1897 / 16 p. 6 (Deutscher Reichsanzeiger, Tue, 19 Jan 1897 18:00:01 GMT) scan diff

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über die Sache gesprochen, und

h, Ihnen Allen zugegangen, sie if ja bei Beginn der gegenwärtigen Sesfion vertheilt worden. Die Verwandten des Ziethen, die, wie ih glaube, von der Unshuld ihres Sohnes und Bruders in der That überzeugt sind, haben si alle möglihe Mühe gegeben, diese Unschuld nachzuweisen. Jhre Versuhe sind erfolglos geblieben. Der Herr Abg. Liebknecht hat gesagt, er habe mit vielen Juristen Juristen, und die begriffen das Urtheil garniht. Ja, diese Mit- theilung würde vielleiht für uns an Werth gewinnen, wenn der Herr

E O ——— Abg: Liebkacht die Güte gehabt hätte, üns biese bebeutenden Juristen.

au zu nennen; aber auch dann, wenn er sie uns genannt hätte, würde ih diesen unverantwortlihen Rathgebern des Herrn Abg. Lieb- fnecht gegenüberstellen die verantwortlichen Richter des Ober-Landes- gerihts in Köln, die im Vollgefühl ihrer Pflicht, im Vollgefühl- ihrer Verantwortlichkeit und der an ihr Urtheil sich anknüpfenden Folgen dreimal, und zwar in jedesmal anderer Beseßung des Senats, die von Ziethen eingereihten Wiederaufnahmegesuhe als un- begründet zurüdckgewiesen. haben. Daß diese Herren niht mit der nöthigen Gewissenhaftigkeit, nicht mit der nöthigen Gründlichkeit das gesammte Material geprüft hätten, ih glaube, den Vorwurf wird niemand von Ihnen hier im Hause zu erheben wagen. Ich glaube deshalb, daß es auch in dieser Angelegenk“eit nicht gut war, wenn der Versuh gemaht worden ift, Fhr Urtheil für eine Sache, die sich Ihrer zuverlässigen Erkennung entzieht, in einseitiger Rihtung zu kaptivieren. Eine Prüfung der Sache felbst, meine Herren, halte ih für ausgeshlossen; in die können wir bier nit eintreten. Auch in dieser Sache soll, wie ih höre, der nodmalige Versuch einer Wiederaufnahme des Verfahrens gemacht werden, über dessen Erfolg ih mir selbstverständlich ein Urtheil niht anzumaßen habe. (Bravo!)

Abg. Lenzmann (fr. Volksp.): Ueber den Fall Ziethen sind die Akten noh lange nicht geschlossen. Im Falle Schröder trifft die Prozeßleitung kein Verschulden; aber die Prozeßlage ist nah dem Erlaß des Urtheils eine wesentlich andere geworden. Die Geschworenen Haben den Aussagen Münter's Glauben beigemefsen, welher bekundete, daß er Schröder niht in den Nacken gefaßt und niht hingestoßen Habe. Diese Bekundung wird durch die beiden anderen Polizei- beamten gestüßt, außerdem durch etwa zehn andere Zeugen. Diesem negativen Zeugniß stehen mehr als 20 Zeugen gegenüber, welche positiv bekunden, daß Münter den Schröder gefaßt und zu Boden estoßen hat. Diese 20 sind allerdings zum größten Theil

ozialdemofraten, und diesen gegenüber läßt, wie ih bedauere auésprehen zu müssen, die Objektivität der Geschworenen zu wünschen übrig. Es hat sih in jenen Gegenden in den Kreisen, aus denen die Geshworenen auëgewählt werden, der Aberglaube eingenistet, daß die Sozialdemokraten es mit dem Eide nicht sehr genau nähmen. Es sind aber inzwishen auch zablreihe, nicht fozialdemokratische Zeugen, sogar christlihe Bergarbeiter, noch ermittelt worden, weiche jenen Vorgang positiv bekunden. In einem Prozeß gegen unseren Kollegen Lütgenau in Dortmund is auédrücklich ausgesprochen worden, daß auf das Zeugniß eines Sozialdemokraten kein Werth zu legen fei. Werden diese Zeugen vernommen im Wiederaufnahmeverfahren, dann is an der Freisprehung Schrö- ders nicht zu zweifeln. Insofern hätte ich gewünscht, wir hätten diese heutige Debatte nicht gehabt, da eine fo bestimmte tellungnahme des Chefs der preußischen Justiz- Perwaltung ihre Wirkung haben muß. _ Dieselbe Hoffnung habe ih bezüglih des Falles Ziethen. Mein Studium des Prozesses und mein persönliher Besuh im Zuchthause haben mi nit zu der Ueberzeugung gebraht, daß der Mann mit Recht zum Tode ver- urtheilt worden is. Der Justiz-Minister übersieht, daß das kom- petenteste Gericht, das Landgericht zu Elberfeld, dem Wiederaufnahme- verfahren stattgegeten hat, was allerdings auf Beschwerde des Staatsanwalts beim Ober-Landesgericht in Köln wieder aufgehoben worden ift. Das Landgericht is mir in diesem Falle werthvoller, weil es der Sache näher steht, als das Ober-Landesgericht. Die Selbstbezichtigung des Barbiergehilfen Wilhelm ist von den Ge- rihten zurüFgewiesen worden, weil er für feine angeblihe That verschiedene Motive angegeben hat; aber das erklärt doh nit, warum er si dieser That überhaupt bezihtigte. Jh habe mit vieler Mübe deu Yufenthalt Wilhelm’s ermittelt; er be- findet sh als gefangener Deserteur bei der Fremdenlegion in Algier. Jch werde eine nohmalige Vernehmung veranlassen. Zur Erklärung der Bezichtigung des Wilhelm hat man angenommen, die Familie des Ziethen bätte ihn bestohen. Wer die Familie kennt, wird diese Meinung nit theilen. Ich habe aber auch einen weiteren Zeugen entdeckt, einen gewissen Androck, welhem Wilhelm {hon vor Jahren gesagt hat, der begangene Mord lafse ihm keine Ruhe; das war lange vor der Zeit, wo die Familie des Ziethen von der Gristenz des Wilhelm eine Ahnung batte. Damit fällt der Hinweis auf die Familie weg, und die Frage des Wiederaufnahmeverfahrens ewinnt ein anderes Gesicht. Man hat dem Ziethen nahe gelegt, fie Begnadigung nachzusuchen, aber er lehnt die Gnade des Königs ab, da er unschuldig set. Ju einer 13 jährigen Zuchthauéstrafe verlernt man doch wohl das Scauspielern; ih bin daher von seiner Unschuld überzeugt. Ich werde es mic zur Ehre anrehnen, ihm im Kampfe um sein Recht zu helfen. Die E des Zeugnißzwangs gegen die Presse hätte man, wie ih {hon seiner Zeit ausführte, mit der Juftiznovelle nicht verquicken follen. Hcute ist sie davon getrennt, und ih erkläre heute, daß die Beibehaltung des Zeugnißzwangs gegen die xeBoisihianten mit den Interessen des Rechtéstaats nicht vereinbar ift. er Zeugnißzwang im Disziplinarverfahren „gegen Unbekannt“ if auf die Geseße nicht zu stützen, obwohl ih ja zugeten muß, daß unsere höchsten Gerichtshöfe einen anderen Standpunkt eingenommen haben. In der Disziplinarordnung findet sich die Berechtigung dazu nicht; es würde fonft irgend ein Hinweis auf den § 69 der Strafprozeßordnung darin enthalten sein. Auch der MWor1laut dieses Paragraphen und die ratio legis fsfprechen gegen diese Ausdehnung des Zeugnißzwangs. Es wird in § 69 von einem bestimmten Verfahren gegen eine bestimmte Person gesprohen, niht aber von einem Verfahren „gegen Unbekannt“, cinem Verfahren, das vollständig in der Luft {webt und niemals ein Ende nehmen kann. Das Ünzweckmäßige, Unsittlihe und Ver- derbliche dieses Zeugnißzwangs muß allgemein zur Erkenntniß kommen. Einen in gane verhafteten Redakteur hat man jeßt wieder ent- laffen müssen, weil man mit der Haft keine Erfolge erzielte. Wenn raan Verräther von Staatsgeheimnissen bestraft und wegen ihrer moralischen Verwerflichkeit aus dem Amte entfernt, kann man doch hier niht den Teufel mit Beelzebub austreiben wollen. Aerzte und Rechtäanwalte werden ja ebenso wie die Geistlihen durch das Geseß von ter Pflicht entbunden, ihnen anvertraute Geheimnisse zu offenbaren. Aber sogar Or die Staatsanwalte fühlen, wie un- Attlih es ist, wenn ein Redakteur den Namen des Verfassers eines Artikels selbst nennt. Dieser Tage hat der Staatsanwalt in Danzig einem Redakteur gegenüber ausdrücklich ausgesprochen, es sei unshön, daß der Redakteur den Namen des Verfassers genannt habe; ein anständiger Mensch thue das nicht, und er beaatragte gegen den An- geber eine hôhere Strafe, als gegen den eigentlihen Preßsünder. Das zeigt doch wohl, wie dringend das Verlangen des Reichêtages nah Reform auf diesem Gebiete ist. ;

