1898 / 15 p. 2 (Deutscher Reichsanzeiger, Tue, 18 Jan 1898 18:00:01 GMT) scan diff

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Sprache fort und sagte: Namens der Regierung erlaube ich mir nachstehende Erklärung abzugeben: U

„Gegenüber den mannigfachen Beshwerden, welche hinsitlih der Sprachenverordnungen vom 5. April erhoben werden, erachtet es die Regierung als ihre Pflicht, ihre Auffassung und ihre Absichten mit voller Deutlichkeit Rene, Die Regierung geht hierbei von der Anschauung aus, daß im Königreih Böhmen beide Landessprachen im Amte olikoritaen gleihberechtigt find. Daraus folat, daß es

edem Bewohner des Königreihs Böhmen innerhalb der Grenzen des andes zusteht, sein Recht bei allen landesfürftlihen Behörden fei es in czehisher, sei es in deutsher Sprache, zu suchen und zu finden, und fo, wie diese Grundsäße für die Regierung unver- rüdbar feststchen, wird sie auch an der Einheit des Landes fowie an jener der Verwaltung und des Beamtenkörpers unbedingt festhalten. Innerhalb dieser Grundsäße jedo ist die Regierung behufs An- bahnung friedlicher Zustände gern bereit, geäußerten Wünschen, welche in thatfächlicen Verbältnissen thre Begründung finden, sobald als nur immer thunlich, entgegenzukommen. Sie plant daher, vor- behaltlih einer eventuellen esegzliczen Regelung, cine Neu- ordnung der sprachlicen Vorschriften in der Art, daß künftighin auf Grund der Ergebnisse. der leßten Volkszählung zwischen eip- sprachigen und gemischt - sprahigen Landesbezirken unterschieden werden foll, in welchen entweder die deutshe oder die czehische oder endlih die beiden Landesfprahen als innere Amts-. und Dienstsprahe Geltung haben sollen. Damit wäre nah Ansicht der Regierung beiden Nationalitäten gegenüber ein durchaus gerechtes und gleihmäßiges Vorgehen umsomehr bethätigt, als auch_ be- züglih der spradlihen Befähigung der Beamten an Stelle einer doch mchr theoretishen und im Moment der Berufung viel- leiht nicht mebr vorhandenen Qualifikation das reelle thatsäcliche Bedürfniß allein maßgebend bliebe und jeder Beamte bei voller Wahrung der Gleichberechtigung das an Sprachenkenntniß besigen müßte, was der Dienst bet der Behörde seiner Verwendung wirklich erfordert. Um jedoch in Zukunft im Königreich Böhmen genügend sprachlih qualifizierte Beamte zu besißen, wird die Negierung nicht ermangeln, für die nächste Landtagssession Anträge vorzubereiten, welche cine gründlidße Aenderung in ten Einrichtungen an Mittel- \hulen Böhmens behufs praktischer Erlernung der zweiten Landes- sprate bezwecken.“

An dem hohen Landtage wird es sein so shloß der Stadt- halter diese Anträge der Regierung seiner Zeit ciner sorg- fältigen und wohlwolleaben Prüfung zu unterziehen. Der Statthalter wiederholte hierauf vorstehende Erklärung in czechisher Sprache. Der Abg. Graf Buquoi fütrte sodann aus, daß. die deutshe Sprache immer als gemeinsames Ver- ftändigungsmittel werde gelten müssen; doch entscheide über diese Dinge kein Zwangsgebot, sondern das natürliche Be- dürfniß. Als Patrioten müsse es Jedermann obliegen, die Gelegenheit zum Friedensshluß zu fördern. Die Verhandlung wurde sodann abgebrochen. :

Der „Neuen Freien Presse“ wird aus Prag gemeldet, daß gestern Abend im Carolinum daselbst eine Versammlung der deutsihen Studentenschaft Prags stattgefunden habe. Jn der- selben sei beschlossen worden, ein Telegramm an den Minister- Präsidenten Freiherrn von Gautsch abzusenden, in welchem Schuß für die deutshe Studentenshaft gegen Anfeindungen und Mißhandlungen von seiten der czehischen Bevölkerung verlangt wird. Sollte dieser Schuß- versagt werden und die deutsche Studentenschaft in Prag vogelfrei bleiben, dann werde die deutshe Studentenschaft die älteste deutsche Universität verlassen und deren Verlegung in eine andere deutsche Stadt Böhmens verlangen.

Dex dalmatinishe Landtag ist gestern eröffnet worden. Der Präsident Bul at führte in seiner Eröffnungs- rede aus: in diesem Augenblick falle dem Landtage eine höchst wichtige Aufgabe zu, da er durch Be- ahtung der parlamentarishen Gepflogenheiten und durch ernstlihes Arbeiten viel dazu beitragen könne, daß die konstitutionelle Thätigkeit und der Friede zwischen den Bevölkerungen des Reichs wieder hergestellt werde, was die schönste Feier des fünfzigzährigen Jubiläums des Kaisers bilden würde. Hierauf brachte der Präsident cin Hoch auf den Kaiser aus, in welches die Versammlung begeistert einstimmte.

Die erste Session des ungarischen Reichstages ist gestern dur ein Königliches Rescript geschlossen worden. Die dene Session wurde heute mittels Königlichen Reskriptes eröffnet.

Großbritannien und JFrland.

Der Schaßkanzler Sir Michael Hicks Beach hielt gestern Abend in der Handelskammer von Swansea eine Rede, in welcher er, dem „W. T. B.“ zufolge, ausführte: Großbritannien wünsche, daß China nicht ein Objekt für Ge- bietserwerb, sondern ein offenes Thor für den Handel der Welt sei. Die Regierung sei fest entschlossen, dafür zu sorgen, wena. nöthig sogar auf die Gefahr cines Krieges hin, daß dieses Thor nicht den Engländern verschlossen werde.

Der „Standard“ schreibt: die Entsendung der Truppen nach dem Sudan sei lediglih eine Defensiv- maßregel und deute in keiner Weise die Absicht der Regierung an, sich auf einen vorzeitigen Angriff gegen die Schoaren des Khalifen in Omdurman einzulassen.

