1911 / 47 p. 9 (Deutscher Reichsanzeiger, Thu, 23 Feb 1911 18:00:01 GMT) scan diff

Zweite Beilage

zum Deutschen Reichsanzeiger und Königlih Preußishen Staatsanzeiger.

M 47.

(Schluß aus der Erften Beilage.)

Leider war dies nicht der einzige Fall. Es sind auch in anderen Fällen Unschuldige auf Grund des Zeugnisses von Polizisten wegen Aleineids verurteilt worden, in Mecklenburg, Magdeburg und enburg. Die Majestät des Schußmanns ist ein Unglück für das ericht und für die Angeklagten. Leider ist durh den Entwurf des neuen Strafgeseßbuchs das Wiederaufnahmeverfahren erheblich ver- \{hlehtert worden, so daß das Wiederaufnahmeverfahren im Gssener Prozeß unmöglich gewesen wäre. (Der Redner führt mehrere Fälle an, die Anlich liegen sollen wie der Essener Fall.) Das Sträuben der Ge- tite gegen das Wiederaufnahmeverfahren läßt sih in solchen Fällen Mr aus politisher Abneigung gegen die Sozialdemokraten erklären. lese rührt davon her, daß cine Anzahl infamer Halunken, von vißeln, die vom Staate gespeist werden, Behauptungen wie die 6 früheren Staatsanwalts Romen, die Sozialdemokratie ver- errliche den Meineid, in die Zeitungen bringen, und daß nun die armen Richter fortwährend soîhe Verheßungen, namentlih in den Onservativen Blättern, lesen. Andere tun solche Aeußerungen, um S nah oben bemerkbar zu machen. Die Straftaten der Bonner tudenten hat der Abg. Varenhorst als unschuldigen Budenzauber O als harmlosen Spaß hingestellt, der in der Betrunken- tit, dem Normalzustande der Studenten, in Szene geseßt war. dl kann ihm darauf nur erwidern, er irrt, wenn er uns für fo guldürstig hält. Wir wollen gar nicht, daß die Studenten rakonish bestraft werden, wir verlangen nur die gleiche Milde en Arbeitern gegenüber. Was haben denn die Arbeiter in Moabit Ü blimmeres getan als die Studenten in Bonn und auf anderen niversitäten? Die Arbeiter werden in solchen Fällen nicht wegen groben Unfugs angeklagt, sondern wegen Landfriedensbruchs. Gnade asien wir gar nicht haben, wir wollen nur gleiches Necht für Art Im Moabiter Prozeß ist von den Verteidigern auch nicht ein Zutrag H der sahlich ungerehtfertigt gewesen wäre. Die Perren bedauern nur, daß nicht das geschehen ist, was den ünschen der Konservativen entsprach, nämlich eine Verkehrung der ahrheit in ihr Gegenteil. Der Mord an dem alten Arbeiter Herr- ann \hreit nah Sühne. Diejenigen müssen angeklagt werden, die den Mord begünstigen, und es begünstigen ihn die, die behaupten, M die Polizei in allen Fällen, also auch bei der Verübung dieses ordes ihre Sguldigkeit getan habe. Warum wird nicht der Polizei- präsident angeklagt, warum nicht der Minister des Innern® Haben eun diese das Recht des Mordes oder des Schußes der Mörder 9 vecies Recht für alle. Wenn ein Mordbube sonst einen Mord atte so wird son derjenige, der die Täâterschaft verdeckt, zur Nechen- ast gezogen. Wenn aber die Behörden, die verpflichtet sind, sofern nachzugehen und Anklage zu erheben,. die Mörder noch be- Hen, dann it es gerechtfertigt, zu sagen, warum bringt man diese S nicht auf die Ánflageban ? Steht es denn so in Preußen, daß der din tibräsident und die Staatsanwaltschaft niht in der Lage. sind, nen Mörder zu finden? Wir haben ja in Preußen so häufig darüber zu agen, daß Mörder und {were Verbrecher nicht ausfindig femacht werden; aber hier, wo die Täter so leicht zu finden sind, ollte ‘da Preußen so ohnmächtig scin, den Mörder niht heraus- finden, sollte sich in Berlin wiederholen, was in Breslau ge- zeven ift? azu ist das Staatssekretariat da, diese fort- währenden Widergeseßlihkeiten, die sich häufenden Verbrechen zur Strafverfolgung zu bringen. Sollen jene Herren ftraflos sein? Freilich, wir leben ja nit in einem Rechtsstaate, sondern in einem Polizeiftaate, wo der Schußmann die Majestät ist. Die Schande und Schmach, die sich auf den senkt, der fih zu den Mördern ge- sellt, der den Mörder nicht verfolgt - . . (Vizepräsident Schult: Sie erheben diesen Vorwurf in direktem Zusammenhang mit den von Ihnen erwähnten hohen Beamten Preußens, gegen den Minister des Innern und gegen den Polizeipräsidenten von Jagow. Das sind grobe Beleidigungen dieser Herren ; ih ruse Sie dafür zur Ordnung! Beifall rechts; große Unruhe links.) Ih muß mich ja dem Ord- nungsruf fügen; aber das ist gerade für unseren Nechtszustand kenn- zeichnend. Ich habe hervorgehoben, daß a lle Verbrechen nah dem Gesetz verfolgt werden müssen; wenn ih aber die Ausführung dieser Geseßzesvorschrift verlange auch gegenüber den höchsten Beamten, dann verstößt das gegen die Ordnung. Ich danke dem Herrn Präsidenten, daß er diesen Zustand jo stark unterstrichen hat. Warum find die Mörder noch nicht unter Anklage gestellt, und was laubt der Staatssekretär, daß gegen die Begünstiger des Mordes schehen müsse? Die Justiz joll die Grundlage der Königreiche sein, enfalls soll fie sein die Wahrerin der Gerechtigkeit ohne Ansehen êr Person; darum mein leßter Appell an den Staatssekretär!

