1897 / 173 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 26 Jul 1897 18:00:01 GMT) scan diff

E e e Fa 4 P t L E L as L L A E S T EET PELE

P E A Lu E E E E E S E E O:

E I EE

pi

Die Bedenken, welhe gegen diesen Geseßzentwurf, der übrigens nur in einem Theil den Charakter einer Sondergesezgebung trägt, erhoben worden sind, find ja sehr zahlreich; ich will mir erlauben, davon nur drei ganz kurz zu berühren.

Man fagt zunächst, diese Art der Gesetzgebung sei reihs- verfassungsmäßig nicht zulässig. Diesem Einwand gegenüber wird es, glaube i, genügen, wenn ih auf den Wortlaut der Reichsverfafsung hinweise und auf ‘das Schlußprotokoll dazu aufmerksam mache, in dem hervorgehoben i: so lange die Reichsgesezgebung von ihrer Befugniß, auf den ihrer Zuständigkeit unter- liegenden Gebieten geseßgeberisch vorzugehen, keinen Gebrau gemacht habe, seien die Landesregierungen vollständig in der Lage und in ihrem Recht, wenn sie ihrerseits geseßgeberisch vorgingen. Ih glaube, daß die Frage nah dieser Nichtung hin sfih ohne allen Zweifel zu Gunsten der Staatsregierung lösen muß.

Man sagt ferner, meine Herren, man solle den Weg der Sonder- gesegebung niht betreten, weil er erbittere. Hier habe ih nun zunächst zu konstatieren, was ich ausdrücklih auch hon im Herren- haufe hervorgehoben habe, daß die jeßt hier zur Berathung stehenden Bestimmungen in keiner Weise bezwecken, den berechtigten Be- strebungen der Arbeiter auf Erzielung günstigerer Bedingungen und Besserung ihrer Verhältnisse in irgend einer Weise entgegenzutreten ; dann aber, meine Herren, muß ih betonen, daß mir der Einwand, es könne eine Art von Erbitterung eintreten, auch aus folgender Er- wägung doch niht stihhaltig zu sein s{heint. Wer \ich selbst durch seine Bestrebungen außerhalb der Staats- und Gesellschaftsordnung stellt (sehr gut! rechts), kann sich doch nicht darüber wundern, daß der Staat und die Gesellshaft zu ihrer Vertheidigung außer- gewöhnlihe Mittel ergreifen.“ (Bravo! Sehr gut! rets.)

Drittens, meine Herren, wendet man ein, es gehe doch wohl nit an, daß ein einzelner Bundesftaat derartige Maßregeln zu seinem Schutz ergreife; es würde die Folge sein, daß die sozialdemokratische Bewegung aus dem einen Bundesftaat vielleiht in den anderen über- tragen würde. Nun, meine Herren, abgesehen von dem Grundsay, den ih doch immer festhalten möchte, daß jeder Staat zunächst sich selb der nächste ist, und daß es den anderen Staaten eventuell ja au überlassen bleiben könnte, auf dem Wege der Landesgeseßgebung so vorzugehen, wie sie es für erforderlih halten, muß ich doch hier ausdrüdlih fonstatieren, daß die Voraus\seßungen, welche zu diesem Einwand geführt haben, thatsächlich unzutreffend sind. Es ist ja hier, ih möchte beinahe sagen, {hon zum Ueberdruß hervorgehoben worden, daß wir dur dieses Gesey gerade diejenigen Machtbefugnisse erstreben, welhe andere Staaten theils auf dem Boden des gemeinen Rechts, theils auch \sogar durch etne Ausnahme- geseßgebung bereits besißen. In dieser lezteren Beziehung möchte ih nun darauf aufmerksam ‘machen, daß alle diejenigen Staaten, in denen der bekannte Bundestagsbeshluß von 1854 noch Geltung hat, oder die ihn in ihre Gesetzgebung aufgerommen haben, ausdrücklich Sonder- bestimmungen von fast gleicher Faffung zur Verhinderung von Ver- einen sozialistisher und kommunistisher Natur besißen. Es wird also keine8wegs dasjenige eintreten, was von den Herren, die diesen Einwand vertreten, behauptet wird, daß ein Abstrômen von Sozialdemokraten in die anderen Bundesstaaten stattfände, sondern es wird eben nur für Preußen diejenige Lücke ausgefüllt, welhe wir mit großem Bedauern schon seit langen Jahren haben konstatieren müfsen. (Sehr richtig! rets.) Ih möchte Ihnen zum Beweise dessen nur von einem praktischen Falle Kenntniß geben, der sich vor einiger Zeit ereignet hat. Es bestanden in Hamburg 2 anarchistishe Vereine, die seitens der Ham- burger Behörden einfa aufgehoben wurden, weil fie nah dortiger Auffassung gegen die Sicherheit des Staates versließen. Diese beiden Vereine hatten nichts Eiligeres zu thun, als sich fofort in Altona wieder zu begründen (Hört, hört! rechts. Lachen links), und sie würden wahrscheinlich ncch jeßt bestehen, weil die preußische n Machtmittel gegen diese Vereine nicht ausreihten, wenn nicht ein zu- fälliger Umstand hinzugetreten wäre, der dazu geführt hat, daß wenigstens einer dieser Vereine sich selbst wieder auflöste. Also, meine Herren, ih meine, daß auch dieser Einwand keineswegs stihhaltig ift.

Ich wiederhole, meine Herren, die Königliche Staatsregierung hâtte es gern gesehen, wenn wir auf dem Boden des gemeinen Rechts geblieben wären. Sie kann aber die Bedenken, die sich gegen die jeßige Fassung erheben, niht für aus\{chlaggebend halten, und sie bittet daher dringend, meine Herren, die Hand der Verständigung, die seitens des Herrenhauses diesem hohen Hause dargereiht ift, (Lachen links) zu ergreifen. (Bravo! rechts.)

Meine Herren, es handelt ih hier keineswegs, wie in der Presse mit Emphase hervorgehoben wird, um Aeußerungen der s{chwarzen Reaktion es liegt der Staatsregierung vollständig fern, die legitime Ausübung des Vereins- und Versammlungsrechts irgendwie antasten zu wollen es handelt sich hier lediglih um Akte des gesunden Menschenverstands (sehr rihtig! rechts ; sehr rihtig! links), welcher ganz gebieterisch fordert, einem unversöhnlihen Feinde, der im Begriff steht, die ländlihe Bevölkerung und unser Herr zu infizieren und zu vergiften, so bald und so kräftig wie möglich zu Leibe zu gehen. (Lebhaftes Bravo rechts.)