Justiz-Minister Schönstedt:

Meine Herren! Nur ein paar Worte gegenüber dem eistéä Theil der Nede des Herrn Abg. Lenzmann. à

Die Thatsache ist richtig, daß in der Ziethen’shen Sache eins

zwar mit ganz bedëutéertben

Ihnen vielfa verbreiteten Meinung son deshalb als minderwerthig ersheinen müßte, weil es nur mit drei Richtern beseßt war, für diese Angelegenheit kompetenter sein sollte, als das Ober-Landesgericht zu Köln, dafür if Herr Lenzmann die Begrünbung schuldig geblieben. Im übrigen bin ih mir bewußt, daß mir nichts ferner gelegen hat, als die Absicht, bezüglich der in der Ziethen’shen und Schröder- “schen Saähe ‘etwà noch zu erwartenden Wiederaufnahtegesuhe- hier Stellung zu nehmen und gegenüber den Gerichten, die damit be- faßt? sind, irgendwie meine Ansicht zur Geltung zu bringen. Ich _glauke,. daß_dex Vorwurf, den —in-diefer-Beziehung Herr Lenzmann_| mir gemacht hat, wenn er später seine eigene Rede im Stenogramm nacliest, auf ihn selbft zurückfällt. Wenn Herr Lenzmann einmal in die Lage kommen sollte, die Vertheidigungéreden, die er heute hier hon gehalten hat, in den beiden Sachen vor den berufenen Ge- rihten zu halten, dann wünsche ih ihm dazu den besten Erfolg. Für meine Person habe ih nicht nur die Hoffnung, sondern das feste Ver- trauen, daß die Gerichte, die mit diesen Wiederaufnahmegesuchen möglicherweise noch einmal befaßt werden, mit voller Objektivität und mit voller Unbefangenbeit und im vollen Gefühle ihrer Unab- hängigkeit ihre Entscheidungen treffen werden. (Bravo!)

Abg. Auer (Soz) fordert die Regelung des Strafvollzuges. Diese Forderung, führt Redner aus, ist {hon alt; zulegt hat 1890 der Abg. Bamberger eine Interpellation in dieser Richtung ein- geor, die sih auf ein Vorkommniß ftütte, das den Redakteur eines

remer fozialdemokratischen Blattes betraf. Bald darauf kam der A Boshart zur allgemeinen Kenntniß. Herr Boshart war kein