Frankreich,

Eine gestern verbreitete Note der „Agence Havas“ besagt: Mehrere Blätter fordern den Kriege-Minister, General Billot auf, die Erklärungen zu veröffentlihen, welche Dreyfus am Tage seiner Degradierung dem Hauptmann Lebrun-Renaud gemaht hat. Durhch eine derartige Veröffentlihung würde die Regierung cine abgeurtheilte Sahe zur Diskussion stellen, und es würde scheinen, als ob sie Zweifel in die Autorität des Kricgsgerihts sege. Wir L übrigens zu wissen, daß die Regierung nicht das

echt zu haben glaubt, eine derartige Mittheilung zu machen, und zwar aus den gleihen Gründen, aus welchen sie be- \hlosscn hatte, das Kriegsgeriht im Jahre 1894 bei ver- \{chlossenen Thüren verhandeln zu lassen.

Jn der Deputirtenkammer erklärte, wie „W. T, B.“ meldet, der Deputirte Cavaignac, daß er die Regierung über die obige Nöôte der „Agence Havas“ interpellieren wolle. Der Minister-Präsident Méline beantragie, die Berathung der Juterpellation zu vertagen, und bat die Kammer, das Land‘ zu beruhigen, indem sie ihre Arbeiten wieder auf- nehme; es sci nöthig, daß das Budget bewilligt und die R Be Dreyfus, deren sich der Parteigeist . be- mächtigt habe, beiseite gelassen werde. Der WMinister- Präsident {loß seine Ausführungen, indem er auf die Ehre der Armce und die Achtung vor dem Richterstande hinwies und das Vertrauen der Kammer forderte. Der Deputirte Cavaignac hielt es für unzulässig, daß der Kriegs-Minister in dem Augenbli schweige, in welchem die Armee angegriffen werde. Der Deputirte Lavertujon brahte den Antrag ein, die Berathung der Jnterpellation Cavaignac um einen Monat

zu vertagen, dieser Antrag wurde jedoch mit 277 gegen |

219 Stimmen abgelehnt. Der Deputirte Perier de Larsan beantragte, die Besprechung ‘der Interpellation bis nah Er- ledigung der bercits vorgemerkten Tagesordnungen zu ver- schieben. Der Deputirte Cavaignac bekämpfte die Tenn und warf dem Minister-Präsidenten vor, daß er seine e L niht aussprehe. (Méline rief dazwischen: Jch will sie nicht aussprechen.) Cavaignac bestand auf der sofortigen Besprechung. Der Minister-Präsident Méline schloß sih dem Antrage Perier de Larsan an, wies darauf hin, wie unpolitisch es sei, eine Agitation weiter zu unterhalten, welche hon zu lange S E und fügte hinzu, daß das Kabinet, falls die Kammer ih für die sofortige Berathung ausspreche, N e werde. Der Anirag Perier de Larsan wurde hierauf mit 310 gegen 252 Stimmen angenommen und die Sißung geschlossen.

Gestern Nachmittag fanden in Paris abermals mehrere Kund- gebungen ftatt, darunter zwei erheblichere in der Rue Montmartre und auf dem Boukevard bei der Rue Dreuot, woselbst eine aus Tausenden von Studenten und zahlreihen Neugierigen zusammengeseßte Menge „Tod den Juden!“ und „Nieder mit Zola!" rief. Die Polizei zerstreute die Menge und nahm sieben Verhaftungen vor. Zu einer gestern Abend abgehaltenen Versammlung im Tivoli- Vauxhall, welche von - der Redaktion der „Libre Parole“ ver- anstaltet wörden war, hatte sich eine zahlreihe Menschenmenge ein- gefunden.“ Die Antisemiten gingen, nah dem Bericht des „W. L. B.*“, im Saal umher mit Fahnen, auf denen die Worte: „Tod den Juden !* ftanden. Die Anarchisten stießen Rufe aus, unter denen „Es lebe die Kommune!“, „Es lebe die soziale Revolution!“ am häufigsten wiederkehrten. Schließliß wurden Rochefort und Drumont zu Ehren-Präsidenten gewählt, während der Retakteur Guórin der „Libre Parole" den Vorsiy übernahm. Die Wahl war von dem heftigsten Tumult begleitet. Die Anarchisten begannen von neuem zu lärmen und rissen die Fahnen herab, mit denen der Saal geschmückt war. Hieraus ent- widckelten fich heftige Zusammenstöße mit den Antisemiten, bei denen einige Personen verlegt wurden. Aus dem Läciz hörte man die Rufe: „Tod den Juúden!“, „Nieder mit Rochefort!* Troß der wüsten Scenen begann der frühere Boulangist Thiébault eine Rede gegen die Anhänger Dreyfus? zu haltey, und beantragte [ch{ließlich eine Tagesordnung, welche gegen die Beleidigungen der Armee dur die JIuden und ihre Verbündeten Ein)\pruch erbebt und wver- sichert, die Pariser Bevölkerung sei bereit, die Regierung bei den Maßnahmen, welhe durch die Sorge für den Frieden diktiert würden, zu unterstüßen. Während der Verlesung dieser Tages- ordnung kam es zu reuen Schlägereien. Die eine Partei stimmte die Marfeillaise, die andere die Carmagnole an. Dazwischen ertönten Nufe und Gegenrufe. Schließlich kam es wegen einer Fahne, welche die Anarckiften abgerifsen hatten, zu einem so heftigen Zusammen- stoß, daß eine Abstimmung über die Tagesordnung unmöglich wurde und die Antisemiten den Saal verließen, um in dem Bezirk des Château d’'Eau, dem Bastille- Viertel und vor dem Cercle militaire weitere Kundgebungen zu veranstalten. Die Anarchisien, etwa 1000 ‘Personen, blieben im Tivoli zurück. Bei den Zusammenstößen im Tivoli jollen etwa 30 Perfonen verwundet worden fein. Um 117 Uhr war der Saal gänzlih geräumt, die Kundgebungen seßten sich aber in den Straßen fort. Ein Volkshaufe, welher fich nah dem Cercle militaire begeben wollte, wurde auf dem Boulevard des Italiens angehalten und zog dann vor die Redaktion der „Libre Parole“, woo- er unter dem Nufe „Tod den Juden!“ ein Kundgebung veranstaltete. Die Polizei zerstreute die Manifestanten und nahm b Verhaftungen vor. Eine andere Gruppe, welche von dem früheren boulangistisGWen Deputirten Millev o ye geführt wurde, gelangte vor den Cercle militaire. Die e suchte eine Kundgebung zu verhindern und nahm einige Ver-

aftungen vor. Millevcye seßte es aber dur, daß die Gruppe vor

dem Cercle militaire unter dem Rufe: „Es lebe die Armee!" vorbet- ziehen konnte. Nach einer kurzen Anfprache entließ Millevoye die Gruppe mit dem Zuruf: „Auf morgen!“ Inzwischen durhzog eine Schaar von 300 Studenten das Quartier St. Martin unter dem Nufe: „Nieder mit Zola! “, wurde aber nach einem Zusammenstoß mit der Polizei zerstreut. Im Quartier Latin kam es zu einigen unerheblihen Kundgebungen.

