1876 / 78 p. 3 (Deutscher Reichsanzeiger, Thu, 30 Mar 1876 18:00:01 GMT) scan diff

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Berlin, den 30. März 1876,

Die Versammlung der Rechtsanwalte der Provinz Brandenburg,

welhe am 27. d. Mts. im „Englischen Hause* stattfand, war E Theile der Berliner Anwälte und auch von mehre- ren Anwälten aus der Provinz besucht. Die Versammlung fkonsti- tuirte sich unter dem Vorsitz des Juftiz-Raths Laué., In seinem ein- leitenden Vortrage theilte derselbe mit, daß die von der früheren Versammlung behufs Vorberathung der von der Reichs-Justiz-Kom- misfion über die Rehtsanwaltschaft gefaßten Beschlüsse ee Kommission, bestehend aus den Herren: Geb. Juftiz-Rath Ulfert und den Zustiz-Räthen v. Wilwmowsky, Laué, Lesse und Mafkower, bei thren Vorschlägen zwar von dem Prinzipe der freien Advokatur auégegangen fei, das Prinzip selbst indessen nicht diéfutirt babe, und daß demgemäß Uber die Frage, ob die Advokatur überhaupt frei zu geben sei, die Diskusfion nit er- ôffnet werden würde. Er, sowie viele andere Berliner Rechtéanwälte seien zwar gegen die freie Advokatur, bei der Lage der Sache habe man fi aber lediglih auf den Boden der Vorlage gestellt und diese zu verbessern gesucht.

Demnächst erstattete der von der Kommission bestellte Referent Justizrath von Wilmowsky seinen Bericht und zwar zunächst über die zu fordernden Vor bedingungen der Zulassung zur Udvo- katur. Der Entwurf der Reichstagskommission (§. a. alin. 1.) will Jeden als Relhtsanwalt, auch bei Kollegialgerichten, zulassen, fobald er die Fähigkeit zum Richteramt erlangt hat. Die Versammlung nahm «inen Anirag der HH. Lesse und Levy in folgender Fassung an:

Bei Kollegialgerichten kann als Rechtsanwalt nur derjenige zugelassen werden, welcher nah Erlangung der Befähigung zum Richteramte während eines Zeitraums von drei Jahren innerbalb des Deutschen Reiches bei Gerichten oder bei der Staatsanwalt- schaft oder als Rechtsanwalt bei einem Amtsgerichte oder als Rechtsanwaltêgehülfe thätig gewesen ift.“ D

Es wurde fecner angenommen der Antrag der Kommisfion:

dem §. i. der Reichstagékommissionsbeshlüsse, welcher lautet: „Die Zulassung des Antragstellers kann versagt werden, wenn |eit der ihn zum Richteramte befähigenden Prüfung mehr als fünf Jahre verflossen find, in welchen er weder die Anwaltschaft aus- geübt, noch ein Staatsamt befkleidct hat,“

folgenden Zusaß zu geben: L E E : „noch als Rechtsanwaltsgehülfe thätig gewesea ist. Wer die Fähigkeit zum Richteramt innerhalb des Deutschen Reichs erlaxgt hat, kann sich als Gehülfe eines Anwalts mit dessen Genehmi- gung bei der Anwaltékammer eintragen lassen; der so Eingetragene kaun von dem Anwalte zeitweise mit seiner Vertretung beauftragt werden.“

Es wurde hiernächst übergegangen zur Frage der Lokalisirung der Auwaltschaft. Der Referent führte aus, daß das Prinzip des Entwurfs, wona der Anwalt an dem Orte des Gerichts, bei welchem er zugelassen ist, seinen Wohnsiß nehmen müsse, aus der Konftruktion des Prozeßverfahrens folge und deshalb zu billigen sei, daß hingegen nach einung der Kommission eine Ausnahme zu Gunsten der Amts- gerihtéanwätlte zulässig erscheine, wenn fie am Siße des übergeord- neten Landgerichtes aud nur einen ges{äftiicen Wohnsiß nehmen. Der Antrag der Hrn. Lesse, Karsten, Ottmann, Jacobi, Levy und Makower wurde in folgender Fassung angenommen:

„die bei einem Amtsgericht zugelassenen Anwälte sind, inso- fern eine der im S, a, aliv, 2 vorgeschriebenen Vorausseßungen bet ihnen zutrifft, bei dem übergeordneten Landgericht zuzulassen, wenn sie an dem Sitze desselben auch nur einen geschäftlichen Wohnsitz nehmen.“

Der Entwurf bestimmt in §. e.:

„So lange bei einem oder mehreren Landgerichten die zuge- lassenen Anwälte zur ordnungsmäßigen Erledigung der Anwalts- prozesse nicht auere1chen, sind bei anderen Gerichten desselben Bun- desstaates Anwälte nicht zuzulassen,“

„Die Landes-Justizverwaltung hat vor der Feststellung, daß bei einem Landgerichte die zugelassenen Anwälte nicht ausreichen, dieses Gericht und die Anwaltskammer gutachtliß zu hören und ist an Übereinstimmende Gutachten derselben gebunden.“

„Die Vorschrift des ersten Absatzes findet niht Anwendung, sofern der Antragsteller bereits fünf Jahre die Anwaltschaft aus- geübt oder ein Staatsamt bekleidet hat.“

Die Versammlung beschloß die Streichung dieses Artikels.

Rüsichtlih der Notare wurde der Antrag angenommcn, dem 8. g., Alinea 3 des Entwnrfs, welcher lautet:

„Die Zulassung des Antragstellers muß versagt werden: wenn derselbe ein Amt bekleidet, mit welem die Anwaltschaft nah Borschrift des Gesetes nicht verbunden werden kann“ :

folgenden Zusaß zu geben: „Als ein solches ift das Amt eines Notars nicht zu erachten.“

Was das Verhältniß der Anwaltschaft der vershiedenen Bundeë- staaten betrifft, so faun nah dem Entwurf in §. d. Alinea 1, lautend:

„Die Zulaffung bei dem Reichsgerichte, sowie bei einem Gerichte des Vundeéstaates, in welehem der Antragsteller die zum Richter- amte béefähigende Prüfung bestanden hat, darf nur aus den in diefem Gesetze bezeichneten Gründen versagt werden“ die Zulassung verfagt werden, wenn der Antragsteller die Prüfung nicht in demjenigen Bundesftaate bestanden hat, in welchem er zuge- lafsen sein will.

Die Kommission beantragte indessen, die Worte:

„bei dem Neichsgeribte, sowie bei einem Gerichte des Bundes- staats, in welchem der Antragsteller die zum Richteramte befähi- gende Prüfunz bestanden hat“,

zu streichen.

Der Antrag wurde angenommen.

