1898 / 15 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Tue, 18 Jan 1898 18:00:01 GMT) scan diff

en vorhanden; en Verschiedenheiten Rehnung zu tragen. Eine vollständig uniforme Gleichheit turch ganz Deutschland in dem Erlaß “derartiger Verordnungen wird sich kaum erreichen lafsen.

Der Herr Abgeordnete hat ferner gefragt, ob die Novelle zur Gewerbeordnung, betreffend die Beschäftigung von weiblichen Arbeits- kräften in der Konfektions-Industrie, wieder vorgelegt werden würde. Meine Herren, bei einer noGmaligen Prüfung dieser Verordnung hat f ergeben, daß die Möglichkeit der Ausführung denn doch eine ganz außerordentlich zweifelhafte sein würde. Die Verordnung ging be- kanntlih von dem Gedanken aus, daß weiblihen Arbeitern, welhe in der Fabrik bereits über 6 Stunden beschäftigt seien, Hausarbeit nicht nach Hause gegeben werden dürfe, und es ist meines Erachtens damals {on mit Recht der Einwand erhoben worden, daß man eine derartige geseßlihe Vorschrift sofort umgehen könnte, wenn man beispielsweise die Arbeiterinnen in der Fabrik ftatt 6 Stunden nur "5 Stunden 30 Minuten beschäftigte.

Meine Herren, es war ferner vorgeschrieben in der Vorlage, daß au die Hausgewerbetreibenden in der Konfektions-Industrie der Krankenversicherung unterliegen follen. Jch kann das humanitäre Ziel dieser Bestimmung durchaus theilen und habe auch bereits be einer früheren Gelegenheit im hohen Hause darauf hingewiesen, daß es vorzug3weise Aufgabe der verbündeten Negierungen fein dürfte,i die bestehenden sozialpolitischen Geseße zu vertiefen und zu erweitern; aber andererseits kann man auh gegen die Versicherungspfliht der Konfektionsarbeiter geltend machen, daß es doch seine Bedenken hat, gerade diese Hausgewerbetreibenden, die ih bekanntlich in den traurigsten Verhältnissen befinden, nun noch mit den Beiträgen zur Krankenkasse zu belasten. Es liegen ja dem hohen Hause Anträge vor, betreffend die theilweise Ausdehnung der foztalpolitischen Geseße auf die Hausgewerbetreibenden, und ih glaube, man wird. diese Frage der Krankenversiherung der Konfektionsarbeiter passend verbinden mit einer allgemeinen Regelung der Frage: Inwieweit sind überhaupt die Hausgewerbetreibenden den fozialpolitisWen Geseßen zu unterwerfen ? Im übrigen kann i& dem verehrten Herrn Abgeordneten fagen, daß wir im nächsten Jahre unter allen Umständen eine Novelle zur Gewerbeordnung werden vorlegen müssen, und daß man dann auf die Frage der in der vorigen Tagung vorgelegten Gewerbeordnungsnovelle, betreffend die Konfektionsarbeiter, wieder zurückommen wird.

Abg. Wurm (Soz.): Was der Staatsfekretär über die englischen Gewerkvereine sagte: daß fie keine neuen Maschinen mehr dulden wollten, ift nicht glaublih; folhe Gedanken findet man unter den Gewerkvereinlern nicht mehr. Aus Anhänglichkeit an das patriarha- lishe Arbeitsverhältniß hat der Staatssekretär am 11. Dezember, ehe er seine Etatsrede hielt, ein Rundschreiben erlassen, das ein unerhörter Streich gegen die Arbeiterbewegung ist. Sie wollten Antworten haben, welche das Koalitionsreccht vernichten. (Widerspruch des Staatssekretärs Grafen von Posadowsky- Wehner.) Wenn Sie das nicht wollten, hätien Sie das Rundschreiben anders abfassen und es nicht heimlih erlassen sollen. Die Koalitionsfreiheiten, nah dem Sinne des Nundschreibens gestaltet, würden ein Messer ohne Griff und Klinge sein. Dem Arbeiter fol verboten werden, seine Kameraden fern zu halten von den gesperrten Arbeits\stätten ; das Betreten von Bakbnhöfen und Straßen soll den aus\tändigen Arbeitern verboten sein. Wenn die Dinge, welche der Staatssekretär in dem Rundschreiben als strafbar erklärt wissen will, strafbar gemacht werden, dann find die Gewerkvereine vernihtet. Gegen die Koalitionen der Unternehmer enthält tas Rundschreiben aber kein Wort. Haben nicht große Gruppen von Unternehmern, haben nicht die großen Staatsunternehmen, zum Beispiel die Eisenbahn, in das Organts- fationsrecht der Arbeiter eingegriffen? Während wir gleihes Necht für die Arbeiter und Arbeitgeber verlangen, sollen die Arbeiter rechtilos gemacht werden. Herr von Berlepsch hat den jeßt wieder in Anregung gekommenen S 153, den Arbeitershußparagraphen, als Minister vertheidigt. Aber als Mivister a. D. wendete er sih dagegen, daß die Arbeiter in ibrem Koalitionsrecht becinträhtigt werden gegenüber den Arbeit- gebern. Und ein Unter-Staatsfekretär a. D., Herr von Rottenburg, hat eberfalls die Unparteilichkeit gegenüber den Arbeitern und Arbeit- gebern empfohlen. Diese Herren verlangten einen erhöhten Schuß für die Arbeiter, statt defsen kommt man mit erhöhtem Truß und mit erhöhten Bestrafungen. Wir danken dem Staatssekretär für Me E Wakhlparole, die er uns für die Reichstagswahlen ge- geben hat.

Staatssekretär des Jnnern, Staats - Minister Dr. Graf von Posadowsky-Wehner:

Ich muß zunächst in Erwägung meiner vorherigen Erklärung dem Herrn Abg. Dr. Hitze bemerken, daß die Verhandlungen über die Arbeitsverhältnisse in offenen Läden in allernähster Zeit abge- {loffen und daraufhin den verbündeten Regierungen Vorschläge zu unterbreiten sein werden. Zu meinem Bedauecrn habe ih vorhin vergessen, ihm auf seine bezügliche Anfrage sofort zu erwidern.

Nun gestatten Sie mir, mich mit der Rede des Herrn Abg. Wurm zu beschäftigen. Ih begreife garniht, warum er ih in eine so lebhafte Stimmung hineinverseßte. (Heiterkeit bei den Sozial- demokraten.) Er sagte selbst, die fozialdemokratishe Partei müßte mir dankbar sein für dies Manifest, und mit ißm in der Hand würde sie in den Wablkampf ziehen. Nun, ih werde mit diesem Manifest in der Hand auch in den Wahlkampf ziehen. (Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.) Wenn Ihnen dies Manifest fo angenehm ist, daß Sie mir danken, dann haben Sie ja au gar keinen Grund, mich anzugreifen, dann habe ich Jhnen eigentlih einen Dienst geleistet. Jh wundere mich, daß Sie mich niht daraufhin zum Ehrenmitglied der sozialdemokratishen Partei machen. (Ach! bei den Soztialdemokraten. Zustimmung rets.)