Auch aus verschiedenen Städten ter Provinz werten antisemitische Kundgebungen gemeldet, so aus Bordeaux, Clermont-Ferrand, Grenoble und Nancy. In Marseille veranstalteten etwa drei- tausend Personen unter den Fenstern des Offizierkasinos Kund- gebungen und riefen wiederholt: „Es lebe die Armee!“ Auch Blumen- iträuße wurden dort S Die Offiziere erschienen auf dem Balkon und riefen: „Es lebe Frankreih!* Eine Schaar von Studenten und jungen Leuten durchzog die Straßen unter den Nufen : „Nieder mit den Juden! Nieder mit Zola!“ Vor den Häusern der Zeitungen fanden Beifallsäußerungen ftatt. Dann trennte sich die Menge ohne weiteren Zwischenfall. Einz gesonderte Gruppe zertrümmerte die Spiegelscheiben an Läden, die Juden gehören. In Ly on veranstalteten Studenten vor dem „Journal du Peuple“, welches für Zola Partei genommen hatte, Kundgebungen und zertrümmerten die Fenstersheiben des Haufes. Das Personal des Blattes seßte sich zur Wehr; einige Studenten wurden dur Stockschläge und Steinwürfe verwundet.

Jtalien.

Der Papst hielt gestern bei dem Empfange von etwa 400 römischen Patriziern eine Ansprache, in welcher er, dem „W. T. B.“ zufolge, die Huldigung derselben als Bethätigung der unauflöslihen Allianz zwishen dem Papstthum und einer Stadt bezeichnete, welhe den Charakter eines heil'gen Ortes habe. Der Papst wies die Ansichten, welche diese Treue als unheilvoll für das Vaterland dar- stellten, zurück. Die Nation werde jolange kein Heil haben, als sie dem Einfluß der Sektierer ausgescßt sei. Schließlich forderte der Papst zur Uebung von frommen Werken und Tugenden auf, welche die beste Bürgschaft des Heils inmitten der shwierigen Zeiten seien.

Türkei.

Das modifizierte Abkommen über die A nleihe ist nah einer Meldung des „W. T. B.“ vorgestern von dem Ministerrath genehmigt und dem Sultan zur Sanktionierung unterbreitet worden.

Die mit Leontjew nah St.- Petersburg entsandte abessynishe Mission ist von Odcssa in Konstantinopel eingetroffen.

Rumänien,

Dex Köntg hat, wié Wi T: B.“ meldet, die Dés mission des Justiz-Ministers Djuvara angenommen und den Ackerbau-Minister Stolojian interimistisch zugleih mit dem Justiz-Portefeuille betraut.

Bulgarien. DIE FULsin Marie Laute 16 wie ¿W D B“ E gestern Abend von einer Prinzessin entbunden worden.

Schweden und Norwegen.

Der schwedische Reichstag ist heute eröffnet worden. Das Budget weist, wie „W. T. B.“ meldet, 124 Millionen Gesammtausgaben auf und fordert u. a. die Bewilligung von 50 000 Kronen zur Erhöhung der Apanage des Kron- prinzen unter Hinweis auf die von dem norwegischen

Storthing vorgenommene Herabseßung derselben um die gleiche

Summe, ferner 350 000 Kronen zur Desen der Stadt Göteborg , 3 000 000 Kronen zu ‘anderen Befestigungswerken und 6 500000 Kronen zum Bau neuer Kriegsschiffe,

Amerika.

__ Aus Havanna wird gemeldet, daß ein gewisser Picou in Santa Clara einen Mordversuh gegen den dortigen Präfekten gemacht habe. Der kommandierende General in e Clara habe die sofortige Verhaftung des Verbrechers ewirkt.

Die Anführer der freiwilligen Truppen in Havanna haben ihre Zustimmung zu dem gesezmäßigen Zu- stand erneuert und ihre Unterstüßung zur Aufrechthaltung der Ordnung angeboten. Der Direktor des Blattes „Recon- centrado“ ist verhaftet worden.

Asien.

Wie das „Reuter he Bureau“ aus Peking vom gestrigen Tage meldet, hielt das Tsung-li-Yamen vor- gestern Abend eine Konferenz wegen der vorgeschlagenen briti- schen Anleihe ab. Der großbritannishe Gesandte habe für die finanzielle Unterstüßung unter anderen Bedingungen auch die Eröffnung von Talienwan und Nanning als Vertragshäfen gefordert. Der russische und der französishe Gesandte hätten sih den britishen Vor- sagen. widerseßt. Eine weitere Konferenz solle heute statt- n9en.

Demselben Bureau zufolge ist Chang-Yin-Ham zum Gouverneur von Schantung ernannt worden.

Parlamentarische Nachrichten.

Die Berichte über die gestrigen Siß ungen des Rei ch8s- tages und des Hauses der Abgeordneten befinden si in der Ersten und Zweiten Beilage.

Fn der heutigen (19.) Sißung des Reichstages wurde die zweite Berathung des Entwurfs cines Geseßes, betreffend die Feststelung des Reichshaushalts-Etats für das Jahr 1898, und zwar des Etats des Reichsamts des Jnnern, bei dem Titel „Staatssekretär“ fortgeseßt.

Der Abg. von Kardorff (Np.) nahm als erster Redner die in der lezten Sizung begonnene Erörterung über den ver- traulihen Erlaß des Staatssekretärs in Betreff der eventuellen Abänderung des § 153 der Gewerbeordnung wieder auf. Er bezeichnete diesen Erlaß als eincn seinem Jnhalt nah völlig seibstverständlichen, dessen Gcheimhaltung keineswegs absolut geboten gewesen sei.

(Schluß des Blattes.)