__ Was die Anwaltskammern und die Disziplin betrifft, so bestimmt §. S. des Entwurfs:

„Die Pflichten der Anwälte, die Aufsicht und die Handhabung der Disziplin über dieselben werden durch ein Reichsge)eß über die Bildung von Anwaltékammern geregelt. Den Anwaltskammern wird die Handhabung der Disziplin in der erften Instanz zuge- wiesen. Die Anmwaltskammer bei dem Reichsgerichte wird aus den bei diesem zugelassenen Anwälten gebildet.“

Die Kommission beantragte, statt Alinea 2 folgenden7von der Versammlung angenommenen Saß:

„Dasselbe bestimmt, welhe Befugniß den Anwaltskammern (der Gesammtheit der Anwälte), und welche dem durch Wahl ge- bildeten Ausschusse (Ehren-Disziplinarrath) zustehen. Dem Aus- {usse wird die Handhabung der Disziplin zugewiesen. Sein: Entscheidungen sind nur wegen Verleßung der das Verfahren be- treffenden Vorschriften anfehtbar,“

Der Antrog wurd? einstimmig angenommen.

Nach §. h. Alinea 1 des Entwurfs kann dem Antragstellev die Zulaffung versagt werden, I

„wenn derselbe eines die zeitweise Entziehung der Anwaltschaft begründenden Verhaltens sch _\chuldig gemacht hat“,

Der Referent beantragte Streichung dieser Worte, weil es eine unzulassige Vorausfeßung sei, daß überhaupt eine zeitweise Entziehung ulässig sei; wenn das Verhalten des Anwalts so unwürdig sei, day Überhaupt auf Eatziehung erkannt werden müsse, so könne diese nur eine definitive sein. _ :

Die Versammlung beschloß die Streichung dieses Passus und beauftragte die Kommission mit der Redaktion der Beschlüsse, die demnächst an deu preußischen Justiz-Minister, das Reichs-Justizamt, die Reichs-Justizkommijssion und den Vorftand des deutschen Anwalts- vereins übersendet werden follen.

Mit dem Schluß der laufenden Ill. Session der jeßigen 12. Legislatur-Periode des Hauses der Abgeordneten erlöschen die Mandate dec gegenwärtigen Volksvertreter. Von den bisher bestehenden Parteien find es namentlih die sozialdemokra- tische („Neuer Sozial-Demokrat“ und „Volksstaat*), uud die

ultramontane („Germania*“ und „Kölnische Volkszeitung), die fich mit Eifer zu den bevorstehenden Wahlen rüften.

Neben ihnen sind in legzter Zeit zwei neue Parteien her- vorgetretea, die der sogenannten Agrarier, oder, wie sih selbst neuerdings nennen, der „Steuer- und Wirth- \haftsreformer“, und die des „Centralverbandes deutscher Jnduftrieller“. Organ der Ersteren if die deutsche Landes-Zeitung*, das der Letzteren die „deutsche Börsen- und Handelszeitung“,* die vom 1. April den Namen „deutsche Presse“ annehmen wird. Auch diese beiden Parteien lassen es an’ Eifer und Verbreitung ihrer Grundsäge nicht fehlen; Programm bewegt fich hauptsächlih j Z Gebiete. Bekannte Persönlichkeiten, zum Theil bisher verschie- denen der früheren Parteien angehörig, fiehen an ihrer Spige. Präsident tes Aus\chusses des Centralverbandes deutsher In- dustrieller ist der Abgeordnete von Kardorff, dem Ausschusse gehören von bedeutenden Industriellen Borsig, Kuhnheim, Reimann, Wrede (säâmmtlih in Verlin), Haniel (Ruhrort), Staub (Kuchen), Zimmermann (Chemnitz), Abgeordnete Dr. Websky (Wüste-Waltersdorf) an, ferner Prof. Grashof, Direktor des Vereins deutscher Ingenieure (Carlsruhe), Tenge, Präfident des Vereins deutscher Eisengießereien u. \. w. A

Erstrebt, wie \{chon aus den Namen ihrer hauptsählichsten

Vertreter ersihtlih, diese Partei durch Bekämpfung und theilweise Aenderung der gegenwärtig herrshenden Wirth- \haftsgrundsäge namentiich Förderung der deutschen Industrie, so ift das Hauptaugenmerk der Steuer- und Wirthschaftsreformer in ähnlicher Weise auf Hebung der landwirtß\schaftlihen Verhält- nisse gerihtet. An der Spige dieser Partei fteht der Neffe und Erbe des verstorbenen Ober-Präfidenten von S(hlesien und Präsiden- ten des Herrenhauses, Grafen Eberhard zu Stolberg-Wernige- rode, das Mitglied des Herrenhauses, der Graf Udo zu Stolberg- Wernigerode. Weiter gehören zu derselben der Abgeordnete von Below-Saleske, die Herren von Diest-Daber, Elsner von Gro- now, Freiherr von Thüngen (Bayern), der Volkswirth Dr. Perrot U. #. W. . Auch der Verein selbständiger Handwerker und Fabrikanten Deutschlands, der feinen diesjährigen Kon- greß in Cöln abhalten wird, wobei die bevorstehenden politischen Wahlen den Hauptverhandlungsgegenstand bilden follen, beab- sichtigt, so weit als thunlih, eigene Kandidaten für den Land- und Reichstag aller Orten aufzuftellen. Wir werden auf diese wirthschastlihe Parteigruppe gelegentlih zurüdkommen.

Der „Neue Sozialdemokrat* bringt ein Verzeichniß soz i a- listisher Zeitschriften, dem zufolge die sozialistishe Presse gegenwärtig zählt: in deutscher Sprache 42 Organe, in französischer Sprache 7, in italienischer 5, in holländischer, serbisher und russischer Sprache je 3, in czecischer 2, in englischer, dänischer, spans{her, por- tugiefischer und griechisher Sprache je 1 Organ, zusammen also 70 Organe.

Der Abbé Michaud hat dieser Tage bei Sandoz und Fischbacher in Paris ein Buch veröffentlicht, das den [Titel führt: „Etude stratégique contre Rome“, Dasselbe trägt, der „Köln. Ztg.“ zufolge, folgende Widmung: „An Jhre Exc. die Herren Minifter der Justiz und der Kulten, der inneren uud der äußeren Angelegenheiten ; zu Ehren der fatholisen Prinzipien und der nationalen Traditionen, welche dazu beigetragen haben, die Größe Frankreichs zu sichern, und zur Vertheidigung der Gesetze, die angegriffen und verleßt siud von dem gefährlichen Feinde des Vaterlandes, dem Romaniémus. Ein

franzöfisher fathelisher Priester L. Michaud.“ Die Kapitel des Buches führen folgende Titel: Kap. 1. Dring- liche Nothwendigkeit, Rom gegenüber eine entshlosfsene