Nun fagt der Herr Wurm: „Knebelung der Arbeiter, die zu Hörigen herabgedrückdt werden sollen.“ Er hat zunähst das Nescript, über dessen Erwerbung ih mih zum Schluß meiner Rede aussprechen werde, zu der Erwerbung seitens der Redaktion des „Vorwärts“ (Zuruf. Glocke des Präsidenten.) Jch werde mich zum Schluß meiner Rede darüber äußern.

Er hat zunächst übersehen, daß es ih nicht, wie er meint, um eine Anweisung an untergeordnete Behörden handelt oder um Winke, wie untergeordnete Behörden zu verfahren hätten, sondern um eine Anfrage an sämmtliche verbündeten Regierungen, ob folce Maßregeln, wie sie hier in Auésiht genommen sind, sich als noth - wendig herausgestellt baben. Jh kann dem Herrn Abgeordneten sagen, daß der Passus, den er vorzuaesweise angegriffen hat, nichts ist als eine wörtlihe Uebernahme aus einer Eingabe, welche seitens des geschäftsführenden Aus\{husses des Innungsverbandes (Heiterkeit links) der deutschen Baugewerksmeister an den Bundesrath gerichtet ist, (Zuruf links.) Es waren an die verbündeten Regierungen und ben Herrn Reichskanzler besonders eine große Anzahl ähnlidjer Anträge gerihtet worden, und es war demgemäß meine

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Pflicht, zu prüfen, ob in der That bei Strikes ein solcher Terroris- mus geübt wird gegen die Arbeiter, welhe arbeitswillig sind; und daß da der Staat eintreten muß (sehr richtig), um die arbeitswilligen Arbeiter zu \{chüten, is selbstverständlih. (Zuruf links. Bravo! rechts.) Wenn wir das thun, dann steht nicht die bürgerliche Freiheit auf Ihrer Seite, sondern wir vertheidigen die bürger- lihe Freiheit! (Bravo! rehts.) I kenne kein größeres Unrecht, als jemand verhindern wollén, zu arbeiten, wenn er - arbeiten will. (Sehr richtig!) Wir haben die Macht und wir werden, wenn dieser Terrorismus angewendet wird, sie auch rücksihtslos gebrauchen. (Bravo! rechts.)

Meine Herren, der Herr Abg. Wurm hat ferner gesprochen von der „\{chlotternden Angst", die auß mich offenbar bes{lihen hätte; infolge defsen hätte ih wohl dieses Reskript erlassen. Jch glaube, der „Vorwärts“ hat diese „schlotternde Angst“ bei mir erst erzeugen wollen: ich lese nämlich heute im „Vorwärts“ einen Artikel, der vom Wahlkampf \s\pricht und mit den Worten {ließt: Graf Posadowsky wird diesen Kampf nicht überleben. Anführungs8zeihen. Solhße Redensarten lassen mich absolut kalt. (Brovo ! rechts.) Wir haben keine Angst ; wir wissen, was wir wollen, und wir werden unsere Maß- regeln im Nothfalle auszuüben auch die Kraft haben. (Bravo! rechts. Heiterkeit links.) Daß wir freilich niht die Zustände herbeis- führen wollen, wie sie in England sind, können Sie uns nicht ver- denken, da wir die nicht als Vorbilder betraten können. Dort kommt es so weit, daß, wenn die Arbeiter einen Strike beschließen, ein Unternehmer gezwungen wird, den Arbeiter, der noch arbeiten will, zu entlassen, und daß dann entschieden wird: Dieser Unternehmer habe untex folhen Verhältnissen einen berechtigten Grund gehabt, den Arbeiter zu entlassen. Dann i} allerdings nicht mehr der Fabrik- besißer Eigenthümer seiner Fabrik, sondern die Fabrik wird hier that- \ählih ein Kollektiveigenthum der Arbeiter,

tun find alles Uebrige unglaublihe Uebertreibungen. (Zurufe links.) Wenn der Abg. Wurm sagte, wir wollten die Koalitions- freiheit der Arbeiter untercdrücken, so hätte er do die Güte haben sollen, den Paus vorzulesen aus dem Reskript, wo es heißt:

Es sind, abgesehen von den in der Novelle von 1890 zu § 153 enthaltenen Vorschlägen, weitere geseßliße Maßnahmen in Ausficht zu nehmen, um bei der grundsäbßlichen Aufrechterhaltung der Koalitionsfreiheit (hört! hört! rechts) der Anwendung unerlaubter Mittel zur Durhführung der Kämpfe um Lohn- arbeits-Bedingungen entgegenzutreten.

Die Kooalitftonsfreiheit foll vollkommen aufrecht erhalten werden. Es ift durchaus begreiflich, daß der Arbeiter ebenso wie jeder andere Mensch sucht, seine äußere Lebensbedingungen zu verbessern und den Lohn aus seiner Arbeit zu erhöhen. Aber nicht ver- theidigt kann werden das, was hier verboten werden soll, daß „Arbeiter durch Anwendung körperlichen Zwanges, durch Drohungen, durch Ehrverleßzungen zur Einstellung der Arbeit bestimmt oder an Ver- abredungen oder am Nüktritt von folchen Verabredungen verhindert werden.“ Solche Ausschreitungen wollen wir allerdings unterdrücken, und wenn das Aufstellen von Posten unter Umständen auch eine Be- lästigung scin kann, die unterdrückt werden sollte, fo liefert dafür den besten Beweis, daß gerihiliße Erkenntnisse ergangen sind, welche dieses Aufstellen von Posten verbieten und als \traffällig erklärtn. (Zuruf links.) Der Herr Abg. dadurch “ganz niederzushlagen, daß. er auf die nahme des Herrn Freiherrn von Berlepsch exemplifiziert hat, der ebenfalls nicht in der Lage gewesen wäre, solhe Be- stimmungen, wie fie hier erwogen sind, vorzuschlagen oder zu ver- theidigen. Einen unglückliheren Kronzeugen hätte meines Erachtens der Herr Aktg. Wurm nit zitieren können (Widerspruch links), denn der Herr Freiherr von Berlepsh, wie er im Amt war, hat inhaltlih des Kommissionsberichts über die Gewerbenovelle von 1891, betreffend den Arbeiterschuß von Frauen und Kindern, zu dem vorgeschlagenen 8 153, betreffend den Striketerrortsmus, ausdrücklich erklärt :

