1879 / 56 p. 2 (Deutscher Reichsanzeiger, Thu, 06 Mar 1879 18:00:01 GMT) scan diff

Nichtamtliches. Deutsches Reich.

Preußen. Berlin, 6. März. Beide Kaiserliche Majestäten empfingen heute den Besuch des Prinzen und der Prinzesfin Wilhelm von Baden.

Se. Majestät der Kaiser und König nahmen heute den Vortrag des Generals von Albedyll entgegen und em- pfingen den Besuch Sr. Königlichen Hoheit des Prinzen Friedrih Carl. E

Heute findet im Königlichen Palais eine musikalische Abendunterhaltung statt.

Se. Kaiserliche und Königliche Hoheit der Kronprinz iff, laut Meldung des „W. T. B.“, gestern Nachmittag nach einer stürmischen Ueberfahrt wohlbehalten in Dover eingetroffen.

__— Der Bundesrath, sowie die vereinigten Ausschüsse desselben für das Landheer und die Festungen und für Rech- nungswesen hielten heute Sißungen.

Jm S6élußprotokoll zu Artikel XIIl. des Handels- vertrages zwischen Oesterreih-Ungarn und Jtalien vom 27. De- zember 1878 ist unter §8. 3 die Gebührénfreiheit für die Ur- sprungszeugnisse vereinbart. Vermöge des Deutschland ver- tragsmäßig zustehenden Rechts der Meistbegünstigung werden deshalb auch die Ursprungszeugnisse für die aus Deutschland nach Jtalien gehenden Waaren ge- bührenfrei ausgestellt beziehungsweise visirt werden.

Amtlichen Nachrichten zufolge sind in den Distrikten von Smyrna, Saloniki, Cavalla, Varna, Rust- \{chuck und Adrianopel pestverdähtige Sympiome nicht beobachtet worden, vielmehr die Gesundheitsverhältnisse der dortigen Bevölkerung durhaus normale. Dagegen herrscht im Vilayet Aïdin (Smyrna und dessen Umgebung ausgenom- men) die Rinderpest in ziemlih starkem Grade.

Der internationale Gesundheitsrath in Konstantinopel hat in seiner leßten Sißung die Errich- tung von Beobachtungsstationen zwischen Batum und Trapezunt betreffs der russishen Provenienzen beschlossen und als Orte hierfür Rize und Hoppa bestimmt.

Ein dem Gesundheitsrath vorgelegtes Telegramm des Dr. Leontios vom 18. v. M. ergänzt den früher mitge- theilten Bericht über die Untersuhung in Senikowa dahin, daß die Aerzte nur 50 Rekonvaleszenten von Abdominal- Typhus vorgefunden haben, daß die Krankheit daselbst schon im Juli 1878 aufgetreten ist, und daß seit 14 Tagen keine neuen Erkrankungen konstatirt worden sind. Von den weite- ren, dem Gesundheitsrathe zugegangenen Mittheilungen ist zu erwähnen, daß nach einem Telegramm vom 20. v. M. aus Vodena dort keine epidemische Krankheit vorhanden ist, daß aber nah einer Meldung aus Trapezunt vom 25. v. M. in sieben Dörfern der dortigen Umgegend der Flecktyphus seit 6 Monaten in bösartiger Form, und zwar besonders unter den rumelishen Einwanderern herrscht.

Nachdem die tunesishe Regierung die von ihr bereits früher für die Provenienzen aus dem Schwarzen, Asowschen, Aegäischen Meere und Tripolis angeordnete 21 tägige Quaran- täne neuerdings auf alle Provenienzen von Griechenland und dem ganzen türkishen Reiche, ein)chließlich Egyptens, aus- gedehnt hat, finden die Provenienzen aus Tunis, wo-

Jelbst der Gesundheitszustand ein völlig normaler is, wieder *

im sämmtlichen europäischen Häfen, namentlih auc in Ftalien und Malta, ungehinderten Zugang.