Haltung anzunehmen. Kap. 2. Unzuträglichkeit einiger phan- tastish:r Theorien. Kap. 3. Was man von der absoluten Tren- nung der Kirche vom Staat halten muß. Kap. 4. Unzulänglichkeit ds amerifanishen Pseudo-Liberalismus. Kap. 5. Unzuläng:ichkeit des engliswen Pseudo-Liberalismus. Kap. 6. Unzulänglichkeit des belgischen Pseudo-Liberalismus. Kap. 7. Unzulänglichkeit des italie- nischen Pjeudo-Liberalismus. Kap. 8. Unzulänglichkeit des fran- ¿ófischen Pseudo-Liberaliêmus. Kap. 9, Seltsame Beariffsverwir- rung der vpseudo-liberalen Partei in der romanistischen Frage. Kap. 10. Dringlihe Nothwendigkeit einer Vertheidigungs- und Unterdrückungspolitik gegen Rom. Kap. 11. Unzulänglichkeit dèr pseudo-demof:atischen Politik. Kap. 12. Unzutänzlichkeit der isolirten Unterdrückung. Kap. 13. Notbwendigkeit der Kollektiv- Unterdrückung. Wie die remanistishe Frage endgültig nur durch eine internationale Uebereinstimmung der Staaten geregelt werden kann. Kap. 14, Dringlihe Nothwendigkeit einer beständigen Unterdrückung. Wie die romanistishe Frage endgültig nur durch ein internationales Recht gelöst werden fann, welches die Beziehungen der Staaten mit der neuen romanistishen Kirche regelt. Kap. 15. Nüglichkeit eines internationalen Kongresses der Staaten zu dem Zweck, das oben erwähnte internationale Recht zu lösen und zu zeitigen. Kap. 16. Programm der nothwendigen Repressiv - Maßregeln.“ Wie verlautet, hat der Abbé Michaud sein Programm in Uebereinstimmung mit den italienischen Liberalen entworfen.

Gest:-rn Mittag 12 Ubr starb hierselbst nach längeren Leiden im Alter von 74 Jahren der Professor Dr. Karl Ferdinand Ranke, Direktor des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums, der Friedrih-Wilhelm- Realschule, der Elisabethscule uzxd der Vorschule. Ein Bruder des Geschichtsschreibers Leopold v. Ranke und des Kanzelredners Heinrich Firiedrih Ranke wurde er 1802 zu Wiehe in Thüringen geboren, er- hielt seine Gymnasialbildung auf der Anstalt zu Schulpforta, studitte alsdann Theologie und Phuologie und begann seine Lehrerlaufbahn zu Quedlinburg, wo er bis zum Direktcr des Gymnasiums in noch fehr jungen Jahren vo:rückte; 1837 wurde er als Direktor des päda- gogischen Seminars und Professor der alten Literatur nah Göttingen berufen, Ostern 1842 als Direktor der oben erwähnten vereinig- ten Austalten nach Be:lin. 15867 feierte Ferdinand NRauke unter großer Theilnohme sein 25jähriges Direktorats -Jubi- lâum, im vorigen Jahre fein 50 jähriges Lehrerjubiläum. Tau- sende von Schülern verdanken in Berlin ihm ihre Bildung und bes kleiden jeßt als Männer zum Theil die höchsten Stellen im Staate und in anderen L-bensberufen. Nach d0jähriger Dienstzeit machte Ranke 1874 eine größere Reise nah Italien, nach welcher er bald darauf an einer Rippenfellentzündung erkrankte. Scheinbar vollstän- dig genesen, ergriff ihn im Februar d. J. ein Rückfall der Krankheit, dem Ferd. Ranke erlegen ist. Als Schriftsteller hat er fih mehrfach durch pädagogische und vbilologishe Arbeiten bekannt gemacht, noch jüngst durch eine kleine Schrift über Sophokles.

Die Bauthätigkeit an den beiden Haupithürmen des Domes zu Cöln, schreibt die „K. Ztg.", nimmt gegenwärtig wieder einen recht erfreulihen Aufschwung. " Durch Fortführung der Versaßarbeiten während des ganzen Winters, so weit es der theilweise starke Frost gestattete, ist der Aufbau des südlicen Thurmes bis zum Fuße der Helmspitze gediehen, so daß die Bauleute immer mehr mit der Voll- endung der acht großen Thürme beschäftigt find, welche die Oktogene umgebeu und von denen jeder eine Höhe vòón unge-

fähr 110 Fuß erhält. Dieselben würden, an der Erde stehend, aht große Kirhthürme darstellen, wohingegen sie auf ihrem Standpunkte, in einer Höhe von 200 Fuß be-

ginnend, dem Auge des untenstehenden Beschauers als kleine Fialen erscheinen. Am Schlusse des Jahres 1876 werden beide Thürme bis zur Höhe des Fußes der Stcinpyramiden mit allen Oruamenten und Edckthürmen aufgeführt sein, so daß vom Jahre 1877 ab uur

auf wirth\ be ftlihen l

noch die Ausführung der aus Stein konst-uirten Helme verbleibt, deren Höhe 200 Fuß beträgt und deren Kreuzblumen 500 Fuß über die Erde emporragend den Abschluß, des herrlichen Bauwerks bilden. Als Vergleich führ: wir an, daß der Straßburger Münster 452 Fuß, ges 142 Meter, ‘er Thurm von St. Stephan in Wien ohne Metall- reuz

431 Fuß, glei 135,3 Meter und der Dom zu Antwerpen ohne Metallfreuz 393 Fuß, gleich 123,4 Meter, mißt. Mithin werden die vollendeten Domthürme das Straßburger Münster noch um 48 Fuß fiberragen.

Ueber den Untergang des Auswandererschiffes „Strathmore“ und die Rettung der Bejaßung find jeßt weitere Einzelheiten eingetroffen. Die Ueberlebenden, 44 an der Zahl, nähr- ten fich von Seevögeln und deren Eiern, sowie einer auf der Jnsel wachsenden Gra8art, als Brennmaterial mußten sie Federn und das Oel von Vögeln gebrauchen. Bei ihrer Rettung waren die Leute schrecklich abgemagert und fast aller Kleidung beraubt, Wie der weite Steuermann Allan erzählt, herrschte am 13. Juni ein dichter

ebel, so daß der Kapitän befahl, einen starken Ausguck zu halten und die Logge beständig zu gebrauhen. Um Mitiernaht wurde plöß- li „Branudung voraus!“ gemeldet, und das Schiff stieß auf die Felsgruppe Zwölf Apostel und begann fofort zu sinken. Die