„Der Umstand, daß § 153 der Vorlage in erster Lesung mit er- heblier Majorität abgelehnt ift und daß Anträge zu demselben jeßt nicht vorliegen, läßt mich schließen, daß die Kommission in ihrer Mehrheit nicht geneigt ift, in dem jeßigen Stadium der Be- rathung diescn Paragraphen eingehend zu erörtern. Ih beschränke mich daher auf die Erklärung, daß die verbündeten Regierungen nach wie vor von der Nothwendigkeit überzeugt sind, eine Be- slimmung, wie fie § 153 enthält, oder eine ähnlihe in die Vorlage aufzunehmen. Dies gilt bescnders von der Nr. 2 des § 153, welcWe dem in bedenklicher Weise zunehmenden Bestreben s\trikender Arbeiter entgegentreten will, ihre Genossen, die arbeiten wollen, zur Niederlegung der Arbeit zu zwingen. Jch betone hlerbei ausdrüd- li, daß die verbündeten Regierungen dem Koalitionsrecht der Ar- beiter in keiner Weise zu nahe treten wollen. Sie erkennen dieses geseßlihe Necht nicht nur an, sondern sind au überzeugt, daß das- selbe nah Lage der Verhältnisse im Interesse der Arbeiter nicht ent- behrt werden kann.“

Herr von Berlepsch hat also ausdrücklich konstatiert: die Reg!e- rung hält nach wie vor daran fest, troß der Ablehnung des hohen Hauses, daß solche Bestimmungen nothwendig sind, und er hat diese Erklärung in der Plenarversammlung vom 6. Mai 1891 wiederholt. Dort sagte er:

„Die verbündeten Regierungen erklären, daß fie nah wie vor an der Ueberzeugung festhalten, daß Strafbestimmungen gegen den Zwang zur Arbeitseinstelung, gegen die öffentliße Aufreizung zur Niederlegung der Arbeit und den Kontraktbruch unerläßlih nothwendig find (hört, bört!) und daß, wenn der Reichs- tag bei dieser Gelegenheit die Vorschläge der verbündeten Regierungen in dieser Beziehung nicht annimmt, er in späteren Zeiten wieder vor dieselbe Frage gestellt werden wird. Wir sind der Ueberzeugung, daß auf die Dauer der Reichstag sihch der Verpflichtung nicht wird entziehen können, zur Aufrechterhaltung der öffentlihen Ordnung und- im Interesse des. all- gemeinen Wohls gegen die Ausschreitungen, die der 8 153 treffen wollte, auch seinerseits das Nothwendige zu thun."

Freiherr von Berlepsch \tand also völlig auf demselben Stand- punkt, auf dem dieses im „Vorwärts“ abgedruckte Rescript steht. (Sehr richtig! rechts.) Im übrigen wiederhole ih: es sind nur Er- hebungen, die angeftellt werden, es sind noch nicht Entschlüsse, es ift keine Geseßesvorlage. Der Herr Abg. Wurm hat gesagt, das

Stellung-

Wurm hat geglaubt , mich |

Schreiben wäre ein vertraulihes gewesen, weil wir uns gescheut hätten es in die Oeffentlichkeit zu bringen. Ja, glauben Sie denn ernsthaft, daß eine Staatsregierung in der Weise vorgehen kann, daß das Sthreiben das wir an eine verbündete Regierung rihten, jedes Aktenstückt, was an eine andere Behörde gerichtet wird, etwa im „Staats-Anzeiger® abgedruckt wird? Wo existiert eine folhe Regierung? Eine Re, gierung muß doch erst in ihrem eigenen Schoße \ih klar werden, muß Grhebungen anstellen, muß berathen; sie ändert häufig ihre Absichten, kommt zu anderen Entshlüssen im Wege der Berathung au mit Sachverständigen, und dann schreitet sie erft zum Entwurf eines Gefeßes, der dem hohen Hause vorgelegt wird. Bei der Gelegenheit will ich aber cinmal auf den Fall zurück- kommen der fortgeseßten Publikation amtliher und sogar ver- trauliher Schriftstücke durch die Presse. Man hat für dieses Ver: fahren einen sehr euphemistishen Ausdruck gebraucht : „er ist auf den MNedaktionstish geflogen“. Wie entstehen denn solche Indiskretionen ? Dadur, daß ein Beamter den von ihm geleisteten Diensteid bricht, daß cr den Weg der Treue und Chre verläßt (sehr richtig! rets), daß er sich zu einem Verräther an feiner eigenen vorgeseßten Behörde macht, und daß fich eine Zeitungsredaktion findet, die ein solches Srifisiück benußt, wissend, daß es auf unehrlihe Weise erworben ift. (Sehr wahr!) Nun, meine Herren, im bürgerlihen Leben sagt man in einem folchen Falle: Der Hehler ist nicht besser wie der Stehler! (Sehr richtig!) Ich sage, es ist? ein trauriges Zeichen, daß \o etwas vorkommt: aber es ist ein noch traurigeres Zeichen, daß sih Preßorgane finden, die von folhen unehrlichß erworbenen Schriftstücken Gebrauch machen. (Sehr wahr! Zurufe von den Sozialdemokraten.) Bitte, meine Herren, lassen Sie mich weiter \sprehen. Daß dieses Nescript publiziert worden ist, hat mich garnicht unangenehm berührt; im Gegentheil, man wird jeßt ganz genau wissen, daß die Regierung, wenn seitens der Agitation ein Terrori8mus geübt wird, der strafbar ist, die Arbeiter, die arbeiten wollen, an der Fortseßung ihrer Arbeit hindert, fest entschlofsen ist, dagegen zu energischen Maß- regeln zu greifen, und daß das im Lande bekannt wird, kann uns nur vortheilbaft sein (sehr richtig! rechts), auch im Wablkampf. Meine Herren, Sie (zu den Sozialdemokraten) werden keine Kandidaten wählen, die der Regierung freundlich gesinnt find, dessen knnen wir sicher sein. Aber, meine Herren, diese Publikation geheimer amt- liher Schriftstücke hat eine sehr tiefe andere Seite. Kein Staats- wesen kann existieren, ohne daß es sich auf die Ehrenhaftigkeit und die Treue seiner Beamten verläßt. (Sehr wahr!) Dieses Schriftstück hat uns nicht geshadet. Aber wenn in dèr That Beamte ehbrlos3 genug find, ihrer vorgeseßten Dienstbehörde solchWe Schriftstücke zu entwenden und sie in der Zeitung zu publizieren, \o ift das aller- dings cine ernste Gefahr für den Staat; denn die Publikation kann sich unter Umständen auch auf Schriftstücke erstrecken, die im Interesse der Staatsraison absolut geheim gehalten werden müfsen, und deren Publikation ein unerseybarer Schaden für das Staats- wohlsein sein kann, und die Presse, die solche entwendeten Séehriftstücke publiziert, kann manhmal felbst garniht beurtheilen, welhe Tragweite die Publikation eines folhea Schciftstücks für das Staatswohl haben kann. Ih möchte deshalb bei dieser Gelegenheit ich freue mich und bin tem Herrn Abg. Wurm dankbar, daß er diese Angelegenheit zur Sprache gebracht hat an die ganze anftändige Presse den Appell richten, wenn ihr wieder solhe entwendeten Schriftstücke zugehen, mit diesen Schriftstüken so umzugehen, wie es anständige, wohlerzogene Leute mit anonymen Denunziationen thun (fehr richtig! rets. Widerspruch bei den Sozialdemokraten) gewiß, meine Herren, sie ungelesen ins Feuer zu werfen. (Lebhaftes Bravo.)