ozialdemokrat; die Behandlung, die er in der Strafanstalt Ichters- hausen erfuhr, brate au die bürgerlihen Blätter in Bewegung. Die Petitionskommission hatte damals über mehrere Petitionen in dieser Angelegenbeit zu berathen und erkannte die Reformbedürftigkeit des bestehenden Zustandes an, sah aber von besonderen Beschlüssen ab mit Rücksiht auf die Erklärung, die bei Gelegenheit der Inter- pellation Bamberger abgegeben worden war. Die Petition wurde jedoh im Plenum des Reichétages mit ailer Mehrheit dem Reichskanzler zur Berücksichtigung in der Richtung über- wiesen, daß bezüglih der Bekleidung, Beköstigung und Be- \häâftigung der Gefangenen eine zeitgemäße Reform baldigst in die Wege geleitet werden möge. Auh im folgenden Jahre ist die Sache durch einen Antrag des Abg. v. Bar wieder angeregt worden; auch in der Kommission für die lex Heinze kam es zu bestimmten Vorschlägen in dieser Richtung; endlih if noch zu der Justiznovelle vom Hause eine Resolution einstimmig beschlossen worden, die den Erlaß eines Strafvollzuggeseßes fordert. Die früher vorhandenen und als solhe empfundenen Uebelstände bestehen unverändert fort, ja sie haben sih sogar noch gesteigert. Die Verwaltung hat fogar Vergünstigungen zurückgenommen, welche noch hier und da bestanden. Diese Verhältnisse rechtfertigen die Frage nah dem Stande der Dinge hinsihtlich dieser so oft erhobenen Forderung. Daß zwischen Ver- geben und Vergehen ein himmelweiter Unterschied ist, brauhe ih niht zu beweisen. Die Preßvergehen verjähren viel rascher als Vergehen und Verbrehen anderer Art. Plögensee hat politishe Ver- breher aller Parteien hinter seinen auern gesehen und wird sie, wie die Verkbältnisse liegen, auch ferner sehen. Die dortigen leitenden und anderen Beamten find zweifellos von einem gewissen Geiste der Humanität beseelt; dieses Gefängniß ist ja auch, sozusagen, mit allem modernen Komfort ausgerüstet. Es wird hier den gefangenen Preßsündern au die Selbst- beshäftigung eingeräumt. Aber unter einem Uebelstande leidet Plôßen- see: Es wird unter allen Umständen die Selbstbeköstigung verweigert, und das will etwas heißen. Die Kost ist als Gefängnißkost niht schlecht; aber es ist etwas ganz Anderes, wenn Perfonen, welche an etwas höheren Lebens8genuß gewöhnt find und deren Magen niht mehr ganz in Ordnung ift, diese Kost Monate lang genießen müssen. Zahlreih sind solhe Personen s{chwerkrank aus dem Gefängnisse zurückgekehrt. Ft es berechtigt, ist es geboten, fo zu verfahren? Es ist vielmehr eine Graufamkeit, welhe die Gesezgebung nicht gewollt hat. Der Einwurf , daß die Strafanstalt zu weit von der Stadt gelegen sei, trifft heute niht mehr zu. Als ih Gefängnißinfasse zu fein das Malbeur hatte, wurde mir gestattet, einen Spirituskocher zu halten ; in Plöôgensee wird auch das nicht gelitten und über die Behandlung der politishen Gefangenen häufen sich in neuerer Zeit die Klagen. Der Redakteur unseres Braunschweiger Blattes wurde mit einer Kette gefesselt dem Gericht vorgeführt; der Redakteur der „Rheinisch- Westfälischen Arbeiter-Zeitung“ hat eine Strafe in der Straf- anstalt Münster abbüßen müssen, wo cr mit der Anfertigung von Filzpantoffeln beschäftigt wurde; es wurde ihm verweigert, fich selbst zu beschäftigen und eigene Kleidung zu tragen. Ein anderer fozialdemo- fratisher Redakteur wurde in der Strafanstalt mit der Korsettfabrikation beschäftigt. Der Redakteur Rauch vom „Volkswille“ in Hannover, der ebenfalls eine Strafe abbüßte, wurde zu einem Termin nah Hildes- heim als Zeuge gefesselt und an einen wegen Diebstahls Verurtheilten angeshlofsen geführt. Auch der Transport erfolgte in gefesseltem Zustande. Wie kommt man dazu, ein solches Verfahren gegen einen Ehrenmann einzushlagen, der vielleiht blos einen Say eiSéebèn; der vor dem Beleidigungëparagraphen nicht bestehen konnte? Am s{hlimansten hat man wohl dem Redakteur Kaufmann vom „Hamburger Volkéblait“" mitgespielt. Das Blatt hatte einen Manöverbrief eines Soldaten veröffentliht, welchen Brief die Eltern des Soldaten dem Blatte zu- gänglih gemaht hatten. Der Brief sollte Beleidigungen enthalten; aber wegen Verächtlihungmachung der Armee, niht wegen Beleidigung wurde auf 4 Monate Gefängniß erkannt. Kaufmann wollte seine 4 Monate in Hamburg verbüßen, weil er auch das Geschäft seines Blattes dort mit verwaltete. Das wurde ihm abgeshlagen und er nah Hameln gebracht, wo ihm sofort nach Betreten des Gefäng» nisses Kopfhaar und Backenbart abrasiert wurden. Seine Be- schäftigung mit scriftlihen Arbeiten für 2 Æ tägliche Ver- gütung, wie dies beantragt war, wurde vom Direktor befür- wortet, aber höheren Orts abgelehnt. In Stade, wohin er wegen eines Termins tranéportiert wurde, geftattete man ihm sofort die Selbstbeshäftigung mit wissen! aftlihen Artikeln. Das veranlaßte ihn, um die Verbüßung des Restes seiner Strafzeit von zwei Mo- naten in Stade einzukommen, da ihm der Transport peinlich sei. Als Antwort kam eine Verfügung des JIuftiz-Ministers, do diese Be- schäftigung sofort einzustellen fel und der Tranéport erfolgte, wobei er mit cinem anderen Gefangenen zusammengekoppelt wurde, in Han- nover mit 27 Polizeigefangenea gemeinsam übernachtete und wona er in Hameln sfofort wieder Sessel flehten mußte. Diesem un- würdigen Zustand muß endlih ein Ende gemacht werden.

Staatssekretär des Reichs - Justizamts Dr. Nieberding: Meine Herren! Ih möchte mir zunächst ein paar Worte er- lauben zu einigen Ausführungen des Herrn Vorredners, in welchen er Bezug nahm auf eine Anzahl von einzelnen Fällen, die in der Straf- anfstaltspraxis Preußens und anderer Bundesftaaten sich zugetragen haben follen. Der Herr Vorredner wird sich selb sagen müssen, daß ih auf diese Fälle behufs Vertheidigung der angegriffenen Einrich- tungen und Beamten hier einzugehen völlig außer tande bin. Selbst wenn die Reichsverwaltung zuständig wäre, mit derartigen Angelegen- heiten sh zu befassen, würde ih doch, ohne vorher über den Gegen- ftand unterrihtet zu sein, nicht Auskunft geben können, inwieweit die Behauptungen des Herrn Redners und seiner Gewährêmänner rihtig sind, inwieweit sie auf Uebertreibungen oder mehr noch be- ruben. Wenn es, wie ih annehme, dem Herrn Redner darum zu thun ift, gegen die behaupteten Uebelstände und Mißgriffe sachliche

