1897 / 77 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Wed, 31 Mar 1897 18:00:01 GMT) scan diff

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sheinlih mit Bezug auf die Korrektur der Verein8geseße, welche das Verbot des Inverbindungtretens mit anderen Vereinen enthalten. Nun, die verbündeten Regierungen haben eine solhe Bereitwillig- keit, soweit sie, nah Lage der Geseßgebung, an dieser Frage überhaupt betheiligt sind, natürlich nur einzeln je für sih aussprechen können. Wenn also irgend eine Regierung, bier in diesem Falle die Königlich preußishe, noch im Rückstande is mit der Korrektur des Vereins- gesetzes, fo trifft das jedenfalls niht die verbündeten Regierungen als solche, scndern es könnte ein Vorwurf daraus höchstens gegen die preußische Regierung abgeleitet werden. Aber auch dieser Vorwurf, meine Herren, wäre unbegründet. Wir sind im Königlich preußischen Staats-Ministerium mit der S{lußredaktion der“ Vorlage, die dem preußischen Landtage auf diesem Gebiete gemacht werden foll, be- \häftigt, und der Herr Vorredner wird nicht allzu lange zu warten brauchen, bis diese Vorlage erscheint. Also, glaube ih, war es nit gerade nöthig, den Vorwurf eines nicht erfüllten Versprehens zu erheben.

Da ih einmal das Wort habe, so möhte ih noch auf einige Bemerkungen antworten, die au seitens der früheren Herren Redner gefallen sind. Jch habe freilich zu meinem Bedauern wegen einer Bundesrathssizung nicht alle Vorträge hören können, die sich mit dem Gegenstande beschäftigt haben.

Der Herr Abg. von Jazdzewski hat unter Produktion von Tele- grammen den Hergang bei der Beendigung der Wählerversammlung in Linsk und in Osche anders dargestellt, als ih das gestern und heute gethan habe. Der Widerspru besteht einfa darin, daß nach den mir vorliegenden Berichten nicht der überwachende Beamte die Ver- sammlung aufgelöst hat, sondern daß sie von dem betreffenden Leiter aufgehoben worden ist, während nah den Berichten, die dem Herrn Abg. v. Jazdzewski zugegangen sind, die Sache umgekehrt gewesen sein soll. Darnach halten also die Berichterstatter, die den Herrn Abgeordneten mit ihren Nachrichten versehen haben, die {hon gestern aufgestellte Behauptung aufreht, daß der - überwachende Beamte die Auflösung der Versammlung ausgesprochen hat. Hier liegt ein Wider- spruch vor, und ih werde dem Königlich preußischen Herrn Minister des Innern anheimstellen, diefen Widerspru aufzuklären. Ich bin selbstverständlih nit in der Lage, jeßt zu fagen, wie [ih die Dinge thatsählich abgespielt haben. Ih muß aber für mich in Anspruch nehmen, daß ih objektiv aus den vorliegenden Berichten referiert habe, und ich muß weiter für die Beamten, die mir berichtet haben, bis zum Beweise des Gegentheils in Anspruch nehmen, daß sie ihrerseits ebenfalls objektiv rihtig referiert haben.

Wenn der Herr Abg. von Jazdzewski aus meinen Aeußerungen entnommen zu haben glaubte, daß ih die Meinung vertrete, nur Beamte dürften eine politishe Versammlung überwachen, so hat er mich vollständig mißverstanden. Im Gegentheil, mir ift die Vor- schrift des preußischen Vereinsgeseßes sehr wohl bekannt, wonach die Polizeibehörden die Befugniß haben, Versammlungen selber zu über- wachen resp. durch ihre Behörden oder andere geeignete Personen überwachen zu lassen. Es ist auch in den hier in Rede stehenden Fällen, ausweislih der mir vorliegenden Akten, jedesmal der Versuch gemacht worden, einen vertrauenswürdigen, der polnischen Sprache mächtigen Mann zu ermitteln, welcher die Ueberwachung im Auf- trage der Polizeibehörde übernehmen könnte, und ih kann das ja vorlesen es ergiebt sich aus diesen Berichten ausdrüdcklih, daß dieser Versuh mißglückt ist, weil sich entweder niemand gefunden hat, dem die Polizeibehörde mit vollem Vertrauen die Ueberwachung hat übertragen können, oder weil die betreffende Person, an die das An- sinnen gestellt worden ift, es abgelehnt hat, die Ueberwahung der Versammlung zu übernehmen.

Dann hat man gemeint, es sei doch wohl nicht ern zu nehmen, daß die Gendarmen, die die Ueberwahung der Versammlung geführt haben, der polnishen Sprache niht hinreichend mächtig seien. Ja, das ist doch sehr ernst zu nehmen, denn es ergiebt sich hier aus einer Aeußerung des Gendarmen Alfeldt, den auch der Herr Abg. von Jazdzewski angezogen hat, daß er erklärt, er verstehe zwar so viel Polnish, um sh über die gebräulihsten Gegenstände zur Noth verständigen zu können, er sei aber keineswegs im ftande, einer politishen Rede genügend folgen zu können. Meine Herren, es liegt in der Natur der Sache, und das wird mir mein verehrter Herr Nachbar au zugeben, daß es etwas Anderes is}, ob ih mi im gewöhnlichen Leben nothdürftig in einer Sprache verständigen fFann, oder ob ih im stande bin, einer Rede zu folgen, noch dazu einer politishen Rede, und zwar mit der verantwortlihen Aufgabe , daß ich fkontrolieren muß, ob in dieser politishen MNede irgend

etwas vorkommt, was mit den Strafgeseßen nicht im Einklang steht.

Also ih halte fest an der Behauptung: es hat in den in Rede stehenden Fällen ein der polnischen Sprache vollkommen fkundiger Mann mit der Ueberwachung nit betraut werden können, und ih halte fest an der weiteren Behauptung, daß in allen drei Fällen, die hier zur Sprache gebraht sind, die Wählerversammlung so zusammen- geseßt war, daß der Gebrauch der deutschen Sprache sehr wohl möglich gewesen wäre, ohne das Verständniß der einzelnen Theilnehmer zu beeinträchtigen.