Jn der heutigen (4) Sißung des Hauses der Ab- geordneten, welcher der Vize-Präsident des Staats-Ministe- riums, Finanz-Minister Dr. von Miquel, der Minister der öffentlichen Arbeiten Thielen, der Minister für Landwirth- schaft 2c. Freiherr von Hammerstein und der Minister des Jnnern Freiherc von der Recke beiwohnten, wies zunächst der Präsident von Kröcher darauf hin, daß der Abg. Dr. Virchow gestern zum 25. Male zum Vorsißenden der Nech- nungsktommission gewählt worden sei, und Sea ihm unter allseitigem Beifall den Dank des Hauses dafür aus, daß er 25 Jahre hindurch als Vorsißender dieser Kommission seine s bemessene Zeit den Geschäften des Hauses gewidmet habe.

Sodann wurde die erste Berathung des Staatshaus- halts-Etats für 1898/99 fortgesctt.

Bei Schluß des Blaties hatte der Abg. von Eynern (nl.) das Wort.

Dem Hause der Abgeordneten ist nachstehender Entwurf eines Geseßes wegen Abänderung des Geseßzes vom 26. April 1886 (Ges.-Samml. S. 131), betreffend die Be- förderung deutscher Ansiedelungen in den Pro- vinzen Westpreußen und Posen, zugegangen :

Einziger Artikel.

Das Gefeß vom 26. April 1886 (Geseß-Samml. S. 131), be- treffend die Beförderung deutscher Ansicdelunaen in den Provinzen Westpreußen und Pofen, wird, wie folzt, abgeändert:

1) Der im §1 der Staatsregierung zur Verfügung gestellte Ser von 100 Millioncn Mark wird auf 200 Millionen Mark ETYODTe

2) Im § 8 fallen die Worte „bis zum 31. März 1907" und der Sqhlußsay weg.

Die diesem Gesetzentwurf beigegebene Begründung lautet, wie folgt:

Das Geseß vom 26. April 1886 (Geseßz-Samml. S. 131), be- treffend die Beförderung deutsher Ansiedelungen in den Pro- vinzen Westpreußen und Posen, hatte sich die Ausgabe gestellt, gegen- über der in steigendem Maße und unter Verdrängung der teutschen Elemente sich vollziehenden Ausbreitung ter polnishen Natio- nalität in diesen Provinzen das Deutshthum durch Ansiedelun devtsher Bauern und Arbeiter zu stärken Es bezweckte, dur

* Seßbaftmachung deutsher Landwirthe zu verhindern, daß \ich das

Nationalitätenverhältniß noh weiter, als es ohnehin {on gescheben, zu Ungunsten des Deutschthums vershiebe. Während das Geseh auf diese Weise -sein Ziel unter dem Gesichtspunkte der Abwehr be- drobliher Bestrebungen verfolgte, bezweckte es gleichzeitig, durch Hebung der Landeékultur im Wege einer planmäßigen Kolonisation der beiden Provinzen deutshem Geist und deutshec Sitte dort mehr und mehr Eingang zu s{afen.

Die Erfahrungen des leßten Jahrzehnts haben die Nothwendig- keit eines folhen Vorgehens der Staatsregierung bestätigt.

Die Verschiebung des Stärk: verhältnisses zwishen den beiden Nationalitäten zum NaÞtheil der Deutschen hält an und hat im Gefolge die Entstehung ciner großen Zahl ländlicher Kleinwirthschaften, tie nah einem von polnischer Seite mit großem Eifer geleiteten Gütertheilungsfysteme geschaffen werden. Von diesen ländlichen Kleinbetrieben nimmt Fie polnische Bevölkerung in stetig wahsendem Umfange Besiß unter Bedingungen, die dem Deutschen eine seinen Bedürfnissen entsprehende Lebenshaltung und das Fortkommen auf \folhem Änwesen niht ermögliHen. So macht sich auf dem platten Lande eine steigende Zunahme des polnischen Kleingrundbesitzes bemerkbar, in feinem Erfolge noch unterstüßt dur die Anziehungs- kraft, die der Westen auf die Deutschen in den Ansiedelungsprovinzen aasübt. Aber auch in den Städten zeigt sih mehrfach eine Ueberhand- nahme der poluishen Nationalität in den Mittelständen, eine \trenge Absonderung derselben von der deutschen Bevölkerung und eine

barmahung der durch deutsche Kultur erzeugten Intelligenz zu Die p otnisGen wecken, Diese Sonderbestrebungen haben zu einer Verschärfung der Gegensäße und f{ließlich zu einer Haltung des Polenthums in Wort und Schrift geführt, die in einer Bedrängung dèr deutschen Bevölkerung in fozialer und wirthschaftliher Bilebung ihre D äußert. : i i

Einer folchen Eatw!ckelung muß die Staat sregierung zum Schutze der hierdurch bedrohten Deutschen wie zur Erhaltung des Friedens und der Wohlfahrt der Staatsbürger mit Entschiedenheit entgegentreten. Sie hat \ich deshalb im Stande der Abwehr ge- nöthigt gesehen, mit dieser Vorlage auf dem von ihr mit dem Gescte vom 26. April 1886 beschrittenen Wege weiter zu gehen.

Durch dieses Gesey war der Staatsregierung für die Zwecke der Besiedelung ein Fonds von 100 Millionen Mark zur Verfügung gestellt worden, dessen Höhe, wie die Begründung erkennen läßt, mehr s{chäßungsweise, als nah bestimmten rechnerishen Unter- lagen bemessen war. Es legt auch in der Natur der Sache, daß weder die Preiéverhältnisse der für die Besiedelung zu er- werbenden Güter und die Aufwendungen für ihre Verbesserung und Anpassung an den kleinbäuerlihen Betrieb noch der Umfang der dem Fonds wieder zufließenden Einnahmen beim Erlaß des Gesetzes auh nur mit einiger Sicherheit übersehen werden konnten. Dieser Fonds erweist sih nagerade als nicht zureihend, um die Ziele des Geseßes mit dem Nachdruck, den die Gestaltung der Verhältnisse in den Änsiedelungsprovinzen erfordert, zu betreiben und in dem Maße zu verwirklichen, daß das deutshe Element gegenüber den nationalpolnischen Bestrebungen eine ausreihende und nachhaltige Stärkung erfährt.