Abg. Hüpeden (b. k. F.): Das Rundschreiben hat garnicht überras{cht, denn man wußte längst, daß über derartige Ausschreitungen Grhebungen veranstaltet werden. Als der Staatssekretär neulih seinem Widerwillen gegen ein Uebermaß polizeiliher Bevormundung Ausdruck gab, war ih zuerst damit vollständig einverstanden; es fragt fich nur, wo das Uebermaß anfängt. Arbetiterkoalitionen sind durhaus nothwendtg und wünschenswerth, nicht bloß zur Vertheidigung der Rechte der Arbeiter, fondern au zur Kontrole der zum Schuß der Arbeiter erlassenen Vor- \chriften. Auf dem Kongreß für Sozialpolitik war nur eine Stimme über die Nothwendigkeit der Koalitionen. Die Gewerkvereine find Kampfoereine; jeder Strike is ein \{weres Uebel, ein zwei- \hneidiges Schwert, dem vorgebeugt werden muß dadurch, daß die Kampfesorganisation zugleih als Frieden8organifation sih fühlt durch Gewährung von Korporationsrehten. Dann könnte man die Organi- sation der Arbeiter auch mit Pflichten belasten, daß sie nihts unver- sucht laffen, den Ausstand zu verhindern. Namentlih müssen die Ginigungsämter kräftig ausgebaut und obligatorish eingeführt werden.

Abg. Freiherr von Stumm (Rp.) : Der Vorredner hat sich als Laie mit dieser ganzen Frage beschäftigt. Die Einigungsämter haben bei uns ebenso wie in England nur bei kleinen Meinungsverschieden- heiten geholfen; bei großen Streitigkeiten haben sich die Arbeiter niemals um die Schiedsgerichte gekümmert. Herrn Wurm will ih troy der vortrefflißen Abführung, die ihm seitens des Herrn Staatssekretärs zu theil geworden ift, einige Worte widmen. Herr Wurm verwechselt die Koalitionssreiheiten mit den Korporations- reten der älteren Arbeiter. Bezüglih der Koalition stehen Arbeiter und Arbeitgeber vollständig gleich. Eine andere Frage ift aber, ob man die Strikevereine als nothwendiges Uebel auffaßt oder als eine berechtigte Einrichtung. Giebt man dem Arbeiterverein Korporationsrechte, so werden die freien Arbeiter unterdrückt, wenn sie sich gegen den Willen der Koalitionen erklären. Die Arbeiter gegen den Terroris8mus ihrer Kameraden zu s{üten, ist wichtiger als der Schuß gegenüber der Willkür der Arbeitgeber. Wird die Koalitionsfreiheit der Arbeiter aufrecht erhalten, so is eine Nothwendigkeit dafür die Verschärfung des § 153, Das hat Herr von Berl: p\{ch \{chon 1891 vielfah ausgesprochen, und er hat fih vorbehalten, bei der ersten Gelegenheit darauf zurüd- zukommen. Herr Wurm fragte nach den Beispielen von dem Terrori8mus der Arbeiter. Er sollte dem Staatsfekretär dankbar sein, daß er Grhebungen anstellt. Bi mich war das Rundschreiben nit nothwendig, denn ih kenne Beispiele von der Tyrannei der Arbeiter gegen ihre arbeitswilligen Kameraden zur Genüge, namentlih aus der Zeit des Bergarbeiter- Ausstandes von 1891 und aus dem Hamburger Strike. MNedner weist auf die neuesten Vorgänge in Torgelow hin, bei welchen ein Arbeiter getödtet worden, und fährt dann fort: Wenn die Metallfabriken zu einer Einigung gekommen sind, so ist das eine Folge der ständigen Thätigkeit der Arbeitervereine. Die Fabrikantenvereine be- \häfligen sich sonst größtentheils mit anderen Dingen. Wenn sämmtliche Arbeiter in Gewerkschaft oder Gewerkverein das kommt auf dasselbe hinaus organisiert sein follten, dann würde die Freiheit der persönlichen Entscheidung der Arbeitgeber aufhören, oder, wenn die Arbeitgeber sih vereinigen, würde der Verband der Arbeitgeber immer ber stärkere bleiben. Der Terrorismus der Arbeiter hat es dahin gebraht, daß die Arbeitgeber sich nicht mehr um das persönliche Verhältniß zu thren Arbeitern lümmerten und Lohnreduktion erzwangen, sodaß durch diese Hungerlöhne der deutsche Wettbewerb verdrängt wurde. Detwegen fage ih: Sie (die Soztal- demokraten) mit Ihren Bestrebungen sind die größten Feinde der Arbeiter. Das Rundschreiben wird als ein Ausfluß der s{lotternden Angst bezeichnet. Wenn Sie die ODrohbriefe alle kennen würden, die ih erhalte, wenn das wahr wäre, was darin steht, dann würde ich

E eher heute als morgen todigeshlagen werden.