Staatssekretär des Reichsjustizamts Dr. Lisco:

Meine Herren! Nachdem der Herr Präsident den Herrn Vor- redner wegen der Aeußerung, die er über hohe preußische Beamte mat, mit einem Ordnungsruf belegt hat, habe ih zu dieser An- H egenheit nichts - mehr zu sagen. (Abg. Ledebour: Sehr bequem!) E Worte und Ausführungen des Herrn Abg. Stadthagen richten sich d st. (Sehr gut! rechts. Lachen und Zurufe bei den Sozial- émokraten. Abg. Ledebour: Das ist keine fahlihe Rechtfertigung, 08 ift Drüebergerci!)

_Abg. S : Sh k ih der Ar Y a Abg. Seyda (Pole): Jh kann mi der Anerkennung des Abg. Wn für die deut]he Justizpflege leider niht anschließen. Die die die Hüterin und Wahrerin des Rechts sein soll, wird gew eußischen Osten vielfah zur Dienerin der Politik herab- as poigt Die erste Vorausseßung einer gedeihlihen Justiz ist, Dolues Nichter ih mit den Parteien direkt, ohne Vermittlung eines Vol inetshers verständigen kann. Zudem ist doch den Untertanen vre Uher Zunge der Gebrauch ihrer Sprache vor Gericht durch die langs en Könige garantiert. Von den Richtern im Osten aber ver- est man die Kenntnis der Volkssprache nicht, während man den Fogern degenüber diese Gerechtigkeit übt und in unsere Ain Sz;nien Richter schickt, die die Suaheli-Sprache studiert haben m Jahrzehnten sind polnische Richter niht mehr angestellt werd n, und polnische Laienrichter, Schöffen und Geschworene erl en nur in geringer Zahl: zugelassen. Man müßte nun mindestens Angen, daß die Dolmetscher den polnischsprehenden Landesteilen »juhonmen werden. Statt dessen werden aus politischen Gründen gebil ässige junge Leute in Ostpreußen als Dolmetscher heran- net und nah den polnischen Landesteilen geshickt. Da ist es Wunder, daß eigentümliche erf Meineid vorkommen und berde, VeUgenaussagen und infolgedesten Meineidsprozesse gezüchtet n. Die Richter werden zu Germanisierungszwecken mißbraucht, gegen Misterialerlaß nimmt die Richter von der Agitation über, die Polen nit aus. Wie soll ein Richter unparteiisch Polen nien richten, der in einer öffentlichen Versammlung die : E Erbfeinde bezeichnet? Selbst der oberste Gerichtshof ist dieg litischen Tendenzen gegen die Polen nicht freizusprecen, die 97 Mlt namentli von seiner Entscheidung in bezug auf zan N ung der Novelle zum ‘Ansiedlungsgeseß. Nach diefem Geseß den Ser dée Aus brilident eine Ansiedlung App n, U E Pebindern dar Ansiedlungskommission in Widerspruch steht. Um z olen erp. ein Deutscher eine Ansiedlung macht und fie an einen