Die Vorwürfe, die gegen meinen Königlih preußishen Herrn Kollegen weiter erhoben worden find wegen seines Erlasses vom 98. Oktober v. I., muß ich auch wiederholt als der Berechtigung entbebrend bezeihnen. Der Herr Minister sah sih gegenüber der Entwicklung, die das Versammlungswesen innerhalb der polnischen Kreise genommen hatte, in der Nothwendigkeit, \ih nah einem Mittel umzusehen, um die Ueberwachungsthätigkeit wirksam ausüben zu können; er kam zu der nah gewissenhafter Prüfung gewonnenen Ueberzeugung, daß er außer stande sei, diese Ueberwachung, die, wie gesagt, für die Staatsbehörden eine Pflicht ist, ausreihend zu üben, wenn man ihm nicht entweder ausreihende, der polnishen Sprache mächtige Kräfte zur Disposition stellt, oder wenn man nit gestattet, daß in den Versammlungen der Gebrauch der deutschen Sprache vorge-' {rieben werten darf. Daß er den Weg beschritten hat, eineKorrektur der seiner Auffassung entgegenstehenden Auffassung des Ober-Verwaltungs- gerihts berbeizuführen, habe ih ja bereits vorhin darzulegen mir er- laubt. Jch kann dem Herrn Abg. Lenzmann niht Recht geben, daß es unzulässig wäre für die Verwaltung, wenn fie eine richterliche Entscheidung niht für zutreffend und richt der Absicht des Geseyes entsprechend hält, dahin zu streben, daß dur eine anderweitige richter- lie Entscheidung diese erste Entsheidung in ihrer Wirksamkeit bejeitigt wird. Das geschieht, wie gesagt, auf vielen Gebieten des öffentlichen Rechts, und ih glaube sogar, daß auch ein Rehtsanwalt sehr häufig in die Lage kommt, zu sagen: wir wollen die Frage

noch einmal bei der nähsten Gelegenheit vor die Gerichte bringen in der Hoffnung, daß das unserer Auffassung widerstrebende Erkenntniß, was uns jezt sehr unbequem ist, demnächst aus der Welt geschafft wird. Jch gebe dem Herrn Abg. Lenzmann zwar bereitwillig zu, daß auf dem Gebiet des öffentlihen Rehts die Sache etwas anders liegt, wie auf dem Gebiet des Privatrehts; aber nah meiner Kenntniß der Praxis kann ih ihm versichern, daß Fälle, wo auh auf dem Gebiet des öffentlihen Rehts wiederholte Entscheidungen der Gerichte herbeigeführt sind, niht gar selten find.

Nun hat der Herr Minister des Innern weiter nihts gethan, als den Behörden die Anweisung ertheilt: bringt noch einen Fall zur erneuten Entscheidung des Ober-Verwaltungsgerihts; dann, hoffe ih, wird das legtere seine Meinung korrigieren. So wie diefer neue Fall zum Ziele geführt hätte, war die Sache erledigt; dann war eben, wenn das Ober-Verwaltungsgeriht \sich der Auffassung des Herrn Ministers des Junern angeschlossen hätte, gar kein Zweifel darüber, daß in den Versammlungen deutsch und niht polnisch gesprochen werden mußte, sobald der überwachende Beamte es forderte.

Ich kann, wie gesagt, in dem Vorgehen des Herrn Ministers des Innern keinen Fehler finden; der einzige Fehler, den ih anerkenne, liegt einfa darin, daß in dem einen Falle die \trikte Anweisung des Herrn Ministers des Innern in der Lokalinstanz nit befolgt ift. Das kommt aber toto die vor, daß untergeordnete Polizeiorgane höhere Weisungen unbeachtet lassen; darüber braucht sich der Reichstag nicht mehrere Tage lang zu unterhalten.

Abg. Werner (Reformp.): Die Polizei tritt für die Sozial- demokraten ein. Als ih im Elsaß einen Vortrag hielt und von den Sozialdemokraten sprehen wollte, hinderte mich der Polizeibeamte daran, und in Bezug auf Straßburg wurde mir gesagt: Es is} die Domâne des Herrn Bebel, da lohnt es sih gar nicht, einen Vor- trag zu halten. Wir müssen eine einheitliche reih8geseßlihe Regelung des Vereinswesens haben; denn jeßt kann man sich kaum herausfinden. Der Beschwerdeweg in diesen Fragen ist sehr wenig erfolgreich. Man bekommt die Entscheidung vielleicht erst, nachdem die Wahl längst white ist. Da muß dur Reichsgesey eine Befferung herbeigeführt werden.

Abg. Dr. von Jazdzewski tritt nochmals für das Recht der Polen, polnisch zu sprechen, ein und führt aus, daß Beamte genug vor- handen seien, die polnisch verständen.

Abg. Bebel (Soz.): Ich bin überrascht über die Liebenswürdig- keit der Straßburger Polizei, denn bei den Wahlen von 1893 habe ih vergeblih den Versuch gemacht, eine Versammlung zu halten, und auch eine Berichterstattung ist mir nit gelungen; und von dem französischen Boden bin ih ausgewiesen worden. Daß die Straßburger Polizei eine antisemitishe Agitation (ene der sozialdemokratischen als auésihtslos bezeichnete, ist eine Erkenntniß, die überraschend ift.

Abg. Beckh (fr. Volksp.): In Zivilsahen wird ein ander- weitiger Richterspruh herbeizuführen gesucht; aber bei Strafsachen wird kein Rechtsanwalt seinem Klienten anrathen, ein Delikt noh- mals zu begehen, um eine anderweitige Entscheidung herbeizuführen.

Damit ist die Juterpellation erledigt.

Es folgt die Berathung des Geseßentwurfes, be- treffend die Abänderung der Gewerbeordnung. (Handwerker-Vorlage.)