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Aber das hält mich alles nit ab, die deutschen Arbeiter als freie Arbeiter zu behandeln und sie vor gewissen Blutsaugern zu bewahren, die \ch mit ihren sauer erworbenen Groschen s

Abg. Singer (Soz.): Die sittlihe Entrüstung darüber, daß der „Vorwärts* ein ihm anonym zugegangenes Aktenstück gebracht hat, ift fomish. Seht sih nit die nationalliberale und konservative Presse in den Besiß von Aktenstücken, ehe sie noch an den Reichstag ge- langen? Mit großem Vergnügen werden wir \tets die Veröffent- lichung solcher Aktenstücke übernehmen, wenn sie uns zugehen. Es follten nur soldhe Erlasse in die Welt geshickt werden, die das Licht der Oeffentlichkeit nicht zu scheuen haben. Dieser Erlaß ist ein tückischer, hinterlistiger Schlag gegen die Arbeiterklasse, welcher zeigt, wohin der Kurs geht. Die Revision der Unfallver sicherung ist zurügestellt, weil der Zentralverband und die Vorstände der Berufssgenossenshaften fh dagegen ausgesprochen haben. Das Rundschreiben if nur ein Zeichen der Abkommandierung des Grafen Posadowsky vom Arbeitershuy zum Arbeitertrupß. Es muß dem Grafen Posadowsky gleich von vorn herein flar gemacht werden, welcher Empfang einer solhen Novelle zu theil werden wird. Namentlich wird das Zentrum \ich erklären müssen, ob es ein solhes Rundschreiben mit dem Arbeitershuß für vereinbar hält. Kümmert man sich um den Terrorismus der Unternehmer, die sich zu Ringen und Kartellen zusammen- schließen, die mit s{chwarzen Listen operieren? Graf Posadowsky hat Scheu vor politishen Bevormundungen. Die Schußleute werden aber nicht auêreilen, wern das durchgeführt wird, was er in seinem Rundschreiben andevtet. Herrn von Berlepsch loben wir niht wegen seiner Thätigkeit als Minister, sondern wegen seiner Anschauung über das Koalitionsre®t, die er jeßt entwickelt hat. Es giebt doch ncch andere Strafgeseßbestimmungen, die den Ter- rorismus der Arkeitér betreffen. Es soll h nur. um Erhebungen handeln. Daran wird nah der Entwickelung der Sozialreform nicht mehr recht geglaubt; man nimmt an, daß alles, was die Regierung in Bezug auf Sozialpolitik thut, nur ges{ieht zur Vershlehterung derselben, weil das Unternehmerthum Einfluß auf die Regierung géwonnen hat, daß die Beseßung der Ministerstellen von dem Unter- nebmerthum abhängig ift. Deswegen sind wir dankbar, daß wir den Schleier von dem Vorhaben der Negterung fortzuziechen vermochten.

Präsident Freiherr von Buol: Der Vorredner hat eine amt- lie Handlung des Staatssekretärs as tückisch und hinterlistig be- zeichnet. Das ist keine parlamentarisch zulässige Wendung, ih muß den Vorredner zur Ordnung rufen.

Staatssekrelär des Jnnern, Staats - Minister Dr. Graf von Posadowsky-Wehner:

Der Herr Abg. Singer hat eine Masse einzelner Fälle angeführt, wo angeblich das Entwenden von Aktenstücken bezahlt sein soll, und ähnlihe Dinge. Mir find diese Vorgänge nicht bekannt; aber ih glaube, es wird niemand im Lande bestreiten, daß der Chef etner großen Verwaltung und der Stellvertreter des Reichskanzlers seine Pflicht thut, wenn er es als unehrenhaft, als eine Verleßung der amtlihcn Pflichten bezeichnet, wenn ein Beamter einen Erlaß ent- wendet und ihn einer Zeitung zushickt. Jh glaube, ih habe die Ver- pflihtung, im Staatsinteresse hier Disziplin zu üben, soweit dies nur möglich ist. (Sehr gut! rets.)

Wenn der Herr Abg. Singer aber daran die Erklärung geknüpft hat: wir werden im „Vorwärts“ auch in Zukunft alle geheimen Er- lasse, die uns zugehen, mit Vergnügen veröffentlihen (Zurufe bei den Sozialdemokraten) ih freue mich der Bestätigung —, dann ist das meines Erachtens nichts wie ein Aufruf an alle Beamten, den von ihnen geleisteten Dienfteid ¿zu brehen. (Sehr richtig! rechts. Widerspruch bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, daß von der Reichsregierung nur Erlasse ausgehen, die das Wohlgefallen der sozialdemokratishen Partei finden, das kann ih freilich nicht in Aus-

sitt stellen.

Wenn Herr Singer gesagt hat, ih hätte mich hier bei diesem Erlaß als Kommis des Unternehmerthums gekennzeihnet, so stelle ih mich bezüglih dieser Aeußerung unter den Shuß des Herrn Präsidenten.

Wexn er ferner behauptet hat, der Zentralverband der Industriellen hätte einen Einfluß geübt auf die Entschließungen bezüglih der Nicht- wiedervorlage des Unfallgeseßes, so ist diese Behauptung ebenso un- rihtig wie die Behauptung, die der Herr Abg. Bebel in einer der früheren Sitzungen aufgestellt bat, eine ganze Anzahl NRegterungs- Kommissarien seien zu einer Versammlung des Zentralverbandes der Oeutshen Industriellen über die im Hause beschlossene Ver- siherungsxovelle abgesandt worden. Es hat allerdings der Zentral- verband der Deutschen Industriellen, meines Wissens, anfangs der ersten Lesung in der Kommission des Hauses, hier über diese Unfall- versicherung8novelle getagt, und zu dieser Sißung siud Kommissare des Reichèamts des Innern deputiert oder freiwillig ecschienen dies ist mir augenblicklich niht gegenwärtig —; aber auch nachdem das Geseg, Herr Abg. Bebel, hier berathen ist, hat allerdings eine Versammlung des Zentral-Verbandes der Deutschen Judustriellen, ich glaube Anfang Dezember, stattgefunden, es find - aber zu dieser Versammlung des Zentral-Verbandes der Deutschen Industriellen vom Neichsamt des Innern keine Kommissare hinges{chickt worden. (Zurufe bei den Sozialdemokraten.) Das haben Sie behauptet, Herr Abg. Bebel, und Sie haben \sich geirrt, gestehen Sie doch Jhren Jrrthum einfa ein ; wir können ihn ja jeden Augenblick aktenmäßig nach- weisen.

Die Rede des Herrn Abg. Singer beruht eigentliß auf gar keinem Fundament, nämli einfach darauf, daß cin Erlaß, der wider- rehilich in die Oeffentlichkeit gelangt is, lediglich Umfragen hält, auf Grund der Anregungen, die von den verschiedensten Sciten an den Bundesrath ergangen sind Umfragen, die noch lange kein Eeseßentwuxrf siad —, andererseits darauf, angeblich wäre die fozial- politishe Gesetzgebung oder der Ausbau der fozialpolitischen Geseße sistiert. Herr Abg. Singer, warten Sie doch erst ab! Jch habe wiederholt erklärt, daß die Regierung entschieden auf dem Stand- punkt steht, daß für die Arbeiter das ges{chehen muß, was im Inter- esse der Sittlichkeit, des Lebens und der Gesundheit nothwendig ift, und daß die Regierung fortgeseßt fest entschlossen ift, die bestehenden sozialpolitishen Gesetze auszubauen und zu vertiefen. Die Gründe, warum es in dieser Session noch nicht geschehen ist, habe ih auch auseinandergescßt. Warten Sie also erst ab, was die verbündeten Regierungen in der nächsten Zukunft thun werden, che Sie ein so hartes Urtheil fällen. (Bravo! rets.)

