1901 / 36 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 11 Feb 1901 18:00:01 GMT) scan diff

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die Kosten dieser Aufsicht zu decken, werden an die Bundesstaaten 15 9% der Branntweinsteur gezahlt oder mit anderen Worten etwas über 24 Millionen Mark jährlih. Jch gestehe zu, meine Herren, daß vielleicht in manchen Staaten der ganze Betrag nit aufgebrauht wird; was nicht gebrauht wird, wird erspart durch eine vielleiht praktischere, mehr zufammengezogene Verwaltung. Aber das ist doch immer nur ein kleiner Prozentsaß jener ganzen Summe. Nun stellen Sie sich vor, wenn diese un- geheure Ausgabe entsteht für die Ueberwachung einer Anzahl von 13- bis 14 000 Brennereien, welche Aufsichtskosten entstehen müßten, wenn man für jene vielen Hunderttausende von Betrieben, die gewerbs- mäßig Weinkeller halten, cine derartige ständige Buch- und Keller- aufsiht einführen wollte? Sie werden sich in der Kommission überzeugen, so etwas ist vollkommen unausführbar (sehr richtig), und wenn Sie selbst eine solche Aufsicht einführten, können Sie \ih darauf verlassen, sie würde binnen wenigen Jahren von dem Volksunwillen fortgefegt werden, und die Winzer, diese Puristen, die sie jeßt verlangen, würden vielleicht selbs lagen über die Geister, die sie riefen! (Sehr gut!) Jch warne deshalb dringend davor, einen folien Weg zu gehen. Was die Ueberwachung selbst betrifft, so ist auch das ein geseßliher Irrthum, daß, wenn man nur eine \olche Ueberwachung vornehmen wollte, wie der Entwurf vor- sieht, man die Paragraphen des Gesehentwurfs garniht brauchte, man sich vielmehr nur auf das Nahrungsmittelgeseß zu {stützen brauchte. Wenn die Herren gefälligst den § 2 des Nahrungsmittel- gesces vom 14. Mai 1879 ansehen, werden sie finden, daß das etwas ganz Anderes is ; nah dem Nahrungsmittelgeseß is nur die Ent- nahme von Proben zulässig, und das Nahrungsmittelgesey seßt lediglich die Entnahme von Proben voraus, um chemif|ch den Nachweis der Fälshung zu führen und darauf gegeben Falles ein Strafverfahren zu begründen, wäßrend hier in der Gesetzesvorlage, die wir die Ehre gehabt haben, Ihnen zu unterbreiten, vorgesehen ist, durch örtliche Untersuhungen im Verdachtsfalle den Indizienbewcis zu unterstüßen; und gerade bei den Erörterungen über ein kommen- des Weingeseß im vorigen Jahre is mit Recht von einer Anzahl von Mitgliedern des hohen Hauses hervorgehoben worden, daß es nicht so sehr auf die chemische Untersuhung des Weines ankomme als darauf, im einzelnen Falle mit Strenge und Ernst den Indizien- bewecis zu führen, und dieser würde \sich in vielen Fällen, da die Thatsachen unter Umständen geradezu ortskundig seien, mit Lichtigkeit führen lassen, wenn die berufenen Amtsstellen mit Nachdruck und Ernst einzuschreiten geneigt wären, und man ihre Thätigkeit geseßlich erleichtere.

Meine Herren, es ist {ließlich gesagt worden, man sollte doch umgekehrt verfahren wie im Entwurf, man sollte geseßlich feststellen, welche Stoffe überhaupt nur zugeseßt werden dürfen, und es dem Bundesrath überlassen, ob und welche neue Stoffe in Zukunft zu- geseßt werden dürften, während jeßt nah dem Entwurf das Um- gekehrte der Fall ist, daß der Bundesrath nur Stoffe verbieten darf, die seines Erachtens gesundheitsschädlih wirken oder sonst bedenklich sind. Ich glaube, auch auf diesem Gebiete schreiten die Chemie und die Technik fort, und man kann erst aus der Praxis und auf Grund chemis{er Prüfung erschen, ob neue Zusat;stoffe {{ädlich sind oder nicht.

Jch kann Jhnen dafür ein interessantes Beispiel anführen. Bis jeßt noch, aber in fortwährend abnehmendem Maße, wird gewissen Champagnern, die nach dem Ausland ausgeführt werden, bowlenartig Hollunderblüthe zugeseßt, um diesen Weinen, wie man es in manchen Ländern bisber liebte, eine Art Muskatellerges{mack zu geben. Der Geshmack hat sih aber geändert, und dieser Sekt wird jeßt in immer geringerem Umfang begehrt; man will dieses Bouguet nicht mehr babe!

Auf diese Weise kommt eine sol@e Essenz in Vergessenheit;

andererseits aber werden nad dem individuellen Geshmack auch ncue Zusätze erforderlich, und ich glaube, es ist richtig, daß man in dieser Beziehung, namentlich aber der Sektfabrikation, cinen gewissen Spiel-

s raum läßt und erst dann verbietend einschreitet, wenn man si über- zeugt hat, daß solche Znsäge wirklih gesundheitsschädlich find.

Im übrigen möthte ih doch den Herren Puristen zum Troste sagen, daß in gewissen Bezichungen ihren Bestrebungen au im Gesetz- entwurf Rechnung getragen ist; denn im Art. 5 Abs. 2 heißt es:

„Bestraft wird, wer vorsäßlich Wein, welcher cinen nah § 3

Nr. 4 gestatteten Zusaß erhalten hat, unter Bezeichnungen feilhält

oter verkauft, welche die Annahme hervorzurufen geeignet

sind, daß ein derartiger Zusaß niht gemacht ist."

Mer also Wein als reinen Naturwein bezeihnen würde, ob- gleih er die Stoffe, die im § 3 Nr. 4 bezeichnet find, zuseßt, der würde dem Gesetze verfallen, und andererfeits roare derjenige, der sol@e Stoffe nicht zuseßt, nah dem Gesetzentwurf durchaus berechtigt, seinen Wein als reinen Naturwein zu bezeidnen. Also in dieser Beziehung würden diejenigen Winzer, die darauf Werth legen, folchen reinen Wein zu verkaufen, ihrem Ruf durch eine derartige Bezeichnung dienen können.