Meeine Herren, was sind diesen eminent praktishen Erwägungen gegenüber die mühsam herbeigetragenen und herbeigezogenen Ein- wendungen. (Sehr richtig! rets.) Die Besorgniß des Mißbrauchs durch untergeordnete Polizeibeamte, die Möglichkeit der Anwendung dieses Gesetzes auf die Parteien, für die es nicht berechnet ist, eine Be- sorgniß, die dur die jeßige Fassung ja vollends ausgeschlossen ist, der theoretische Streit, ob Reichs-, ob Landesrecht, die Furt, man könne einen Fehlgriff thun, weil man mit diesem Gesetze nit gleichzeitig die Presse träfe? Was können, meine Herren, diese Erwägungen be- deuten gegenüber dem vorher von mir so {arf betonten dringenden Bedürfniß?

Meine Herren, Sie sollten doch der Königlichen Staatsregierung dafür danken (Lachen links und im Zentrum; Bravo! rets), daß sie den Finger in die Wunde gelegt hat, und Sie follten, anstatt die Königliche Staatsregierung zu bekämpfen, sh an ihre Seite stellen. Helfen Sie uns, meine Herren, die Krankheit zu heilen, die an dem Herzen unseres Volkes frißt, unterdrücken Sie Ihre Be- denken und stimmen Sie der Faffung des Herrenhauses zu; Sie werden dadurch fh niht nur den Dank des Volkes verdienen (Lachen links; sehr richtig! rechts), sondern, meine Herren, Sie werden künftig auch sagen: die Königlihe Staatsregierung hat ganz recht daran gethan, daß sie troß der geschäftlichen Schwierigkeiten dur ihre Beharrlichkeit uns genöthigt hat, zu diesem Gesezentwurf noch einmal definitive Stellung zu nehmen. (Lebhafter Beifall

“a

rehts; lebhaftes Zischen links. Wieberholtes, andauerndes Bravo und Zischen.) :

Abg. Hobrecht (nl.): Ih hätte mih auf eine kurze Erklärung über unsere Abstimmung beschränkt, aber nah diesen Ausführungen des Ministers muß ih unsere Haltung motivieren. Die Fassung des

FSAE ist uns niht neu, sondern entspriht mit einer unwesent-

ihen Modifikation den freikonservativen Anträgen, mit denen {ih dieses Haus beschäftigt hat und die wir ebenso wie die korrespondierende ursprünglihe Regierungsvorlage abgelehnt haben. Leider hat sich weder die Regierung noch die Majorität des Herrenhauses mit den von uns vor- geführten Gründen beschäftigt. Dagegen hat es nicht an Ver- suhen gefehlt, unsere Haltung auf Motive zurückzuführen, die wenigstens niht sehr schmeihelhaft sind. Wir verschlöfsen unsere Augen dem Ernst der Gefahr! Gegen das Vorgehen der Regierung sei eine künstlihe Erregung in Scene gesegt worden, und wir ließen uns durch diese bestimmen u. f. w. Es ist niht nöthig nachzuweifen, daß unsere Partei die ernste Gefabr der fozialdemokratishen Agitaticn niht immer anerkannt hätte. Daß diese Gefahr in den leßten Jahren \chlimmer geworden und neuerdings eine so akute geworden wäre und eine Gestalt angenommen hätte, die zwänge, ohne jeden Auf- enthalt mit Gewaltmaßregeln dagegen vorzugehen, das {eint mir nit rihtig. Ebenso wenig ist etwas bekannt geworden von einer künstlichen Agitation gegen das jepige Vorgehen der Regierung, während ih wenigstens den Eindruck habe, daß die Aufregung über das plöuliche Veberwuchern einer Gefahr, der man Hals über Kopf niht {nell genug entgegentreten Éönnte, um die Gesellschaft zu retten, künstlich lei. Aber es kommt darauf niht an, ebenso wenig auf die Frage, ob das Vorgehen der Regierung genau der Zusage entspriht, die im Neichstage gegeben wurde; für unsere Abstimmung sind diese Er- wägungen nit entscheidend. Wir haben uns gegen Artikel T und ITI der Vorlage ablehnend verhalten, weil das darin gegebene Mittel gegen die wirklihe Gefahr ganz nußlos ift. Wenn darin eine wirkliche Hilfe läge, könnte man vielleiht das Bedenken, daß ein Mißbrauch mit dem Gesetz stattfinden könne, fallen laffen, aber biese Voraus- seßung trifft niht zu. Jch kann nur bedauern, daß diese Gründe, die von allen Rednern hier höch\ maßvoll, saGlih und ohne alle Leiden- \haft vorgetragen sind, niht die verdiente Würdigung gefunden haben. Den Artikel 1, wonach die die Sicherheit des Staats und die öffent- lie Ordnung gefährdenden Bersammlungen aufgelöt werden Éönnen, haben wir abgelehnt, weil die Entscheidung über die Frage, was denn unter den die Sicherheit des Staats gefährdenden Bestrebungen zu verstehen sei, in die Hände unter- geordneter Polizeiorgane gelegt wird, ohne daß das Geseß ihnen auch nur den leiseften Anhalt für ihre Entscheidung giebt. Wir haben das abgelehnt, weil die Auflösung von Versammlungen, welche ja fonst aus anderen Gründen nothwendig sein fann, als Mittel zur Erhaltung des öffentlichen Friedens und zur Sicherheit des Staats anz ungeeignet ist. Jn dieser Hinsicht is die Auflösung von ersammlungen so zwecklos, - daß ih ost die Aeußerung gehört habe, daß die Beamten eine Versammlung nicht eher auflösen dürften, als bis die Personen festgestellt seien, die dazu Veranlassung gegeben hätten. Den Artikel TI11, bezüglich der Schließung von Vereinen, haben wir aùs denselben Gründen abgelehnt, weil die Fafsung so all- emein war und der Bestimmungen entbehrte, durch welche die reine illkfür ausgeschlossen würde. Die Klage bei dem Ober-Verwaltungs- geriht Tann dagegen nicht helfen. Denn um einen Mißgriff der Polizeibehörde zu korrigieren, ae das Ober-Verwaltungsgericht sich zu einer politishen Gefinnungsinstanz umwandeln, und das wäre das S(limmste, was uns passieren könnte. Wir haben den Artikel ferner abgelehnt, weil gerade gegen wahrhaft gefährlihe Verbindungen das Vereinsverbot ganz unwirksam ift. Einen Theil unserer Ein- wendungen wollten die freikonservativen Anträge beseitigen, indem sie die Sache aus\{ließlich auf anarhifstische und \ozialdemokratishe Be- \trebungen beschränkten. Jch gestehe, daß, wenn ih wählen müßte zwischen beiden Fassungen, ih persönli der ursprünglihen Regierungsvorlage den Vorzug geben müßte, weil, wenn den in einer die Sicherheit des Staats gefährdenden Weise auf den Umsturz gerichteten Be- \trebungen entgegengetreten werden foll, der Staat sie mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln bekämpfen muß, gleihviel von wem fie ommen, gleichviel, ob von der sozialdemokratishen Partei oder von fozialistisher Seite, und ih könnte noch andere nennen! Wir wollen doch nit ein Umsturzmonopol etablieren und bloß gegen die Sozialdemokratie einschreiten. In dieser Beziehung muß ih Herrn Stöcker vollkommen Recht geben, der neulich ausführte, daß ein Kampf, der bloß gegen die Sozialdemokratie und niht auch gegen die anderen Strömungen gerichtet werde, ausfihtslos sei. Sei dem, wie ihm wolle, ih mache darauf aufmerksam, daß auch in diesem Falle meine Partei fih durch rein prafktische Erwägungen hat leiten lassen. Der freikonservative Antrag wurde von uns abgelehnt, weil die Fassung eine so unbestimmte ist, daß für das behördliche Einschreiten ein sicheres Merkmal absolut nicht gegeben ist, und weil gerade in der Beschränkung auf die Anarchisten und Sozialdemokraten die Unwirksamkeit eines Landesgeseßes und die Un- wirksamkeit eines auf das Versammlungs- und Vereinswesen be- \hränkten Gesezes besonders klar zu tage tritt. Namentlih möchte ih darauf aufmerksam machen, daß die Verheßung der Arbeiter gegen ihre Arbeitgeber, die Aufreizung zu Strikes, die Verführung und Bedrohung von Arbeitswilligen durch dieses Gese absolut nit berührt und nit getroffen werden. Sie sind auch fogar dur das viel weiter gehende Ausnahmegesez, das wir im Reihe hatten, niht gétrofen worden. Diese Seite des Uebels war vorhanden vor dem Ausnahmegesez, unter ihm und nah ibm. Allerdings is einmal unter dem Sozialistengeseß dur ein Miinisterialrefkript ein Maurerstrike beseitigt worden. Aber dieses Reskript und sein Erfolg hängt mit diesem Geseß und dem damaligen Ausnahmegeseß niht zusammen. Im Gegentheil, ih glaube, daß man aus diesem Beispiel herleiten- könnte, daß eine geshickte und energishe Handhabung der gegebenen Mittel {hon jeßt vielen Uebeln vorbeugen farn. Diese Mittel nügen nihts, sondern sie verbittern ; das sind alles praktishe Erwägungen. Rach meiner persönlichen Meinung werden die aus dem Vereins- und Verfammlungsrecht drohenden Gefahren ganz ungeheuer überschäßt. Die praktishen Eng- länder hüten sich, diefes Vergnügen irgendwie besonders zu beshränfen. Ich meine, daß die dem Staat und der Gesellshaftsordnung nüt- lichen Bestrebungea nur in der Freiheit bestehen, gedeihen und sich entwideln fônnen, und daß siz dem Staat bert erseßen, was er etwa an polizeilihen Machtmitteln aufbieten kann. Bei aller Anerkennung des Ernstes der Aufgabe haben wir uns aus rein praktishen Gründen ablehnend verhalten, und bei der vollen Uebereinstimmung der Herrenhauébeshlüsse mit dem, was wir {hon abgelehnt baben, kann au jeßt unsere Haltung keine zweifelhafte sein. Wir würden heute das Gesey in derselben Form annehmen wie früher, wir halten heute wie damals das, was wir hineingebraht haben, für vernünftig und rihtig, Da wir aber gegen das Gesey im Ganzen {timmen müfsen, so wäre es ungere(tfertigt, wenn wir einzelne Théile davon doch annehmen wollten; wir können in der jeßigen Lage dem anderen Hause nicht mehr zumuthen, zum zweiten Male über diese Frage zu diskutiecrn. Deshalb kann unsere Haltung nur die fein, daß wir gegen die einzelnen Bestimmungen stimmen und gegen on ganze Geseg. Wir stimmen ebenso, wie wir bis jeßt gestimmt aben.