Persönlich bemerkt der

Abg. B ebel (Soz.), daß zwar zu der Versammlung des Zentral- verbandes Regierungskommissare entsandt seien, aber nicht in die großen Versammlungen der Tabackarbeiter aus Anlaß der Tabaksteuer.

Nach weiteren persönlihen Bemerkungen der Abgg. Hüpeden und Freiherr von Stumm wird um 5/ Uhr die weitere Berathung auf Dienstag 2 Uhr vertagt.

Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten.

3. Sißung vom 17. Januar 1898.

Auf der Tagesordnung steht die erste Berat Staatshaushalts-Etats fee 1898/99. erathung des

Abg, Dr. Sattler (nl.): Der Finanz-Minister {loß seine Rede mit dem Wunsch und der Hoffnung, daß die Berbandlaügee in diesem Hause freundlih sein möchten. Allerdings stehen die Ver- handlungen unter günstigeren Auspizien als im vorigen Jahre. Allein die Thatsache, daß die deutsche Politik vor eine große nationale Aufgabe gestellt is, wie sie die §lotten- vorlage bringt, hat die Wolken der Unzufriedenheit und das allgemeine politishe Unbehagen mindestens theilweise gelihtet. Der Umstand, daß die Vertretung der nationalen Interessen dur die Regierung mit Energie, Geschick und auch Erfolg in den leßten Monaten in Angriff genommen ist, hat in demselben Sinne gewirkt. Wir befinden uns in einer wirthsaftlich günstigen Entwickelung, da die Arbeitslöhne steigen und Handel, Industrie und Gewerbe einen großen Aufschwung genommen haben. Auch in der Landwirtbschaft ist wenigstens eine gewisse Besserung bemerkbar. Die Finanzen find in glüdliher Lage, alle Kassen sind voll, Beforg- nisse, daß die Mittel niht ausreichen für die großen nationalen Auf- gaben, brauht man nit zu hegen. In der Thronrede is kein Geseh angekündigt, das großen Streit aufwirbeln und die Parteien ausein- anderreißen könnte, wie es im vorigen Jahre dur das unglüdcselige Vereinsgeseßz geschah. Allerdings stehen wir vor den Wahlen, und die leßte Session wird immer benuyt, um Einfluß auf die Wahlen zu üben. Meine Freunde haben nit diese Absicht; so lange wir nit provoziert werden, werden roir uns auf eine ruhige, sachlihe Be- tirahtung des Etats und des übrigen geseßgeberishen Materials be- shränken. Die Stimmung des Finanz - Ministers war neulih eine behaglie, er freute sich, so manchen Wunsch erfüllen zu können. Wir erkennen an, daß er mit gewissem Stolz auf seine Leistungen für die Finanzen zurückbliden kann. Es ift ihm gelungen, den Finanzen überhaupt wieder die Bedeutung zurückzugewinnen, die sie eine Zeit lang vorher verloren hatten. Es ist ihm gelungen, den Einfluß des Finanz-Ministeriums auf die übrigen Refsorts zur Geltung zu bringen, wie es durchaus nöthig ist. Vielleicht könnte er sich sogar fragen, ob nicht dieser Einfluß auf die anderen Ressorts bereits zu stark benußt ist, und ob nicht * Gefahr vorhanden ist, daß nah dieser Richtung zu weit gegangen werden könnte. Auch wir haben den Finanz-Minister in seiner Steuerreform unter- stüßt ; aber wir müssen uns das Recht der Kritik wahren, und auch dem Finanz-Minister selbst würde es niht behagen, wenn wir uns lediglih mit einer Anerkennung seiner Verdienste begnügen wollten. Er meinte aus der Thatsache, daß die direkten Steuern für 1898/99 um 8 Millionen höher veranschlagt sind, den Schluß ziehen zu können, daß die Steuer, wie sie jeßt eingerichtct sei, ih bereits dém Jdeale annähere, und daß die Klagen gegen das Steuersystem nur von denjenigen ausgingen, le mehr zahlen müßten als früher. Da bin ih nun beauftragt, im Namen meiner Freunde, die auch der Finanz-Minister bei dieser Ge- legenheit im Auge hatte, zu erklären, daß nicht die höhere Steuer es ist, sondern lediglich die Unbequemlickeit und die Scherereien, die mit der Erhebung unserer Steuern verbunden sind, welche die Klagen veranlaßt haben. Die Ansicht, daß die richtige Fafsung des Einkommens bereits annähernd erreicht sei, \teht in gewissem Widerspruch mit der Thatsache, daß wir eine steigende Summe von Rückzahlungen für zuviel erhobene Steuern haben. Wir wollen dem Finanz-Minister gern zugeben, daß der Etat au in formaler Beziehung Fortschritte gegen seinen Vorgänger aufweist; ih selbst habe in vershiedenen Punkten jahrelang für diefe formalen Ver- besserungen gestritten. Ein unzweifelhafter Erfolg besteht darin, daß man endli dazu übergegangen i}, die Nebenfonds, soweit sie nicht Stiftungéfonds find, mit Einnahmen und Ausgaben in den Etat einzustellen; das is nicht nur eine Erfüllung der \trikten Forderung der Verfassung, fondern erhöht au die Uebersichtlichkeit. Gbenso erfreulich ist es, daß das in der vorigen Session gegebene Versprechen einer anderen Ordnung der Remunerationen eingelöst werden soll. In erster Linie steht der Wegfall der Remunerationen an hôhere Beamten. Ein Abschluß der formalen Gestaltung des Etats ift endlich in diesem Jahre gemacht worden durch Vorlegung des Komptabilitäisgeseßes. Wir haben daraus nur wenig Neues er- fahren. In der That i} der ganze Geseßentwurf der Hauptsache nah nur eine Kodifikation der bereits bisher eingeführten Maßnahmen. Mit der Lösung der Frage der Remunerationen und der Nebenfonds fiel das Komptabilitätsgeseß als eine reife Frucht vom Baume. Dec Etat felbst enthält erfreulihe Verbesserungen. Dahin gehört die Erhöhung der Ausgaben für ideelle Kulturaufgaben, z. B. für das gewerbliche Unterzrihtéwesen. Die Mittel zur Förderung der Landwirthschaft hätten noch reichlicher bemessen werden können. Es ift gut, daß die Eisenbahnverwaltung alte Härten und Verschul- dungen der Wasserbauverwaltung auszugleichen sucht ; verfehlte Unter- nehmungen der Wasserbauverwalturg kommen aber so häufig voc, daß c am besten wäre, wir löften diese Verwaltung vom Eisenbahn - Ministerium les und bildeten aus ihr ein eigenes Ressort unter Leitung des allerbesten Wasserbaumannes, den es in Deutschland giebt. Das würde uns Kosten ersparen und wohl auch dem Eisenbahn-Minister erwünscht sein, Die Uebertragung der Bauleitung auf das Ordinarium und der Ersaß der Bauleitungskosten aus den Baugeldern an die Zentral- verwaltung ift ein wihtiger Schritt. Die Bauverwaltung ist hiérbei der Eisenbahnverwaltung gefolgt. Wenn im Interesse der Land- wirthschaft die Vermehrung der Fonds der Zentral-Genossenschafts- kasse nothwendig ist, so wird dagegen kein Widerspruch erhoben werden. Mit besonderer Freude haben wir es begrüßt, daß der Etat Mehraufwendungen für ideale Zwecke aufweist, die zuerst unter dem Rückgang der Finanzen zu leiden hatten. Der Finanz-Minister hat hingewiesen auf die starke Vermeh- rung der Ausgaben für das Volkss{ulwesen und auf die Verstärkung des Schul-Baufonds. Staatliche Mittel werden zur Verfügung gestellt dafür, daß die Lehrer an \tädtishen höheren Lehranstalten denen an den staatlihen Anstalten gleichgestellt werden können. Erfolgen muß die Gleichstellung dieser Lehrer bei ihrer gleihartigen Beschäftigung. Wir wollen hoffen, daß es in der vorgeschlagenen Weise gelingt, die Gleich- stellung herbeizuführen. Erfreulich ist au, daß es möglich geworden ist, mehr für die Justiz und für die Justizgebäude zu thun. Ob die Mehraufwendungen für die Polizei erfreulih find, ersheint mir frag- li, namentli soweit die Polizei-Direktion in Schöneberg in Frage fommt. Die Klagen und begründeten Beschwerden, welche gegen die staatli*Gen Polizeiverwaltungen hervorgetreten find, laffen die Vermehrung staatlicher Polizeiverwaltungen do bedenklih erscheinen. Der Fall Köppen und der andere Fall, in dem auch eine anständige Frau verhaftet wurde, zeigen doh eine Neigung zu Uebergriffen der Polizei, welche schr bedenklich ist. Jh erkenne an, daß der Minister in diesen beiden Fällen Remedur hat eintreten lassen; aber es kommen auch noch andere Râlle vor wie der, daß ein dänischer Ingenieur in Haft gehalten e ein angeblich stück ausgegeben hätte, sodaß man