Ich glaube, wenn wir uns in der Kommission unterhalten, wird ib eine Anzakl weiterer Irrthümer über die Auslegung des Gesetzes, wie ih sie aus der Debatte erseben babe, leicht beseitigen laffen, und Sie werden dann vielleicht in Jhrer Mehrheit dem Entwurf freundlich gegenüberstehen.

_Abg. Freiherr Heyl zu Herrnsheim (nl.): Reiner Naturwein darf auh nicht verschnitten sein, wenn er abfolut rein scin joll. Wundern muß ich mi, daß der sozialdemokratishe Abg. Ehrhart gegen das Verbot des Kunjstweins eingetreten ist. Glaubt Herr Ehbrhart etwa damit den Arbeitern zu nügen? Die von dem Abg. (Fbrhart vor- geschlagene Genossenschaftsbildung bcim Weinbau ist nicht überall durch- führbar. Zch bin gegen die Kellerkontrole und begreife nicht, wie so viele Abgeordnete sich so leichthin auf diese Kontrole einlassen können. In Hessen war s. 3. der Sturm gegen die Kontrole so stark, daß man lieber die Weinsteuer cinführte. Auch im Reih wird man mit der Kontrole traurige Erfahrungen machen. Dem Vers{nitt mit italienischen Weinen muß möglichst gesteuert werden. Cs wäre fehr wünschenswerth, wenn auf die Forderung der Winzer, den Zuckerzusaß nir bis zu einem gewissen Termin, also nur während der Gährung, zu gestatten, eingegangen werden könnte. Die Wäbler in meinem ahblfkreise (Worms) balten das Geseh für nütlich, die Kontrole aber für shäâdli.

Abg. Lurz- Würzburg (Zentr.) führt aus, die Wähler seines Wablkreises und der benachbarten Kreise begrüßten die Novelle als cinen Fortschritt, verlangten aber als Puristen eine positive Definition des Begriffes Wein. Auch er sei dafür, daß dem- Verschnitt des Rheimwveins mit italicnisheimn Rothwocin entschieden gewehrt werden müsse. Dagegen müsse er bedauern, daß der Staatssekretär die Kon- trole nur cintreten lassen wolle, wenn Verdachtsgründe vorlägen. Eine

solche Kontrole sei viel zu mild und werde deshalb unwirksam sein. Die Leitung der Kontrole für jeden add vg rode erd gs sollte einem Beamten übertragen und dieser beauftragt werden, geeignete Kom- missionen zusammenzustellen. : i Abg. Dr. Schmitt -Maiaz (Zentr.): Das Weingeseß von 1892 ist daran gescheitert, daß in demselben fein Verbot der Kunstwein- fabrikation enthalten war. In dem Verlangen nah diesem Verbot vereinigen sih alle Wein-Interessenten. Damit die deutschen Wein- Interessenten gegen die unlautere Konkurrenz Luremburgs geshüßt werden, ist es nothwendig, daß au in Luxemburg die Bestimmungen dieser Vor- lage plaßgreifen. Daß die Kellerkontrole nur bei dringendem Verdacht eintreten fol, billige ih; wäre diese Erklärung des Staatssekretärs Grafen von Posadowsky früher bekannt geworden oder hätte sie im Geseß gestanden, so würde viel Aufregung vermieden worden sein. Nach der heutigen Erklärung halte ih in der Kommission eine Ver- ständigung über die Kontrole für leihk möglih. Dem Abg. Ehrhart möchte ih bemerken, daß wir Winzergenofssenschaften am Rhein, an der Mosel, Nahe und Aar bereits in großer Zahl errihtet haben. ‘Abg. Preiß (b. k. F.): Die Elsaß-Lothringer sind absolute Puristen, sie wünschen, das Geseß von 1892 würde über Bord ge- worfen und hätte nie das Licht erblikt und man kehrte zum gemeinen Recht zurück. Bei der Generaldiskussion vorliegender Novelle pro- flamieren wir denn auch als Ziel die Abschaffung jeder Spezialgeseß-

gebung. Die Novelle billigt und sanktioniert eine öffentliche Un- wahrheit und Unehrlichkeit durch die Definition des Begriffs Wein; dem Naturwein darf. Zuckerwasser zugeseßt werden und

das so hergestellte zweifellose Kunstprodukt darf gleich- wohl den Namen Wein führen. Das i} fast unglaublich, Wein aber ist der unvermishte Saft frisher Trauben, das Produkt der alkoholischen Gährung des Traubensaftes; darüber ist das Volk ebensowenig im Zweifel wie über den Begriff reiner Butter oder reiner Milch. Nach der ehrlichen Auffassung des Volkes kommt der durch die Vorlage dem Begriff Wein gegebene Inhalt diesem nicht zu. Es giebt allerdings in Deutschland Gegenden, wo ein Wein wächst, der in seiner Reinheit wegen feiner Säure nicht genießbar ist; es ist auh eine‘ Wahrnehmung berechtigter Interessen, wenn diese Weine gesüßt werden; aber deswegen braucht doch von dem Begriff des unverfälshten Naturweins zu Gunsten dieser Halbweinproduzenten, dieser sogenannten Weinbauern, nicht abgegangen zu werden. Es handelt sih da nicht mehr um Wein, sondern um cin Gemisch von Wein, Zucker und Wasser, und dem- gemäß müßte dieser Wein als gemischter Wein, als gezuckerter Wein, als gallisierter Wein oder dergleichen in ihren Fakturen u. \. w. be- zeichnet werden. Thut man dies nicht, so ist es um Treu? und Glauben im Verkehr mit Wein geschehen. Für alle Weine, welche einen Zujab erhalten haben, muß der Defklarationszwang für den Produzenten wie für ven Händler eingeführt und durdgeführt werden. Von diesem Standpunkt kann ih den {wachen Nothbehelf, welchen das Gesetz bietet, nur bedauern. Wird unser prinzipieller Standpunkt aber von der Mehrheit nicht getheilt, so werden wir auch in dem engen Nahmen der Novelle an der Aus- besserung der bestehenden Schäden mitwirken, denn die da gemachten Vorschläge sind an sich durchaus dankenswerth. Der Verkauf von Trestern sollte nur zur Branntweinbreunerei “gestattet, sonst aber ver- boten werden. Die Kontrole ist nicht fo s{chlimm, als manche Nedner si vorgestellt haben; im Elsaß besteht sie in ähnlicher Weise bereits. Es8 bedarf au garnicht eines großen Heeres von Beamten. Abg. Schmid - Immenstadt (Zentr.) erklärt, es erfülle ihn mit Genugthuung, daß durch das neue Geseg besonders der Winzer und seine Arbeit geschüßt werden folle. j