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Dinge aber Beunruhigung und Unzufriedenheit zu verbreiten, wenn ez ihm in der That darum zu thun ist, Besserung und Remedur herbei, zuführen, weéhalb wendet er sih nihcht zuvor an die zuständigen Instanzen, und sucht zunächst dadurh die im Gesez gegebene Möglichkeit der Remedur zu erreihen? Sollte es ihm so

mag er sich nah folchem Versuch mit den ibm zu theil gewordenen abshlägigen Bescheiden, nahdem er uns davon vorher Kenntniß ge, _geben hat, _an__ das Haus wenden, -damit*wir-dann-auf Grund forg,

auch das hohe Haus befriedigt. Aber bier mit derartigen angeblichen Vorfällen zu kommen, die zum theil nur auf flüchtigen Zeitungsartikeln beruhen, deren Gewährêmänner auf ihre Glaubwürdigkeit zu prüfen niemand hier im Hause im stande is, und dann an derartige Vorgänge noÿ Urtheile zu knüpfen, wie es der Herr Vorredner gethan hat, indem er eine dieser Geschichten mit den Worten begleitete, das sei skandalös, niederträchtig, gemein .…. . (Zurufe bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, lassen Sie mich ruhig aussprechen. Ich hake ganz richtig gehört, daß der Redner das gesagt hat, ich wollte nur dem Bedauern Ausdruck geben, daß er es gethan hat. Sie werden doch durh derartige leiden)chaftlize Urtheile nit ohne weiteres die Meinung erzeugen können, daß der Sachverhalt in der vorgebrachten Weise gewesen ist. Ich sage: statt derartige Urtheile hier anzuführen, die ih auf das entschiedenste zurückweisen muß, bis Belege dafür beigebracht sind, die ih in anonymen Zeitungsa1tikeln nicht finden kann, ftatt derartige Urtheile hier vorzutragen, die nah meiner Ansidt doch das hohe Haus in der Beurtheilung der Objektivität des Herrn Redners irre machen müssen, statt dessen sollte er den vorschrifts mäßigèn Weg gehen, den ihm die Instanzen gewähren, um dann crst uns Mittheilung zu machen und die Sage im Hause vorzubringen. Dann find wir bereit, Rede zu fteben, Aber ih sehe vom Reichstag ganz ab; zunächst liegt do für die Be- \chwerdeführer, auf die sih der Herr Redner ftüßt, der Weg viel näber, sich an diejenigen Regierungen und nöthigenfalls an diejenigen Landtage zu wendcn, in deren Bereich sih die Dinge zugetragen baben sollen. Sie wissen fo gut wie wir, daß die Neichsverwaltung zur Zeit zur Untersuchung derartiger Dinge niht zuständig ist, daß, solange ein Strafvollzugsgeseß im Reiche nicht erlassen ift, sch die leßte Jn- stanz zur Prüfung und Wöürdigung folher Angelegenheiten bei den Regierungen der Einzelstaaten befindet. Weshalb wenden Sie sich nicht an die zuständigen Behörden des betreffenden Staates, um Ihr Recht zu erzielen, sondern an eine Stelle, die weder zuständig ist, derartige Dinge zu entscheiden, noch in der Lage ift, fie zu kennen? Das sage ih zu den Fällen, die von dem Herrn Abge- ordneten bier beweislos vorgesührt sind; in Zeitungsartikeln erblide ih keine Beweise, und damit glaube ih, mich begnügen zu können. Was die eigentlite Frage des Herrn Redne1s betrifft, so hat er Ret, wenn er sagt, daß die reihsgeseßlihe Regelung des Strafvollzugs leider eine alte Frage ist, die {on oft den Reichstag und au die Regierungen bis dahin vergeblih beschäftigt hat. Wenn bier im Hause Bedauern darüber herrsht, daß es bisher noch nit gelungen ift, diese Frage zum reihs8geseßlichen Austrag zu bringen, so wird dieses Bedauern von der Reichs-Justizverwaltung aufrichtig getheilt, und ich zweifle aud niht, daß dieselbe Auffaffung bei der großen Mehrzahl der Bundesregierungen besteht. Aber wenn Sie den Gang der Dinge, auf den ich mit einigen Worten eingehen werde, unbefangen würdigen, dann, glaube ih, werden Sie anerkennen müffen, daß uns an diesem Tische eine Schuld an der langen Verzögerung dieser Sache nicht triff. Die Bundesregieryngen haben si bereits im Jahre 1879 mit einem Geseßentwurf beschäftigt, der den Zweck hatte, in ershöpfender Weise den Strafvollzug im ganzen Reich zu regeln. Die Bemühungen, darin zum Abschluß zu kommen, wurden durch Erwägungen finanzieller Art gekreuzt. Bei der Prüfung diefer Frage und zu dieser Prüfung waren die Regierungen doch verpflichtet bei der Prüfung, welhe Aufwendungen theils im Interesse des Um- baues der Strafanstalten, theils in dem der Neugestaltung aller fon- stigen mit dem Strafvollzug verbundenen Einrihtungen ein Ge!eß- entwurf, wie er damals vorgelegt war, nah sih ziehen würde, ergab sich, daß diese Kosten für Preußen allein vorausfihtlich 100 Millionen übersteigen würden. Sie können daraus ersehen, welche finanziellen Anforderungen infolge einer folhen Umgestaltung der gesammten Strafvollzugseinrihtungen an das ganze Reich zu ftellen gewesen wären. Es folgte daraus obne weiteres die Nothwendigkeit, von den weitgegriffenen Anforderungen, welche die damalige Vorlage enthielt, zurückzutreten. Ich glaube, man muß sagen, es war ein Glü, daß auf Grundlage der damaligen Vorlage es zu einer Verabschiedung des Gesetzes nicht kam, und daß die auf Grund eines solchen Gefeßes zu treffenden kostspieligen Einrichtungen nicht ge!roffen zu werden brauchten. Inzwischen hat sich nun Manches entwidckelt, was für die reihsgeseh- lihe Regelung des Strafvollzugs von großer Tragweite ist: die Ane \chauungen über die Art und Weise, wie die Strafen vollzogen werden sollen, welhe Strafarten zulässig und zweckmäßig sind, haben sich in einer Weise gewandelt, daß es nothwendig ersheinen muß, in erfter Reihe für die reihsgeseßlihe Regelung uns die Frage vorzulegen: be: darf nit der ganze einschlagende Abschnitt des Strafgeseßbuhs einer grundsäßlihen Reform? Die Frage der Behandlung der jugendlichen Gefangenen, vor allem ihrer Beschäftigung, die Frage, von welchem Lebensalter ab überhaupt ein jugendlicher Sträfling einer Straf- anstalt oder aber einem Besserungshause überwiesen werden foll, die Frage der Einzelhaft und ihrer Modalitäten, die Frage der Zuläffig- keit und der Gestaltung der furzen Gefängnißstrafen und ihres etwaigen Ersatzes dur andere Strafen, besonders dur Geldstrafen, die Frage der bedingten Verurtheilung und der vorläufigen Entlassung der Gefangenen aus der Strafverbüßung haben im Laufe der [leyten Fahre eine folche Bedeutung gewonnen, daß die Regierung, wenn sie ernft- haft an eine dauernde Regelung des Strafvollzugs denken will, an eine Regelung, die nicht muthwillig und unnöthig, weil vorübergehend, Aufwendungen von Bedeutung den Bundeëstaaten auferlegt, zunächst ihre Aufmerksamkeit auf diese Fragen hat konzentrieren müssen. V es fann gar feinem Zweifel unterliegen: die Einrichtungen un]erer Strafanstalten in weitem Umfange, die ganze Strafvollzugsprarxit wird ih ändern müssen, wenn die Anschauungen, die auf dem vo? mir angedeuteten Gebiet immer mehr und mehr an Verbreitung und Stärke gewinnen, schließlich auch geseßlich zur Geltung gelangen sollten.