wurde, weil er falshes Zwanzigmark-

fragen muß, ob die

Polizeiverwaltung von dem richtigen Geiste geleitet wird und es möglich is, mit der minimalen Organisationsänderung, welche der

Etat vorschlägt, Abhilfe zu hafen. Man bekommt beinahe den Eindruck, als ob die staatlihe Polizei garnicht von der Ueberzeugung erfüllt sei, daß die menschliche Freiheit eins der größten Güter ift, die man hat und unter all2èn Umständen vertheidigen muß, als ob es eine ganz kleine Sache sei, einen anständigen Menschen, eine anständige Frau zu verhaften und eine Zeit lang hinter Schloß und Riegel zu seßen. Diese Mißgriffe der Polizei, die der Minister hoffentlih mißbilligen wird, haben in Deutschland das größte Auffehen erregt, und ih verstehe es, wenn namentli der weibliche Theil der Bevölkerung über die Behandlung des Fräulein Köppen aufs tiefste entrüstet ist und Abhilfe und. Bestrafung der Schuldigen verlangt. Wenn man als Finanz-Minister in der Lage ist, über einen

so glänzenden Etat zu verfügen, ist es da mae nothwendig, neue Ausgaben zu Äbernebien: zumal der Etat v chtia veransblagt i ; namentlich in der Einnahme? Trotzdem sind neue TIEEN nit Angriff genommen. Jch kann es verstehen, daß der Finanz-Minister der Fülle gegenüber si gesagt hat: es ift bedenklichß, neue dauernde Ausgaben auf den -Uebershüssen zu basieren, da wir nit wissen, wie lange die Uebershüsse dauern werden. Er hat alles auf das Extraordinarium ve1wtesen. habe dagegen nichts einzu- wenden. Aber wenn er sagt: „Dasselbe ist so bemessen, daß es in einem Jahre niht verwendet werden kann, daß etwas übrig bleibt", so widerspriht das dem obersten Saß, daß die Ausgaben für jedes Jahr gesondert veranschlagt werden follen. ch will gegenwärtig nichts dagegen einwenden, weil es nicht möglih gerwoefen B die Quelle der chwankenden Einnahmen zu verstopfen dur ein Eisenbahu-Garantie- geseß. Für die Mittel- und Unterbeamten hat der Etat nihts gethan, mit Ausnahme der Förster, troßdem der günstige Etat hätte Ver- anlassung geben follen, die vorhandenen Härten zu beseitigen, damit ein Abschluß der Beamtenbesoldungsverbesserungen erreicht worden wäre. Insbesondere hätte der Wohnungsgeldzushuß für die Unter- beamten einer Verbesserung bedurft. Bedauerlich is es, daß für die Besserstelung der Geistlihen nicht {on jeßt etwas geshehen ist. Die Synoden sind“ mit Geseßen beschäftigt, und wir hoffen, daß bald eine Einigung erfolgen möge. Wir unsererseits müssen dafür sorgen, daß die unterste Grenze der Gehälter von 1800 4 erhöht wird. Die Negicrung hätte damit bereits in diesem Jahre vorgehen können. Wir vermissen ferner die Maßnahmen zur Durchführung der Medizinalreform. If es etwa nôthig, auch hier durch eine Ressorttrennung die Möglichkeit für eine Reform zu {afen ? Der Kultus-Minister hat sich ja bereit erklärt, das Medizinalwefen an tas Ministerium des Innern abzugeben. Wenn von Reformen die Rede war, dann wurde es immer sehr bald davon wieder still. Gerade ein solcher Etat mit so großen Mitteln wäre geeignet, die Medizinalreform durhzuführen, die in Bezug auf die Dur(führung der Hygiene eine große kulturelle Bedeutung hat. Es wird wohl nicht eher anders werden, als bis das Medizinalwesen von der engen Verbindung mit dem geistlihen und Unterrichts- ressort gelöft wird. Ein wichtiges Gesetz ift das Expropriationsgeset, welches son vor ses oder sieben Jahren als in nächster Zeit bevorstehend angekündigt wurde. Das dauert etwas sehr lange. Die Ausführungen des Finanz-Ministers über den gesammten Dominialbesiß des Staats erkennen wir als rihtig an. Im Westen des Staats wird es noth- wendig sein, den Dominialbesiß zu erhalten und zu hafen, um Musterwirthschaften zu errihten. Es ist au richtig, daß der Staat möglichst viel Forsten erwirbt, damit der Wald erhalten bleibt. Wenn der Staat feinen Domänenbesiß nah Osten verlegt und ihn verwendet, um mittlere und kleinere Grundbesißer anzuseßen, so dient er damit der wirths{aftlihen Cvuns des Ostens. Durch die anderweitige Besißvertheilung des Grund und Bodens wird es möglich sein, die Bevölkerung zu vermehren und die wirthsaft- lichen Verhältnisse zu heben. Bezüglih der Staatshilfe für die UVeberschwemmten werden wir bereit sein, nah Prüfung der Ver- hältnifse die Forderung der Regierung zu bewilligen. Aber wir müssen wünschen, daß die Wasserbauverwaltung und die übrigen Verwaltungen, welche dabei in Betracht kommen, möglichst kräftig thätig sind. Die frage der Eisenbahnverwaltung wird einen der Hauptgegenstände der rörterung bilden, namentlich bei der Spezialberathung. Die Er- gebnisse der Eisenbahnverwaltung der leßten Jahre haben den Beweis geliefert, daß sie niht in der Lage gewesen ist, in vollem Um- fange ihre Aufgabe zu erfüllen; sie hat