__ Abg. Graf zu Limburg-Stirum (kons.): Wir haben bei ter früberen Berathung für ein fachlich und niht annehmbar erscheinendes Geseß gestimmt, um bie Berathung im Herrenhause zu ermöglichen. Diese Berathung hat stattgefunden. Die Beschlüfse des Herrenhauses stellen das Minimum defsen dar, was man annehmen muß, wenn man überhaupt vorgehen will. Wir werden für Artikel T timmen, wenn dieser abgelehnt werden sollte, gegen die übrigen Artikel und \{ließlich gegen das ganze Gesez. Ich will meine Be tiedigun über die Nede des Ministers ausdrücken. Wir hören zum ersten ale wieder eine fo entschiedene und bestimmte Sprache vom Ministertish, und diese Sprache muß Befriedigung im Volke hervorrufen. weil die gut gesinnten Elemente daraus sehen, daß sie auf die Unterftügung der Regierung zu rechnen haben, daß der Kampf gegen die Umsturzbewegung mit Energie ge-

führt wird. Der Vorredner hat die Gefahr, die von ter Sozial, demokratie herrührt, vollkommen E Wenn er meint, daß augenblicklich keine gewaltthätigen Ereigni}fsz, die uns zu x maßregeln nöôthigten, mehr bevorständen, fo täus{t er fich. Dur eian Bewon und Anreizen werden die Gemüther vorbereitet zu einer gewa

