1873 / 50 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Tue, 25 Feb 1873 18:00:01 GMT) scan diff

birgsländer auf die Reiseluft überhaupt noch keine Anziehungs- kraft üben konnten. So fehlte also. auch die Möglichkeit der Er- weiterung des Naturgefühls durch Ausdehnung des Begriffs der Naturschönheit auf dieses Gebiet, mindestens der Verbreitung eines so neugestalteten Naturgefühls in weiten Kreisen.

Eine Se Verbreitung des in einzelnen Bildern von Tizian und Caracci kundgegebenen Naturgefühls konnte nicht dur einzelne Kunstwerke erfolgen, die nur Wenigen zugänglih blieben, sondern allein dur die Einflüsse der Literatur. In Addisons Besiiceang seiner in den Jahren 1701—1708 durhch die Shweiz und Italien gemachten Reise glaubt man es gleih- sam in seinem erften Erwachen beobachten zu können. Die Um- gebungen des Genfer Sees, den er in einer fast fünftägigen Fahrt ganz umscifste, erfüllten ihn mit lebhafter Bewunderung. Die Bergketten, von denen Genf umgeben i, „lassen eine wunder- baré Fülle hôner Ausfichten ofen“, und bilden einen Horizont, der etwas sehr eigenthümlihes und angenehmes hat : „Auf der einen Seite die lange Hügelreihe des Jura, mit Weinbergen und Wiesen bedeck, auf der anderen ungeheuere jähe Abftürze nakter Felsen, die fich in tausend seltsamen Gestalten erheben und ftellenweise zerrissen sind, so daß sie hohe Schneegebirge er- bliten laffen, die meilenweit hinter ihnen liegen.“ Er beschreibt die Ausfichten aus dem - Garten -eines Karthäuserklosters zu Rigaille ; man sah hier die Alpen unmittelbar vor \ich, „die in so viele steile Abhânge und Abstürze zerrissen sind, daß sie die Seele mit einer angenehmen Art. von Schauder erfüllen, und eine der unregelmäßigsten, mißgestaltetsten Seenen in der Welt bilden.“

Im Allgemeinen bestand das Naturgefühl in der früheren Beschränkung unverändert fort, und daß bei Vielen (vielleicht den Meisten) \elb| der Anblick der Alpen noch nicht vermochte, das. Verständniß für die Schönheit der Gebirgslandschaft zu er- schließen, zeigt sih aufs Deutlichste in der im vorigen Jahrhun- dert sehr berühmten und viel gelesenen Beschreibung, die I. G. E von seiner in den Jahren. 1729 bis-1731 durch Deutsh- land, die Schweiz und Italien gemachten Reise herausgab, und die im I. 1776 die dritte Auflage erlebte. Naturschönheiten werden darin häufig besprochen, Manches, wie der Wasserfal von Terni, der Anblick Genuas von der See aus, hoh gerühmt. An weiten heitern Prospekten findet der Verfasser am meisten Gefallen, und auch er weiß einer \{önen Gegend kein höheres Lob zu geben, als daß er fie „angenehm“ nennt.

„Ich bin aber versichert, sagt derselbe, daß derjenige, \o z. B. im gebirgigen Tirol, Salzburg, auf dem Harze, \ ächsishen Bergstätten, desgleichen in den Wäldern von Thüringen und Pommern, in den sandigen Gegenden von Schlesien, der Markgrafschaft von Bran- denburg und Mecklenburg, oder in den Haiden von Lüneburg oder Westfalen erzogen worden und auf einmal in die aus- erlesensten Prospekte von Italien gebracht werden sollte, ganz ungemeine Reguüngen und Vergnügungen empfinden würde.“ Hier werden “also die Salzburger und Tiroler Alpén mit den Lüneburger Haiden und märkishen Kieferwäldern als Leid un- \chön zusammengeftellt: offenbar, weil fie sämmtlich glei un- fruchtbar und wild, folglih nicht „angenehm“ gefunden wurden.