Böte wurden sofor: zum Austezezn bereit gemacht; eins derselben, in weihem sich achtzehn Personen befanden, wurde durch eine ungeheure Woge über Bord gespült, glücklicher - weise ohne zu fkentern. Etwa zwanzig Seeleute und Passagiere

hatten sich in den Kreuztoy geflüchtet, während andere fb auf das Vordertheil des Schiffes, das noch über dem Wasfer emporragte, gerettet haben. Bei Tageeanbruh sah man, daß das Sciff zwischen zwei mebrere hundert Fuß hohen Felsen cingefeilt jaß. Sieben oder acht Personen sprangen mit dem 2. Steuermann in das Gig, um eine Landuñgsftelle zu suchen und die übrigen Schiffbrüchigen dann abzu- holen. Dieses Boct nahm das in der Nacht fortgespülte Boot, das an den Felsen sehr zerschlagen war, ins Schlepptau und es gelang beideu, das Land zu erreichen, die Rettung der übrigen fonnte aber erst nah zwei Tagen erfolgen. Einige Schwefel- böôlzer, Spirituosen und etwas Brod war Alles, was vom Swiffe geborgen werden konnte, da die Bête auf den Felsen in Stücke s{lu- gen und verloren gingen. Blechbüchsen, in welchen Zuckerwerk gewe- fen war, dienten ais Kochgeschirr. Nachdem die Feuerung nach einem Monate verbrauht war, mußte man die Bälge der Vögel verbrennen. Fünf der Schiffbrüchigen starben auf der Znfsel, und merkwürdiger- weise wurden die Körper nah dem Tode nicht fteif, sondern blieben geshmeidig. Vier Schiffe fuhren vorbei, ohne die Nothsianale der Unglücklichen zu sehen, erst am 21. Januar nahm der Wallfishfahrer „Young Phörix* die Ueberlebenden an Bord, dessen Kapitän Gifford sich entschloß, die Schifforüchigen nah Mauritius zu bringen, troßtz- dem er dadur die Saison zum Fischen verlor.

Theater.

Im Königlichen Schauspielhause seßte Frl. Clara Ziegler gestern ihr Gastspiel als Jphigenie fort, eine Partie, in der die gefeierte Künstlerin ihre Meistershaft vor dem hiesigen Publikum schon svfter bewiesen hat. Auch die geftrige Darstellurg entsprach den bocgespannten Erwartungen; reiher Beifall und wiederholter Hervor- ruf lohaten die Gastin für den hehen von ibr dargebotenen Kaunst- genußz. Se. Majestät der Kaiser und König und Se. Kaiser- lih? und Königliche Hoheit der Kronprinz bechrten die Vorstellung mit Ihrer Gegenwart. :

Bei dieser Gelegenheit is daran zu erinnern, daß gegenwärtig die drei bedeutendsten lebenden deutshen Tragödinuen, Clara Ziegler, Charlotie Wolter und Marie Seebach, in Berlin als Gäste hiesiger Bühnen weilen. Die Leistungen der Leßtgenannten sind bereits an anderer Stelle gewürdigt worden. f#MÆi

Fm Wallner-Theater wird am Sonnabend die befannte fünfaftige Posse „Tricohe und Cacolet“ von Meilhac und Halevy neu einstudirt in Scene gehen. Die Beseßung mit den HH. Helmer- ding, Formes, Kadelburg, Engels, Wilken und Frl. Carlsen ist un- verändert geblieben. Nur die Rollen der Fanny Bombance und Georgette sind durch Frl. Löffler und Frl. Doriat neu beseßt worden.

Die artistisch-technis{e Leitung des Friedrih-Wilhelm- städtischen Theaters ist vom 1. April d. J. ab Hrn. Ober- Regisseur C. Teßlaff übertragen worden.

—*In Krolls Theater ging gestern Abend zum ersten Male ein neues Stück von Julius Rosen: „Schlaumeyer u. Comp.“ über die Bretter und fand beim Publikum einen reihen und wohl- verdienten Beifall. Abgeschen von einigen Längen, die leiht zu be- seitigen sind, bietet das Stück eine reihe Fülle ven Wiß und fomi- {hen Scenen, und wird sih deshalb als ein Zugitück für die Krollsche Bühne erweisen. Die mitwirkenden Kräfte, unter ihnen die Herren Heder, Karl Weiß und Eduard Weiß, fowie die Damen Mejo, Stolle, Lesfien und Meinhold, wetteiferten mit einander. Das Pu- blikum war schr animirt, und zeihnete namentlich Hrn. Heder, dessen Benefiz gestern Abend war, durch Lorbee:kränze und Hervorruf aus.

Der Organist Dienel wird am 31. März, Abends präc. 7 Uhr, sein 50. Konzert mit der Aufführung eines Requiem von ihm selbst geben. Außer einem zahlreichen Chor werden in demselben Frl. Schauchmann, Frl, Loos, Fr. Müller-Ronneb'icger, Frl. Hohen- ild, Hr. Jul. Sturm, Hr. Dr, Adler, Hr. Ad. Schulze, Königliche Domfsänger als Solisten fingen, so daß das 50. Konzert des Konzert- gebers ein recht würdiges zu werden verspricht. Hr. Dienel wird außerdem zum Schluß dasselbe Stück, welches er in seinem erften Konzert eiaft spielte, die F-dur Toccate von Bach vortragen. Der Ertrag ift für die Organisten-Wiitwenkafse bestimmt. Billets à 1 bei Trautwein, Leipzigerstr. 107 und beim Küster, Hrn. Streich, an der Marientirche 23.

Eingegangene literarishe Neuigkeiten.

Das Deutsche Reih und die kirchliche Frage von Constantin Rößler. Leipzig. Fr. Wilh. Grunow. 1876. Urchiv für Verwaltungsrecht, gesammelt und bearbeitet von Dr. Hermann Stolp. I. Bd. (1. Halbjahrgang.) Berlin 1876. Verlag der Expedition der Deutschen Gemeinde-Zeitung. Beiträge zur Statistik Mecklenburgs. Vom Groß- herzoglih statistishen Bureau zu Schwerin. VIIL, Bd. Zweites und diittes Heft. Statistik der unter Cameralverwaltung stehenden Domanialforsten des Großherzogthums Mecklenburg - Schwerin. Scch{ werin, 1876, Stillersche Hofbuchhandlung. | Deutscher Sprüche ein Tausend. Gesammelt von L. Strackerjan. Bremen, Nordwestdeutsher Volksschriften-Verlag. Preis 2 50 M. : Fieberkrankheiten, deren Gefahren und Behandlungsweife mit besonderer Berücksichtigung der Kaltwasserbehandlung. Allgemein verständlich dargeftellt von Dr. med. M. Löôb in Worms a. Rh. Mannheim u. Straßburg. J. Bensheimer. 1876. i Korrespondenzblatt des Niederrheinishen Vereins für öffentlihe Gesundheitspflege. Band V. Nr. 1, 2, 3. Redacteur: Dr. Lent, Sekretär des Vereins u. f. w. Cöln, 1876. M. Dumont, Schaubergshe Buchhandlung. 5 Monatsschrift des Vereins zur Beförderung des Gartenbaues in den Königl. preuß. Staaten für Gärtnerei und Pflanzenkunde. Redacteur Dr. L. Wittmaäck, General-Sekretär des Vereins u. . w. Berlin. In Kommission bei Wiegantt,

Hempel u. Parey.

Redacteur: F. Prehm. Verlag der Expedition (Kessel). Druck: W. Elsner. Vier Beilagen (eins{ließlich Börsen-Beilage).