ätigen Aktion, die. später kommt, wenn die

des Staats nit mehr avsreihen. Daraus den Sch ziehen, daß man gar nichts thun solle, ift g. Seit Jahren warnen wir vor der Gefahr der Sozialdemokratie und ih kann aub niht genug warnen vor der beschränkten Auf: faffung, daß die Sozialdemokraten nur eine radikale Partei seien die mit anderen bürgerlihen Parteien zusammenwirken könne. - Keine auf dem Gebiete des Staats und der Gefellshaftsordnung stehende Partei kann mit den Sozialdemokraten zusammenwirken. Es ift un- mögli, den fozialdemokratishen Agitatoren entgegenzutreten und zu beweisen. daß sie auf einer wissenshaftlich falschen Grundlage steben. Diesen Dingen find die großen Massen niht zugänglih. Es muß verhindert werden, daß in verlogener Weise aufgeheßt wird. Ih kann nicht umhin, die Verantwortung für das Scheitern des Gesetzes allein den Herren von der nationalliberalen Partei zuzuschieben. Die Haltung der Herren ist mir befremdend. Sie erkennen an, daß etwas geschehen müfe, aber fie sagen immer: nur das nicht. Wenn von dem Gemeinen Necht die Rede ift, dann kommt nichts zu stande, ebenso wenig, wenn es sich um Ausnahmegeseße handelt. Das beißt, die Gefahr sehr verkennen! Mögen Sie ein Geseh konstruieren, welhes Sie wollen, Sie werden Mängel finden, und Gründe, wes, wegen man gegen ein Geseß \timmen kann, sind billig wie Brom- beeren. Man muß den Ent|\hluß faffen, etwas zu tbun, und im Lande das Bewußtsein hervorbringen, daß etwas Energisches gesehen muß und daß eine Regierung vorhanden ift, die etwas thun will. Deßhalb bedauere ih, daß uns die Hilfe der Herren feblt, weil binter dieser Partei, die den Stolz des Bürgerthums darstellt, die Mehrheit des Bürgerthums nicht steht. Darüber kann kein Zweifel fein, daß mit diesem Geseße wesentlihe Schäden des Vereins- und Versamm- lungswesen8 geheilt werden. Bei den Kautelen des Ober-Verwaltungs- geridts ift es durchaus unmögli, daß die Verwaltungsbehörden in ungefeßliher Weise vorgehen. Das Zentrum ift auch von dieser Be- sorgniß geleitet. Es können einzelne Vorfälle vorkommen, aber eine systematische Verfolgung folWer Bestrebungen, die wir auch als be- rehtigt anerkennen, kann nicht vorkommen. Ich habe die Ueber- zeugung, daß in der großen Mehrheit des Landes die Ueberzeugung und der Wunsch wah geworden i, daß etwas geschehen muß. Die energishen Worte, die der- Minister gesprochen, und die ruhige und feste Haltung der Parteien, welhe dem Gefeß zustimmen, wird im Lande nicht ohre Eindruck bleiben. Die Aktion einer kleinen Preßkoterie hat in ihrer Wirkung aufgehört, und es kommt jeßt die Wirksamkeit derjenigen Elemente, welde durch dieses Geseß ge]chüßt werden follen. Jch kann deshalb nur {ließen mit der Bitte an die Regierung, wenn das heutige Ergebniß ein negatives fein follte, damit die Sache nicht als abgemacht zu betraten, sondern auf dem Wege fortzuschreiten, den fie in fehr erfreuliher Weise betreten hat.

Abg Lieber (Zentr.): Ich glaube, daß die Regierung \owohl wie die Parteien, welhe für die Vorlage eintreten, {ih des Ernstes der Lage voll bewußt sind. Daß tas Zentrum sich auch gegenüber diesen Beschlüssen des Herrenhauses ablehnend verhalten werte, darüber war ja wohl innerhalb und außerhalb des Hauses kein Zweifel, Das Gewicht der Gründe, welche uns zu unserer ablehnenden Haltung nötbigen, liegt nit bloß darin, daß wir befürchten, daß das Gese auch einmal gegen uns angewendet werden könnte. Es handelt fd niht um uns allein, sondern das Gesez übergiebt uns und jede andere Partei der Willkür der überwachenden Polizeiorgane. Es ift niht nöthig, daß die Veranstalter der Versammlungen und die Gründer der Vereine, die Redner der Vereine und Versamm- lungen anargjistischen Tendenzen huldigen, sondern wenn folhe Be- ftrebungen in folchen Vereinen und Versammlungen zu Tage treten, dann erfolgt die Auflösung. Es wird niht immer geschehen, aber nah dem, was wir an Geseßes8auslegungen erlebt haben, wird fein Mensch bestreiten, daß untergeordnete Polizeiorgane Willkür ausüben können, namentli in aufgeregten Zeiten und zur Zeit der Wahlen. Es fehlt den Beschlüssen des Herrenhauses an jeder juristischen Konsistenz. Die Befriedigung des Grafen Limburg über die Rede des Ministers des Innern kann ich nicht theilen, ih kann diese Be- friedigung nicht einmal begreifen nah der Höhe der Ansprüche, die Graf Limburg-Stirum fonft an parlamentarische Leistungen stellt. Der Minister hat so überrashende Dinge vorgetragen, daß man unmöglich darüber mit Stillshweigen hinweggehen kann. Er meinte, daß ein großer Theil der Bevölkerung. sch zurückziehen werde von der anarchistishen und sozialdemokratihen Bewegung, fobald der Staatsanwalt mit Ernft einschreiten würde. Sr hat ih auf die Wirkung des NReichs-Sozialistengesezes berufen. Ich weiß nicht, wo der Minister damals feine Thätigkeit ausübte. Wir, die wir die Wirkung des Gesetzes erlebi haben, sind überzeugt, daß nichts größere Mengen der Bevölkerung in das Lager der Sojzial- demokratie getrieben hat, als die Handhabung dieses Gesetzes. Deshalb hat man das Gefey nicht erneuert, nachdem die Parteien und die Regierung sich überzeugt hatten, daß das Geseß das Gegentheil des Gewolltes herbeigeführt hatte. Die Regierung kann nit. s{charf genug die Gefahr der fozialistishen Be- wegung darstellen, sie sucht nach Mitteln zur Bekämpfung, aber sie \chwankt darin, denn nahdem fie ihre Vorlage gemacht hat, ift fie durch die weisen Belehrungen des Herrenhauses zu der Ueberzeugung gekommen, daß es auch fo geht. ie weit sind wir doch abgewichen von dem Standpunkt der Regierung von 1864, deren Vertreter da- mals sagte: Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo. Fürst Bismarck erklärte, Lafsalle wäre ihm ein lieber Gutsnachbar; und heute Furht und Zittern auf der ganzen Ministerbank! Das Land und auch unsere hberrlihe Armee soll einen folchen Schutz verlangen! Früher hieß es: ein Staat, der 2 Millionen Bajonette hat, braucht die soziale Frage® ni&t zu fürhten; jeßt find die 2 Millionen Bajonette bedroht. Wenn das Jemand von den Freisinnigen oder Nationalliberalen ausgesprohen bätte, man bätte ihn von der Ministerbank als ,„vaterlandslosen Gesellen" bezeichnet. Wir baben diese Furcht nicht. Wird dieses Gese die Gefahr von der Armee fernhalten ? Bietet dieses Gesey eine Waffe gegen die Verbreitung von Flugschriften oder gegen die Korrumpierung unserer Rekruten und Reservisten ? Die anarhistisben und sozialdemokratishen Werber suchen die Arbeiter dort auf, wo niemand sie stôren kann, man müßte denn an die Seite jedes Arbeiters cinen Shußgmann stellen. Wenn die Armee gefährdet ift, dann ift es doch nicht bloß die preußische Armee. Keine Aussihhtslofigkeit bätte die Regierung abhalten dürfen, die Sicherung des Heeres im Reiche zu sfuhen. Offenes Auge und ofe Ohr werden jeden Zweifel darüber benehmen, daß die sozialdewmokratische Gefahr eine imminente und eminente Gefahr für unseren Staat ist, aber ehrliche Gefinnung wird die Ueberzeugurg gewinnen, daß auf diesem e eine Abwehr nicht gefunden werden kann. Der Schwer- punkt der Bekämpfung der Sozialdemokratie liegt, wie der Minister selbst anerkannt Hat, auf dem religiösen und sozialen Gebiete. Was thut die Regierung auf sozialem Gebiete? Was thut man au! dem religiösen Gebiet? Man klammert sih an die Handhäben eines rüständigen Staatskirhenthums, um die Kirche zu knebeln und zu fknechten. Das Reich hat Stellung genommen zur Frage des Vereinsrehts. Es ist geschehen dur die Einführung des Soztalistengesezes, aber aud durch die Aufhebung desselben, wodurch bekundet ift, daß das Reich eine Ausnahmegesezgebung nicht für zulässig hält. Wir sind durhaus bereit, der Königlihen Staatsregierung zu helfen, die Krankheit zu heilen, welhe auch nah unserer Meinung an dem Herze des Volkes nagt. Aber wir sind niht der Meinung, daß diele Vorlage die Krankheit heilt, fondern nur, daß sie die Krankheit zurüd- treibt in den Körper des Volks und edlere Organe gefährdet. Wir sind bereit zu helfen auf dem religiösen und sozialen Gebiet dur eine ziélbewußte fröhlihe Förderung der genen Reform. Die Be- schlüfse des Herrenhauses rihten sh aud gegen die polnische tation. Die Polen haben stets erklärt, daß sie keine Losreißung vos Prerßen wollen. Daß die Polen niht Deutsche werden wollen, muß man ihnen hingehen lafsen. Aber Preußen in seinem Bestande g