geben fönnen, die

der drei Wiederaufnahmegesuhe vom Landgericht zu Elberfeld zuge- laffen war. Weshalb aber dieses Geeicht, welhes ja nach ier bei

Abhilfe zu hafen und niht bloß Dinge vorzutragen, von denen niemand weder auf seiten der Regierung noch im Hause ohne T ;

{

(Schluß in der Zweiten Beilage.)

weiteres ihm zugestehen kann, daß er Reit hat, mit Hilfe dieser h

--niht “möglich fein; éine Rémébur in seinem Sinne zu erzielen, vazz--

„- 8 M ch UDH L E E E

fältiger Prüfung der Sachverbältnisse ihm eine sahlihe Antwort

Zweite Beilage

zum Deutschen Reichs-Anzeiger und Königlich Preußischen Staals-Anzeiger.

meanre---Berlin-z-Dienstag, den: 19. Ianuar e

A ——_——_———

L _(Séhluß aus. der Ersten Beilage)

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Die Fragen, von denen ih vorhin spra, beschäftigen uns schon jet, werden uns aber noch viel mehr in Anspruch nehmen, sobald die Reform unseres Zivilrechts abgeschlossen ist; und ih glaube das ift wenigstens meine perfönlihe Ueberzeugung die verbündeten Regierungen werden niht umhin können, zu dieser Zeit in möglich fter Beschleunigung' mit Vorschlägen für eine entsprehende Revision des Strafge!eßbuhs an Sie heranzutreten, auf Grund deren dann erft eine abshließende reiGsgefeßliche Regelung des Strafvollzugs zu er- folgen vermag. i / E

Nun erkenne ih vollständig an, daß einstweilen ein unbefriedi- gender Zustand berrscht; ih gebe zu, daß die Art und Weise, wie gegenwärtig der Strafvollzug in den einzelnen Staaten ih ver- wirkliht, an manchen ernsten Mängeln leidet: der Vollzug if nicht gleihmäßig, die verschiedenen Strafen werden nit überall in der- selben Art differenziert. In der That kann man das ift nicht zu leugnen sagen: wir baben in Deutschland zwar ein einheitliches Strafgesey, auf Grund dessen gleihmäßige Strafen von den Gerichten erkannt werden, wir haben aber feines- wegs überall einen gleihmäßigen Vollzug dieser Strafen, infolge dessen in der That auch eine vershiedene Strafretspflege.

Das Bedürfniß, nach dieser Richtung hin vorläufig wenigstens den dringendsten Mißständen abzuhelfen, ist von den verbündeten Re- gierungen anerkannt. Wir haben den Versu wenigstens in gewissen Grenzen einer Regelung des Strafvollzugs, die den auffälligsten Uebel- fiänden abbilft, seit einigen Jahren bereits eingeleitet; auf Grund der vorlâufizen Vorarbeiten if gerade jeyt der Buudesrath mit Be - rathungen darüber beschäftigt, in welcher Form und in welchem Um- fange dur eine einstweilige Regelung hier eine Verbefserung der be- ftehenden Zustände unmittelbar von seiten des Reihs oder dur eine Verständigung unter den Bundesregierungen erzielt werden kann. Die Verhandlungen werden bei der Verschiedenheit und Schwierigkeit der Verbältnisse in den einzelnen Staaten noch einige Zeit dauern. Sie werden das verstehen, wenn Sie bedenken, daß es sih dabei doch um erbeblihe Umgestaltungen in manchen Anstalten unter allen Um- ständen handeln muß. Fch kann Sie nur bitten, sich vorläufiz bei diesem Versu einer Regelung zu beruhigen und das Vertrauen zu haben, daß die verbündeten Regierungen das Bedürfniß einer Ord- nung des Strafvollzugs im reihsgeseßlihen Wege nicht minder als dringend anerkennen, als das hohe Haus seinerseits. (Bravo!)

Abg. Dr. Vielhaben (Reform-P.): Es hat vor einiger Zeit peinlihes Aufseben erregt, daß der frühere Kolonial. Direktor Kayser ¡u einem Senats-Präsidenten des Reichsgerihts ernannt wurde. Eine Reihe von Reichsgerichts-Räthen hat deshalb ihr Amt nieder- gelegt. Es iff wohl angezeiat, daß der Bundesrath sich darüber aus- lasse, warum er in dieser Weise sein Vorschlagéëreht auëgeüst hat. Die Sozialdemokraten sind eifrig dabei, das Ansehen der Gerichte zu untergraben; es gilt, die Gründe, _welche sie dafür ins Feld führen, auch hei diefer Gelegenheit zu entkräften, : j Abg. Stadthagen (Soz.): Die Ausführungen des Justiz- Ministers bezüglich des Kieler Falles lassen wesentliche Thatsachen beiseite und geben andere unrihtig wieder. Daß der Beweis der Wahrheit in der Bordell-Angelegenheit vor dem Berliner Gericht voll erbracht ist, geht aus dem Urtheil hervor. (Redner verliest dasselbe in scinem ganzen Wortlaut.) Für die Behauptung aber: die Polizei dulde in Kiel Bordelle, sieht das Geriht den Beweis der Wahrheit als erbraht an. Ebenso is nah diesem Urtheil die Vermehrung der_ Bordelle um ¡wei oder drei erwiesen. Es steht fest, daß der Bürger- meister jene falschen Ausfagen amtlich und eidlich bekundet hat. Wenn polizeilich geduldete Bordelle vorhanden find, sind das feine ftaatlih geduldeten? Ist die Polizei eine Staatsbet örde oder nicht? Wenn ein einfaher Mann mit solden Einwänden fäme, was würde dann geschehen? Derselbe Herr Bürger- meister wußte doch, daß die ganze Anklage darauf basierte. Und da hâlt man mr vor, ‘ih hâtte einen guten Namen hier verunglimpffft? Der Bürgermeister hat die în- friminierten Behauptungen „als Verleumdung bezeihnet „und si da- durch einer E falshen Anschuldigung schuldig gemaht und nahher dadur, daß er die Wahrheit verschroiegen hat, falsches Zeugniß abgelegt. Im Anschluß an die Bordellgeshichte hat der preußische Justiz - Minister den Casseler Prozeß erwähnt. Aus dem Urtheil (welches Redner gleihfalls wörtlich verliest) ergiebt si, daß die