Berlin:

Erste Beilage

zum Deutschen Reichs-Anzeiger und Königlih Preußischen Staats-Anzeiger.

M2 R. Nichtamfkliches.

Preufsen. Berlin, 30. März. laufe der gesirigen Sitzung des Hauses der Abge- ordneten beleuchtete in der Diskussion über den Be- riht der Spezialkommission zur Untersuchung des Eisenbahnkonzessionswesens der Abg. Dr. Lasker, nahdem er die Vorwürfe zurückgewiesen, welche der vorangehende Redner, Abg. v. Tempelhof, gegen die Untersuhungskommission erhoben hatte, die Ergebnisse der Untersuchung undo die sa- lihen Lehren, welhe aus derselben zu ziehen seien, in ihren allgemeinen und großen Zügen. Hierauf ergriff der Handels-Minister Dr. Ahenbach das Wort:

Meine Herren! Jch kann zunächst dem Hru. Abg. Lasker nur meinen Dank dafür auésprehen, daß er mit besonderer Betonung hervorhob, wie die gauze Untersubung, welche über das Eisenbahn- wesen ftattgefunden Hat, keinen Zwetfel über die Integrität des Beamten hat aufkommen lassen. Ebenso dankbar bin ich ihm, daß er bei der Gelegenheit, wo er die Mißstände der vergangenen Zeit erörterte, Licht und Schatten unter die dabei Betbeiligten gleih vertheilte. Denn, meine Herren, es unter- liegt wohl keinem Zweifel, daß in der Vergangenheit, und zwar in den jüngst verflossenen Jahren diesseits und ieuseits gesündigt worden ift und daß, wenn wir die Verhältnisse rihtig, korrekt und gerecht beurtheilen wollen, wir uns in die Zeit zurüdckzuverseßen haben, in welcher jene Vorfälle sich ereigneten. Meinestheils ecachte ih mi nit für berufen, dasjenige zu vertheidigen, was geschehen ist, um so weniger, als i, wie wenige in diesem hohen Hause, die beklagenswerthen Folgen jener Thaten überall vor Augen habe und in meiner eigenen Aktion täglich möchte i sagen auf Schritt und Tritt mih gehemmt fühle, indem die Trümmer der Vergangenheit eine freie und frische Thätigkeit nah allen Seiten hin beengen und hizadern, Gewiß also bin ich nit berufen, dasjenige was ge]hehen, zu vertheidigen, aber auf der andern Seite erachte ih es ebenso für meine Pflicht, noch einmal hier hervorzuheben, daß das Vergangene zum Theil auch unter Kenntniß und unter Mitwirkung dieses Hauses gesehen ift. Meine Herren! Wenn der Hr. Abgeordnete Lasker einen Rückblick auf die Politik der Staatsregierung bezüglich des Eisenbahnwesens warf, so kann i niht ane:kennen, daß von demjenizen Boden, welhen das Gescßz von 1838 legte, die spätere Zeit sih weit entfernt hat; ich kann dies beklagen, weil ich in Beurtheilung dieses Gesetzes auf demselben Standpunkt stche, wie dec Herr Vorredner, aber wenn wir die Wandlungen, die in der Handhabung der Gesetze, und die Aenderungen, welche in der Geseßgebung selbst eingetreten sind, richtig beurtheilen wollen, so müssen wir uns doch erinnern, daß gerade dieses hohe Haus wiederholt eincn ganz entschiedenen Druck auf die Regierung ausgeübt hat, die Gisichtepunkte, welche in der Vergangen- heit wesentlich zum Staatsei‘enbahnbau führen sollten, zu veranlassen und dem Privateisenbahnwesen einen größeren Spielraum zu gewähren. Jch erinnere an ausdrüdckliche Resolutionen, welche in dieser Richtung hier in diesem bohen Hause in den vergan- genen Jahren gefaßt worden find. Meine Herren, dann fann ih auch aftenmäßig ich darf dies ohne ein amtlihes Geheimniß zu verletzen keonftatiren, daß, als es sich beispielêweise im Jahre 1859 und ¿zwar wesentlich unter dem Andrängen des Abgeordnctenhauses darum handelte, den sogenannten Eisenbahnamortisationéfond zu be- jeitigen, Seitens „des - Handels - Ministeriums bei den Vor- vezhandlungen immer der äußerste Widerstand geleistet worden ist. Das Handels - Minifterium ist damals von Position zu Position zurückgetrieben worden, weil man in anderen entscheidenden Instanzen von anderen Auffaffungen wie das Handels-Ministerium auêzing. Endlich erinnere ih auc daran, daß die Maßregeln gerade in einer Zeit getroffen worden sind, in welcher ein liberales Regiment im Lande herrschte. Diese Aenderungen find erfolgt während der so- genannten neuen Aera. Dies dient gewiß zu einer richtigen Beurtheilung der Verbältnisse. Jch will damit die Staatsregicrung nicht von ihren Verpflichtungen befreien, als wenn sie nicht enen festen Weg zu gehen häite, unbekümmert um daëjenige, was von der einen oder anderen Seite ihr zugecufen wird, indessen, wenn die Regierung wahrhaft konstitutionell regieren soll, so ist sie doch ge- nöthigt, auf ein Votum dieses hohen Haus:s die gebührende Rücksicht zu nehmen. Allerdings liefert dieser Vorgang einen Beweis, wie ver- hängnivoll es unter Umständen sein kann, wenn ein Votum dieses Hauses ohne genügende Untersuchung der einschlagenden Frage in die Waagschale geworfen wird, und erstens die Basis zu einer vollständig rückläufigen Bewegung auf einem wichtigen wirthshaftlihen Gebiete bildet. Das sollte allerdings, bei solchen Gelegenheiten reiflih erwogen werden, weil die Regierung gezwungen ift, derartige Vota nicht un- beachtet zu laffen,