Uen fie nit. Wir müfser es daher ablehnen, der Staats- cas E en ME der Polenbefämpfuna zu folgen.

Abg. Freiherr von Zedliß (fr. kons.): Db die großpolnische

Bewegung gefährlich ift oder nit, darüber werden wir uns mit dem Abg. gieber s{werlich verständigen. Wir find der Ueberzeugung, daß diese Bewegung mit allen Mitteln bekämpft werden muß. Es ist nicht

richtig, daß das Heer bereits zum theil der Sozialdemokratie verfallen ¡t Es handelt si darum, es vor dieser Gefahr zu bewahren; noch ift es intakt. Das ist heute nicht zum ersten Male gesagt worden, sondern bei der Umsturzvorlage 1895 ift im Reichstage die Frage besonders be- tont worden. Die vorgeschlagenen Mittel follen niht ausreihen. Aber wenn man nicht allé Quellen der Verführung verstopfen kann, dann soll man doch die verstopfen, bei denen es möglich ift. Wenn eine Gefahr vorhanden ift, fo ist fie für das Reich vorhanden, die verbündeten Regierungen mußten also an den Reichstag gehen. Man hat den Verfu gemacht, aber ohne Erfolg. Von einer rück- säufigen Sozialpolitik ist keine Rede. Die sozialpolitishen Maß- regeln müssen si erft einleben. Aber es sind andere soziale Auf- gaben dringender, die Mittelstandspolitik if dringender als die Für- sorge für die Arbeiter. Daß die Vorlage gegen das Zentrum angewendet werden fönnte, is durhaus nicht zu befürchten. Anarchistishe und s\ozialdemokratishe, die Sicherheit des Staats efährdende Bestrebungen wird niemand dem Zentrum vorwerfen. urch das Eindringen Eer Elemente in die Wahlversamm- lungen können heute fchon Wahlversammlungen gestört werden. Das sind alles nur Schreckbilder, an die Wand gemalt, um die Gründe für die Vorlage nit voll zur Geltung kommen zu lassen. Daß die Hauptgefahr niht in den Vereinen und Versammlungen läge, ist nicht rihtig, soweit die ländliche Bevölkerung in Betracht kommt. Die Versammlunzen find hier der Hauptanfsteckungsherd, niht, wie in den Industriebezirken, die Werkstätte. Die Gründe, welche eine oße Menge der Arbeiter zu den Sozialdemokraten gezogen aben, sind sehr materieller Natur, es sind die Herrschaftsgelüste des Proletariats. Unter dem Eindruck des Fallenlassens des Sozialistengeseßzes, unter der Anerkennung der Partei als einer staatlih berechtigten hat sih die Zahl der Sozialdemokraten am allerstärksten vermehrt. Alle Erwartungen von einer Umbildung der Sozialdemokratie zu einer radikalen Neformpartei u. st. w. haben sih nit erfüllt. Wie weit man dabei geht, das zeigt der Ausspruch eines Mannes, der nach Berlin berufen is, der feine Meinung von der Sozialdemokratie dahin zusammenfaßte: Die Sozial- demokratie wird an ihrer eigenen Langweiligkeit zu Grunde gehen. Die Sozialdemokratie muß wieder als eine Umsturzpartei charakterisiert werden, der ein guter Preuße, ein guter Deutscher nicht angehören kann. Die Leute müssen gemahnt werden in ihrem Gewissen, abzulassen von dieser unpatriotishen Partei; sie müssen aus dem Schlaf wachgerufen werden zu energisher, abwehrender Thätigkeit. Es muß gezeigt werden, daß die Sozialdemokratie die Gefahr ist. Hic niger est, hunc tu Germane caveto! Der Staat ift es fich selbst {chuldig, die Umsturz- bewegung in jeiner Geseßgebung zu brandmarken. Wenn die Vorlage jet abgelehnt wird, dann sollte die Regierung von dem \{lecht unter- teten Landtag an den beffer zu unterrihtenden appellieren. Also auf Wiedersehen bei den nähsten Wahlen!

Abg. Ri ert (fr. Vgg.): Aufklärung ist nicht mehr nöthig; auch im Lande ist man aufgeklärt. Graf Limburg-Stirum behauptet, daß die Mehrheit des Volkes hinter ihm stände. Bei den Reichstags- wahlen haben die konservativen Parteien noch niht einmal 1} Millionen Stimmen von den 74 Millionen. Jch kann Sie nur bitten, die Vor- lage abzulehnen, was ja eigentlich ganz selbstverständlich ift.