Abg. Dr. Hitze (Zentr.): Ich bedauere, daß die Vorschläge der preußishen Vorlage nicht berücksichtigt sind; das hat son zu der Parole geführt: „Wenn bloß so wenig geboten wird, dann lieber gar nihts.“ Wir sind in der Fraktion zu dem Ergebniß gekommen, daß es eine Verzweiflungépolitik sein würde, alles abzulehnen in der Hoffnung, daß es nachher besser werden würde. Es ist uns die bestimmte Versicherung geworden, daß selbst für die Vorlage des Herrn von Berleßsh eine Majorität im Bundesrath uicht zu erreihen wäre. Es ist etwas Anderes, in Handwerkerversammlungen reden als wie unter der Verantwortung als Abgeordneter. Wir werden sehen müssen, daß die Vorlage möglichst verbessert und eine Grundlage geschaffen wird für weitere Fortschritte, Die Hoffnung is um so mehr gegeben, als wir dur die Hand- werkerkammern zu einer Organisierung des Handwerks kommen und dadur die besten Hilfstruppen gewinnen zur Mitarbeit an der Organisation. Wir nehmen das jeßt Erreichbare als Abschlags- zahlung. Diese Politik hat das Zentrum stets innegehalten beim Kulturkampf, beim Arbeiterschuy und au bei der andwerkervorlage. Demnach beantrage ih, die Vorlage einer Kommission zu überweisen. Die wichtigste S ordérung über die Vorlage hinaus ist der Befähi- gungsnachweis als Vorbedingung der Ausübung des Handwerks; auf diesem Boden steht die Mehrheit des Reichsiages und auch die Mehrheit der Handwerker. Da der Buntesrath sih aber ablehnend verhält, so würde es vergeblich sein, den Befähigungsnachweis in diese Vorlage hineinzuarbeiten. Der Befähigungsnachweis als Vorbedingung für die Ausbildung von Lehrlingen i} in der Vorlage in seinen Anfängen enthalten. Das ist ein erfreuliher Fortschritt; nur sind die Regierungen auf halbem Wege stehen geblieben, weil sie nur die Gesellen prüfen wollen, aber niht die Meister. Die Bestim- mung, daß nur derjenige Lehrlinge ausbilden darf, welcher fünf Jahre selbständig gewesen ist, kann nur als Uebergangs- destimmung gelten. Es is éin gutes Zeichen, daß die Hand- werker noch etwas auf den Meisteriitel geben. Die zweite große Forderung ist die Regelung des Lehrlings- und des Gesellenwesens. In Bezug auf die Lehrlinge bietet die Vorlage sehr Vieles, nicht so bezüglich der Gesellen. Die Gesellenprüfung is ein Ansporn für den Lehrling und au eine Kontrole für den Meister, daß er seine Fut gethan hat. Die preußische Vorlage bewegt sih auf dem

oden der obligatorishen Innungen, während heute die Bildung der Innungen in die Hand der Betheiligten gelegt wird. Soweit Innungen nicht vorhanden sind, sollen die Handwerkerausschüsse die Üeberwachung des Lehrlingswesens übernehmen. Bezüglich der Hand- werkerkammern bietet die Vorlage das, was man irgendwie verlangen kann. Ich seße große Hoffnungen auf die Handwerkterkammern als gutachtende Behörden. Wenn ge|agt wird, die Handwerker wollen von den Innungen gar nihts wissen, so können die Handwerker diese Frage zur Entscheidung bringen, und sie können Einfluß gewinnen in manchen Dingen bezüglih der Gefängnißarbeit, der Errichtung von Fachschulen, Genossenschaften u, f. w. An einzelnen Stellen ist die Selbstverwaltung durchbrochen bei den Innungen, und es wird ja von der linken Seite wohl daran herumgearbeitet werden, diese bureaukratishen Chikanierungen aus der Vorlage zu entfernen.

Abg. Augst (d. Volksp.): Die Vorlage enthält manches, was alle Handwerker verlangen, namentli bezüglich der Handwerkerkammern und der Regelung des Lehrlingswesens; nur bezüglich der Innungen und der Gewerbevereine wird sih eine Meinungsverschiedenheit er- geben. Der Anschluß der Handwerkerkammern an die Handels- kammern würde ein Fehler sein, weil sie dadur zu einem Anhängsel herabgedrückt würden. Bezüglich des Lehrlingswesens sollte man aber den Bogen nicht allzu stark spannen, denn einheitlihe shablonenhafte Vorschriften dafür sind \hädlich. Erfreulich ist, daß die Bestimmungen über die obligatorishe Zwangsinnung aus der Vorlage herausgebracht sind; der Bundesrath hätte au das Auskunftsmittel der fakultativen Zwangsinnung fallen lassen sollen. Es ift ein Fehler, daß ein Hand- werker in Sawsen - Durs in eine Zwangsinnung hineingezwängt werden kann, weil die Mehrheit seiner Kollegen das verlangt, während in Weimar der Handwerker ns über die Zwoangsinnung lustig machen kann. Man sollte nicht im Interesse der Innungsmeierei den Ein- zelnen in seiner Selbstbestimmung hindern, namentli inmitten der in- duftriellen und Ver ehrsentwidelung. Die Innungen können Gutes wirken, aber nur in den großen Städten; die großen Entfernungen auf dem Lande, wo die Handwerker zerstreut wohnen, hindern die Ent- wick¿lung des Innungslebens. Auf dem Lande sind schon diejenigen Handwerker sehr rar, die sih in den Dienst der Gewer evereine stellen.

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daß die Agrarier nde aufspielen. Das sind

dieselben Leute, welhe aegen die Margarine donnern, und sie ihren

eigenen Arbeitern zu efffen geven, die gegen die Konsumvereine zy gelte ziehen, aber {ih selbst zum Einkauf ihrer Rohstoffe und oufiiges dürfnisse vereinigen. Die mechanishe Meisterprüfung ge, währleistet durhaus noch nicht die Fähigkeit, die Lehrlinge richtig auszubilden. Redner wendet sih zum Schluß gegen die Bestimmung, das nur dwerksmeister in die Handwerkerkammern entsendet werden sollen; diejenigen, welhe \sih den Arbeiten in den Gewerbevereinen widmeten, seien sehr {wer zu finden, und man könne es nur dankbar anerkennen, daß z. B. Lehrer sus dazu bereit finden ließen. Er könne nur wünschen, daß die Kommission niht über die Vorlage hinausgebe.

Darauf wird um 5 Uhr die weitere Berathung big Mittwoch, 1 Uhr, vertagt. Außerdem: erste Lesung der Jn- validenversicherungs-Vorlage.

Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten.