Wenn ih nun zu der Resolution als solher übergehe, so bezieht fich der erste Theil derselben auf das Eisenbahnkonzessio-swesen. Meine Herren! Was diesen Theil der Resolution anbétrifft, so kann ih mich mit demselben einverstanden erklären, jedoch nur in dem Sinne, daß seit der Zeit, wo ih berufen war, dieses Ministe- rium zu verwalten, nah den in der Resolution bezeichneten Grundsäßen verfahren worden is. Es wird also nicht etwas von mir gewünscht, was in Zukunft erst geschehen soll, sondern etwas, was ich nach meinem besten Wissen und Gewisseu in der Ver- gangenheit bereits gethan zu haben glaube. Es ift von dem Herrn Voiredner erwähnt, daß in der Session von 1873/74 die Königliche Staatsregierung dem hohen Hause ein Geseß vorlegte, welches das Eisenbahnkonzessionswesen reguliren soUte. Jn diesem Gesetze waren die Hauptpunkte, welche von der Untersuhungékommission hervor- gehoben worden find, berückst{chtigt. Jch habe sie berücksichtigt, nicht weil gerade die Untersuhungefommission die Regierung hâtte zwingen müssen, in dieser Richtung vorzugehen, sondern weil ih die Auffassung, wie sie in dem Berichte niedergelegt war, persönlich theilte. Meine Herren, wie ist nun die Antwort dieses hohen Hauses auf seine Vorlage gewesen? Sie haben die Vorlage nit einmal in der Art gewürdigt, daß Sie diéselbe einer ersten Lesung unterzogen haben, troßdem der Entwurf noch ziemlich zu Anfang der Session vorgelegt worden ist. Wenn ih nah der Ursache dieser Prozedur frage, so meine ih, be- ruhte dieselbe wohl auf zwei Gründen, obschon ih in die Geheim- nisse dieses hohen Hauses na diefer Richtung nicht eingeweiht bin. Ich habe mir gesagt, die Uebelstände, welche tei dem Konzessionswesen hervorgetreten waren, find noch fo fris in aller Erinnerung und haben theilweise die Geister in der Art erregt, daß, wenn wir sofort zu einem geseßgeberishen Schritte übergehen würden, wir vielleiht zu extrem gewesen sein würden. Es ift möglich, daß manche Mitglieder des hohen Hauses der Vorlage, wie sie beschaffen war, den Vorwurf machten, daß sie zu sehr unter dem Eindruck der damaligen Zeit stand. Einen anderen Grund habe ich aber darin gefunden, und diesen hat auch der Be Vorredner erwähnt, daß nämli gleichzeitig das Reich mit der Regulirung des Eisenbahnwesent befaßt war.

_ Jch erinnere mi sehr genau, daß, als jene Vorlage über das Eisenbahnkonzessionswesen in das Haus eingebracht wurde, in sehr angesehene und weit verbreiteten Zeitungen die Meinung Ausdruck fand, daß Preußen hier dem Reiche gewifjermaßen einen Streich habe jpielen wollen, daß -es si um eine partikularistishe Aktion gegen . das Vorgehen des Reiches handele. Es mag vielleicht bei manchen Mitgliedern des Hauses ein solcher Gedanke vorgewaltet

Im weiteren Ver- |!

Berlin, Donnerstag, den 30. März

baben, und daraus erkläre ich mir das eigenthümliche Schicksal der Vorlage. Die Regierung hielt sich damals verpflichtet, die Vor- lage einzubringen, damit das Haus Stellung nehme. Nachdem aber die Vorlaze nicht einmal, wie ich schon gesagt habe, eirer ersten Lefung unterzogen war, nahdem ferner das Reih sich mit diesec Angelegenheit intensiver beschäftigte, habe ich es für richtig erachtet, zunächit das Haus mit dieser Frage nicht weiter zu befassen, sondern den Entwickelungsgang, welchen die Reichsgesezgebung nehmen würde, abzuwarten. Gefährlih ist dieses Zuwarten insofecn niht geivesen, als außerordentlich wenige Eisenbahnkonzefsionen in den leßten Jahren zu ertheilen gewesen sind, und alle die schwierigen Fragen, die in der Vergangenheit zu man- nigfahen Erörterungen und Protestationen führten, hier nit vor- gelegen haben. Es war also dieser Gegenstand fein brennender, und da das Haus selbst anzunehmen schien, man solle sich mit diesem Gegenstande zunächst nit beeilen, habe ich Abstand genommen, aber- mals eine derartige Vorlage einzubringen. Jch leugne nit, daß es in meiner Absicht liegt, vielleiht in der nächsten Session die Thâätig- keit des Hauses für diese Angelegenheit in Anspru zu nehmen. Jch femme nun zu dem zweiten Punkt, welcher fich auf die Reform des Akftienwesens bezieht, und es dient vielleicht zur Aufklärung, wenn ih dem Hause. einige Mittheilungen darüber mache, was von Seiten der Königlihen Staatsregierung geschehen ist, Meine Herren! Jch habe unter dem 28. Mai des Jahres 1873 eine Verfügung, die, wenn ih nit irre, damals auch in den Zeitungen veröffentliht worden ift, an sämmtlihe Handelskammern und fkauf- mänuishe Korporationen, an sämmtliche Regierungen und Land- drofieien erlassen, um über bestimmt formulirie Fragen des Aftien- wesens Bericht zu erstatten. Jh hake in dieser Verfügung namentlich den Handelskammern gegenüber hervorgehoben, daß ih weniger theoreti\che Erörterungen, al3 an thatsählihe Verbältnisse geknüpfte Darlegungen wüashe. Es haben auch in Folge dieses Reskriyies die sämmtlichen Behörden berichtet, wobei ich allerdings zu meinem Bedauern hervorheben muß, daß der Punkt, wonach die Darlegungen sich an Thatsachen anknüpfen sollten, welche sih in dena betreffenden Bezirken ereignet hätten, sehr geringe Berück- sitigung gefunden hat und zwar hat man sich meistentheils in der eigenthümlichen Art geäußert, daß in dem diesseitigen Bezirke von den üblen Erfahrungen, welche andere Bezirke vielleicht gemacht haben möchten, nihts Näheres bekannt sei. Auf Grundlage die- ser verschiedenen Aeußerungen hat das Handels-Ministerium ein ausführlices Votum an das Königliche Staatsministerium erstaitet, worin es die Vorschläge formulirte, welche nah seiner Ansicht zur Reform der Aktiengeseßgebung dienen könnten. Es beziehen sich diese Vorschläge namentlich erörtert wird, ob in Zukunft statt der Verpflihtung bis zu 40% nidt eine volle Haftung des Zeichners einzutreten habe. Diese Frage if in dem Votum bejaht, Es wird ferner die Frage erörtert über die Emission der jungen Aktien vor der Volleinzahlung der alten und der Vorrechte der ursprünglichen Zeichner bei der neuen Emission. Es ist befürwortet, dem hier statt- gefundenen Unfug dur sehr energishe Maßregeln für die Zukurft Abhülfe zu verschaffen. Das Votum beschäftigt sih sodann weiter mit den sogenannten qualifizirten Gründungen, die im Art, 209b des Handelsgescßbuchs vorgesehen find, und es wird hier das, was auch in der Resolution sich betont findet, hervorgehoben, daß eine verschärfte Haftung der Gründer in civil- und Frimi- nalrechtlicher Beziehung wünschen8werth sei. Demnächft geht das Votum auf die Verwaltung der Aktiengesellshaften über, befürwortet eine umfassendere Kompetenz und Thätigkeit der Generalversamm- lungen, indem gewisse Angelegenheiten bezeichnet werden, die weder dur Beschluß noch dur Statut der Generalversammlung entzogen wer- den dürfen, befürwortet weiter, den Verwaltungsrath in die Stellung eines eigentlichen Aufsichtsrathes zu verseßen und ihm nicht eine kon- kurrirende Befvgniß in Verwaltungsangelegenheiten mit der Direktion ciner Aktiengesellschaft zu belassen. Endlich sind in jenem Votum ausführliche Erörterungen über die sogenannten Jndividualrehte der Aktionäre enthalten, und au na dieser Richtung finden fi verschie- deae Anträge geftellt. Sie ersehen aus dem Ungeführten, daß das- jenige ungefähr, was damals zur Erörterung gelangt ift, sich in den Anträgen angedeutet findet, welche dem Hohen Hause vorgeschlagen find. Nun hat zu jener Zeit der Bundesrath sich ebenfalls mit dieser Angelegenheit beschäftigt, und es ist in einer Sißung desselben vom 22. Juni des Jahres 1874 auf Grund des Berichts des Iustizaus\husses ein Beshluß gefaßt worden, daß die Reform der Aktiengeseßgebung und überhaupt des ganzen Hanktels- gescßbuhes nit der Reform des Civilgeseßbuches zu verbinden set. Es wird in dem betreffenden Berichte ausgeführt, daß bei Lage der Dinge und bei der Aversion des Publikums gegen alles datjenige, was Aktie heißt, die Verhältnifse nicht für so dringead zu ecacten jeien, um s{chleunigst mit einer Gesezgebung über das Aftienwesen vorzugehen, ohne vorher die nothwendige Reform des Obligationsrechte zu übersehen. Auf diese Weise haben die Verhandlungen vorläufig keinen weiteren Fortgang gefunden. Es muß hierbei hervorgehoben werden, daß au in den Berichten, welche an- die Königliche Staats- regierung erstattet worden find, Bedenken gegen ein \ofortiges Vor- gehen der Geseßgebung zur Beseitigung der Schäden der Aftiengeseßz- gebung erhoben worden fiad. Man hat einmal den eben hervor- gehobenen Umstand als wesentlich bezeihnet, daß in der nächsten Zeit \chwerlich irgend welche größere Unternehmungen mit Hülfe von Aktiengesellschaften zu Stande kommen würden, sodann aber ift be- tont worden, daß man unmözglih alle die Erscheinungen, welche in den bezeihneten Jahren hervorgetreten find, auf die Aktiengesetzgebung als folie zurückführen könne. Man habe sich au im Jahre 1870, als jenes Gesetz erlaffen wurde, keineswegs verheblt, daß möglicherweise eine Periode des gründli|ten Mißbrauchs der neugewonnenen Freiheit eintre- ten.fônne, und daß deshalb an si in dem Eintreten derartiger Mißbräuche noch nit cin zwingender Beweis dafür geliefert sei, daß die ?be- steh-nde Geseßgebung umgestaltet werden müsse. Dazu komme, daß im Publikum überall eine derartige Erregung herrs{che, daß man zu fürchten habe, es werde der Geseßgeber weit über das Ziel hinaus- shießen, wcnn er sich sofort dieses Gegenftandes wieder bemächtige. Es ift gewiß anzuerkennen, meine Herren, daß es nothwendig erscheint, auf dem hier voriiegenden Gebiete mit äußerster Vorsicht vorzugehen, um nicht dasjcnige, was man in der Vergangenheit mübfam errungen hat, durch ein rasches Umdrehen nach der anderen Seite vollständig in Frage zu ftellen. Gleihwohl werden die ver- bündeten Regierungen, falls Sie die Resolution annehmen, si schlüssig zu machen haben, ob sie mit einem fogenannten Nothgesetz bezüglich des Aktienwesens auf der angedeuteten oder einer anderen Gruadlage schon jeßt vorzugehen haben. Meine Herren, gerade dies, sowie die ganze Diékussion, welhe heute in dem hohen Hause stattgefunden hat, legt mir zum Schluß noch einmal die Frage nah: wer ist denn cigentlich, wenn man die hervorgetretenen Uebelstände in ihrer Gesammtheit betrachtet, der Schuldige? Meine Herren! Bald werden die Regierungen ge- nannt; indessen es wird doh anzuerkennen sein, daß sih dieselben nach dem Erlaß des Gesetzes vom Jahre 1870 vêllig neuen Verhält- nissen gegenüber befanden, und daß die Geseßgebung des Jahres 1870 wesentli§ unter dem Gedanken erlassen wurde, daß man burzaukratishe Beeinflussung möglichst weit ahwerfen wollte. Es ift hierbei noch besonders zu berücksihtigen und ih könnte Ihnen Beläge aus den Reden namho{rer Führer dieses Hauses und des Reichstages beibringen daß die Ansichten auf diesem Gebiete im Jahre 1870, speziell wgs das Eisenbahnwesen be-