olizei gegen Sitte und Geseh der Unzucht Vorschub geleistet habe. 58 fragt sih sehr, ob nicht in diesem Falle die Staatsanwaltschaft zum Wiederaufnahmeverfahren zu veranlassen gewesen wäre, damit der ungerecht verurtheilte Redakteur freigesprochen würde. Zum Falle Schröder möchte ich nur noch anführen , daß dem Essener Urtheil die Verlesung eines Essener Gerichtêurtheils dreier gelehrter Richter zu Grunde liegt und wesentlich auf Grund diefes verlefenen Urtheils

die Verurtheilung ermöglicht worden ist.

Staatssekretär des Reichs-Justizamts Dr. Nieberding:

Meine Herren ! Der preußische Herr Justiz-Minister is dur unaufschieblihe Amtsgeschäfte genöthigt gewesen, das Haus zu ver- lassen, In die Jaterna der preußischen Rechtépflege, die hier zur Diskussion gekommen sind, bin ih nit eingeweiht. IFch bin infolge dessen außer stande, dem Herrn Abg. Stadthagen auf seine Aus- führungen zu antworten, und ih muß es dem Herrn Justiz-Minister vorbehalten, darauf zurückzukommen, falls er das für angezeigt erahten follte. Jch kann nur bestätigen aus eigener Wahr- nehmung, daß die Ermittelungen, die seitens des Herrn Justiz- Ministers angestellt worden sind, um über den Kieler Fall sich erschöpfend zu unterrichten, mit der äußersten Gewissenhaftigkeit vorgenommen worden sind; ich würde das garnicht hervorheben, weil ih nicht glaube, daß ih dies für den Herrn Justiz- Minister hervorzuheben brauhte, wenn niht nach dieser Richtung hin von seiten des Herrn Abg. Stadthagen Zweifel auétgesprochen wären.

Wenn der Herr Abgeordnete hier wiederholt auf den unverantwort- lihen Herrn Justiz-Minister hingewiesen hat, anscheinend, als sei dieser in der Lage, hier nun beliebige Ausführungen zu machen, ohne dafür Rede stehen zu brauchen, so muß ich sagen, verstehe ih den Abs geordneten nicht. Wenn es si hier um Unverantwortlichkeit handelt, so if vie auf jener Seite. (Sehr richtig!) Der Herr Abg. Stadt- hagen i in der Lage, hier beliebige Aufftellungen zu mahen und jeden Bürger im Lande mit Vorwürfen \{werster Art zu bedrängen, ohne daß er genöthigt ift, dafür

Rechenschaft zu geben. Wir, meine Herren, hier an diesem Tische nah den allgemeinen Geseßen dafür einstehen, und da, meine ih, ist der Herr Abgeordnete niht berechtigi, dem Herrn Justiz-Minister vorzubalten, er befände sih bei seinen Darlegungen in einer besonders günstigen, unverantworilihen Lage. Wenn der Herr Abgeordnete die Reichs-Justizverroaltung gemahnt hat, sie solle darauf achten, daß in der preußishen Justiz nit dex Grundsaß ungerchter, un- gleiher Behandlung Plaß greife, die angeblich schon jeßt zu bemerken sci, und wenn der Herr Redner sich dabei beruft auf ein geflügeltes Wort, das von seiten des preußishen Justiz-Minifsters hier einmal benußt worden if, so bemerke ih, daß dieses Wort seit Jahrhunderten gang und gäbe ift, ohne daß man eine gehässige Kritik der Art, wie sie in der Presse jet daran geknüyst wird, jemals ver- sucht hätte, und fo kann ih in der Sache nur erwidern: es ist nit Aufgabe der Reichsjustiz, in die Verwaltung der preußishen Justiz einzugreifen, wie ih überdies überzeugt bin, daß, wie jede andere deutsche Justizverwaltung, auch die vreußishe bemüht, und mit Erfolg bemüht if, Gerechtigkeit nah allen Seiten hin walten zu lassen.

Das, meine Herren, zu diesen Ausführungen! Ih habe aber das Wort erbeten, um dem Herrn Abg. Vielhaben noch ‘ein Wort der Erwiderung zu geben, wie er wünschte. Ich hätte das vorhin {hon gethan, wenn ih nicht der irrigen Meinung gewesen wäre, daß der Herr Abg. Stadthagen denselben Gegenstand berühren wolle, und ih nicht durch zweimalige Erörterung derselben Frage die Geschäfte des Hauses unnöthig aufhalten wollte.

Der Herr Abg. Vielhaben hat die Frage an mich gerihtet, welche Gründe für die jüngst erfolgte Ernennung eines Senats- Präsidenten beim Reichsgeriht maßgebend gewesen seien, und hat diese Frage mit Hinweisen auf gewisse Ausführungen aus der Presse und mit der Be- hauptung begründet, daß infolge dieser Ernennung eine große Zahl von Mitgliedern des Reichsgerichts ihren Abschied genommen hätte.

Meine Herren, auf die Behauptungen in der Presse gehe ih hier nit ein; ih bin nit verpflichtet, Ausführungen der Presse, für die von seiten des Herrn Redners anscheinend selbst keine Ver- antwortlihkeit übernommen werden soll, hier meinerseits zu behandeln. Ich bin bereit, Ausführungen der geehrten Herren hier im Hause, soweit sie mit den thatsählihen Verhältnissen, die in diesem Falle vorliegen, in Widerspruch si befinden, richtig zu stellen; aber auf die Preßäußerungen, die hier von seiten eines der Mitglieder des Hauses nit übernommen werden, habe ih, glaube i, keinen Anlaß, mich einzulassen.