Na der lezten Denkschrift der Ansiedelungs-Kommission (Druck- sahen für 1896/97 Nr. 81 des Herrenhauses, Nr. 83 des Abgeordnetenhauses) warcn bis Ende des Jahres 1896 ing- gesammt 183 Liegenschaften mit einem Flächeninhalt- von 92724 ha für den Kaufpreis von rund 56 Millionen Mark erworben. Hiervon waren 34 639 ha mit 1975 Kolonisten besiedelt. Unter Berücksihtigung der im Jahre 1897 unverhältnißmäßig gestiegenen Befiedelungsziffer und unter Zugrundelegung der bis- herigen Durchschnittsgröße ter Besiedelungen einschließlich der Land- ausstattungen für die öffentlihen Verbände ift anzunehmen, daß mit Ende des laufenden Etatésjahres 2200 Ansiedler auf einer Fläche von etwa 44 000 ha angeseyt fein und daß bei Zunalme des Grund- erwerbs8 bis zu 109000 ha fonach rund 56 000 ha zur Begebung übrig bleiben werden.

In Würdigung der namhaften Schwierigkeiten, die die Lösung jeder kolonisatorishen Aufgabe bietet, ist dieses Ergebniß befriedigend und erfolgreich zu nennen, um so mehr, als nit verkannt werden darf, wie si für den Fortgang der Besiedelung hier naturgemäß Verzögerungen dadurch ergeben, daß auf die Verkäuflichkeit geeigneter Güter ein Einfluß nit geübt werden kann. Dazu kommt, daß die erworbenen Güter der Regel nach erst während eines längeren oder kürzeren Zeitraums verbessert und für die Umwandlung in bäuerlide Anwesen eingerihtet werden müssen, und daß eine die nationalen und wirths{chaftliGen Ziele des Ansiedelungs- geseßes gleih sorgfältig berüdsfihtigende Auswahl unter dem Ansiedler- angebot die Zahl der brauchbaren Bewerber erheblih vermindert. Troy dieser Schwterigkeiten ist bereits in umfassendem Maße, wie die dem Landtage alljährlih zugehenten Denkschriften im einzelnen nach- weisen, die Landeétkultur in den beiden Provinzen gehoben worden durh die Meliocation der vielfach verwahrlosten Güter,“ durch Aus- legung einés rationellen Wege- und Grabenneyzes über alle Theile des zur Besiedelung bestimmten Gebiets, durch die Einführung zweck- dienliher Wirthsaftêmethoden auf den zwischenzeitliÞ verwalteten Gütern und durnch Schaffung lebensfäbiger mittlerer und kleinerer bäuerliher Betriebe an Stelle der ehedem um ihre Existenz kämpfenden Großwirthschaften. e

Durch Heranziehung gcsitteter, arbeitsamer und kapitalkräftiger Elemente aus allen Theilen Deutschlands ift der ländlihen Bevölke- rung der Ansicdelungsprovinzen ein werthvoller Gewinn an Intelli- genz zugeführt worden, der sich allenthalben fowohl in der fort- \hreitenden Entwickelung der wirthschaftlichen Lage der einzelnen Ansiedler, als auch in der Hebung und Kräftigung des Gemeinsinns äußert. Wie einerseits mit Erfolg auf dem Zusammen- {luß der Ansiedler zu genossenshaftlihen Vereinigungen zwecks höherer Verwerthung der landwirthschaftlihen Erzeugnisse hingewirkt worden i}, fo hat andererseits die Regelung der öffentlih-rehtlid;en Verhältnisse in 80 Gemeinden durch reichlihe Ausfstattungen eine besondere Fürsorge erfahren.

Auch in finanzieller Hinsicht ist der leitende Gesichtépunkt in der Begründung des Gesetzes vom 26. April 1886 seither festgehalten worden, daß eine angemessene Schadloshaltung des Staats sicher zu stellen ist und daß man si, ohne finanzielle Vortheile für ihn ge- winnen zu wollen, im Großen und Ganzen mit einer mäßigen Ver- zinsung des aufgewendeten Kapitals begnügen muß, wenn die Ziele des Gesetzes erreiht werden sollen.

Es wird, selb unter Mitberücksichtigung der allgemeinen Ver- waltungskosten, eine Verzinsung des gesammten aufgewendeten Kapitals von über 24 9/6 erzielt werden. Bringt man daneben die Erhöhung der Steuerkraft in Anschlag, die fih aus dem Ersaß des angekauften, vielfach {wachen Großgrundbesißes dur einen leistungsfähigen mittleren und kleineren Besiß ergiebt, sowie die Ausgaben zu allgemeinen Zwecken der Landeskultur und zu öffentliGen Einrichtungen, wofür zum theil sonst andere Staatêmittel hätten verwendet werden müssen, so ist das Opfer, das tem Staate durch diese Kolonisierungéaufgabe auferlegt wird, ein verhältnißmäßig geringes zu_nennen. Es verliert in dem Maße an Belang, in welchem man die Stärkung des Deutsch- thums und die kulturele Hebung der Ansiedelungsprovinzen vom Standpunkte ihrer hohen sfozialpolitischen und wirthschaftlichen Be- deutung würdigt. ;

__ Für ein weiteres zweckförderndes Vorgehen der Ansiedelungs- Kommission ergiebt sich nun aber ein Hemmniß in der Bemessung des durh Gese vom 26. April 1586 bereit gestellten Fonds. Mit Abschluß des Etatsjahrs 1897/98 werden unter Verwendung aller dem Fonds bis dahin gemäß § 8 a. a. D. wieder zuge- flosenen Beträge gegen 80 Millionen verausgabt sein. Es würden demnach der Ansiedelungs-Kommission am 1. April 1898 nur noch 20 Millionen und diejenigen Rückeinnahmen zur Verfügung stehen, die dem Fonds bis zum 31. März 1907 als dem Zeitpunkte zufließen, von dem ab sie den allgemeinen Staats-Einnahmen binzutreten. Nah dem Schlußsaßze des § 1 a. a. O. soll mit der käufliten Erwerbung von Grundftstücken nur in dem Umfange vorgegangen werden, taß hinlängliche Mittel zur Bestreitung der für die erstmalige Einrihtung und die erstmalige Regelung der Gemeinte-,Kirchen- und Schulyerhältnifse der Ansiedelungen erforderlichen Kosten übrig bleiben. Die vorherige Bemessung dieses Kofienaufwandes ist überaus \chwierig; um so vorsichtiger muß bei Veranschlagung des zurück zu behaltenden Betrages verfahren werden. Nun ist nah den bishecigen Erfahrungen anzunehmen, daß der vorstehend nachgewiesene Fondéerest am 1. April 1898 zuzüglih der künftigen Einnahmen zum weitaus größten Theile erforderli sein wird, um die erwähnten Einrichtungen auf den noch unbesiedelten Flächen der erworbencn Güter von rund 58009 ha zu bestreiten. Es würden also von diefem Fonds nur noch einige wenige Millionen zu ferneren Gatsankäufen Verwendung fiaden dürfen, und es hätte die Ansiedelungs- Kommission im nächsten Etatsjahre bereits mit der Abwickelung ihrer Geschäfte zu beginnen.