darauf, daß die Fraze -

1876,

trifft, ganz außerordentli weit auéeinandergingen, und daß, wenn die Regierung auf die Stimme einmelner Führer Werth gelegt hâtte und vorzug8weise die Kichtung verfolgt hätte, welche von dieser bezeihnet worden war, wahrieinlich ne größere Viißgriffe vorgekommen wären. Jch fFfühce dD-eraut:g- Keußerungen hier jedo nit an, weil ich voltftändig fern von alten Refciminationen bin und Niemandem etwas vorwerfen will, sonderu die Verhältniffe objektiv zu betrahten wünshe. Meine Herrea! Man sagt danx weiter, daß die Geseßgebung die Ursahe des Uebels gewesen sei. Ein neuerdings Uber die wirth\{chaftlide Krisis erschienenes Buch, welches sich eingehend mit diesen Verhältnissen befaßt, gelangt zu dem Resultake, daß in erfter Linie die im Jahre 1870 erlassene Geseßgebung die Ursache der wirthschaftlicen Krisis gewesen fei. Diese Unsficht kann ich von meinem Standpunkte aus durchaus nicht theilen. Wenn wir einen Blick auf die ganze zivilisirte Welt, möthte ih sagen, werfen, so sehen wir, daß überalt mehr oder weniger dieselben Erscheinungen wie bei uns eingetreten find, und doch besteht in den einzelnen Ländern eine wesentlih vershiedene Gesetzgebung. Von Vielen wird hierbei auf die Vorzüge des früheren Konzefsicnswesens hingewiesen. Sehen wir aber beispielsweise auf Oesterreich hin, jo sind die Vorgänge, welche dort unter der Herrschaft des Konzefsionswesens sich ereignet haben, in der That geradezu al3 gegenüber dem- jenigen, was bei uns versucht worden ift, zu bezeichnen, mir liegt hier gerade der Bericht des volkswirthschaftlihen Ausschusses des söster- reihischen Abgeordnetenhauses über den Antrag der Abg. Lien- baer und Ger., betreffend die Krisis vom Jahre 1873, vor und ih will mir erlauben, wenigstens cine furze Mittheilung aus denselben zu machen. Jh bemerke voraus, daß das Abgeordnetenhaus in Wien am 13. November 1873 einen Ausschuß niedergeseßt hat, um die Ursachen der Krisis zu erörtern. Dieser Bericht bezieht sich naturgemäß nicht blos auf das Eisenbahnwesen, sondern auf die Gründungen überhaupt, welhe in den betreffenden Jahren stattge- funden haben. Nach demselben Bericht sind konzesfionirt in den Jahren 1867 bis April 1873 das ist nämlich die Zeit der Blüthe in Oesterrei nicht weniger als 1005 Aktien- gesellschaften mit einem Nominal-Aftienkapital von 4 Milliarden Gulèen. Dies if also unter der Her: schaft der Knozessionen ge- ih: hen, und wenn Sie die einzelnen Jahre vereleihen, fo stellt fih beraus, daß im Jahre 1867: 26 Aktiengesellschaften, 1868: 32, im Jahre 1869: 141, im Jahre 1870 damals bra der fran- e A aus —- 10, I! 175, ‘1872: 376 und noch im Jahre 1873: 154 Aktiengesellshaften kon- zessionirt wurden, und daß diese 154 des Jahres 1873 ein Nominal-Aktienkapital von einer Milliarde in Anspruch nahmen. Sie sehen aus diesen Zahlen, wie unter der Herrschaft des Kon- zessions\ystems die Verhältnisse fih gestaltet Haben. Viellziht in- teressirt es das hohe Haus, wenn ich wenigstens eine Blüthe dieses Systems hier noch näher konstatire, es handelt sich um die Baubanken, welche vorzugsweise in Wien gewirth\chaftet haven. Der Bericht spricht sih natürlich folgendermaßen aus :