60. Sizung vom 30. März 1897.

Jn der Fortsezung der zweiten Berathung des Staats- haushalts-Etats für 1897/98 wird die General-Diskussion über die Beamtenbesoldungs-Vorlage, die von der Kommission beantragten Resolutionen und die hierzu gestellten Abänderungsanträge fortgeführt.

Ueber den Beginn der Debatte ist gestern berichtet worden.

Abg. Dasbach (Zentr.): Die Vorlage kana nicht die Zufrieden- heit der Beamten herbeiführen; im Gegentheil, die Unterbeamten scheinen nit zufrieden zu fein, wenn se nicht berücksichtigt werden, während die Gehälter der höheren und höchsten Beamten um Tausende erhöht werden. Die Erhöhung der Gehälter der Unterbeamten im Sahre 1890 war keineswegs ausgiebig genug und kann uns nicht ab- halten, auf eine weitere Erhöhung zu dringen. Ist die Finanzlage so {chlecht, day der Finanz-Minister die Erhöhung des Gehalts der Unterbeamten ablehnen muß, so können wir die Aufbesserung des

Gehalts der höheren Beamten niht gutheißen. Wenn die Be-

amtenaufbesserungen 20 Millionen kosten, die Konvertierung uns aber 18 Millionen Ersparniß bringt, so kostet uns die neue Be- soldung nur 2 Millionen, und deshalb können wir sehr wohl auch die Unterbeamten bedenken. Auf die Befürchtung des Finanz-Ministers, daß die Finanzen wieder {lecht werden können, brauchen wir nichts zu geben. Es is im Gegentheil noch eine weitere Steigerung der Eisenbahneinnahmen zu erwarten. « j

Finanz-Minister Dr. von Miquel:

Nur zwei Bemerkungen gegen die Aeußerungen des Herrn Vor- redners. Er meinte, wenn man die hohen Gehälter niht weiter erhöhte, würden die Mittel gefunden worden sein, jeßt ohne weiteres die Gehalte dec Unterbeamten zu erhöhen. Nun hätte der Herr Vor- redner Seite 9 des Berichts lesen können und würde gefunden haben, daß die gesammten Gehaltserhöhungen, welche auf die Beamten erster bis einschließli dritter Klasse entfallen, nur 424 000 Æ fTosten (hört! hört 1). Was das bedeuten würde gegen die folossalen Ausgaben einer allgemeinen Besoldungsaufbesserung für alle Unterbeamten, brauche ih nicht weiter auseinanderzufseßzen.

Weiter ist es mir sehr bedenklih, in die Staatsverwaltung, wie der Herr Vorredner es thut, den Gesichtspunkt hineinzutragen, daß die Beamten der Betriebsverwaltungen, wenn mal in einem Jahre dieselben größere Uebershüsse bringen, ihrerseits daraus einen Anspru herleiten, auch ihrerseits aufgebessert zu werden. Das fann denn auh mal für die Beamten, wenn das konsequent behandelt würde, sehr be- denkliche Folgen haben; dann würde man sih hüten müssen, überhaupt etatsmäßige Beamte anzustellen, deren Gehälter nicht reduziert werden können in Zeiten des Defizits. Ih möchte dringend davor warnen, diesen Gesichtspunkt, der mir sogar in der Privatindustrie höch\ be- denklich erscheint, auf die Verhältnisse unserer preußischen Beamten Anwendung finden zu lassen.

Meine Herren, ih habe ja hon zugesagt und habe felbst aner- kannt, daß es bei einzelnen Beamtenkategorien der Unterbeamten erwünscht sein könnte, foweit die Mittel es erlauben, der Frage näher zu treten, ob hier nicht noch Ungleichheiten und Härten zu beseitigen sind. Weiter kann ih nichts sagen, und auf weiteres gehen die Anträge der Parteien der Mehrheit des Hauses auch niht. Daß wir aber richtig verfahren sind, meine Herren, indem wir diese Beamtenaufbesserung, die 1890 mit den Unterbeamten be- gonnen hat, nun erst mal zum Abschluß bringen, ehe wir diefer ersten Frage wieder näher treten, haben die Verhandlungen dieses hohen Hauses zur Genüge gezeigt. Wenn die Mittel im Jahre 1890 vor- banden gewesen wären, Unterbeamte, mittlere und höhere Beamte gleichzeitig aufzubessern, so bin ih überzeugt, würde aus der ganzen Vorlage gewiß nihts geworden sein. Diese Methode, die uns aus- gezwungen is durch den Mangel an Mitteln im Jahre 1890, hat ih doch für die Durhführung der ganzen Aufgabe sehr: erleihternd gezeigt. Ich glaube, die Herren könnten sih wirkli mit diesen Er- klärungen, die ih abgegeben habe, und zwar in Uebereinstimmung mit dem Staats-Ministerium, in vollem Maße genügen lassen.

Abg. Schmidt- Warburg Ga): Es war keine Empfehlung der Vorlage, wenn der Finanz-Minister gestern sagte : Wenn sie in diesem Jahre niht gemacht werde, könne man garnicht wifffsen, ob im nächsten Jahre noch das Geld dazu vorhanden fei. Wenn er ht? empfehlen wollte, so mußte er sagen, daß wir immer das Geld dazu haben werden. Die Gehälter der höheren Beamten will man er- höhen, die unteren Beamten gehen leer aus. Eine Milliarde würde uns doch die Aufbesserung der unteren Beamten nicht gerade kosten. Die Bahnmeister, die Lokomotivführer, die Weichensteller erster Klasse, die Eisenbahn- Telegraphisten, die Bahnsteigschaffner 2c. bedürfen dringend eines besseren Einkommens, als ihnen bisher gewährt worden ist. Eine Vorlage für die Unterbeamten fönnen wir allerdings in diesem Jahre niht mehr erhalten, aber wir müssen darauf bestehen, daß wir sie im nächsten Jahre belommen. Der Finanz-Minister will die Härten und Ungleichheiten beseitigen. Was versteht er aber darunter? Das Haus wird wahrscheinli darüber eine weitergehende Anschauung haben als der Minister. Um son in “diesem Jahre etwas zu ermöglichen, hätte der Minister einfa für sämmtliche Beamten Zuschüsse von 10 9/6 in diesem Etat einstellen können, ent- MeSe der durchschnittlihen Aufbesserung der höheren und mittleren eamten. Das würde ‘im Ganzen etwa 10-11 Millionen fosien, Eine solche Vorlage läßt sich in zwei Stunden machen. Fch stelle aber keinen solhen Antrag, weil er doch aussichtslos wäre. O Abg. Schwarze (Zentr) spricht die Ansicht aus, daß e leihmäßige \hematishe Festsezung der Beamtengehälter nah BAA ß \chnitts\ägen für gleihe Kategorien das beste wäre, giebt E Le ten es niht durchzuführen sei. Das jepige System führe Ungleichhe! herbei, wie auch die Regierung selbst anerkannt habe.