__ Dies hieße, der kolonisatorisck@;en Arbeit mitten in ihrer Ent- wicklung und ihren Erfolgen Halt gebieten und überdies zu cinem Zeitpuntt, wo die starken Gegenströmungen einen besonders fräftigen Schuß des Deutshthums erfordern, und wo angesihts der großen Gruncbesißbewegung. vor welcher unter den noh fortdauernd ungünstigen landwirthschaftlichen Verhäl1nissen au ein Theil des deutshen Grund- esißes in den Ansiedelungsprovinzen nicht mehr stand zu halten ver- mag, der Staatsregierung in erhöhtem Maße die Aufgabe erwächst, auf eine umfassende und in ihrer Bedeutung weit über die Gegenwart hinausreichende Verbesserung der landwirthschaftlihen und fozialen Verhältnisse der Ansiedelungsprovinzen hinzuwirken. Unterlicße dies

ter Staat und verzihtete er auf jede fernere Nachfrage na rund- besiß, so würde alsbald die son jeßt, zumal S E L rührige private Parzellierungsthätigkeit in verstärktem Grade einsehen und bei der geringen Kapitalkraft der zunächst betheiligten eingesessenen Sue E Und zur N Ens Schaffung lebensunfähiger en und zu einer bedenklichen den Me Lens Bergen führen. O Pn M us diesen Gründen erachtet es die Staatsregierung für: eboten, den dur § 1 des Gesetzes vom 26. April 1886 borettätttellten Fonds auf 200 Viällionen Mark zu erhöhen. Eine solhe Fondsverstärkung wird fie in die Lage seßen, mit Nahdruck und dauerndem Erfolge in die noch anhaltend lebhafte Grundbesißbewegung zu Gunsten des Deutschtbums einzugreifen und den Plan der ferneren Besiedelung in einem Moßstabe zu entwerfen und durchzuführen, wie thn die seinen (t Lage in den Ansiedelungsprovinzen nothwendig er- Diese Möglichkeit wird der Staatsregierung um fo erer gewährleistet, wenn die Beschränkung der BeffSauer, inner E die Nückeinnahmen dem Ansiedelungsfonds wieder zufließen, beseitigt wird, wie dies schon in der Regierungêvorlage des Gesetzes vom 26. April 1886 vorgesehen war. Während hierdurch der Staats- regierung eine für die Lösung ihrer Aufgabe erwünshte Bewegungs- freiheit eingeräumt wird, \chafft die auch fernerhin in Geltung bleibende Bestimmung des § 8 a. a. O., daß jene Nückeinnahmen alljährlih in den Staatshaushalts. Etat aufzunehmen sind, dem Ver- fassungêre{cht sowohl, wie dem Budgetreht des Landtages Genüge.

2 des „Eisenbahn-Verordnuungsblatts", heraus- egenen im Ministerium der öffentlihen Arbeiten, vom 14. Januar, at folgenden Inhalt: Erlasse des Ministers der öffentlichen Arbeiten: vom 3. Januar 1898, betr. Einrichtungen, die es den Reisenden er- leihtern, sih auf den Eisenbahnstationen zurechtzufinden; vom 4. Ja- nuar 1898, betr. Vorprüfung der Genehmigungsgesuhe zu Dampf- kesselanlagen und ihrer Unterlagen; vom d. Januar 1898, betr. Bil- dung von Direktionsgruppen für Stellenbeseßungen. Nachrichten.

Statistik und Volkswirthschaft.

Zur Arbeiterbewegung.

Zum Ausstande der englischen Maschinenbauarbeiter meldet „,W. T. B.° weiter aus London: Die Gesellschaft der Angestellten im Maschinenbau - Gewerbe in London richtete am Montag an den Arbeitgeber-Verband ein Schreiben, in welchem fie offiziell mittheilt, sie ziehe die Forderung des Achtstundentages zurü, und die Hoffnung ausdrückt, die Arbeitgeber würden nunmehr die Sperr - Ankündigungen zurückziehen. Die Gesellshaft hat auch mehrere Abordnungen an die Arbeitgeber entsandt. Ferner wird aus Manchester berichtet, daß noch von einer Reihe weiterer Firmen Sperr- ankündigungen erlassen worden sind. Auch die Firma Golloway, die größte Dampfkesselfabrik der Welt, befindet ih unter ihnen. In Glasgow bat eine Anzabl urioniftisher Arbeiter um Wieder- aufnahme in die Schiffsbauhöfe gebeten.

Aus Ancona meldet „W. T. B.“: Durch ein sozialistisches Manifest war die Bevölkerung aufgefordert worden, gegen etne hier erfolgte Erhöhung der Brotpreise zu proteftieren. Gestern Vormittag begaben sich etwa 100 Frauen mit ihren Kindern nah dem Nathhause, um eine Herabminderung der Brotrreise zu verlangen. Der Bürgermeister : versprach, alsbald entsprechende Maßnahmen zu treffen. Inzwischen hatte sih eine grofe Zahl von Männern dazu gesellt. Einige Kinder warfen Steine gegen die Fenster des Rathhauses. Nachdem die Polizei den Play vor dem Rathhause gesäubert hatte, ergoß die Menge sich, von der Polizei verfolgt, in die Straßen und zertrümmerte durch Stein- würfe mehrere Schaufenster; infolgedessen wurden die Geschäfte ge- \{lossen. Es kam zu Tumulten; einige Beamten der öffentlichen Gewalt und eine Frau wurden verwundet. Mehrere Verhaftungen wurden vorgenommen. Die Kundgebung wurde fortgeseßt, um. die Entlassung der Verhafteten zu erwirken, und die Nuhe erst Abends wieder hergestellt,

Aus Wasbington wird dem Londoner „Daily Chronicle“ gemeldet: 15000 Arbeiter und Arbeiterinnen der Baumwoll- \pinnereien haben die Arbeit niedergelegt; der Ausftand nimmt an Ausdehnung zu.