Abg. Biesenbach (Zentr.) spricht sih für die Vorlage aus, besonders könne man nach den abs{hwächenden Aeußerungen des Staats- sekretärs die Bedenken gegen die Kellerkontrele fallen lassen. Das Zentrum werde fi, das stehe fest, nie auf eine Neihs-Weinsteuer einlassen. Die Vereinbarung im italienishen Handelsvertrage über den Verschnitt von Nothwein mit Weißwein bätte in deu deutschen Rothweinbezirken ganz unhaltbare Zustände geschaffen, die gründlich geändert werden müßten. - __ Abg. Schrempf stellt gegenüber dem Abg. Freiherrn von Heyl fest, daß in Württemberg der Wein garnicht in den Keller gebracht, sondern vom Weinberg oder von der Kelter weg ver- kauft werde. h

Abg. Dr. Noesicke - Kaiserslautern erwidert dem Abg. Ehr- hart bezüglich der von diesem gegen den Bund der Landwirthe ge- richteten Angriffe. Nach dem Vorgange im württembergischen Land- tage werde man ja wohl bald alle Sozialdemokraten im Reichstage für den Schutz der nationalen Produktion eintreten schen.

_ Die Vorlage geht an die für die Schaumweinsteuer ein-

gejeßte Kommisnon. _ Schluß 5/4 Uhr. Nächste Sißzung Montag 1 Uhr. (Fortseßung der Etatsberathung).

Preußischer Laudtag. Haus der Abgeordneten. 22. Sißung vom 9. Februar, 12 Uhr. Die zweite Berathung des Staatshaushalts-Eiats

für 1901 wird im Etat der J ustizverwaltung bei dem Titel „Gehalt des Ministers“ fortgeseßt.

Abg. Richter (fr. Volksp.): Es ift deim Kollegen Crüger ver- üwbelt worden, daß er Bezug nahm auf China und auf die Borer. Nun, bei Lichte betrachtet, giebt es in Deutschland Personen, die, ohne einen Zopf zu tragen, do mit den Chinesen mehr Anschauungen gemeinsam baben, als ihnen selbst bewußt ist, z. B. die Agrarier. Während die Chinesen ibre Mauern fallen lassen, suchen die Agrarier eine wirths{aftlihe Mauer gegen das Ausland aufzurihten. Die Aufrufe der Borer erinnern an die Aufrufe der Antisemiten, die neuer- dings erschienen sind. Auch bier fehlt es niht an dem Hinweis auf die „Fremden“. Man spricht vom nationalen Interesse. Es ist do

| niht zu leugnen, daß es bei dem Antisemitiêmus zu Ercessen ge-

kommen ist wie bei den Borern in China. Es war cin ganz hübscher Anfang gemacht worden. Ich erinnere bloß den Synagogenbrand in Neuiîtettin und ähnliche Vorkommnisse in Westpreußen und Pommern. Jeyt spielt im Antisemitiömus wieder das Märchen vom Ritualufkord eine Rolle, ganz so wie bei den Chinesen. Auch sie beschuldigen die Christen, daß sie Chinesenkinder ermordeten, weil sie But brauchten bei ihrer Abendmablfeie. So war

es auch einst bei den Röêmern, welche die Christen ebenfalls beschuldigten, zu diesem Zweckde Kindermorde zu verüben. Wenn ih vom Ritualmord hôre, so weht es mich an wie aus

der Atmosphäre eines Narrenbauses. Was jeut spielt, erinnert mich an die treffende Charakteristik eines bekannten konservativen Führers, der sagt, man müsse drei Arten von Antisemitiömus unterscheiden: den Antisemitiêmus des Sports, den Geschäftsantisemitismus und den Nadau- antisemitiêmus. In Konitz treibt manGeschäftsantisemitiömus und Radau- antisemitiómus. Der Zweck ist, durch sensationelle Nachrichten Absay für antisemitische Blätter zu schaffen. Der Justiz-Minister meinte, er sei kein Antisemit; und doch wird jcyt von den Antjsemiten fast niemand mehr auf den Schild gehoben als gerade der Justiz-Minister infolge seiner Erklärung. Der Antisemitiêmus hätte in Preußen niemals diese Verbreitung finden können, wenn er nichk durch die woblwollende Neutralität der Behörden begünstigt worden wäre. Diese Begünstigung näherte sich {on der positiven Förderung. Es gehörte die Anreizung zum Antisemitiöómus zur Wabl- politik Biômarck's im Jahre 181. Erst als dieje Politik ®Fiaófo gemacht hatte, erinnerte er sich seines Geschäftsfreundes Behrend und seiner Abneigung gegen den Antisemitiêmus. Der Justiz-Minister meinte, etwas Nenes habe er doch nicht verkündet, er begreife nicht den Lärm, den scine Erklärungen hervorgerufen haben. Man hat

wobl {on früher bier und da seine Verwunderung darüber aus- gesprochen, daß jüdische Rechtsanwälte niht in demselben Alter

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So lag es nahe, den einzelnen Fall auf individuelle Gründe zurückzuführen; man konnte n wissen, ob der Beschwerde. es nicht seine Eigenschaft als Jude zur Deckung nahin für andere Fehler und Mängel. Erst durch die Erklärung des Ministers hat

die Sache ihre große, prinzipielle Bedeutung erhalten. Er sagte, x

schließe ja keine jüdischen Rechtsanwälte davon aus Notar zu werden bedaure nur, daß man sich von nationalliberaler Seite dur diese Erklärung für befriedigt erachtete. Ist es denn gleichgültig

jemand aht Jahre früher oder später in ein solches Amt kommt?

Der Minister meinte fogar, künftig würde die Frist noch länger währen. Verseßen Sie sih nur in die Empfindungen eines jüdischen Nechtsanwalts, der fich bewußt ift, solid und rechte zu amtieren und das Vertrauen der Bevölkerun wenn jüngere Bewerber, die Jahre später das Assesjor-Gramen standen haben, in die Stelle des Notars gelangen. Muß ihn das nicht kränken, wenn es nur geschieht, weil er Jude ist? Und entsteht beim Publikum, mit dem er in Q indung steht, nit die Vermuthung, daß andere Gründe maßgebend sind? Im Offizierkorz hat sich der Ehrbegriff so weit vér déi daß, wer nicht nach ly, stimmtem Dienstalter in_ eine höhere Stelle aufrückt, auch zuglei in seiner bisherigen Stelle kein Vertrauen verdient und fein Abschied nehmen muß. Das Zentrum spriht von feinen wollen aber die fatho.