(SchlußJin der Zweiten Beilage.)

_Sosllen diefe 13 wenn 64

Zweite Beilage

zum Deutschen Reichs-Anzeiger und Königlich Preußischen Slaats-Anzeiger.

M 77.

(Séhluß aus der Ersten Beilage.)

Abg. Freiherr von Richthofen-Mertshüß (konf.): Die ganze fonservative Partei, mit Ausnahme des Herrn voa Riepenhausen, steht in Bezug auf die Professorengehälter auf dem Boden der Kommissions- heschlüsse. Weitere Abänderungsanträge zur Erhöhung von einzelnen Gehältern können neue Ungleichheiten herbeiführen und die ganze Vorlage verschieben. Daß wir die unteren Beamten vernachläsfigen wollen, ist nicht rihtig. Wir erkennen an, - daß auch sie einer ge- wissen weiteren Aufbesserung bedürfen, aber wir sind gegen die Stellung des Abg. Schmidt-Warbura und seiner Freunde. Wir haben vor 7 Jahren die Unterbeamten aufgebessert und geen jeßt einen Abschluß mit der esammten Aufbesserung dur die Aufbesserung der ‘höheren und mitt- uin Beamten. Der Vorschlag des Abg. Schmidt-Warburg, ein Pausch- quantum in den Etat einzustellen, um die unteren Beamten um 10 9% aufzubessern, bis der Finanz-Minister eine andere Vorlage gemacht at, erweckt Hoffnungen, von denen wir nicht wissen, ob sie erfüllt verden fönnen. (Ruf rechts: Warum nicht gleich 20 9/0?) Für die Eisenbahnbeamten würde das allein 8 Millionen Mark auësmagen. Menn wir den Antrag von der Acht annehmen, so haben wir eine Schraube ohne Ende, denn dann fommen wieder die mittleren Beainten und wollen noch weiter aufgebefsert sein. Wir können mit der: Erklärung des Finanz-Minifiers zufrieden fein, daß sobald wie irgend möglich die Härten und Ungleichheiten für die Unterbeamten beseitigt werden follen. Die Vorlage löst die Frage für eine sehr große Zahl von Beamtenklassen in befriedigender Wrise, wenn ihr gs menshlihe Schwächen anhaften ; aber wenn wir hier au \sechs Wochen sien, so werden wir es niht besser machen: können als die Regierung. Wir fassen die ganze Borlage als einen Kompromiß auf und stellen keinen Abänderungsantrag. Das Bessere ist der Feind des Guten. Wir gönnen den Beamten diese 20 Millionen Mark und nehmen die Vorlage in der Kommissionsfassung an.

Abg. Dasbach protestiert gegen die Behauptung, daß er den Grundsay aufgestellt habe, die Beamtengehälter müßten aufgebessert werden, weil die Staatsbetriebe gut rentieren.

Abg. Ehlers (fr. Vgg.) weist die Behauptung des Abg. Reichardt zurüdck, daß“ er dur seine Abstimmung in der Kommission die Vorlage vershlechtert habe. Das Stimmenverhältniß sei 14 gegen 14 gewesen. Die er anders gestimmt, so würden die Anträge mit 15 gegen 13 Stimmen abgelehnt worten sein. Er müsse es ab- lehnen, hinter der Vereinigung des Zentrums und der _National- liberalen ber zu marschieren. Die Würde des Amtes hänge nicht von dem höheren oder geringeren Gehalt ab. Herr Reichardt wolle das -mißrathene Kind der Kommissionsbeshlüsse durch Anträge ver- bessern. Das Beste wäre, die Vorlage ohne weitere Debatte en bloc anzunehmen.

Abg. Simon von Zastrow (fkonf.) macht darauf aufmerk- sam, daß der Finanz-Minister seit seiner Amtsführung eine große Reihe von segensreihen Gesegen durchgeführt habe, und spricht ihm seinen Dank dafür aus. Auch für diese Vorlage verdiene der Minister den lebhaftesten Dank. Der Dank seines Landesherrn sei

ihm e zu theil geworden, aber nohch nicht der Dank des Landes.

Der A werde in den Wißblättern immer dargestellt als der Mann, der alles nehme, was er bekommen könne; es werde aber übersehen, da E, was er bekomme, auch wieder an die richtigen Empfänger abführe. : T Sch{midt - Warburg bemerkt, daß der Abg. Ehlers im N niht entscheidend sein werde bei der Abstimmung. Wenn die egierung. seinen Vorschlag annehme, würde sofort für die Unter- beamten gesorgt sein. L i :

Abg. Schreiber (fr. kons.) erklärt, daß seine Fraktion alle Anträge ablehue und für die Kommissionsbeschlüfse stimme. Die Steuerzahler, führt er aus, sind dabei interessiert, wenn wir hier nohch so und so viele Millionen mehr bewilligen. Wir treffen das Richtige, wenn wir die Resolutionen der Kommission annehmen und nicht einen bestimmten Zeitpunkt festseßen, bis zu welchem für die Unter- beamten weiter gesorgt werden muß.

Damit schließt die Generaldiskussion. :

Beim Eintritt in die Spezialdiskussion erklärt

Abg. Kir \ch, daß das Zentrum gegen alle Erböhungen stimme, die über 8000 4 hinausgehen. : /

Eine Reihe von einzelnen Gehältern wird ohne Debatte nah ‘den Beschlüssen der Kommission angenommen.