Dann, meine Herren, was die Sache selbft anbetrifft, so, glaube i, liegt es nit in den Gewohnheiten dieses Haufes, über die Gründe von Beamtenernennungen, die von seiten der zuständigen Instanzen nach Maßgabe des materiellen Rechts und in den Formen, die das Gesetz vorschreibt, erfolgt sind, Auskunft zu verlangen. Ich glaube in der That, das geht auh über dasjenige hinaus, was billigerweise hier im Hause diskutiert werden kann, und jedermann wird das sofort ein- leuten, wenn er {h klar macht, welche Diskufsionen persönlicher Art an solche Auseinandersezungen sh knüpfen müßten. (Sehr richtig!) Also, das muß ih mir versagen, hier zu berühren. Ich sage: die Erneanung, die ansheinend der Herr Redner im Auge gehabt hat, ist vollzogen nah Maßgabe der Gefeße, ohne Verleßung der Grundsäße, die dabei in Betracht zu kommen hätten, und damit ist meiner Meinung nah die Sache, fo lange fih daraus nit Uebel- stände ergeben haben, für dieses Haus erledigt.

Wenn der Herr Redner die Behauptung aufgestellt hat, daß infolge dieser Ernennung eine Reihe von Mitgliedern des Neichs- gerihts den Abschied genommen habe, so ist das eine Be- hauptung, die nur auf irrigen Mitibeilungen beruhen kann. Meines Wissens und ich muß do darüter unterrihtet sein ist diefe ganze Mittheilung unrichtig. Ih mae dem Herrn Abgeordneten keinen Vorwurf deshalb; denn er hat si selbs dabei wieder auf die Presse berufen; ich bin nur auf den Punkt eingegangen, weil er ihn aus der Presse auf sich übernommen hat. Er wird aber einsehen, wenn ih erkläre, daß diese Behauptung nict richtig ist, wie vorsihtig man in der Verwerthung von allerhand Preßmittheilungen fein muß.

Die Sade liegt so, daß, seitdem die hier fraglihe Ernennung cines Senats-Präsidenten überhaupt perfekt geworden ift, nur zwei Mitglieder des Reich®gerichts ihren Abschied genommen haben. Dieses Abschiednehmen heißt aber niht, daß die Herren ausscheiden nach ihrer Willkür, sondern beißt, daß sie auf Grund eines ärztlihen Zeug- nisses, welches ihre Dienstunfähigkeit nahweift, auf Grund einer per- fönlihen \{riftlihen Erklärung, in der sie aus\prehen nach Pflicht und Gewissen, daß sie nit mehr im ftande sind, ibres Amtes zu walten, und auf Grund der hinzugefügten Erklärung des Reichsgerichts-Präsidenten, daß er diese Auffaffung theile, mit Pension in den Ruhestand verseßt werden. Das ist etwas Anderes als freiwillig seinen Abschied nehmen.

Also, meine Herren, es sind nur zwei Fälle der Verseßung in den Ruhestand seit dem Augenblick vorgekommen, in dem die fraglihe Er- nennung sih vollzogen hatte. Von diesen beiden Fällen betraf der eine ein bohverdientes Mitglied des Reichsgerichts, welches infolge {weren Augenleidens, das na ärztlicher Erklärung die Gefahr der Erblindung besorgen .läßt, sofern der Richter von den Arbeiten nicht ih zurüdzieht, genöthigt war, seineVersetzung in den Ruhestand zu beantragen. Der andere Fall betrifft ein langjähriges Mitglied, eines der ältesten Mitglieder des Reichsgerichts, welches das 70. Lebensjahr überschritten hat und mit diesem Grunde und mit dem ärztlichen Zeugniß dargethan hat, daß es gehalten ift, sich zurückzuziehen übrigens ein Entschluß, der, wie ih persönli weiß, auch nit einmal aus der leßten Zeit stammt, fondern von dem ih unterrihtet war, bevor überhaupt auch mir bekannt wurde, daß die Senats-Präsidentenstelle, die neulich wieder beseßt wurde, überhaupt zur Erledigung gekommen sei. Daraus wird der Herr Abgeordnete ermessen, daß die thatsächlichen Mittheilungen, mit denen er seine Anfrage an mih begründete, unrihtig waren.

(Bravo !)

müssen, wie jeder Bürger im Lande, das, was wir sagen, vertreten,

Abg. Auer (Soz.): Der Zweck meiner Rede hat niht darin

darin, zu erfahren, wann endlich eine Regelung des Strafvollzug- wesens erfolgen werde. Die angeführten Fälle follien bloß die Noth wendigkeit davon illustrieren.

Staatssekretär des Reichs - Justizamis Dr. Nieberding:

Meine Herren! Ich glaube, ich muß den Vorwurf, den der Herr Redner mir gemact hat, daß ih seinen Ausführungen uiht mit genügender Aufmerksamkeit gefolgt sci, dem Herrn Redner wieder- geben; denn fonst glaube ‘ih niht, daß er mit solcher Heftigkeit mir vorgebalten baben würde, als wenn ich ihm unwürdige oder niedrige Motive unterges{hoben hätte. Meine Herren, das ist meine Gewohn- beit nicht, liegt mir auch hier ganz fern und hat jedenfalls, wie ih mich erinnere, in meinen Worten nicht gelegen. Ich bin weit davon entfernt gewesen; im Gegentheil, ih habe ausdrüdlich gesagt: wenn der Herr Redner, wie ih annehme, den Zweck verfolge, in den Beschwerdefällen, wie fie vorgeführt wurden, Remedur herbeis zuführen, wenn nicht nur Unzufriedenheit und Aufregung erzeugt werden sollen, dann mdge er sich doch an die maßgebenden Instanzen wenden! Das ift etwas Anderes als das, was der Herr meinte, daß ih gesagt haben foll.