SU im

verkauft, sind die Verwaltungsbehörden auf die geniale Idee

Berlin, Donnerstag, den 23. Februar

gekommen, sich von dem Deutschen unter Konventionalstrafe die Zusiche- rung geben zu lassen, daß er niht an einen Polen verkaufen werde. Das Reichsgericht is über den Einwand, daß jene Klausel gegen die guten Sitten verstoße, und g die Ansiedlungsnovelle dem Frei- zügigkeitsgeseß widersprehe, leiht hinweggegangen und hat dieses

Gesez so interpretiert, daß es sih nicht gegen die Polen als foldhe rihte, sondern nur gegen diejenigen, die sich nicht rüchaltlos als Deutshe fühlen. Das wäre ungefähr fo, als

ob man als Katholiken nur diejenigen anerkennen wollte, die ih rüdhaltlos als Protestanten fühlen. Diese Entscheidung bewegt sich in denselben Bahnen, wie andere seiner Urteile in politishen Fragen. Wo es sich um die Polizei handelt, ent- \cheidet das MReich8gericht immer zu Gunsten der Polizei, der Staatsgewalt. Nichts ist efährliher für einen Staat, als wenn MRechtsfragen und politische Fragen vermischt werden. Das muß früher oder später zum Untergang des Staates führen. Das polnische Volk wird nah wie vor mit allen geseßlichen Mitteln fämpfen, bis ihm Gerechtigkeit zu teil wird.

Staatssekretär des Reichsjustizamts7Dr. Lisco:

Meine Herren! Zu den legten Worten des Herrn Vorredners nur wenige Worte der Erwiderung. Der Herr Vorredner hat aus- geführt, daß das Reichsgericht stets zugunsten der Polizei, \tets zu- gunsten des Staates, stets zugunsten der Staatspolitik entscheide, wenn Fragen, die mit der Politik zusammenhängen, zur Entscheidung kommen, und, meine Herren, ich muß annehmen, daß der Herr Abg. Seyda (Wreschen). gemeint hat, daß das Reichsgericht das ab-

sichtlich tue.

Meine Herren, das ist ein {chwerer Vorwurf gegen das Reichs- gericht, dessen Unparteilichkeit vorhin von dem Herrn Abg. Dr. Junck in so hervorragendem Maße gelobt worden ist. Ih glaube, das Urteil über das Reichsgericht steht fest, und ih kann mich damit be- gnügen, derartige Anschuldigungen gegen das Reichsgeriht mit Ent- \ciedenheit zurückzuweisen. (Bravo !)3