Das Gehalt der Unter-Staatssekretäre in den Ministerien soll nah der Regierungsvorlage von 15 000 auf 20 000 M erhöht werden. Die Kommission hat nur 18 000 4 beschlossen.

Eu Walle (Zentr.) spricht sich auch gegen die Erhöhung auf 18 000 Æ aus.

Finanz-Minister Dr. von Miquel:

Meine Herren! Ih will nur ausdrücklich erklären, daß die Staatsregierung, wie in vielen anderen Fällen gegenüber den Kom- missionsbeschlüssen, .auch in diesem Falle mit dem Vorschlage der Kommission niht einverstanden is. Wenn sie keinen entschiedenen Widerstand erhebt, so ist lediglih der Grund für die Regierung der, den Wünschen des hohen Hauses entgegenzukommen.

Das Haus beschließt nah dem Kommissionsantrag. ; Bei der Gehaltserhöhung für den Unter-Staatssekretär im Justiz-Ministerium lenkt | | /

Abg. Dr. E els (nl.) die Aufmerksamkeit auf die Angelegenheit des Pcivatsekretärs Pfahl aus Hannover, der wegen Betrugs angeklagt worden sei, weil er sih erboten habe, die Begnadigung der Hofbesißzer Diers,. welhe wegen s{chwerer Körperverleßun , begangen an dem Hofbesiger Buchholz, zu längerer Gefängnißstrafe ver- urtheilt waren , durhzuseßen. In den Verhandlungen fe festgestellt worden, daß die Staatsanwaltschaft dreimal zum Bericht aufgefordert worden sei, si dreimal in der ungünstig#en Weise über die Diers geaabert habe ; dasselbe habe au der Gefängnißdirektor der betreffenden

nstalt gethan. Es sei weiter festgestellt worden , daß die Be- A t leihwohl erfolgt sei, indem den Verurtheilten von 1 Jahr 6 Monaten 7 Monate ezlassen worden seien. Noch auf- fälliger sei es, daß der Bruder des Angeklagten Pfahl, ein höherer

eamter, auf den er sih gestüßt habe, wegen [einer nahen Ver- wandtschaft sein Zeugniß verweigert habe. Er, Redner, halte es für seine Pflicht, dem Justiz-Minister Gelegenheit zu geben, fich dar- über zu äußern, wos ihm von diesem Vorgange bekannt sei.

Justiz-Minister Schönstedt:

Meine Herren! Ich bin dem Herrn Abg. Dr. Eckels und dem Herrn Präsidenten sehr dankbar, daß mir hon heute Gelegenheit ge- geben wird, mih hier über Vorgänge zu äußern, die seit gestern dur eine Reihe von Tageéblättern, theilweise unter höchst sensationellen Ueberschriften, laufen und die scheinbar dazu dienen sollen, in sensatio- neller Weise weiter ausgenußt zu werden. Ich habe das lebhafte Be- arfntß, meine Herren, schon heute nah meinen Kräften dafür einzu- pa daß auf jenen Beamten der Justizverwaltung, die in den

erihten über die Verhandlung, in viel höherem Maße aber in den Zeitungsbesprehungen, die sich an dieselben anknüpfen, verdäctigt worden sind, au nicht einen Tag länger als nöthig irgend ein Vor-

Berlin, Mittwoch, den 31. März

wurf haften bleibt. Sie werden mir deshalb gestatten, daß die Etats-

berathungen auf wenige Augenblicke nur dur dieses kleine Inter-

mezzo unterbrochen werden.

Es handelt sih in der Sache, die den Gegenstand der Verhand-

lung vor der Strafkammer in Hildesheim gebildet hat, um Folgendes:

In einem Dorfe in der Nähe von Hildesheim, Aligse, leben

feindliße Nachbarn: drei Mitglieder einer Familie Diers, der Vater

und zwei Söhne, Hofbesiger, leben in Streit mit einem Nachbar

Buchholz über ein von ihm in Anspru genommenes Wegerecht über den

Hof. Dieser Streit hatte hon vielfah zu Differenzen zwischen den

betheiligten Personen geführt, zu einem Prozeß war es nicht gekommen, eine

rihterlihe Entscheidung fehlt also noch. Im Mai 1894 begegnen die

Gebrüder Diers mit einem Fubrwerk auf dem über ibren Hof führenden streitigen Wege dem Nachbar Buchholz, mit einem Hand-

wagen ; ein Ausweichen ist nicht mögli, es entsteht ein Wortwechsel ;

es fallen häßlihe Schimpfworte, und nahdem der Buhhholz auch ein

solhes Schimpfwort gegen den inzwischen hinzugekommenen Vater der Brüder Diers hat fallen lassen, fallen die drei Diers über den Buch-