Wenn daun der Herr Vorredner meinte, er sei an die richtige Stelle mit seinen Ausführungen gekommen, weil es sich bei ihm nicht um Remedur bezüglih der einzelnen Fälle gehandelt habe, sondern um den Nachweis der Nothwendigkeit einer beshleunigten reihs- gescßlihen Regelung des Strafvollzugs, so gebe ih ihm nah seinen jeßigen Ausführungen darin allerdings Recht, daß er an der richtigen Stelle gesprohen hat, er hat uns überzeugen wollen, wie nothwendig die reihsgefeßlihe Regelung sei. Ich muß dagegen indessen zweierlei einwenden. Der Redner hatte durhaus nit nöthig, nah dieser Richtung hin uns mit Einzel- fällen zu kommen. (Zuruf links.) Herr Bebel, bitte, lassen Sie mi ruhig aussprehen! Ich glaube, Sie werden mir zugeben, daß ih auf rihtigem Wege bin —, also die Einzelfälle uns hier vor- zuführen, war unnöthig, weil ih ja ohne weiteres anerkannt habe, in Uebereinstimmung mit Herrn Auer anerkannt habe, daß die reih8geseßlihe Regelung dieses Zustandes dring- lich ist; uns davon noch durch Einzelfälle zu überzeugen, war nach meiner Meinung entbehrlih. . Zweitens aber, wenn dazu doch cinmal Fälle aus der Praxis gebraht werden sollen, so ift der Beweis nicht dadur zu erbringen, daß man unbewiesene, hier unbe- weisbare, nur aus Zeitungsartikeln zusammengelesene Fälle uns vor- führt, deren Richtigkeit zu kontrolieren niemand im Hause im

stande ist. j

Abg. Mun ckel (fr. Volksp.) : „Wenn Zwei dasselbe thun, fo ist es nicht dasselbe“ is ein glücklihes oder au unglückliches Wort. Es ist etwas Anderes, wenn Herr Stadthagen oder Herr Auer eine Anklage erhebt. Mit dem Angriff gegen den Justiz-Minister bätte der Abg. Stadthagen etwas vorsihtiger sein sollen. Im Falle der Kieler Bordelle ist der Jrrthum auf seiten des Herrn Stadt- hagen. Der Fall lag s{limm, aber so s{limm nicht, wie Herr Stadthagen darstellt. Die Duldung war Thatsache, und so hat sie der Denunziant verstanden; der Angeklagte verstand sie anders, und aus diesem Mißverständniß ist die Sache zu erklären. Was die (Frnennun des jüngsten Senats-Präsidenten in Leipzig betrifft, so muß auch i dazu Stellung nehmen; per}önliche Motive liegen mir hier völlig fern. Auf dem Boden des Gesetzes steht die Ernennung sicher: das Staatéexamen hat er gemacht, und das 35. Lebentjahr dürste er ebenfalls überschritten haben. Hier im Hause sißen viele Juristen, die au) Senats-Präsidenten werden können ; sie werden es aber do niht. „Der Regel nah“ fordert man für diesen Posten unausgeseute Besckäftigung mit der Geseßgebung: „der Regel nah“, das ist wichtig. Bei Talenten maht man Ausnahmen. Mir aus der Vorbringung von Einzelfällen einen Vorwurf zu machen, halte ih für unberechtigt, und wie kommt der Staatssekcetair dazu, mir das Motiv unterzuschieben, ih hätte lediglih Unzufriedenheit erregen wollen ! Fh habe mi einfah meiner Pflicht als Abgeordneter erinnert, als ih diese Beschwerden hier öffentlich erhob, und über Motive zu urtheilen, dazu räumen wir hier beiderseitig uns nicht das Recht ein. Fch habe niht behauptet, daß gegen das Gesey verstoßende Hand- lungen vorliegen, ih brauche mi also auch nicht an die zuständigen Instanzen verweisen zu lassen. Ich habe mi durchaus än die richtige Instanz gewendet, und auch der Staatssekretair hat das an- erkannt. Aber die Vorarbeiten kommen immer noch niht zum Ab- \{luß. Der Bundeêërath stößt sih immer noch daran, dag die Umwandlung des Gefängnißwesens so große Kosten verursachen würde. Was haben diese Unkosten mit der Frage zu thun, daß möglichst Vor- schriften erlassen würden, um politische Gefangene anders und menschlicher als bisher zu behandeln? Rauch und Kaufmann sind gefesselt zu ihrem Termin geführt worden. Haben Sie gelesen, wie unser ehemaliger Kollege von Hammerstein behandelt worden ift, als er, der Zuchthäusler, zum Gericht als Zeuge vorgeführt wurde? Er wurde in einer Droshke vom Gefängniß abgeholt, im Termin sehr höôflih behandelt und in derselben |chonenden Weise zurück- gebraht! Muß denn durchaus mit zweierlei Maß gemessen werden ? Es liegt aller Grund dazu vor, auf diesem Gebiet enolih einmal Remedur zu hafen. Jahr für Jahr {tellen Vertreter aller Par- teien diese Forderung. Der Assessor und Redakteur Wagner wurde seiner Zeit zum Lohn für seine Dienste zum Rechtsanwalt beim Ober - Tribunal ernannt und nahm zunächst ein halbes Jahr Ürlaub, um fich einzuarbeiten. Das hatte Herr Kayser niht nöthig. Die Mitglieder des Ober-Tribunals aber berührte es im höchsten Grade peinlih, daß man ihnen auch nur als Rechtsanwalt jemanden zur Seite seßte, der nicht im Justizdienst verblieben war. Herr Kayser ist 16 Jahre lang dem Rechtsstande fremd geworden. Das Publikum will doch zu den Richtern Vertrauen haben; es weiß niht, daß es sih um einen ausgezeichneten Mann handelt, es weiß nux, daß der Mann 16 Jahre lang mit dem Gericht nichts zu thun hatte und jeßt in leitender Stellung richtet. Hcffentlih wird dies ein Fall sein, von dem man später sagen ee as hi Fall von denen, die die Regel bestätigen, aber nit die Negel felbst.

Abg. Dr. För ster - Neustettin (Reform-P.): Ich und mit mir viele aus dem Volke begreifen nicht, wie ein Mann, der vor langen Jahren Amtsrichter war, zu einer so hohen richterlicen Stellung hat gelangen können. Die Antwort des Staatssekretärs hat mi nicht befriedigt; er ist der Sache geshickt auszewichen. Ich mache mir die Preßkritik dieses Falles hiermit zu eigen und glaube mich auch hier zu einer Kritik der Ernennung berechtigt. Ein pruss Fönnen wir ja gegen eine solche Ernennung niht erheben, woh aber unsere Bedenken nachträglich äußern. Auch das hat ja immer noch seine Bedenken, wenn man sich der

Schlusse seiner Amtsthätigkeit als Kolonial-Direktor im Kolonial-

—— BSOT.

Rede erinnert, die er am

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_beftanden.-eine-Anzaßhl-Fälle-von Mißhandlungen vorzuträgen, sondern 0