De Dan des Staats-Ministeriums, Finanz-Minister Dr. von Miquel:

Meine Herren! Ich bin nach meiner parlamentarishen Er- Fahrung voll überzeugt, daß meine Worte von irgend welher Ein- wirkung auf die Abstimmung dieses hohen Hauses jeßt nicht sein werden. Denn es sind alle Herren Abgeordneten mit festen Meinungen und Absichten hergekommen; die Reden, \o |chön sie zum theil waren, der verschiedenen Parteiführer haben Neues zu den bisherigen Verhand- lingen eigentlih kaum hinzugefügt. Ih würde vielleicht do noch einige Hoffnung haben, wenn ih niht noch einen Gegner hätte, der er-

fahrungs8mäßig unüberwindlich ist, nämlich die Stellungnahme der Fraktionen. (Sehr richtig! rechts.) Die Seele des einzelnen Menschen kann man vielleiht rühren, eine Fraktion, meine Herren, niht. (Sehr rihtig! rechts.) Ich gehe also auf die Gründe für und wider, namentli da der Herr Minister des Innern diese Frage ja ganz eingehend und ausführlich dargelegt hat und von vershiedenen Rednern darin unterstüßt is, nicht ein. Ich will mich bloß bemühen, weil ih das im ftaatlihen Interesse halte, Mißdeutungen und Befürchtungen, welhe weniger hier im Hause, aber vielfach in der Presse an das Vorgehen der Staatsregierung und an die Vorlage selbst geknüpft sind, zu wider- legen und zu zerstreuen.

Meine Herren, man hat in der leßten Zeit vielfah die Be- hauptung gehört, diese Vorlage bewiese, daß die politishe Stellung der Staatsregierung si vollständig verändert habe, und daß dies nur der erste Anfang einer Reaktion sei; einer reaktionären Politik ein Wort, dessen Sinn man heute kaum \ich zergliedern kann —, einer Be- drohung der bürgerlichen Freiheit und der verfassungsmäßigen Rechte des Volkes, der Einführung einer Junkerherrfhaft, und was der- aleihen Schlagworte mehr find.

Meine Herren, ih glaube kaum, daß hier in diesem hohen Hause derartige Befürchtungen in beahtenswerther Weise getheilt werden. Die Herren wissen ja alle, in welcher Veranlassung dieses Gesetz vorgelegt ist: um ein Versprehen, welhes im Reichstage gegeben war, zu erfüllen. Sie wissen, daß wir in dieser Vorlage kaum fo viel fordern, wie die meisten deutschen Staaten bereits besißen. (Sehr richtig! rechts.) Sie: wissen, daß diese Gesetzgebung namentlich auch in den sogenannten liberalen kleinen süddeutshen Staaten in voller Kraft besteht, daß sie dort zum theil eingeführt is von liberalen Ministern und von der nationalliberalen Partei in jenen Ländern unterstüßt is. (Hört! hört! rechts.) Ich führe das nit an, um Rekriminationen ¿1 machen, wenn ih sage, ih verzihte darauf, in diesem Punkt noch irgend jemand zu über- zeugen; ich führe es nur an, um darzulegen, wie übertrieben diese Behauptungen sind, die in der Presse aufgetauht sind, um daran die Versicherung zu knüpfen, daß die allgemeine Stellung und die allgemeine politishe Auffassung der Staatsregierung, die Stellung zu den Parteien und zu den verschiedenen Bestrebungen im Lande, durch diese Vorlage ‘in keiner Weise alteriert wird. ;

Meine Herren, wir haben auch gar keine Veranlafsung, eine anderweitige Stellung einzunehmen. Die Regierung des Königs ift keine Regierung, die stch ins Schlepptau von irgend einer Fraktion oder einer einseitigen politishen Auffassung nehmen läßt; sie wird selbst wissen, was sie will, und sie wird auh nit scheuen, bei Ge- legenheit #ich in einer bestimmten Weise zu erklären, Natürlich find diejenigen politischen Elemente ihr am liebsten, welche der Auffassung der Regierung am nächsten stehen, und die sie am entsiedensten unter- stüßen. Jm übrigen wird die Regierung {ih lediglih leiten lassen von den großen allgemeinen Interessen des Staates.

Meine Herren, ih glaube, daß eine gewisse politishe Erregung, die sih allerdings im Lande kundgiebt, viel weniger auf dem eigentli politischen Gebiete liege, als auf dem wirthsha}tlihen: Diese ver- schiedenen Interessenkämpfe auf dem wirthschaftlißen Gebiete werfen ja natürlich auch ihre Schatten auf die politishe Auffassung der Be- theiligten, und zwar bei uns besonders. Wer unser Volks- und politisches Leben beachtet hat seit langen Jahren, wie ih, weiß ganz genau, wie sehr politisGe Stellungen und wirthshaftliße Auffassungen in den einzelnen Fragen in Deutschland zusammengeworfen werden. Jch kann mich noch genau erinnern, daß beispielsweise, als Fürst Bismarck den großen Umschwung in unserer Wirthschaftspolitik dur eine Rückehr zu einem gemäßigten Zollshußsystem machte, wir, die wir ihn unterstützten, selbst von unseren früheren Kollegen sofort als reakftionäâre Masse bezeichnet wurden, mit der eigentlih garniht mehr zu verkehren sei; Freihandel war gleihbedeutend mit freier Ge- finnung auf politishem Gebiet ; heute kommt es ja fast dahin, daß diejenigen, welche sih als Vertreter der Goldwährung darstellen, {fich einbilden, infolge dessen auch politisch frei gesinnt zu sein, und diejenigen, die eine“ Neigung zum Bimetallismus ver- rathen, sofort in die reaktioäre Masse geworfen werden. (Heiterkeit.) Aber, meine Herren, man foll doch nicht verkennen, daß wir auch auf diesem Gebiete in Deutshland Erfahrungen gemacht haben; wir sehen das ja {hon an den abweihenden Meinungen in Bezug auf dieses Gesetz, die heute in industriellen Kreisen hervortreten. Das Bewußt- sein der Gemeinsamkeit aller arbeitenden und werbenden Klassen in Deuischland i} doch gegen früher stark gewachsen, und es wird viel \{werer werden, die vershiedenen Berufszweige gegen einander auszu- spielen, als das früher der Fall war. Ich hoffe wenigstens, daß diese wirth\schaftlihen Gegensäße doch {ließlich in einem großen Kompromiß solcher Berufszweige enden werden, mit denen die Staatsregierung in der wirthschaftlihen Frage, in der Zollpolitik zusammengehen kann, und ih hoffe, daß frühzeitig genug in dieser Beziehung eine Verständigung fommt, welche von der Reichsregierung acceptiert werden kann. (Bravo!) Dazu aber wird es allerdings erforderli sein, daß auch die Regierungen, wie ih hoffe, demnächst, wenn die Zeit gekommen ist, ihrerseits eine feste Stellung zu diesen Fragen einnehmen. (Sehr richtig!) Ih hoffe, daß das auch zur politischen Beruhigung beitragen wird, und daß jedenfalls diejenigen, welhe geneigt sind, eine solche Mittellinie mit der Regierung zu vertreten, erfreut sein werden, wenn sie genau wissen, was die leitende Reichsregierung will. (Lebhafte Zwischenrufe links. Sehr wahr! rechts.) Ich sage: leitende Regierung, mit Bedacht; nach der Lage Preußens und ganz Deutschlands kann die Wirthschaftépolitik nur, wie ich {hon andeutete, auf der Basis ‘einer gegenseitige Ber- ständigung der Interessen liegen; keiner wird vielleiht das Ganze erreihen, da, wo große Interessengegensäße wirklich vorhanden sind, aber alle werden soviel erreihen, als sie nach den Gesammtverhält- nissen in Deutschland überhaupt erreihen können. (Heiterkeits links.)