Gerade damals (1729) erschienen Hallers „Alpen“, ein untergeordnetes Ergebniß einer großen, 1728 zu naturwissenschaft- lihen Zwecken unternommenen Alpenreise. Dies in jener Zeit hochgéfeierte Gedicht zog die Aufuierksamkeit von Europa auf die Schweiz Und veranlaßte-jene auf Land und Volk gleihermaßen gerihtéte Bewunderung, welche die Schweiz über ein halbes Jahrhundert mit einer merkwürdigen Glorie umstrahlte.

So bégann jener unünterbrohene Zug der Wanderer nah der Schweiz, welche niht nur die in ihrer Art einzige Natur be- wundern; sondern auch ein durch Verfafsüng, Lebensweise und Sitten: ebénso eigenthümlihes Volk in diesen Bergen kennen lernen wollten.“

In der That blieb die Aufmerksamkeit der Reisenden, die die Séchweiz fortan immer zahlreicher besuchten, in den nächsten Jahrzehnten noch vorzugöweise auf das Volk, seine Zustände, Sitten und Verfassung gerichtet, auf die Hallers Ode fie hinge- lenkt hatte; denn der Gegenstand seines Gemäldes war fast aus- chlleMG die Einfachheit, Unschuld und Seligkeit des Hirtenlebens, wozu die mehr in allgemeinen Umrissen angedeutete als an- \haulih geschilderte Natur der Alpen nur den E bil- dete. Auch Klopstock, der sich vom 28. Iuli 1750 bis Mitte Februar 1751 in Zürich aufhielt, zeigte zu Bodmers Erstaunen, „Feine Neugierigkeit die Alpen von weitem oder in der Nähe zu betraten“ und kann den Plan zu einer Alpenreise wohl erst lange nah seiner Ankunft gefaßt haben, wenn diese durch un- gewöhülih frühen Schneefall vereitelt wurde.

Hatte ‘fich nun das Gefühl für das Wildromantische und Furchtbar-Erhabene in der Natur und namentlich in der Ge-

birgslandschaft auch \chon in mannihfahen Regungen kund- gegeben, so ist Rousseau do der Erste gewesen, der ihm dur hinreißenden Ausdruck allgemeine Anerkennung sicherte und seine weiteste Verbreitung anbahnte. Rousseau hat nicht blos eine

die Entdeckung der Gebirgs-

aba D der Naturgefühle durch Die

landschaft herbeigeführt: er hat es auch völlig umgestaltet. von ihm angeschlagenen Töne klangen überall wieder.

Auch die Travels in Switzerland and in the country of the Grisons (1776, 79, 85, 86) von Core, die in der nächsten Zeit hauptsählich der Wegweiser englisher Reisender waren, verfolgen die Spur Roufseaus in Motiers und auf der Peters- insel. -Das Buch von Coxe wurde von einem tiefen wissen- \haftlihen Ken.er der Gebirgswelt, der zugleich. ein Meister landschaftlicher Schilderung war, von Ramond de Carbonnières (geboren zu Straßburg von einer deutshen Mutter 1755; + 1827) in einer an Inhalt und Lags erheblih vermehrte französishen Uebersezung herausgegeben, die daraus ein ganz neues Buch machte. Die Reisen von Coxe - hatten fich noch mehr in der Ebene und in niedrigen Thälern bewegt, sie gelten vorzugsweise den Städten, der Kenntniß der Menschen und ZuU- stände. Ramond beschrieb zuerst die. Höhen, die er als unermüd- liher Fußwanderer erklommen hatte.