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Toleranzantrag im Reichstage; was E Beschwerden aus Braunschweig, Sachsen, Mecklenburg gegen- über dem bedeuten, was hier in Frage kommt! Herr Pors befolgt eine eigenthümliche Taktik; er beshuldigt die Linke, daß sie den katho: lischen Beschwerden kein Gehör schenke, und gerade jeßt wäre eine [ône Gelegenheit, zu beweisen, daß die Herren vom Zentrum bessere Men- schen sind, daß sie die Parität überall s{üßen. Aber hier bei den Beschwerden von jüdischer Seite kann Herr Porsch niht genug Wasser in seinen Wein thun. (Abg. Dr. Porsch: Genau so, wie Sie es thun!) Feuer und Flamme sind Sie (zum Zentrum) bei Ihren Beschwerden, Hier decken Sie dasselbe Ministerium Je den Beschwerden der Linken, das Sie sonst beschuldigen, Ihnen gegenüber die Parität niht beobachtet zu haben. Sie decken es, indem Sie das thema probandum verschieben und andere Fragen in den Vordergrund stellen, die damit nichts zu thun haben. Einen fatholisGcn Ober-Bürgermeister haben wir in Berlin in der Person Forckenbecks gehabt und fogar zu einer Zeit, als der katholisde Herr Stryck Stadt-Verordnetenvorsteher wax. Da wird aber gefordert, daß man, um seinen Katholizismus zu beweisen, einen Beichtzettel bej bringen soll. Man beruft sih auf Briefe der Frau von Forckeubeck. Al éForckenbeck Ober-Bürgermeister wurde, war seine Frau |chon zwä Jahre todt. Die Briefe waren 6 Jahre zuvor geschrieben, als die Wahl Forckenbecks zum ersten Mal in Frage kam, er aber nicht gewählt wurde, weil er seine Wahl E wünschte, da er sih in der Berliner Ver- waltung noch nicht bewährt hatte und ihm ein gewiegter Konkurrent in Hobrecht gegenüberstand. Daß der Berliner Magistrat auch ein großes Patronat für evangelische Kirchen wahrzunehmen hat, fällt nicht in die Wagschale. Hier handelt es sich nicht um leitende Perfonen in einer politishen Verwaltung. Wir verlangen keinen freisinnigen Ober- Präsidenten. Leitende Personen der politischen Verwaltung müssen nch allerdings mit dem politishen System decken. Hier handelt es sich aber einfah um Urkundspersonen; die Notariats8geschäfte erstrecken sich auf Wechselproteste, Verkaufsgeschäfte, Protokolle über Sitzungen von Aktiengesellschaften und Testamente. Jh würde kein Bedenken tragen, in Breslau ein Testament dur Herrn Porsh vollzichen zu lassen. Für folhe einzelnen Fälle wollèn Sie das Prinzip verlassen. Gerade in großen Städten ist immer Gelegenheit, sih an einen christlichen Notar zu wenden. Wenn man wegen der besonderen Vertrauensstellung den Notaren gegenüber auf einem folchen Standpunkt steht, so muß man dasselbe auch für die Nechtsanwälte und für die Aerzte jagen, bei denen viel diskretere Fragen in Betracht kommen. Vor einigen Jahren soll einem katholischen Landgerichtêrath in Berlin gesagt worden sein, er eigne sich zum Landgerichts-Direktor, könne es aber wohl in Breslau,

niht aber in Berlin werden, denn hier seien {on genug fatbolisWe Direktoren. Eine fkatholishe Beschwerde hierüber würde id für völlig gerechtfertigt halten. Was uns vom Zentrum trennt in der Beurtheilung folher Fragen, ist nicht

der Grad der Toleranz, sondern daß das Zentrum einen Maßstab an die Prüfung der Toleranz legt, den wir nicht für gereät- fertigt halten. Der konfessionelle Gegensaß wird hier auf Gebiete übertragen, wohin er nit gehört. Daß die konfessionellen Nich- tungen der Bevölkerung unter der Zahl der Anwärter und der Be- fähigten für ein Amt ganz gleichmäßig vertreten seien, ist nit richtig, weil hier eine verschiedene Vertheilung der Konfessionen auf die ein- zelnen Berufsklassen, auf Stadt und Land, auf die einzelnen Ortschaften und Landschaften in Betracht kommt. Jm einen Falle find im Verhältniß zur Bevölkerung zu wenig Be werber, im anderen zu viel; im einen Falle kann eine Bevor- zugung der betreffenden Konfession vorkommen, im anderen eine Benachtheiligung. Was is der Grund davon, daß \o viele Juden Rechtsanwälte sind und nun begehren, Notare zu werden? Das liegt doch in der ganzen Entwickelung der Gesehgebung. Den Juden i\t Jahrhunderte lang ein anderer Erwerb als das Handels geschäft unmöglich gewesen. Im Laufe der Zeit sind ihnen ander Berufsarteu zugänglih geworden, und cs ist anerkennenswerth, da nun das Judenthum danach strebt, cine wissenschaftliche Befähigung zu erlangen. Nun ist ibnen aber ein großer Theil der Berufe, denen sie die akademische Befähigung crworben haben, verschlossen ; sie können nit Offizier werden, auch die Verwaltungsämter ind ibnen in der Hauptsache verschlossen, die Richterkarrière nicht ganz, aber sie haben schr wenig Aussicht, in die höheren Aemter vor- zurücken. Nun strömen natürlich die Juden gerade einem bestimmten Berufe zu, in dem sie aber wieder auf neue Schranken stoßen, indem sie in Bezug auf die Erlangung des Notariats beschränkt werden. Wir meinen gerade, daß man die alten Schranken beseitigen und darauf hinwirken sollte, daß das Judenthum die ihm von früheren Jahrhunderten her noch anbaftende Einseitigkeit überwindet, daß c ih mit dem allgemcinen Volksthum amalgamiert. Eine neue Aunë- nahmestellung befestigen Sie gerade in den Eigenschaften, úbder die Sie vorzunsweise klagen. Das befördert auch jene neu Erscheinung, die unter dem Namen Zionismus bekannt ijt. Jch fude den Zionismus ebenso tadclnöwerth wie den Antisemitismus. Nun sagt man, das Volk verlange jcne Nücksichtnahme. Merkwürdig, ®! fonservativer Seite rühmt man gerade die Regierung, weil sie uiht a die Volfsstimmungen und Leidenschaften achte, sondern darüber erha sei. Aber hier, wo es auf rückîtändige Volkéansichten ankommt, ?