holz her, schlagen ihn mit den Fäusten über den Kopf, rüksihtslos8,

wohin sie treffen, zweifellos in roher Weise und drängen ihn zu- gleih gegen einen Stacketzaun, und zwar in der Weise, daß Buh- holz einen Augenblick rücklings über den Stacketzaun hinüber - gedrückt wird. Dabei verliert der Buchholz das Bewußtsein. Seine Eltern, die inzwishen herangekommen find, tragen ihn bewußtlos ins Haus. Der Mann wird am folgenden Tage ärztlih untersuht, und es finden si an seinem Körper eine Reihe bös unangenehmer Ver- leßungen, Kontusionen, Beulen, Abschürfungen u. s. w. Er klagt über beftige Schmerzen, namentliß im Rückgrat. Nachdem er ih längere Zeit in häusliher Pflege befunden hat, wird et im Juli in ein Krankenhaus nah Hannover geschidckt. Meine Herren, gegen die Diers wird infolge des Vorgangs An- flage erhoben. Sie kommen vor die Strafkammer am Landgericht Hildesheim am 29. März 1895. . Zu dieser Zeit lag der Buchholz noch ungeheilt im Krankenhause und die Gutachten der vernommenen Sachverständigen hatten sich dahin ausgesprochen, daß die Folge dieser Verleßungen ein dauerndes Siechthum des Buchholz sein werde. Auf dieser Grundlage wurden die drei Diers wegen gefährliher Körperverleßung und der daourch herbeigeführten Folge des dauernden Siehthums bei dem Verleßten zu einer Gefängniß- strafe von 1} Jahren verurtheilt. Während darauf der Vater die Strafe antrat, legten die beiden Söhne zwei Strafaussezungsgefuche vor. Beide wurden abgelehnt. Darauf traten am 18. Juli 1895 auch die beiden Söhne ihre Strafe an. Es wurde dann ein Gnadengesuch eingereiht, um Umwandlung der Gefängniß- in Festungsstrafe. Es wurde, nahdera es im Justiz-Ministerium geprüft war, von mir abgewiesen. Inzwischen hatten sich jedoh hon An- zeichen dafür ergeben, daß in dem Gesundheitszustande des Verleßzten eine Besserung begann, die über die Feststellung des ersten Richters, daß in der That bei ihm ein dauerndes Siechthum vorliege, Zweifel erregte. Ich habe deshalb veranlaßt, daß nah sechs Monaten mir darüber berichtet werde, wie der Zustand des Verleßten \ich inzwischen gestaltet habe. Gleichzeitig habe ih auf ein von dem Schwiegervater des einen Diers eingereihtes Gesu nach eingeholter Zustimmung des Herrn Ministers des Innern den beiden jüngeren Diers einen sechs- wöcigen Urlaub bis Ende Oktober ertheilt, damit sie für die unauf- \chieblihen Erntearbeiten ihrer Wirthschaft sorgen könnten und diese nicht vollständig zu Grunde gehe. Sie waren nit in der Lage gewesen, für ihre Vertretung zu sorgen, drei Männer waren der Wirthschaft entzogen, es handelte sih um ziemlih erheblihen Besiß, und ih habe deshalb geglaubt, ihnen den Urlaub bewilligen zu müssen, auch im

{- Interesse der Landwirthschaft im allgemeinen. Noch vor Ablauf dieser

Ende Oktober, baten die Diers um eine weitere Verlängerung ihres Urlaubs. Diese wurde abgelehnt. Nun i im Laufe des folgenden Winters eine ganze Reihe von Begnadigungsgesuchen gekommen, theils Immediatgesuche, theils Ausstandsgesuhe von seiten der Verurtheilten. Diese ver- schiedenen Gesuche sind ebenfalls ohne weiteres abgelehnt. Im Früh- jahr wurde wiederholt ein Urlaub, wiederum zum Betriebe der land- wirthschaftlihen Arbeiten, nahgesuht. Auch dies wurde abgelehnt.

Nunmehr berihtete nah Ablauf der sechs Monate die Staats- anwaltschaft, es sei allerdings bei dem Verleßten eine-gewisse Besse- rung eingetreten, aber es lasse sh do noch nit übersehen, ob diese eine dauernde und erheblihe sein werde; sie müsse sih deshalb auch jeßt gegen eine etwaige Begnadigung aussprehen. Ich habe darauf verfügt, daß zur Zeit kein Anlaß vorliege, der Frage der Begnadigung näher zu treten. So verlief die Sache bis in den Monat Juni hinein. Da war wiederum ein von mir angeordneter weiterer Bericht fällig über die Gesundheitsverhältnisse des Verleßten. Dieser Bericht lief hier ich glaube am 17. Juni ein. Es ergab sich {on daraus, daß eine weitere, nicht unerheblihe B-.sserung in dem Zustand des Verleßten eingetreten war. Vier Tage nah Eingang dieses Berichts kam ein Immediatgesuh, ein Gnadengesuch aus dem Kabinet an mich, und es war diesmal zum ersten Mal „zum Bericht“ geschrieben, es war von mir ein Bericht erfordert, ob dem Be- gnadigungégesuh ftattzugeben fei oder niht. Mir lagen die ge- sammten Akten vor, die mit dem Bericht der Staatsanwaltschaft ein- gereiht waren; das ganze Material lag also hier vor, und das Gnadengesuh brahte nur nohch weiteres urkundlihes Material. Jch habe teéhalb keine Veranlaffung genommen, um nochmals über dies Gesuch den Bericht der Staatsanwaltschaft einzufordern, und nach der dur die damalige Aktenlage gegebenen Sachlage mich meiner- seits verpflichtet gehalten, nunmehr den Straferlaß für die Ver- urtheilten an Allerhöchster Stelle in Antrag zu bringen.

Meine Herren, die Gründe, die mih tazu bestimmten, waren folgende. Es war zunächst dur ärztliches Zeugniß festgestellt, daß bei dem Verlehten, der inzwischen dreimal einen längeren Aufenthalt in Oeynhausen genommen hatte, eine wesentlihe Besserung eingetreten . war; und das Gutachten - seines behandelnden Arztes lautete dahin,

sechswöchigen Frist,

1897.

von 1 bis 14 Jahren würde bei dem Verleßten wieder die normale Erwerbsfähi«keit eingetreten sein. (Bewegung.) Damit war also dem Urtheil der Strafkammer in Bezug auf die Strafabmessung eine wesentliche Unterlage entzogen. Es wurde ferner festgestellt, daß die Verurtheilten freiwillig und aus eigenem Antriebe nicht, wie es in einzelnen Zeitungsberichten heißt, auf Grund eines gerihtlihen Uitheils in einer weitgehenden Weise dem Verleßten entzegengekommen waren: sie hatten ihm 19 500 M gezahlt, 15 000 als reine Entshädigung und 4500 für Kosten u. \. w. Die Verurtheilten brahten ferner bei eine ausdrückliche Erklärung des Verleßten, daß er mit der Begnadigung einverstanden sei. (Hört! hört!) Diese Erklärung war schon im Mai ausgestellt, und der Ortsgeistlihe begleitete sie mit der Aeuße- rung, daß diese Erklärung das Ergebniß sei einer zwischen den beider- seitigen Familien herbeigeführten Versöhnung, bei der gerade die Fa- milie der Verurtheilten fi in einer so anständigen Weise benommen häite, daß sie dadurh die Sympathien der ganzen Gemeinde für \ih ge- wonnen hätte.