Meine Herren, ih habe diese Bemerkungen absihtlih

gemacht, um darauf hinzuweisen, daß - di2 Frage, um die hier gestritten wird, keineswegs eine solche ift, welche naturgemäß auf die Dauer die staatserhaltenden Elemente trennen müßte. Die nationalliberale Partei hat ja grundsäßlich das Recht und in manchen Fällen auch die Pfliht des Staats, revo- lutionäre Bestrebungen abzuweisen und niederzuhalten, nicht bestritten; sie hat sogar die Revisionsbedürftigkeit unseres Vereinsgeseßes aus- drücklich anerkannt, indem fie einen Theil der Vorlage, und zwar einen durchaus niht unwichtigen Theil, welcher sich auf die Minder- jährigen bezieht, ihrerseits acceptiert hat. Man kann daher wohl hoffen, daß, namentlich wenn weitere Erfahrungen in dieser Beziehung flärend wirken, man demnächst doch auf der wesentlihen Grundlage des Gesetzes sich verständigen kann.

Noch weniger ist die andere Befürchtung, die ich namentlich von einem Redner von jener Seite im Hause (zum Zentrum) gehört habe, berechtigt, wie das der Herr Minister des Innern auh bereits aus- geführt hat, als wenn die Staatsregierung nunmehr lediglich dur Polizeigewalt, durch unterdrückende und hindernde Maßregeln die große soziale Frage zu lösen gedächte, sie gewissermaßen, statt sie all- mäblich ihrer Lösung zuzuführen, einfah unter dem Schild der Polizeigewalt erdrücken wollte. Eine solhe Befürchtung ift eigentli widersinnig; sie widerspriht der Natur des Staats überhaupt und vor allem der Natur des preußischen Staats. Der vreußishe Staat, unter der glorreihen Führung unseres Hohenzollernshen Hauses, is weder im vorigen Jahrhundert, als es andere Kämpfe galt, noch in diesem Jahrhundert ein Klassen- staat gewesen. Die Aufgabe des Staates ist stets von unserem Herrscherhause voll erkannt; sie besteht wesentlich darin, dem Schwachen zu helfen und ihn zu {hüßen, ihn emporzuheben, ihn mitzunehmen und theilnehmen zu lafsen an der allgemeinen, fortschreitenden Ent- wickelung. Ich brauche nur an die Botschaft unseres großen Kaisers Wilhelm und an die Bestrebungen, welche fofort beim Besteigen des Throns unser jeßiger Kaiser und König kundgegeben hat, zu erinnern, um Sie zu überzeugen, daß diese Politik der Einseßung der Kaiser- lihen Gewalt für die Verbesserung der Lage aller und namentli der minderbemittelten Klassen auch heute in vollem Maße besteht und fortdauern wird. Meine Herren, schon seit längerer Zeit hat man ja gesagt, die Sozialpolitik trete doh ganz in den Hintergrund, man be- treibe die Sache immer langsamer und langsamer, und schließlich werde man si derselben überhaupt niht mehr erinnern. Die legten Ereignisse: die Königlichen Verordnungen in Beziehung auf das Gewerbe der Näherinnen, beweisen ja {on das Gegentheil. Aber auch davon abgesehen, wollen Sie wohl erwägen ih kann das be- obahten —, wie der Geist der Milderung der sozialen Gegensäße mehr und mehr auch in die ganze Verwaltung des Staates eingedrungen ist, auch in die Verwaltung der Kommunen, und glauben Sie nicht, daß eine solche Politik ledigli dur die Geseßgebung gemacht werden kann. Wichtiger fast noch ist der Geist, der die Verwaltung beherrscht in ihrer täg- lihen Einwirkung. (Sehr richtig! links.) Aber, meine Herren, was heißt denn das: „soziale Politik“? Jst denn das ganz etwas Neues? Die Sozialpolitik war im vorigen Jahrhundert vorhanden und ift in diesem Jahrhundert vorhanden. Sie hat allerdings zur Zeit eine andere Richtung genommen; großartige Veränderungen in der Lage unserer Bevölkerung sind durch die Entwickelung der Industrie, der ungeheuren Verkehrsmittel u. # w. hervorgerufen. Die alten Wohnsitze, die heimishen Verhältnisse wurden verlassen, große Arbeitermafsen konzentrierten sih auf eine Stelle; ihre Lebens-

bedingungen wurden andere. Daß da eine andere Aashauung von den

Bedürfnissen der Menschen, eine andere Stellung der Geseßgebung zu diesen Klassen, eine andere Art von Verwaltung nothwendig ift, das ist nichts Neues, das is früher auch hon dagewesen, das wird wohl immer so bleiben. Die Sozialpolitik, wie {hon ganz rihtig gesagt ist, bezieht sich abèr nicht entfernt auf eine einzelne Klaffe ; sie wird sich vorzugsweise, der Natur des Staates und seinen all- gemeinen Aufgaben entsprehend, dem besonders leidenden Theile der Bevölkerung zuwenden. Ich halte beispielsweise die Berücksichtigung der schwierigen Lage der mittleren Klassen und vor allem der land- wirthshaftliden Bevölkerung auch für eine sehr wihtige Aktion der Sozialpolitik.