der Provinz -= denn in Berlin sind auch nah der Ansicht

Herren die Leute zu klug dafür soll das Volk maßgebend 68: Wäre es richtig, daß das Volk das verlangt, so wäre

niht begreiflich, daß in den Großstädten cine so ck lie Anzahl júdisher Notare überhaupt ihr Brot findet. Minister sagte, wenn es so fortgehe, würde zuleßt auch kein ein! christliher Notar mehr in Berlin scin. Wenn das wahr wäre, u beschämend wäre das für dic chrisklihen Notare und Rechtsanwäl!t-

(Schluß in der Zweiten Beilage.)

Notare wurden wie die Christen, abe offielle ielle Gründe : niemals angeführt und eine eit nicht veröffentli L Ee

¿u genießen, f be

zum Deutschen Reichs-Anzeiger und Königlich Preuß M 36.

(Schluß aus der Ersten Beilage.)

(6s würde beweisen, daß diese die Konkurrenz mit den Juden nicht halten können. Auch der Wille der Bevölkerung kann nicht in aht kommen, wenn ihm die Verfassung entgegensteht. Diese

# für die Majorität und Minorität da und gerade zum Schußz

der Minorität in erster Linie. Der Justiz-Minister sagte, der

Zuchstabe der Verfassung ist doch_ niht immer entscheidend, sondern

6 {sind die Bedürfnisse und Interessen des Volkes zu berück-

ihtigen. Als ih Jura studierte, war es anders. Ich wäre selbst

kim E durchgefallen, wenn ih eine folhe Antwort egeben hätte. Der Us beruft O auf Art. 57 der Ver- asung: Der König hat das Recht, die Stellen zu beseßen. Ist denn das der einzige Artikel der Verfassung? Beschränken sich nicht die

Artikel gegenseitig? Der König hat das Recht, Stellen zu O

nah Maßgabe der geseßlihcn Bestimmungen und der BVer-

assung. eber der preußishen Verfassung steht außerdem das

N bagesey. Die Art, wie man jeßt die Verfassung aus-

legt, erinnert an die s{limmsten_ Zeiten der Landrathskammer.

Der Abg. Irmer ist dem Justiz-Minister in der Auslegung der Ver-

fassung zu Hilfe gekommen. Er ist darin ebenso wenig glücklih ge-

en wie in seiner früheren ähnlihen Thätigkeit. Der Justiz-

Minister hat sich auf die Uebereinstimmung der Präsidenten der

Dberlandesgerichte mit seinen Ansichten berufen. Diese Herren Yaben

über Grundsäße niht zu entscheiden. Das ist Sache der Justiz-

verwaltung. ie werden nur für einzelne Fälle berufen, und da können die M sten Gründe maßgebend sein. Der Justiz-Minister berief fich auch auf den früheren Minister

alf. Aber in seinem Zitat stand: in dem Falle, der vorlag. (8 handelt sich also um einen Einzelfall. Daß die Präsidenten nit immer mit dem Minister übereinstimmen, habe ih zufällig aus einem Briefe aus Breslau erfahren, den ih vor einigen Wochen zu Gesicht bekam. Es steht darin, es seien mehrere jüdische MNechts- anwälte bei Beseßung von Notariatsstellen E worden. Ein christliher Rechtsanwalt viel jüngeren Dienstalters sei zum Notar ernannt worden, troßdem ih der Präsident für die Ernennung des jüdishen Herrn zum Notar ausgesprochen hatte. Hätten wir die Ministerverantwortlihkeit, so wäre es mir nicht zweifelhaft, daß eine unabhängige Instanz entscheiden würde, daß die Grundsäße, dic der Justiz-Btinistèr aufgestellt hat, nicht im Einklang mit der Ver- fassung stehen. Aber die Erklärung des Ministers geht ja weit über sein Nessort hinaus. Der Minister hat Deckung en hinter den anderen Ressorts, indem er ausführte, es fei in feinem Ressort nicht so shlimm wie bei den anderen Ressorts; dort würden Suden überhaupt nicht angenommen. Nachher hat er diese Aeußerung zu forrigieren gesuht. Er meinte, der Ausdruck sei U glüdlich ewählt; er sei unvermuthet hier angegriffen worden. In feiner ersten Nede heißt es ausdrücklih, daß ihm der Abg. Peltasohn vor der Sitzung mitgetheilt habe, daß derselbe die Anfrage stellen wolle. Der Sustiz- tinister gab der Sache eine humoristishe Wendung, indem er meinte, er wisse niht, wie es in den anderen Ressorts zugehe, die jüdischen Herren müßten sih wohl in seinem Ressort besonders wohl fühlen. Man kann in dieser Frage Uebereinstimmung des ganzen Staats-Ministeriums verlangen, ver- langen, daß nicht bloß der Justiz-Minister gesprochen hätte, sondern im Namen des gesammten Staats - Ministeriums eine bindende Cr- flärung abgegeben worden wäre. Die Vorstände der jüdischen Korporationen sind auf dem richtigen Wege gewesen, wenn fie sh direkt an den Minister-Präsidenten wenden und von ihm eine Erklärung zur Sache verlangen. Wie Graf Bülow zur Sache steht, weiß man nicht. Aber ih meine, die Frage wäre wihtig genug, daß er hier erschiene und erklärte, wie er zu dieser Frage der religiösen Gleichberehtigung stehe. Er hat allerdings im Deutschen Landwirthschaftsrath sich auf seine Familien- traditionen in Mecklenburg berufen. Dieses ist das klassische Land der Intoleranz. Bis 1869 konnte dort ein Jude niht einmal Grund- desiy erwerben, und gerade diese Verhältnisse gaben den Anlaß dazu, daß das Reichsgeseß von 1869 erlassen wurde. (Zuruf rechts : Leider!) Sie sagen „leider“, so sehr haben Sie sich verändert. 1869 hat fein Konservativer, mit Ausnahme eines mecklenburgischen Abgeordneten, auch nur das Geringste eingewendet gegen das Geset. Ih meine, Graf Bülow hat als Reichskanzler und preußischer e De alle Veranlassung, die Innehaltung der Reichsgeseze zu wahren und zu s{hüßen. Sie (nah rets) sprechen vom christlichen Staat. Ich shätßze das Christenthum fehr hoch im Gn et zu anderen Religionen, auch als Kulturfaktor ganz ins- besondere, aber 98 °/o der ristlihen Bevölkerung können doch wohl die Gleichberechtigung von 29/9 Ändéersgläubigen ertragen. Gerade der Staât, der fast aus\cließlich von Christen bewohnt ist, hat den Beruf und kann dey Beruf haben, vor allen Dingen cin Rechtsstaat zu sein, und dazu gehört, daß diejenigen, denen man gleiche Pflichten auferlegt, au gleiche Rechte haben.