# Abg. Dr. Müller - Meiningen (fortshr. Volksp.): Auf die Frage einer neuen lex Heinbe, wie sie der Kollege Belzer verlangte, gehe ih nit weiter ein. Auch wir begrüßen die Erweiterung und Ver- einheitliGung der internationalen Rechtsbeziehungen und bedauern sehr, daß England noch immer einer internationalen Regelung des Wechselrehts Schwierigkeiten maht. Den Staatssekretär möchte. ich aufmerksam machen auf die Unzuträglichkeiten, die aus der Ein- tragung von Contumacialurteilen von Schweizer und en Gerichten für deutshe Staatsbürger entstehen. Den Be- schwerden über unzweckmäßige Leitung von Monsterprgzefsen Tlehen gerichtlichGe Glanzleistungen auf diesem Gebiete A er, so daß wir diese Beschwerden nicht gegen den deutschen Nichterstand ver- allgemeinern dürfen. Tatsächlich gehen manthe Gerichte nicht den Weg, den sie gehen müßten, um den Anschein zu vermeiden, daß sie in das politishe Parteigetriebe sich hineinziehen lassen. Es wird ein Strafverfahren erhoben gegen Arbeiter, die am Sonntag ein Flugblatt verbreitet haben; der politishe Gegner hatte seine Flugblätter zu Wagen und zu Fahrrad verbreitet, die Ver- folgung seines Reates wurde aber vom Gericht abgelehnt, weil darin eine mit Anstrengung verknüpfte Tätigkeit niht gefunden wurde. Das heißt doch tatsählih mit zweierlei Maß messen. Politisch merkwürdig ist unzweifelhaft auch die Verurteilung wegen “groben Unfugs unter Anwendung des dolus eventualis wegen der Hochrufe auf das Neichswahlreht; das sicht do so aus, als wenn die Gerichte auch mit Politik treiben wollten. CGbenfo merkwürdig ist die allerneueste Nachricht, wonach als unpolitisher Verein beim Amts- gericht Berlin-Mitte der „Bund der Landwirte" eingetragen worden ist. Wer sieht den Bund der Landwirte und feinen Direktor Diederich Hahn nicht als Politiker an? Wie streng sind do sonst die Ge- richte bezüglih der Requisiten der sozialpolitishen oder politischen Vereinszwecke! Die Gewähr für eine gute Justiz liegt gewiß in einer Gewähr für die Persönlichkeit des Richters; aber das ist auch eine Frage der Erziehung. Die neue Bewegung -verlangt, daß die zukünstigen Richter als Gegenwartsjuristen ausgebildet “werden als praktishe Männer mit gesundem Blick fürs Leben, ohne bloße Aktengelehrsamkeit. Da heißt es aber hon auf dem Gymnasium mit der Reform beginnen und auf, der Universität tüchtig damit fort- fahren. Die ganze Ausbildung der Juristen muß geändert werden, wenn wir der neuen von Jena ausgehenden Bewegung gerecht werden wollen. Die Anstellungsverhältnijse der deutschen Richter werden immer \chlechter; am allershlechtesten find fie in Württemberg. Wenn der Staat nicht bald mit Reformen vorgeht, fo werden unsere Juristen dahin gehen, wo sie besser fortkommen, in die Verwaltung oder in den Privatdienst. Wir müssen dem Richter ideal näher fommen, wie es Adickes vorshwebt. Die Ausmerzung der Hilfs- rihter muß durchgeführt werden. Die Ursache der Unzufriedenheit mit der heutigen Rechtspflege, die große Verstimmung zwischen Volk und Recht liegt zum Teil in der mangelnden Aufklärung über Fehl- sprüche einzelner Gerichte, zum Teil auch“ in der Schwierigkeit, den dur die Nechlsprechung verle ten íIndividualismus E Oft ist es au totes und nicht lebendiges Recht, welches die Richter angewendet haben. Endlich aber tritt hinzu das Odium einer in Deutschland unglaublich zurücgebliebenen Polizeistrafgeseßgebung. Wir dürfen nur an den bekannten Fall der galizishen Dienstmagd Ciaston erinnern, die acht Monate e einer angeblichen Ueber- tretung in Hast saß. Die Sache ist auch noh nit vollständig auf- geklärt. Der preußishe Minister des Innern hat die ganze Schuld auf die ihm untergeordneten Behörden geschoben ; ih verstehe das nicht. Aus den Akten, die mir zur Verfügung gestellt find, geht hervor, daß der Rechtsanwalt, der die Sache geführt hat, das Ministerium bereits am 5. Juli darauf aufmerksam machte, daß die Dienstmagd son ein halbes Jahr in Haft sel, und daß er vom Minister des JInnern überhaupt keine Antwort erhalten hat. Hier tut Auf- klärung dringend not. Erst am 28. Oktober 1910, also nach 11 Monaten, ist eine offizielle; Kundgebung erfolgt. Man findet Fein Wort der Entschuldigung für diese PNuba des Nechts- empfindens nicht allein_ des deutschen Volkes, sondern, wie aus den Verhandlungen der Oesterreichishen Delegation hervorgeht, ganz Europas. Die Presse hat in leßter Zeit gezeigt, daß dieser Fall nit vereinzelt ist. Aus Holstein sind ganz ähnlich gelagerte Fälle gemeldet. Unser ganzes Rechtsleben leidet darunter; wir müssen dringend verlangen, daß die eUoge ega gründlich Nemedur schafft durd) Ausräumung mit diesem ganzen Wust von Polizei- strafgeseßbestimmungen. Ein weiteres beshämendes Kapitel ist die tendenzióse Behandlung der Zeugen und Angeklagten, wie sieimSchönebeck-