Verkehrs-Anstalten.

Laut Telegramm aus Goch ist die erste englische Post über Vlissingen vom 17. Januar ausgeblieben. Grund: Nebel auf See.

Laut Telegramm aus Köln (Rhein) ist auch die zweite englische Post über Ostende vom 17, Februar ausgeblieben. Grund : Nebel auf See und Zugverspätung in Belgien.

Bremen, 17. Januar. (W. T. B.) Norddeutscher Lloyd.

Dampfer „Mainz“, n. Brasilien best., 15. Jan. Dover passiert. „Werra * 15. Jan. v. New-York n. Bremen abgeg. „Witte - kind* 16. Jan. Reise v. Southampton n. d. La Plata fortgef. „Pfalz“ 16, Jän, vom La Plata in Antwerpen eingetr. „Sachsen“ 16. Jan. NReise v. Port Said®n. Ost-Asien fortges. „Willehad“ a. d. Reise n. Baltimore 15. Jan. Prawle Point passiert. 9 18. Januar. (W. T. B.) Dampfer „Weimar“, n. New-York best., 17. Jan. Mittags Lizard pasfiert. „Prinz- Regent Luitpold" 17. Jan. Mrgs. in Southampton angek. „Ems“ 17. Jan. Vmn. Reise von Gibraltar n. New-York fortgeseßt.

Hamburg, 17. Januar. (W. T. B,) Hamburg-Amerika- Linie. Dampfer „Polaria“, von Hamburg kommend, ift gestern in St. Thomas eingetroffen. :

London, 17. Januar. (W. T. B.) Castle-Linie, Dampfer „Avondale Castle“ is auf der Heimreise gestern in London an- gekommen. D. „Dunolly Caîtle“ is auf der Ausreise am Sonnabend in Kapstadt eingetroffen. D. „Garth Castle" ist auf der Ausreise am Sonnabend von Southampton abgegangen. D. „Lismore Castle“ ist auf der Auéreise gestern in Mauritius angekommen.

Rotterdam, 17. Januar. (W. T. B.) Holland-Amerika- Linie. Dampfer „Werkendam“ von New-York gestern Vorm. nach Amsterdam abgegangen. D. „Edam“, von Amsterdam nach New-York, und „Veendam“, von New-York nah Notterdam, haben

beute Vorm. Scilly passiert.

Theater und Musik.

Königliches Schauspielhaus.

Gestern Abend ging Goethe's politishes Drama „Die Auf- geregten" in einer ergänzenden Bearbeitung von Felix von Stenglin zum ersten Mol und mit s{chônem Erfolge in Scene. In diesem fragmentarishen Werk, welches aus den Jahren 1793 und 1794 stammt, gab Goethe

Ÿÿ E O den Empfindungen Ausdruckl, welhe die französishe Nevo- lution in ihm wachrief. Der Dichter selb weist deutli) auf die Art der empfangenen Eindrücke in seiner „Campagne in Frankreich und in seinen „Annalen“ hin und spriht sich über den er- \{ütternden geshichtlihen Vorgang dahin aus, „daß ihn der Umsturz des Vorhandenen shrecke, ohne daß eine Ahnung zu ihm \sprehe, was denn Besseres, ja nur -anderes daraus erfolgen solle.* Es verdrießt ihn, „daß dergleichen Influenzen si auch nah Deutschland erstrecken und verrükte, ja unwürdige Personen das Heft ergreifen*. Aus solchem ärgerlihen Humor entstanden der „Bürger- general“, „Die Aufgeregt-n“ und die „Unterhaltungen deutscher Aus- gewanderten“, und diese Nachbildungen des Zeitsinns blieben ihm eine Art „gemüthlih tröstlihen Geschäfts“. Die „Aufgeregten“ find {lichte Dorfbewohner, denen einige herübersprühende Funken aus der düsteren Gluth der französishen Revolution das Gehirn versengt haben, und welche unter der Leitung eines großspreherischen, feigen Prahl- hanses, des Chirurgus und Barbiers des Dorfs, alte Ge- rehtsame, welhe ihnen die rechtlich denkende Gräfin fret- willig zugestehen e mit Gewalt ertrogen und noch einige Vortheile darüber hinaus bei dieser Gelegenheit erlisten wollen. Goethe erwägt in dem Lustspiel forgfältig und klug die Rechte und Pflichten der Herrscherin und der Beherrschten, welche, wenn beide Theile von edlen und rechtlihen Gesinnungen in threm Verhalten bestimmt werden, allezeit und allerorten in wohlthätiger Eintracht zusammenwirken können. So hatte der Dichter das unvollendet gebliebene Werk angelegt, und genau nah seinen“ Aufzeihnungen is es von F. von Stenglin ergänzt worden. Der Bearbeiter hat den zweiten Akt geshickt mit dem dritten zusammengezogen. Die fingierte Nationalversammlung, in der die Schloßherrschaft und die Bauern sich gegenseitig aussprechen wollen, hat er nach den kurzen Andeutungen Goethe's selbständig ergänzt und dann den bei Goethe fehlenden leßten Aft angefügt. Das Werk, wie es jeßt vorliegt, besißt zunächst kulturhistorische Bedeutung durch die Eigenart der Charaktere und dec sozialen Ver- hâltnifse, welche geschildert werden. Die dichterische Kraft Goethe?s tritt in einzelnen starken Empfindungen und sprühenden Geistes- funken unverkennbar hervor; aber die innere Unlust an dem Stoff hat wohl seine Gestaltungékraft beeinträhtigt. Man muß

an der vornebmen Ruhe genügen lassen, mit welcher der Gegenstand behandelt wird. Einen derberen, possenhafteren Ton, der für einzelne scenishe Vorgänge ganz am Plate ist, {lägt Stenglin an und erzielt damit kräftige humoristishe Wirkungen. Die Einstudierung und Inscenierung des Stückes war mit großer Sorgfalt vorbereitet worden. Frau Meyer (Gräfin), Fräulein Lindner (Luise) und Herr Keßler (Hofrath) verkörperten mit Anmuth und Wlide drei s{chôöne Charaktere. räulein Hausner verlich der gutherzigen, aber ungestümen Komtesse Friederike, welche mit angelegter Flinte von dem tückishen Amtmann ein veruntreutes Dokument und damit den Bauern ihre Rechte erobert, die erforderliche Energie. Die verliebte s{chwache Tochter des Chirurgus gab Fräulein von Mayburg liebensœürdig und natürlih. Herr Purschian spielte einen leihtfertigen Baron mit vornehmer Zurückhaltung, und Herr Bollmer wurde als Träger der Hauptrolle, der des prahlerischen, selbstgefälligen Chirurgus Breme von Bremenfeld, durch seinen drolligen Humor auch der Held des Abends.