Der Präsident von Kröcher theilt folgenden, von den Abgg. Dr. Jrmer (kons.) und Freiherr von Zedlih-

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Neukirch (fr. kons.) eingebrachten Antrag mit:

„Das Haus der Abgeordneten wolle beschließen: zu den vom Herrn Justiz-Minister dargelegten Grundsäßen über die Art, in welcher bei der Ernennung von Notaren auf das Bedürfniß der christlichen Bevölkerung in angemessener Weise Rücksiht genommen werden soll, seine Zustimmung auszusprechen.“

Abg. Dr. Barth (fr. Vgg.) fragt an, ob man nicht über diesen Antrag namentliche Abstimmung vornehmen lassen wolle. :

Abg. von Evnern (nl.) bittet die Antragsteller, die Grundsätze, von denen in dem Antrag die Rede sei, in den Antrag einzusügen.

Justiz-Minister Schönstedt:

Meine Herren! Es ist zum ersten Mal in meiner mehr als sechsjährigen Amtösthätigkeit, daß ih den Vorzug habe, den Herrn Abg. Richter in der Arena mir gegenüber zu sehen. Ich weiß diese späte Ehrung voll zu würdigen. Jch erkenne auch an, daß der Herr Abg. Richter \sih in seinen Ausführungen jenes Maßes von Freundlich- keit mir gegenüber beflissen hat, das bei solchen ersten Begrüßungen üblich ist. (Heiterkeit rets.) Umsomehr bin ih in der Lage, ihm in derselben Rube und Sachlichkeit zu antworten. Zu einer eingehenden Antwort geben mir aber seine Ausführungen keinen Anlaß, da sie sich in ihrem größten Theile auf Gebieten bewegen, die mich nit un- mittelbar berühren und nit eigentlich zu dem Justiz-Etat in näherer Beziehung stehen.

Ich will auh hier wieder cinige Einzelheiten aus den An- führungen des Herrn Richter herausgreifen. Er hat gesagt, es sei ihm vor einigen Jahren mitgetheilt, daß einem katholischen Richter in Berlin, der die Befähigung zum Direktor hahe, eine Anstellung bei einem Berliner Gerichte nicht gewährt werden könne, wohl aber in Breslau. Meine Herren, wenn ihm diese Mittheilung vor einigen Jahren gemacht worden ist, dann müßte sie in meine Dienstzeit hineinfallen, und dann kann ih nur

Zweite Beilage

Berlin, Montag, den 11. Februar

sagen, daß diese Mittheilung auf freier Enfindung beruht. hört! rehts.).

Der Herr Abgeordnete hat weiter gesagt, es sei ihm aus Breslau brieflih mitgetheilt worden, noch vor kurzem seien an Stelle von jüdischen Notaren oder vor älteren jüdishen Bewerbern christliche Notare ernannt worden an einem nicht genannten Ort, und zwar, so viel man wisse: gegen den Antrag des Oberlandesgerichts-Präsidenten. Ich glaube annehmen zu dürfen, daß der Briefschreiber in der That niht gewußt hat, was der Herr Oberlandesgerichts-Präsident berichtet hat, und das liegt ja auch in der Natur der Dinge. i

__ Meine Herren, der Herr Abg. Richter hat sodann gemeint, ih könne die Richtigstellung eines Ausdrucks, den ih in meiner ersten Nede zur Sache gebraucht habe, nicht, wie ih gethan habe, damit ent- schuldigen, daß ih mich in der Abwehr gegen einen unvermutheten Angriff befunden habe; denn ich habe ja selbst erklärt, daß mir die Absicht des Herrn Peltasohn, die Angelegenheit hier im Hause zur Sprache zu bringen, vorher mitgetheilt worden sei. Es ist ganz richtig: diese Mittheilung ist mir hier in der Sitzung, etwa 5 Minuten bevor der Abg. Peltasohn das Wort ergriff, durch einen meiner Herren Refe- renten mitgetheilt worden. Ich glaube nicht, daß ih deshalb nicht den Ausdruck habe gebrauchen können, daß es sich für mih um einen unvermutheten Angriff gehandelt habe.

Nun zur Hauptsache. Es handelt sich um die Frage der Ver- fassungsverlezung. Wir haben uns eingehend darüber unter- halten, was denn eigentlih die Verfassung bestimmt, und sind zu einer Einigung darüber niht gekommen. Ja, meine Herren, wenn man die Ausführungen des Herrn Abg. Barth und die ihm zustimmenden Ausführungen des Herrn Abg. Nichter zu Grunde legt, so kommen wir doch zu einer etwas mechanischen Auslegung der Verfassungsbestimmungen und zu einer Auffassung der Verfassungstreue, die man, ih möchte sagen, mit der Elle messen kann. Demgegenüber darf ih darauf hin“ weisen, daß im öffentlichen Leben es gewisse Imponderabilien giebt, die kein Staatsmann unbeachtet lassen darf, und die auch ein politischer nicht ohne Gefahr außer Acht lassen soll. Der Abg. Richter hat selbst erklärt, daß er auf Volks\timmungen Gewicht legt; nur in diesem Fall will er es niht. Ich meine, es würde konsequenter ge- wesen sein, wenn er zugegeben hätte, daß auch auf diesem Gebiet mit solhen Imponderabilien zu rechnen sei, sebstverständlih innerhalb des Rahmens der Gesetze. (Sehr richtig! rechts.) Herr Richter bestreitet allerdings, daß solche Auffassungen bestehen. Er scheint zu glauben, es bestehe der. Wunsch, daß die freie Advokatur auch gewissermaßen die Brücke zum freien Notariat bilden folle; er scheint zu glauben, daß die allgemeine Meinung dahin gehe, daß bei der Auswahl der Notare feinerlei andere Rücksicht genommen werde als ledigli die auf nachge- wiesene Befähigungung und geschäftliche Zuverlässigkeit. Meine Herren, da gehen eben unsere Meinungen auseinander, und ih kann nur fest- stellen, daß mir eine Beschwerde darüber, daß .es niht genügend jüdische Notare im Lande gebe, noch von keiner Seite entgegengetreten ist. (Heiterkeit rechts.)