Jn der gestrigen (15.) Sizung seßte der Reichs- tag die erste Berathung des Gesezentwurfs, betreffend die Strafgewalt des Reichstages über seine Mit- glieder fort. Der Abg. Dr. Hänel ging zunächst auf die Debatte der leßten Sißung ein, und betonte, daß dieselbe sih in einem ruhigen geshäftsmäßigen Tone abgewidckelt habe ; eine Ausnahme habe nur die Rede des Abg. von Kleist-Neßow gemacht, der mit größerer Erregung und Wärme seinen Standpunkt vertreten habe. Es sei dies sehr begreiflih, denn der Abg. von Kleist sehe in diesem Geseßentwurfe eine Aner- Éennung der Grundsätze, die er bisher stets vertheidigt habe. Dieser Geseßentwurf sei für den Abg. von Kleist und dessen Gesinnungsgenofßsen ein alter, guter Bekannter ; es müsse den- selben mit hoher Befriedigung erfüllen, daß er wieder Hand in Hand, Arm in Arm fih mit dem Reichskanzler wisse. Der Reichskanzler und der Abg. von Kleist ständen auf dem Stand- punkt, daß die spezifishe parlamentarische Redefreiheit nicht be- rechtigt sei, daß sie nur innerhalb gewisser Grenzen Gültig- keit haben solle. Aber mit solchen Argumenten, wie hier ge- schehen, werde Niemand von der Gefährlichkeit der Redefreiheit überzeugt werden. Redner suchte nachzuweisen, f

fällig seien. Abgesehen davon, daß die extreme Partei nur in winziger Anzahl im Hause vertreten sei, müsse man der- selben die volle Redefreiheit gewähren, um sie zu zwingen, ihre Gründe in der parlamentarishen Form zu diskutiren, damit sie so widerlegt werden könnten. Aus gleichem Grunde sei auch die wahrheitsgetreue Veröffentlihung und die vollste Oeffentlichkeit der Verhandlungen geboten. -— Man habe sich auf die Vorgänge in Breslau bei der leßten Wahl berufen, bei welher man genau dieselbe Stärke der Sozialdemokratie fkonstatirte, wie vor Erlaß des Sozialistengeseßes. Nun, das beweise doch gerade, daß Polizei- maßregeln nihts vermöchhten, und daß man durch sie nicht den gewünschten Erfolg erreichen werde. Der Reichskanzler habe emeint, daß diese Gesege zu milde ausgeführt würden; davon daß die Ausführung des Sozialistengeseßes eine viel härtere sei, als in den Jntentionen der Majorität gelegen habe, welche für tafselbe stimmte. Der Reichskanzler habe den Standpunkt des gemeinen Rechts betont, und eine Antithese vorgetragen zwishen den Mitgliedern des Reichstages und des Bundes- raths, die leßteren gégenüber den ersteren als misera plebs bezeihnet. Er glaube, die Antithese sei wenig glücklih ge- wählt, und auch nicht rihtig. Die Mitglieder des Bundes- raths genöfsen diplomatishen Shuß. Auch unterstellten sich ja die Herren nit der Disziplin des Hauses; wenn sie das thäten, wolle das Haus ihnen auch sehr gern die Privilegien, welche demselben zuständen, gewähren. So lange si die Herren der Disziplin dieses Hauses. aber niht unterwerfen wollten, so lange müßten sie zufrieden sein, auf dem Boden des ge- meinen Rechts zu Sten Daß Seitens der Freunde des Ent- wurfs der Standpunkt des gemeinen Rechts so sehr betont worden, sei überaus befremdend, jedenfalls sei der erste ursprüng-