Konzerte.

Die schnell zu Ruf gelangte Sängerin Fräulein Clara Butt gab am Donnerstag v. W. im Saal der Philharmonie ein Konzert mit dem vom Kapellmeister Rebi&ek dirigierten Orchester des Hauses. Sie trug Beethoven's „In questa tomba“, Händel’'s „Ombra mai fu“ und Gesänge von Schubert, Schumann und Anderen vor. Ihre Altstimme ist von auffallend {chönem Klang, aber noch nicht vollkommen ausgebildet und konnte fich hauptsählich aus diesem Grunde dem Orchester gegenüber nicht imm-:r genügend Geltung ver- schaffen. Dennoch wurde ihr so lebhafter Beifall zu tkeil, daß sie Bohm's „Still, wie die Nacht" und ein englisches Lied zugeben konnte. Das Orchester, das außer der Ouvertüre zu „Fidelio“ von Beethoven noch mit einer Ballade von E. E. Taubert die Hörer er- freute, verdient Anerkennung. Der Pariser Pianist Herr Alfred Cortot, welcher vor kur;em von Herrn Edouard Risler hier eingeführt wurde, gab ebenfalls am Donnerstag im Saal Be ch stein einen eigenen Klavierabend, der den Zuhörern die erwünschte Gelegenheit brachte, den Künstler auch einmal allein zu hören. Beethoven’s Sonate: „Abschied, Trennung und Wiedersehen“ (op. 81 a) sowie die A-dur-Sonate (op. 101) desfelben Meisters trug der Pianist mit musterhaft geschulter Technik und mit einer Tiefe der Auffassung vor, die Zas Ein- dru auf die Hôrer machte. Die männliche, kraftvolle Art des An- {lags war in den Allegrofäßen durhaus am Platze, während in der Cantilene manchmal mehr Weichheit zu wünschen blieb. Außerdem spielte der Künstler noch kleinere Stücke von Chopin und Liszt, die gleihfalls mit wohlverdientem Beifall aufgenommen wurden. Das dritte Konzert des Böhmischen Streichquartetts der Herren Hoffmannn, Suk, Nedbal und Profefsor Wihan, welches an demselben Tage in der Sing-Akademie stattfand, ge- staltete sich durch die Mitwirkung des FaNeR Herrn Edouard Risler zu einem besonders interessanten Ereigniß. Mit großer Kraft und Präzision führte der leßtere den Klavierpart in dem F-moll. Rlavierquintett (op. 34) von Brahms durch. Sowohl diese Nummer wie die beiden Quartette des Pro- gramms: A-moll von R. Schumann und Cis-moll (op. 131) von Beethoven, wurden von den Konzertgebern in der gewohnten tadel- losen Ausführung zu Gehör gebracht. Aub im greßen Saal des Architektenhauses fand an demselben Tage eine musikalische Veranstaltung statt. Der „Hugo Wolf- Verein“ gab hier ein Konzert, în welchem eine große Anzahl von Liedern des Komponisten, dessen Namen der Verein trägt und dessen Werken er Eingang ver- schaffen will, zur Aufführung gelangten. Der Tenorist Herr Ludwig Heß, der seine Studien auf der Königlichen Hochschule unter Leitun des Professors Otto gemacht hat, fang zuerst drei ernste Lieder na Terxten von Mörike: „Wo find! ih Trost?" „An den Schlaf“ und „Auf ein altes Bild“, in welchen scine klar gvolle, wohlgesckulte Stimme und sein ausdrucksvoller Vortrag gut zur Geltung kamen. Im weiteren Verlaufe des Abents trug derselbe noch einige heitere Lieder nah Eichendorff’shen Texten vor, von denen auf allgemeinen Wunsch „Verschwiegene Liebe“ und das zum ersten Male efungene „Lieber Alles“ wiederholt wurden. Auch die Sänçerinnen Fräulein Juana Heß und Margarete Tochtermann sowie der Baritonist Hjalmar Arlberg brachten eine Reibe von Ge- sängen des Komponisten, welhen außer von den vorgenannten Dichtern, Texte von Goethe und Heyse zu Grunde lagen, wirkungsvoll zu Gehör. Unter diesen gefielen besonders die an Brahms'she Vor- bilder erinnernden Lieder „Um Mitternacht“ und „Nun laß uns das Fenster schließen“. Das Publikum bekundete dur zahlreiten Besuch und regen Beifall sein Interesse an den Bestrebungen des Vereins.

_In der Sing-Akademte gab der Königlich sächsishe Konzert- meister Henri Petri am Sonnabend ein Konzert unter Mitwirkung des Philharmonischen Orchesters. Der hier niht mehr un- bekannte Künstler, welher die „Gesangéscene“ von Spohr, die Varialionen für Violine von Joachim und das D-dur-Konzert von Beethoven zu Gehör brachte, erfceute sowohl durch Wärme und Lebendigkeit des Tons, wie die seinem Vortrage eigene künstlerische Empfindung. Die zahlreichen Hörer nahmen jede Nummer mit leb- haftem Beifall auf. Im- Saal Bechstein fand gleichzeitig ein Klavier - Aberd von Vera Maurina aus Moskau ftatt, in welchem die aus der Schule Emil Sauer's hervorgegangene, begabte Künstlerin zum ersten Mal vor dem hiesigen Publikum er- schien. Mit großer Kraft des Anschlags und Sicherheit im Technischen verband sie zugleih eine secelenvolle und stets fesselnde Art des Vortrags. Daß sie von dem Pedal nur mäßig Gebrauch machte, fei ebenfalls besonders anerkannt. Sie spielte die Orgel- Ran las und Fuge in D-dur von Bah-Busont, in der die rapiden

kftavengänge beider Hände Bewunderung verdienten, außerdem Beethoven's Sonate in G-dur (op. 31), die 25 Variationen nebst Fuge über ein Händel’shes Thema von Brahms, sowie kleinere Piècen von Chopin, Arensky, Tschaïkowély, E. Sauer und Liszt. Das