rozeß zu Tage getreten i\t. Der Fall Schönebeck ist ebenso wie der

all Osterroht auf die mangelhafte deutsche JIrrengeseßgebung zurück- zuführen. Man muß unbedingt an eine Reform derselben herantreten. Ich erinnere daran, daß einer unserer Reichstagskollegen ebenso wie fein Sohn von einem erklärten Narren mit Schmähbriefen verfolgt

und bedroht wird, und daß, wie wir hören, dieser Narr jeßt auch

täglih das Reichstagspräsidium mit Schmähbriefen belästigt. Da muß man wirklih iten ist denn unsere Irrengese gebung E stande, das Publikum gegen Narren zu s{üßen? Im rozeß Becker baben alle Parteien das Ungeheuerlihe des Se anerkannt. Was kann i sonst jemand für ein Jahr Gefängnis eisten? Nach

1991.

einer Statistik über die Tätigkeit einer Strafkammer find folgende Strafen verhängt: Urkundenfälsung und Betrug 3 Monate, Diebstahl im Nücfall 3 Monate, Sittlichkeitsverbrehen 7 Monate, Kuppelei und Entführung 3 Monate, Zuhälterei 10 Monate usw. Also der Zuhälter, der Auswurf der mens{chlichen Gesellschaft, kommt mit 10 Monaten Gefängnis davon; der rückgratfeste Mann, der nur aus politischer Ueberzeugung in einen- thm aufgedrängten Kampf _ein- etreten ist, erhält 1 Jahr Gefängnis, weil er fich gegen Seine

ajestät den preußischen Landrat aufgelehnt hat. Die Prozeß- führung war geradezu unbegreiflich. Jedesmal, wenn die Sache für den Landrat heikel wird, springt sofort der Regierungspräsident Blomeyer mit dem Amtsgeheimnis dazwischen, oder es wird dafür gesorgt, daß die Frage von seiten des Gerichts rar wird. Das stärkste Stük in dem Prozeß erblicke ih in der Vorenthaltung der Akten über den liberalen Verein. Merkwürdig war auch die Drohung, daß, wenn eine Erklärung des Rechtsanwalts Schücking aufrecht erhalten würde, das Gericht seine Schlüsse aus dieser Aufrehterhaltung ziehen müsse. Alles, was zur Entlastung des Angeklagten dienen konnte, wurde bei der Beweisführung abgeschnitten. Cr konnte und wollte beweisen, daß er vom Freiherrn von Malyßahn aufs stärkste beleidigt war. Darauf kam es doch bezüglich der Straffrage wie der Schuldfrage wesentlich an. Aber der Staatsanwalt sprang dazwischen und griff mit der eigentümlihen Motivierung ein, daß es sih, und zwar nah den Angaben des Landrats selbst, um einen Vertrauensbruch handle. Ih möchte wissen, was geschehen wäre, wenn es sich um eine Beleidigung gegen den Freiherrn von Malßahn gehandelt hätte. Der Mangel an Objektivität des Vorsißenden wird dur die Be- handlung -der Zeugen bewiesen. Er genießt ja solche Popularität, daß er nur die „eiserne Jungfrau“ genannt wird. algahn hat häufig seine Aussagen mit den Händen in der Hosentasche gemacht, der Lehrer Schaht dagegen wurde vom Vorsißenden wie ein Sqchuljunge zurechtgewiesen. Aehnlich war die Art der Behandlung der Verteidigung. Der Vorsitßzende hat behauptet, der Landgerichtsdirektor sei kein Parteigänger der Konservativen, troß- dem der Landgerichtsdirektor selbst einen konservativen Verein ge- ründet hatte. Es war ein großer Fehler, eine parkeipolitic N exponierte Persönlichkeit an die Spiße eines ausge]prohen politischen Prozesses zu stellen. Der Greifswalder Prozeß zeigt, wie ein Fachjuristentum ohne Weltkenntnis, ein bureaukratishes System und vine S gesellschaftlihe Abhängigkeit unsere ganze Iustiz schädigen kann. ir wollen im Wege der Geseßgebung alles tun, um derartige Prozesse in Zukunft zu vermeiden, im Interesse des deutschen Richterstandes und im Interesse des Vertrauens des deutshen Volkes zu ihm, des Vertrauens, ohne das der Staat auf die Dauer ohne Erschütterung seiner Grundlagen nicht bestehen kann.