Das waren die drei wesentlihen Gründe, die mich bestimmt haben, die Begnadigung zu befürworten. Es kam hinzu, daß“ die Leute bis dabin eine durhaus einwandsfreie Vergangenheit hatten, daß sie nicht, wie in einer angesehenen Zeitung berichtet ist, Raufbolde waren ; es lag nihts gegen die Leute vor, sie hatten sih bis in ihr vorge- \chrittenes Alter durhaus vorwurfsfrei geführt; sie erfreuten sih des höchsten Ansehens in der Gemeinde. Es kam ferner hinzu, daß nicht bloß der Geistliche, sondern au der Ortsvorsteher fich dem Begnadi- gungsgesuch anschlossen. Es kam hinzu die Rücksicht auf das hohe Alter des einen Verurtheilten, des Vaters, und die Rücksicht auf den Gesundheitszustand seiner hochbetagten Frau, die nah dem Uctheil des Arztes infolge der seelishen Aufregungen, die sie durchgemacht hatte, der Gefahr baldigen Erliegens nahegebraht war.

Alle diese Umstände wirkten zusammen, mich pflihtgemäß zur Befürwortung des Gnadengesuchs zu bestimmen, der denn auh dem- nächst die Begnadigung gefolgt is. Auf Grund dessen find am 92, Juli 1896 die Verurtheilten aus der Haft entlassen worden ; sie - hatten niht, wie es in einzelnen Zeitungen heißt, nur 75 Monat Strafe verbüßt, sondern der eine, der Vater, hat ein Jahr 2 Wohen, die beiden Söhne eine ähnlich lange Zeit verbüßt, abgesehen von der durch ihre Beurlaubung eingetretenen Unterbrechung. Das is der rein objektive Sachverhalt und, wie ich hinzufügen will, wenn be- hauptet wird, daß die Führung der Verurtheilten im Gefängniß sehr \ch{lecht gewesen sei, daß die Gefängnißverwaltung sich auch gegen die Begnadigung ausgesprochen habe, so ist diese Thatsache unrichtig. Bezüglich des einen Verurtheilten is die Führung \{lechthin als eine gute bezeihnet worden ; bezüglich der beiden anderen lagen fleine Disziplinarvergehen vor, daß einer das Arbeitspensum niht abgeliefert habe, daß der andere einen Brief mit lügnerischen Behauptungen aus dem Gefängniß herausgeschmuggelt habe, und ähnliche Dinge, die hier nicht in Betracht kommen.

Meine Herren, in dieser Sache ist also eine sehr große Zahl von Begnadigungsgesuchen eingegangen. Nach der im Justiz-Ministerium bekannten Handschrift rühren diese Gesuche zum großen Theil her von dem bei der leßten Verhandlung vor der Strafkammer in Hildesheim bekannt gewordenen Privatsekretär Pfahl in Hannover, der sid) seit vielen Jahren mit der Anfertigung solcher Gesuche befaßt; derselbe ist im Justiz-Ministerium, wenigstens beim Portier, eine sehr be- kannte Persönlichkeit, weil er dort häufig solche Gesuche überreicht hat. Er hat ih gerühmt, daß er maßgebenden Einfluß an solher Stelle habe, daß durch ihn Begnadigungen erreiht werden könnten. Es haben diejenigen Personen, für welche er \solhe Gesuche einreichte, ihm sehr große Versprehungen für den Fall des Gelingens gegeben. Ich glaube , diese Leute hätten besser gethan, es niht zu thun; sie würden dann den Prozeß, den fie allerdings gewonnen haben, vermieden haben, denn genüßt hat ihnen dieser Herr absolut nihts. Das Gnadengesuch, worauf die Begnadigung erfolgt ist, ist niht dur den Pfahl, sondern, wie in dem Zivilprozeß festgestellt ist, von einem Andern, ih glaube einem Lehrer in Lehrte, angefertigt worden. Der Pfahl selbst ist allerdings im Justiz- Ministerium {hon seit 21 Jahren bekannt ; ‘er hat nah einem Bericht der „Frankfurter Zeitung" \ih darauf berufen, daß er seit 21 Jahren im Justiz-Ministerium sehr freundlich dur Herrn Geheimen Rath Horstmann empfangen werde. Die Bekanntschaft hat eigenthümlih begonnen ; die Akten liegen mir vor. 1876 war Pfahl selbst wegen Beleidigung verurtheilt; er legte ein Begnadigungsgesuh ein; es handelte sich um cine Beleidigung des Polizei-Präsidiums in Hannover. Das Begnadigungsgesuch ist zunächst abgelehnt worden, das Polizei- Präsidium hat ihm aber Verzeihung angedeihen lassen, und es ist darauf unter Zustimmung des Ministers des Innern die Freiheitsstrafe in Geldstrafe verwandelt worden. 1882 machte er sih der Beleidigung eines Rehtsanwalts in Hannover schuldig, wurde deshalb mit drei Wochen Gefängniß bestraft. Er reihte ein Gnaden- gesuch ein, das jedoch abgelehnt wurde. Inzwischen brachte er ein Krankheitsattest bei, welches die Strafvollstreckung verzögerte. Schließ- lih brahte er auch hier eine Verzeihung des Beleidigten bei und zugleich Atteste darüber, daß die Vollstreckdung der Gefängniß- strafe seinem damaligen Gesunheitszustande sehr {hädlich sein würde, und so schien es angemessen, die dreiwöchige Gefängnißstrafe in eine Geldstrafe umzuwandeln, die aber auf den immerhin verhältnißmäßig hohen Betrag von 150 #4 bemessen wurde. Das ist also die ältere Bekanntschaft. Aus den vorliegenden Akten geht allerdivgs hervor, daß der Mann damals von dem, Herrn Geheimen Rath Horstmann empfangen worden is. In der vorliegenden Sache aber ist er zweifellos niht empfangen worden. Er mag zwar, wie ih ohne weiteres annehme, auch später in anderen Sachen noch bis- weilen empfangen worden sein von Herrn Geheimen Rath Horst- mann, der vielleiht in seiner großen Liebenswürdigkeit und Höflichkeit Bedenken getragen hat, einen Mann solchen Kalibers so zu behandeln, wie er verdient, und thm den Ausgang etwas zu erleichtern. Daß aber die Meinung dieses Herrn über den Pfahl nicht günstig

daß mit ziemlicher Sicherheit angenommen werden könne, nah Verlauf !

ift, könnte ih beweisen aus einer Registratur von 1882 von der Hand