Meine Herren, ich finde nihts mehr in meinen Notizen über die Nede des Herrn Abg. Richter, was mir noch Anlaß zu weiteren sach- lien Erwiderungen geben könnte und werde also abwarten, welche Vorwürfe mir etwa noch gemacht werden. (Bravo! rechts.)

Abg. Werner (deuts{hsoziale Reformp.): Herr Richter kann in seinen Reiben leichter Chinesen finden als bei den Agrariern. Mit den Borern sind wir höchstens insofern zu vergleichen, als wir auf nationalem Boden stehen. Die Antwort des Justiz-Ministers auf Herrn Peltasohn's Anfrage hat uns allerdings gefallen. Wir wollen den Minister aber durchaus nit als zu uns gehörig bezeihnen. Bei Herrn Rickert fällt mir ein altes Studententied ein: Es ist ein {wacher Greis, der sich nicht zu helfen weiß. Wenn unter 800 Rechtsanwälten 600 dem auserwählten Volke angehören, so ist das gerade genug. Die Juden sind lange genug emanzipiert, um zu unserem Volke gehören zu können, sie wollen aber niht. Herr Nickert möchte, daß die Juden au ins Offizierkorps kommen. Davor möge uns Gott behüten! Den Koniyer Prozeß will ih mit vollster Objektivität behandeln. Der Minister sagt, er wolle nicht dafür ein- teben, daß im Anfang alle Schritte ershöpfend und energish genug gethan worden sind. Es ist gerade der größte Fehler, wenn im Anfangetwas versäumt wird. Wir wollen das Ansehen der Justiz nicht untergraben, sondern gerade zur Aufrechterhaltung beitragen. Gegen die Aeußerung Stadthagen's, daß die Leute in Koniy und Umgegend fih dur besondere

Dummbeit auszeichneten, muß man entschieden Protest einlegen. Manche Handlungen des Herrn Landrichters Zimmermann sind aller- dings auf seine Nervosität zurückzuführen, es sind aber auch Rechts- verletzungen vorgekommen. (Cinige Zeugen hat er mehrere Stunden eingesperrt gehalten, einem Zeugen mit einem Zivilprozeß gedroht ; andere Zeugen, die etwas hätten aussagen können, haben ih gar- niht gemeldet, weil es von ihm hieß, daß die Zeugen von ihm {lecht behandelt und angeschrien würden. Er war der ungeeignetste

(Hört,

Mann. Einem Zeugen wurde einfach gesagt: das sei Weiber- klatsch. Die Hauptbeshwerde muß ih gegen den Staatsanwalt

Settegast rihten; ob seine Verseßung nah Limburg a. L. mit dieser Sache in Verbindung steht, weiß ih nicht. Die Haussuchungen sind ganz oberflählich vorgenommen worden. Die Levy'schen äucher- fammern und -Keller find dabei garnicht geöffnet worden; ebenso war es bei der Untersuchung in der Synagoge. Die Polizei ist doch sonst nicht so zurückbaltend. Die höchsten Kreise bis in di&WAristokratie hinauf sind derselben Meinung über die Untersuchung. Der Bürgermeister ist am Tage der Entdeckung des Mordes nachgewiesenermaßen im Theater gewesen. Es ist naGgewiesen, daß Mori Levy mit Winter lange verkehrt hat. Den Antisemiten kommt es gar nicht darauf an, ob ein Ritualmord vorliegt oder nit, sondern nur darauf, daß der Mord aufgedeckt wird. In der Broschüre des Herrn von Liebermann kommt fein Wort von Ritualmord vor. Wenn man die jüdischen Zeitungen liest, so kommt es einem vor, als sei das ganze Judenthum angeklagt. Perr Rickert that mir auf- ridtig leid. Er giebt sich so viel Mühe um die Juden, und sie treten ihn mit Füßen. Levy wohnt in der Nähe des Fundortes der Leichentheile; es ist festgestellt, daß der Mord in der Nähe der

undstelle eschehen sein muß. Es ist bedauerlich, daß bis heute noch fin Untersuhung gegën Levy eingeleitet worden ift. Der Justiz- Minister hat alles gethan, was er thun konnte. Wir wollen das An- sehen der Justiz wahren. Der Müller von Sansfouci hatte Ver- trauen zu den Gerichten. Wir Deutsche hoffen auch, daß es bei uns noch deutsche Gerichte giebt.

Justiz-Minister Schönstedt: Meine Herren! Ih freue mich, daß auch der Herr Abg. Werner es unterlassen hat, den ganzen Konitzer Prozeß hier zum Gegenstand

ischen Staats-Anzeiger.

1901.

der Verhandlung zu machen. Er hat ebenfalls anerkannt, daß es un- möglich sein würde, hier den Prozeß nachzuprüfen, um zu einem ab- \chließenden Urtheil zu gelangen.