Damit {ließt die Diskussion, #7 Der Etat für die Reichsjustizverwaltung wird ohne weitere Debatte nah den Anträgen der Budgetkommission angenommen, ebenso die von der Kommission vorgeschlagene Resolution wegen der Berufung von drei Rechtsanwälten in die Kommission für die Ausarbeitung des neuen S Et nachdem der Referent Abg. Dr. Hecks\cher (fortsh. Volksp.) noch erwähnt hat, daß die Kommission dem Staatssekretär den Wunsch zu erkennen gegeben habe, da 6 zu hörende Vertreter dèr Presse von den berufenen Presse- organisationen zu präsentieren sei, und der Abg. Kir\ch ( e noch den Gedanken zur Erwägung gestellt hat, ob niht au ein Sachverständiger auf dem Ge iete der Sozialwissenschaften in die Kommission genommen werden solle. Schluß gegen 6 Uhr. Nächste Sißung Donnerstag 1 Uhr

(Heeresvorlage und Militäretat).

Preußischer Landtag. Herrenhaus. 4. Sigung vom 22. Februar 1911, Nachmittags 2 Uhr. (Bericht von Wolffs Telegraphishem Bureau.)

Die neu berufenen Mitglieder Generaloberst von Lindequist und u Plate, die bisher den Eid auf die Verfassung noch nicht geleistet haben, werden in der üblichen feierlichen Weise vereidigt.

Die ns über den Antrag Shlenther zur Wegeordnung für Ostpreußen wird wiederholt, da er gestern noch niht gedruckt vorlag. Jn dem Antrage werden Drainagen, deren Anlage im Landeskulturinteresse erwünscht ist, soweit nicht überwiegende öffentlihe Jnteressen entgegenstehen, anderen Anlagen wie Brücken, Durchlässen usw. gleichgestellt. Der Antrag wird angenommen.

Es folgt die Beratung des Entwurfs eines Geseßes, betreffend Abänderung der Gemeindeordnung für die Nheinprovinz.

Minister des Jnnern von Dallwiß:

Meine Herren! Gestatten Sie mir, in aller Kürze die Er- wägungen darzulegen, welche die Königliche Staatsregierung veranlaßt haben, dem seit längerer Zeit hervorgetretenen Wunsche nah einer

Revision der rheinischen Gemeindeordnung \tattzugeben. Entscheidend

war die ungünstige Entwicklung, welhe das Institut der Meist- begüterten im Laufe der Jahre in vielen Gemeinden genommen hat. Sie ist im wesentlichen zurückzuführen auf zwei Momente: einmal auf die Mitberücksichtigung der Gebäudesteuer und neben Grund- steuer, wodur das bodenständige Element, welches ein wesentlihes Interesse an dem dauernden Gedeihen der Gemeinde befißt, und dem daher ein angemessener Einfluß im Gemeindeleben zu fichern ift, becinträhtigt wurde, denn durch die Berücksichtigung der Gebäude- steuer wird den Hausbesitern, die 150 6 nur an Gebäudesteuern ent- richten, ein Virilstimmrecht eingeräumt; fodann auf das Ein- dringen .der Industrie {n das platte Land und die hierdurhch bedingte Errichtung zahlreiher Wohnhäuser, deren Eigentümer den meistbegüterten Grundeigentümern hinzugetreten find. So ist es gekommen, daß in vielen Gemeinden heutzutage das Verhältnis zwischen den Meistbegüterten und den gewählten Gemeindeverordneten in ganz unangemessener Weise si verschoben hat, ja, daß vielfah die Gesamtzahl der Mitglieder der Gemeinderäte und Bürgermeisterei- versammlungen eine ganz unzulässige Höhe erreicht hat. Diesen Miß- ständen soll dadur abgeholfen werden, daß eine Vorschrift vorgesehen ist, nah welcher von dem Mindeststeuerbetrag wenigstens bie Hälste auf die Grundsteuer entfallen muß, und daß die Zahl der Meist- begüterten nicht mehr“ als die Hälfte ter Zahl der gewählten Ge- meindevertreter betragen darf. Zuglei ist dem Wunsche, den der

ß der als Sachverständiger.