Meine Herren, welche Maßregeln im einzelnen Falle zu treffen sind, zu einer gegebenen Zeit, in welhem Umfange, das zu beur- theilen ist nicht Sache eines gelehrten Nationalökonomen am grünen Tische allein, aub nicht Sache eines frommen, mitleidsvollen Geist- lichen es ift eine Frage, die sih nur aus der Gesammtheit des that- fächlihen jeweiligen Entwickelungsstandes herleiten läßt. Da muß man viele Dinge berücksihtigen; man kann sich da niht bloß von seinem guten Herzen leiten lassen, namentlich niht in Bezug auf den Grad, wieweit man vorzugehen hat. Man muß auch die Konkurrenzfähigkeit der Industrie, die aufrecht erhalten wer- den muß, keineswegs allein im Interesse der Arbeit- geber, f\ondern ebenso gut, und vor allem, möchte ich sagen, im Interesse der Arbeiter, in Betracht ziehen. Meine Herren, eine solhe Politik in der gegenwärtigen Zeit aufzugeben, halte ih für geradezu unmöglih. Wenn wir einen starken Vorsprung vor den an- deren Ländern gethan haben, wenn wir sehr bedeutende Opfer in kurzer Zeit verlangt haben, dann kann man wohl eine Zeitlang pausieren, man kann die Sache dann etwas langsamer gehen lassen, aber die ganze Richtung, das System selbst kann man nit ändern, man wollte denn die Natur des Staates ändern.

Meine Herren, die soziale Frage kann nur gelöst werden, soweit in mens{lihen Dingen eine volle Lösung überhaupt mögli ist, durch das Zusammenwirken des Staats und aller Klassen. Je mehr der bumane und hristlihe Geist die besiyenden Klassen durhdringt, was in Deutschland doch in sehr hohem Grade der Fall ift, desto größer wird auch die Zahl der ruhig allmählih Fortschreitenden, derjenigen, die begreifen, daß eine solche soziale und wirthshaftlihe Entwicklung überhaupt nicht künstlich und willkürlih in \chnellerer Gang gebraht werden kann, daß das Eine sih nothwendig aus dem Anderen entwickeln und wahsen muß. Dazu isst vor allem nöthig, daß wir suchen, nach und nach, wie ich \chon an- deutete, den praktisch zu befriedigenden Bedürfnifsen der arbeitenden Klasse entgegenzukommen, daß wir unsere helfende Hand ihnen hin- strecken, auch wenn sie anfangs zurückgewiesen wird. Es ift noth- wendig, daß die Zahl der Interessenten am Eigenthum, vor allem der Mittelklafsen, die Kapital und Arbeit gleichzeitig in den Kreis der wirthschaftlihen Thätigkeit bringen, niht bloß erhalten, sondern ftetig vermehrt wird. Jch bin davon durchdrungen, daß das durchaus möglih ist, daß die Anschauung, als wenn die Mittelklafse, in den Städten der Handwerker namentli, unwiederbringlih ge- fährdet sei durh die moderne Entwickelung, durch die Thatsachen widerlegt is. Jch bin erst recht überzeugt, daß durch die Thatsache bewiesea ist, daß der Bauer, welcher den eigenen gestiegenen Tagelohn selbst verdient und nicht so sehr auf den Verkauf der Pro- dukte angewiesen ist, voll konkurrenzfähig bleibt gegen mittlere und größere Güter. Ist dies rihtig, so wird eine Hilfe des Staats nah der Nichtung hin außerordentli& befestigend auf das ganze Staats- wesen wirken, und derartige Bollwerke zu errihten ift allerdings mehr als je nothwendig.

Meine Herren, diefe Betrachtung ist vielleiht nicht so gestaltet, wie sie mancher vielleiht erwartet hat. Schließt sie nun die Nothb- wendigkeit eines solhen Geseßes aus? fkann man sagen: der preußishe Staat ist so fest gefügt, er kann hon gewaltige Stöße vertragen, er bedarf solher, immerhin doch nur beschränkt wirkender Mittel nicht? Das ift eine verbreitete Ansicht, der hier auch vielfach Ausdruck gegeben is. Meine Herren, gewiß, diejenigen, welhe den preußishen Staat, das Deutshe Reih und die übrigen deutschen Staaten vergleihen wollten mit dem französishen Staat von 1789 und mit den damaligen Zuständen und daraus Schlußfolgerungen zögen, würden \sich zu ihrem Schaden gewaltig irren. Wir haben eine historish fest im Herzen des Volks stehende Monarchie; wir haben einen treuen, wohlunterrihteten und wohldisziplinierten Beamtenstand; wir haben weit verbreiteten, großen Einfluß über religiöse Gemeinschaften; wir haben ein festes, treues Kriegsheer; und das hat der Herr Minister, wie Herr von Zedliß richtig ausgeführt, keineswegs entfernt bezweifelt; ih komme im übrigen darauf noch mit zwei Worten zurück und was vor allem wir besitzen, meine Herren, ist eine fleißige, tüchtige, sparsame Leitung der Erroerbsgeschäfte in Stadt und Land durch eine durhaus gesunde, ihren Aufgaben voll gewacsene Klasse der Bevölkerung das find gewiß starke Bollwerke. Mancher kann da wohl auf die Idee kommen: wir brauen zur Stärkung derselben nicht neuer Abwehr- mittel, die vorhandenen génügen, die Gegner zu überzeugen, daß die Möglichkeit, diesen Staat umzuwerfen, nicht be- steht, und, ob sie wollen oder nicht wollen, sie sich mit den all- mählihen Fortschritten in der Gegenwart begnügen und allmählich in die bürgerlihe Gesellschaft aufgehen.

Herr Dr. Lieber hat sogar gemeint, die Staatsregierung sei auf einmal von Furt ergriffen. Da möchte ich nun doch Herrn Dr. Lieber erwidern, daß er sih dabei vollständig irrt. Die Staats- regierung hat keine Furcht, sie sieht aber den Dingen nur mit klarem Auge entgegen. Sie begreift: daß die festesten Säulen do allmählich wankend werden können dur das langjährige * Fallen cines kleinen Tropfens, ist auch hier richtig; auf der andern Seite is es die Pflicht und die Aufgabe der Regierung vorzubeugen. J erinnnere an das weise Wort des Dichters im „Julius Caesar“: „Beuge vor!“ Wir sind es au den Arbeitern \chuldig, meine Herren, daß wir dur Aufstellung von solhen Bollwerken und Abwehrmitteln ihnen die Ueberzeugung, wo sie fehlt, beibringen, daß ihr Heil nur in der fricd- lichen, geseßlihen Entwickelung liegt (sehr rihtig!), daß jede andere Hoffnung von vorn herein auf Sand gebaut ift.

Es ift ja vollkommen richtig, daß ein \solhes Gesez wie dieses auch einmal verkehrt angewendet werden kann, und ih bin mir voll« kommen bewußt, daß es die Pfliht der Regierung sein würde, wenn ein solches Geseß zustande käme, ihre Behörden zu etner vor- sichtigen und weisen Handhabung anzuhalten. (Lachen links.)

Das Gesetz darf niht etwa im Klasseninteresse, im Parteitnteresse an-

P e mr Eren A N