Nach übereinstimmenden, wenn au nit offiziellen Shätzun- gen könnte man auf der in Wien und seinec Umgebung allein von den Baugesellschaften und privaten Spekulanten erworbenen Grundkomplexen weit über 100,000 Häufer, keines in einem geringe- ren Auêmaße als 150 Quadratklafter aufführen. Um aber diese Ziffer zu würdigen, muß man im Auge behalten, daß ganz Wien obne Vor- orte Ende 1872 nur 10,756 Häuser und mitsammt den Vororten (21 Ortschaften Umgebung Wiens, 5880 Häuser) rur 16 636 Hänser zählte ; daß ferner nah einer vorliegenden authentischen Zusammen- stellung der jährlihe Zuwachs an Häusern in Wien seit dem Bz- ginne der großen Stadterweiterung die Ziffer von 250 im Durch- \chnitte niemals erreiht hat, und daß die gesammte Thätigkeit aller Baugesellschaften in den Jahren 1869 bis inklusive 1872 si in der Ziffer von etwas über 200 neuen Häusern ausspricht.

Die Behauptung, so paradorx fie klingen mag, ist demnach unter allen Umständen eine wohl begründete, daß es immerhin mehrerer Jahrhunderte bedurft hätte, um bei noch so großer Anspannung aller verfügbaren Ark eitsfräfte alle jene Grundkomplexe zu verbauen, welche sich in den Händen der Spekulation befanden, a!s die Krisis über den Effektenmarkt hereinbrach.

Meine Herren! Der sehr interessante Bericht weist auf anderen Gebieten Aehnliches nah. Fragt man nun, um nochmals auf dea Ausgangépunkt zurückzukommen; wo licgt die Schuld? so meine i, können wir uns dech das nicht verhehlen, daß das Publikum wenigstens einen sehr wesentlihen Antheil trägt. Denn wenn Der- artiges unter den Augen einer intelligenten Bevölkerung pasfirt und nicht einmal Einspruch erhoben wird, sondern im Gegentheil das Fieber sich allgemeiner verbreitet, so darf man wohl sagen: im großen Ganzen hat die Sünde jener Zeit mehr oder weniger im großen Publikum selbst gelegen. Jch frage einfah: wie, war es bei uns? sind bei uns dieselben Erscheinungen, wie in Wien, beispielsweise in Berlin nicht vertreten gewesen? find sie in der That auch nicht erenso zu beurtheilen? Ih habe vorher des neuesten Buches über die Krisis gedaht. Dasselbe kommt, wenn ih es wörtlih vorlesen darf, zu fol- genden Resultaten :

„Die Hauptschuld liegt nicht an den Regierungen oder Börsen oder an Betrügerkategorien, sondern an dem allgemeinen Reichthums- fieber, welches die Nation ergriffen hatte und den Einzelnen die feineren moraliscden Regungen ertödtend, mit fortriß. Es ist jeßt Mode ge- worden, fich als Opfer geheimen Betrugs hinzustellen, wo do das Grün- dungswesen mit der Offenheit des erlaubten Geschäfts betrieben wurde, und gerade hierdurch so Viele in seinen Strudel mit fortriß. Mochten die Prcgramme die ursprünglihen Kauffummen verschweigen, mochte es unbekannt bleiben, ob diese oder jene sich in den Gewinn getheilt, die entsheidenden Thatsachen, da: und wie viel, über die früheren Normalpreise, über die wirkiichen Werthe aufgeschlagen worden war, kannte Jedermann. Wußte man nit bei allen Berliner Baugesellschaften daß ihre Objekte noch vor Monaten, vor Wochen, zu einem Drittheil, , einem Viertheil des eingescßten Preises von den früheren Besitzern erworbeck wurden? Wenn dies nicht von der Betheiligung abhielt, so war d „y höchste Grad der Verblendung vorhanden, oder der Aktionär "trat nur in die Fußtapfen der Gründer, indem er das Geschäft de? Auf- \{chlagens auf den ursprünglichen Preis an der Börse fo” zusetzen dachte. Der Agioteur isst nur der fortgeseßte und ver” telfältigte Gründer; beide haben kein Recht, si gegenseitig anzuklo- s

Es ift wohl angezeigt, daß man Derartiges nicht d” oersieht, nicht um den Einen oder Anderen zu exkulpiren, niht um p asjenige, was- in der Vergangenheit geschehen ift, und die beklage“ 2. -

L k ® nswerthen Folgeu zu vertuschen. Aber, meine Herren, wenn dem o ist, und ih bin der Ueberzeugung, daß die Verhältnisse in “Wahrheit so liegen jo meine ich, werden wir uns imy ; ° l E ' E - r zu fragen haben: joll Dasjenige, was geschehen ist, durch voP tändige Umfehr der Ver- hältnisse verbessert werden? Ich für *: aélit Theil ftehe auf dem Standpunkt, obschon ich Reformen in ck ; .

D Made „er angedeuteten Richtung für zweckmäßig erachte, daß ih offen aut)” „rehe: Jh wünsche auf dem Gebiete der wirthschaftlichen Gefevo?“ hung keine Reaktion.

_ Nachdem noch die Abgg. v.“ eardorf, Parisius und Schröder- Lippstadt gesprochen hatten wurde E lend der Wac: Dr. Lasfer und 9. Köller „mit großer Majorität angenommen.

Schluß 51/4, Uhr, Nächste Sitzung: &Sreitag 11 Uhr.