Fch bin troß alledem in der Lage, bezüglich einiger Bemerkungen eine Erwiderung eintreten zu lassen auf das, was der Herr Abgeordnete hier gesagt hat, und das bezieht sich auf die Angriffe gegen die mir unterstellten Justizbeamten, auf den Untersuchungsrichter, der in der Sache thätig gewesen ist, nachdem es einmal zur Einleitung einer wirklichen Voruntersuchung gekommen war, und gegen den früheren Ersten Staatsanwalt. Dem Landrichter Zimmermann sind hier Vor- würfe gemacht worden, die in ihrer thatsächlichen Begründung mir absolut unbekannt sind. Er soll eine Zeugin, die er einen ganzen Tag lang vernommen hatte, während der von ihm angeordneten Zwischen- pause eingesperrt haben. Die Thatsache ist mir völlig neu und fremd. Ich möchte doch lebhaft bezweifeln, daß dies in der That begründet ist. Er soll ferner gegen einen Zeugen Masloff, der später sich in einen Angeklagten verwandelt hat, gewissermaßen Drohungen aus- gesprochen haben in Bezug auf einen Zivilprozeß, der von ihm geführt wurde. Auch das ist mir völlig unbekannt; auch das möchte ich in Zweifel ziehen. Wenn es richtig sein möchte, was in dem Masloff- Prozesse vorgebracht und dort auhGegenstand der Beweisaufnahme gewesen ist, daß der Landrichter Zimmermann hier und da etwas nervös geworden, und daß er vielleiht Zeugen angeschrien oder mit lauterer Stimme ange- redet hat, als nöthig war, so wiegt dieser Vorwurf niht gar zu s{chwer. Ich glaube, es ist dabei zu berücksichtigen, daß der Landrichter Zimmermann, ein Richter von anerkannter Befähigung, vollständiger Zuverlässigkeit und tadelloser Führung, wochenlang eine rastlose, angestrengte Thätigkeit in dieser Untersuchung zu entwickeln gehabt hat, wobei er vom frühen Morgen bis zum Abend genöthigt war, Vernehmungen vorzunehmen, daß da ein Richter auch etwas nervöôs werden kann und daß er Zeugen, die vielleiht seine Fragen nicht ver- stehen oder deren Antwort ihm nicht verständlich war, etwas lauter anredet, als es sonst üblich sein mag, das ist doch kein Vorwurf, aus dem irgendwelche weitgehenden Schlüsse gegen die Unbefangenheit, die Zuverlässigkeit des Richters yezogen werden können.

Nun, meine Herren, was den Ersten Staatsanwalt angeht, den ih seinem Wunsche entsprechend nach Limburg verseßt habe, weil er den aller- heftigsten Anfeindungen und Angriffen in Konitz ausgeseßt war, und zwar, wie ich sagen muß, nah meiner Ueberzeugung, insoweit feine gewissenhafte Führung der ganzen Untersuchung in Frage kommt, un- begründeten Angriffen, dessen Stellung dort in der That eine folche war, daß ihm kaum zugemuthet werden konnte, nachdem nun die Ver- handlung zu einem gewissen Abshluß gebracht war, noch länger in dieser Umgebung zu weilen der Erste Staatsanwalt Settegast —, wenn der bei den Haussuchungen das eine oder andere übersehen haben mödte, und wenn die Ortspolizeibeamten, die ihm dort zur Verfügung standen, das eine oder anderc übersehen haben möchten, dann is das menschlich; das kann überall vor- kommen. Aber auch das begründet nicht Vorwürfe in Bezug auf die Tendenz dieses Herrn oder auf feine Geneigtheit, irgend eine Spur nit zu verfolgen, die sih in der Sache thatsächlich darbot ;

das, meine Herren, kann ih nach wie vor behaupten.

Das Vorgehen gegen den Schlächtermeister Hoffmann möchte ih allerdings mit einigen Worten hier noch berühren. Es hat ja viel Aufsehen und unliebsames Aufsehen erregt, daß gegen diesen Mann, der eine sehr geachtete Stellung dort einnimmt, überhaupt vorgegangen ist. Meine Herren, thatsächlih ih sage damit etwas, was all- gemein bekannt ist und was ih deshalb bier sagen darf hat dieses Vorgehen auf einer Auffassung beruht, die bei dem Kriminal- kommissar Wehn \ich gebildet hatte, daß in dem Hoffmann'’schen Hause oder dessen Geschäftslokalien die That begangen sein müsse, daß da der Thäter zu suchen sei. Der Kriminalkommissar batte dafür bestimmte tbatsählihe Anhalte, die ih nur eben berühren darf. Einmal liegt das Schlachthaus des Hoffmann in der Nähe des Mönchsees, wo die Leichentheile gefundêÊn worden find, und aus dieser Gegend wollten Zeugen zu der Stunde, wo die Tödtung begangen sein muß, Angstschreie und Nothschreie gehört haben. Die Tochter des S(hlächtermeisters Hoffmann hatte gewisse, durchaus harmlose Bezichungen zu dem getödteten Winter, die aber von dem Vater nicht gebilligt wurden und die, nah Zeugenaussagen, den Vater schon ein- mal veranlaßt halten, Drohungen auszusprechen, die vielleicht auch nicht ernst gemeint waren. Hoffmann gehörte zu den Schlächtern des Orts, gegen die in der Allgemeinheit sich zunächst der Verdacht richtete, dak sie die That begangen haben möchten, allein begangen haben könnten. Das waren die wesentlichen Momente, die für diesen Kriminal fommissar bestimmend waren zu der Auffassung, die er mit großer Bestimmtheit vertreten hat, in dem Hoffmann'schen Hause sei die Spur des Verbrechens zu suchen.

Meine Herren, ih kann auch das sagen, daß die Staatsanwaltschaft in feinem Stadium des Verfahrens die Ueberzeuguno getheilt hat, daß die Annabmen des Kriminalkommissars richtig, daß sie begründet seien. Aber, meine Herren, die Staatsanwaltschaft hat sih nicht für bereh- tigt gehalten, hier dem ges{hulten Kriminalkommissar in den Arm zu fallen und zu sagen: Diese Spur darf niht weiter verfolgt werden, du bist auf dem JIrrwege, da hast du nichts zu suchen. Ih glaube, daß die Staatsanwaltschaft sih mit einer \{weren Verantwortlichkeit belastet haben würde, wenn sie das unter den vorliegenden Umständen gethan hätte. Sie würde dem Vorwurf nicht entgangen sein, daß, wenn, wie es bis jeyt leider der Fall ist, die ganze Untersuchung resultatlos blieb, daß ihr dann gesagt wurde: sie habe die Resultatlosigkeit mit verschuldet, weil sie den vom Krminalkommissar bezeichneten Weg nicht weiter verfolgt habe.

Nun, meine Herren, zu einer Verhaftung des Hoffmann ist es überhaupt niht gekommen; er ist vollständig auf freiem Fuße ge- blieben. Es ift nur, zugleich in seinem eigenen Interesse, eine förmliche Voruntersuchung eingeleitet wordea, und ih glaube, daß der

Schlächtermeister Hoffmann dafür den Justizbehörden dankbar ge-

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