Doch die Wirkung von Ramonds Werken wurde dur die Ungunst der Zeiten, in denen fie erschienen, im höchsten Grade beeinträchtigt, fie wurden verhältnißmäßig wenig bekannt, und sein Name if außerhalb Frankreihs \so gut wie verschollen. Dasselbe gilt von den Schriften Etiennes de Sénamour (geb. 1770); die Schilderungen der Alpenlandshaft in seinem Ober- mann (1804), der ähnlihe Stimmungen anregte, wie Ossian und Werther, zeigen „eine originale und ernfte Darstellungs- gabe, die zwishen der Weise Ruysdaels und Salvator Rosas in der Mitte steht“. Derjenige, dem die gebildete Welt nah der Entdeckung der Gebirgslandschaft durch Rousseau die neue große Erweiterung ihres Naturgefühls durch die Entdeckung des Hochgebirgs verdankt, war ebenfalls ein Genfer, Saussüre,

Ein dritter Genfer, Töpffer (1799—1846), hat sehr richtig die Alpenlandschaft in drei Zonen abgetheilt. Die niedrigste umfaßt die Hügellandshaften und - endet bei der Grenze - der Nußbäume ; auf fie hat fich Roufseau beschränkt und nur in jener Schilderung der Einsiedelei am Meillerie sh über sie hin- ausgewagt, doch von der zweiten höheren Zone nur ein ziemlich allgemeines und -unbestimmtes Bild gegeben, Diese zweite Zone, ernster, strenger und \{hwieriger, i oft kahl ; die Vegetation der untern“ Region erstirbt hier, Tannen und Lerchen bekleiden die Abhänge, fassen Schluhten und Gießbäche ein, hier herrs{ht nicht mehr der Zauber reizender Ländlichkeit, es ist das Reich des Wildshönen. Die höchste Region is die der Hörner, der Gletscher, der Eiswüsten, wo nur noch die Alpenrose und ähn- lih harte Sträuher am Rande des ewigen Schnees oder in dessen Lücken gedeihen. Diese . hohen Regionen sind „die Ent- deckung und Eroberung“ Saussures 1).

Die Werke Saufsures und die Berichte des - niht minder leidenshaftlißen Bergsteigers Burrit, den Friedrich der Große Fhistorien des Alpes nannte2?), lenften \chnell - die allgemeine Aufmerksamkeit auf. die Hohalpen und besonders auf Chamouny. Goethe, der hon 1775 den Rigi bestiegen hatte), hörte auf der 1779 in Gesellshaft Karl Augusts von. Weimar unternommenen Schweizerreise „so viel von der Merkwürdigkeit der Savoyer Eisgebirge'‘4), daß, nachdem er von Saussure Rath eingeholt haite, der Ausflug nah Chamouny noch im November gemacht wurde. Im Iahre 1784 hatte Gibbon bereits zu klagen, daß man \ich in Laufanne nicht mehr der - früheren Ruhe- erfreue, sondern dur die Lage und Schönheit des Pays du Vaud und die „Mode, die Gebirge und Gletscher (glaciers) in Augenschein zu nehmen, von allen Seiten dem Andrange der Fremden ausgeseßt \ei®).

Die immer wachsende Literatur, die diese.Reifen ins Leben riefen, \chuf einen Boden, auf dem die Kunst der Naturschil- derung sich mit besonderer Vorliebe bewegte. „Diese Natur- empfindungswissenshaft, sagt der Winterthurer Ulrich Hegner (1822), die weder Naturkunde noch Naturlehre, weder Erdbes rei- bung noch Erdmessung is, und wovon man vor einem halben Jahrhundert noch wenig in Büchern, selbst nicht in Reisegeschichten las, ist als ein neuer Zweig der Gelehrsamkeit in der Schweiz entsprossen, und hon zum reihen Baume gewurzelt, von ‘dessen Früchten nun Ieder pflückt, weil fie niht {wer zu erhaschen und leiht zu verdauen find.“

1) Sainte-Beuve. Toepffer, Causeries VIII. p. 336 i. 2) Osenbrüggen S. 22 ff.

3) Goethe's Werke (Cotta) Bd. 22 S. 359.

4) Werke 147S. 188.

s) Nachlaß S. 334,