ihre Aufgabe nit erfüllt nah der Richtung hin, daß sie die Personen gesund und lebend wieder abgeliefert hat, daß sie die zur Verladung gelangten Güter in an- lmelener Zeit transportiert hat. Aus der Denkschrift des Eisenbahn- tinisters ersehen wir, daß er selbs das Gefühl hat, sih eingehend darüber aussprehen zu müssen vor dem Lande und dem Landtage. Die Eisenbahnverwaltung giebt selbst zu, daß sie ihren Aufgaben nicht a geworden ist. Es werden Nachforderungen gestellt für Bahn- ofserweiterungen und für die Verstärkung des Materials und des Personals. (Widerspruch des Ministers der öffentlichen Arbeiten Thielen.) ch nebme natürli niht an, daß das Personal bisher nicht vorhanden war, es war nur nicht an der richtigen Stelle. An der Stelle der geprüften Lokomotivführer fungierten Heizer u. f. w. Ich werde mich sehr freuen, wenn unsere Vorwürfe fich als un- begründet herauéstellen sollten. Ih bin daher mit einer genauen Sibi cinverstanden ; deshalb erneuere ih den alten Wunsch meiner reunde, eine besondere Eisenbahn-Kommission einzuseßen. Denkschriften erhalten ¡wir zur Genüge; aber diese Denkschriften bedürfen auh einer genügenden Prüfung hinfichtlich aller technischen Fragen; zu dieser Prüfung haben wir nach den vielen Unglücksfällen die dringendste Verpflihtung, Um den Staatshaushalt vor den s{wankenden Ein- nahmen zu s{üßen, müssen wir einen Schnitt machen zwischen der Eisenbahnverwaltung und den übrigen Staatéverwaltungen, wie dies im vorigen Jahre beantragt worden ist. Der Minister wird fagen: Das Verlangen nah dauernden neuen Ausgaben is in der Volksvertretung niht zu unterdrücken. Ich fürchte, daß wir auf der Höhe der wirths{aftlihen Entwidkelung sind, daß wir wieder {lehteren Jahren entgegengehen. Daher müssen wir \tets wieder darauf hinweisen : hier muß der Schnitt gemacht werden. Durch das Komptabilitätsgeseßp i die formale Ordnung des Etats herbeigeführt, der Finanz-Minister kann aber niht eher ruhen, als bis auch eine materielle Regelung des Verhält- nifses zu den Eisenbahnen und zum Reiche herbeigeführt sein wird. Ohne den Finanz-Minister kann nichts gemacht werden. Wir müssen aber immer wieder die Forderung erheben, weil wir die Verantwor- tung fühlen für die Sicherung der Finanzen des preußischen Staats, und zwar weil die dauernden Staatsausgaben schon zu sehr auf den Eisenbahneinnahmen basiert find. Die öffentlihe Meinung wird, folange dieses Verhältniß bleibt, niemals die Eisenbahnverwaltung allein für den {huldigen Theil halten, sondern immer auf mildernde Umstände für den Eisenbahn- Minister plädieren. Die Verantwortlichkeit muß von der Stelle ge- tragen werden, wohin fie gehört. Jh freue mich, daß für die Thâtigkeit der Ansiedelungs-Kommission etwas geschieht, daß dem Ober - Präsidenten Fonds zur Verfügung gestellt werden zum Schuße des Deutshthums in den polnischen Landestheilen. Daß ih für diese Maßnahmen bin, werden Sie ver- stehen. Allerdings liegt darin die Quelle für lebhafte Streitigkeiten, welche die friedlihe Tendenz unserer Verhandlungen brei eDen werden. Jh habe das Ansiedelungsgesey einmal aus wirths{aftlichen Gründen befürwortet, weil in einer anderweitigen Besißvertheilung eine Rettung für die Entwikelung des Ostens liegt, und zweitens aus nationalen Gründen.

Präsident von Kröcher: Ich stelle anheim, die Polenfrage bis Donnerstag nicht zu berühren, für welchen Tag ih hoffe, das An- siedelungsgesez auf die Tagesordnung seyen zu können. Jch kann es Ihnen nicht verwehren, ih will es Ihnen nur anheimstellen.

Abg. Dr. Sattler: Jh bin damit einverstanden, will auch die Frage hier nur soweit behandeln, als sie mit dem Geist, der aus dem ganzen Etat gegen tas Polenthum hervorgeht, in Ver- bindung steht. Die Polen müssen, wenn sie fich in ihres e Kämmerlein prüfen, selbst der Ansicht sein, daß ein

igensay ¡wishen uns Deutschen und den Herren Polen be- steht, daß er aber niht beruht auf perfönlißem Uebelwollen, auf der Sucht, die Mitglieder der polnischen Nationalität zu s{chädigen, sondern auf der geographischen Bertheilung der beiden Völker. Sie müssen fich selbst klar machen, daß wir Deutshe unmögli gestatten können, daß wenige Tagereisen von unserer Hauptstadt eine fremde Nationalität das Scepter in der Hand hat, und daß wir verhindern müfsen, daß die fremde Nationalität das deutshe Element zurückgedrängt. Leider is nicht zu leugnen, daß die deutsche Nationalität außerhalb unserer Grenzen im Rückgange begriffen A wir können dagegen nichts machen, aber müssen umsomehr dafür sorgen, daß wenigstens innerhalb der Grenzen des preußishen Staates und des Deutschen Reiches alles geschieht, was möglich ist, um das Deutschthum zu stärken, zu l1äf- tigen und zu. vermehren. Es if naturgemäß unsere Pflicht