aufzählen, die in der Revolution von 1848 eine hervorragende Rolle gespielt haben. Auch bei der französishen Revolution war das Judenthum bervorragend be- theiligt. Sie (zu den Sozialdemokraten) bilden ja bier das eigent- liche Judenviertel im Reichstag. Die Regierung muß das Handwerk, den Mittelstand, die Landwirthschaft mit allen Mitteln zu beben suchen, sie _muß den redlichen e egen den unlautern Wettbewerb schüßen. Sie muß ihre sozialen Maßregeln nit danach treffen, wie sie auf die Sozialdemokratie wirken, fondern sih von der Nüksiht auf das Arbeiterwohl leiten laffen. Vor allem aber müfsen sich die Gebildeten und Besitenden an die Brust {hlagen; ohne ihre Verfeblungen wäre es unmögli gewesen, daß \ih eine so weite Kluft zwischen den Klafsen der Bevölkerung gebildet hätte. Sie müfsen dur christlide Liebe und Opferfreudigkeit zeigen, daß fie ein Herz für die Armen haben. Des- halb bin ih au in Bezug auf die Haltung der evangelischen Geist- lichen anderer Meinung als der Abg. Freiherr von Stumm; die ristlihen Geistlihen gehören niht nur auf die Kanzel, fondern mitten unter das Volk! Die Regierung muß wieder Fühlung mit der Volksfeele erlangen, sie muß mit dem Vertuschungs\ystem brechen, strenge Gerechtigkeit gegen Arm und Reich walten lassen. Sie muß den vollen Muth der Verantwortlihkeit für ihre Maßregeln haben, ohne den Großes niemals geshaffen werden kann. In der Re ierung muß sih das Milde mit dem Starken paaren, das ift das beste Re- zept gegen den Umsturz. Dann wird es einst heißen: Also mag am deutschen Wesen endlih noch die Welt genesen.

Abg. Frhr. von Hodenberg (b. k. F.): Au ic balte di vorhandenen Strafbestimmungen für R CUEA A Sh Gas revolutionâre Bestrebungen und zur Aufrechterhaltung von eligion

und Sitte. Den Umsturz kann man mit folhen Kauts ukparagraphen

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