daß die | Gründe, welche für die Vorlage geltend gemacht würden, hin- |

önne aber gar nicht die Rede sein, im Gegentheil finde er, |

lihe Geseßentwurf ein Ausnahmegeseß ganz analog dem Sozialistengeseß gewesen, wie Redner das an einzelnen Be- stimmungen nachzuweisen versuchte, die dem gemeinrectlichen Grundsaße non bis in idem direft widersprähen. Mit großer Kunstfertigkeit seien die privilegia favorabilia dieses Haujes in privilegia odiosa umgewandelt worden; darum habe dieser erste Entwurf auch in den weitesten Kreisen das Gefühl der Demüthigung des Reichstages hervorgerufen. Aber auch der gegenwärtige Entwurf beseitige noch immer zwei Verfassungs- artifel, einmal die Autonomie des Reichstags, dann auch die freie Publikation der Verhandlungen , das sei doch keine Kleinigkeit, und darum wisse er die Stellung des Bundesraths, der doch ein Wächter der Ver- fassung sein sollte, fich nicht recht zu erklären. Zudem bleibe es au unklar, warum der Reichskanzler bei aller seiner Ab- neigung gegen die spezifishe parlamentarishe Redefreiheit gerade im gegenwärtigen Momente sich zur Einbringung der Vorlage veranlaßt gefühlt habe. Ein wesentlihes Bedenken gegen leßtern liege in der Herabminderung der Würde und Autorität des Präsidenten. Die Tendenz des Gesetzes sei auch niht, wie wohl gesagt werde, die Ordnung und Dis- ziplin, auch die bestehende Redefreiheit aufrehtzuerhalten, son- dern vielmehr die Redefreiheit zurückzushrauben. Thatsächlih gebe es allerdings Grenzen für die Redefreiheit des Volks- vertreters; aber wer in der Welt sei im Stande, hier bestimmte Grenzen zu ziehen? Das Wort „Ungebühr“ vermöge es sicher- lih nicht. Weil also keine Grenze zu bestimmen sei, bleibe es bei dem gemeinrechtlichen Grundjaße: nulla poena sine lege. Zu den Strafmitteln der Vorlage übergehend, betonte Redner, daß die Strafe der Aus\{ließung auch nur auf Zeit niemals als bloßes Disziplinarmittel des Hauses in Anwendung kom- men dürfe, sondern nur auf Grund gerichtlichen Urtheils zu erfolgen habe. Man sage allerdings, es handle sich um eine Erweiterung der Autonomie des Reichstages, aber da könne er (Redner) nicht umhin, zu erklären, daß der Reichskanzler dur den ersten deutshen Justiz-Minister s{lecht unterrichtet worden sei. Wenn es wirklih die Absicht des Reichskanzlers sei, die Autonomie des Hauses zu erweitern, dann hätte ihm der deutsche Justiz-Minister sagen müssen, daß dies nur und am leichtesten durch einen Verfasjungsartikel zu er- reihen sei, welher dem Reichstage eine stärkere Ju- r isdiktion und dem Präsidenten die CExekutivgewalt zur Ausführung der Beschlüsse des Reichstags zusichere. Habe der Reichskanzler wirklich die Autonomie des Reichstags stärken wollen, dann habe er ja dur die Schuld des Staats- sekretärs für Justiz das gerade Gegentheil erreicht. Dieses Gese würde die Autonomie des Hauses s{hwächen und das Ansehen des Präsidenten untergraben. Eine ähnliche Geschäfts- ordnung wie sie dem Hause zugemuthet werde, kenne kein Parlament der Welt. Die Hinweisungen auf angebliche Ana- logien in England und Frankreich seien aber unzutreffend. Denn dort sei die Stellung der Parlamente eine ganz andere. Im Reichstage könne jeder Richter- spruch ein Mitglied auf eine bestimmte Zeit entziehen, in den genannten Ländern bedürfe aber ein solher Rihhterspruch erst noch der Bestätigung durch das Haus. Wolle irgend Jemand behaupten, daß die Durhbrehungen der Disziplin, die Exzesse in den Reden im englishen und französishen Parlament seltener vorgekommen seien, als im Deutschen Reichstage. Nicht blos wegen juristisher und theoretisher Bedenken, son- dern auch auf Grund der praktischen Erfahrungen sei er gegen das vorgelegte Geseß und er sei au gegen jede Resolution, gegen jede Abänderung: dèr Geschäftsordnung vor Allem in diesem Augenblick, denn sonst würde es scheinen, als handelte das Haus unter dem Drucke dieses Gesetzes. Was das Verbot der Verbreitung von Reden angehe, so glaube er nimmermehr, daß alle Polizeimaßregeln etwas helfen würden, dur tausend Poren drängen die Verhandlungen des Reichs- tages in die Oeffentlichkeit und man würde die Presse nur anreizen zum Verschleiern. Habe denn jemals eine Publikation gerihtliher Urtheile Schaden gebracht? Das Urtheil liege

| vor allen Augen ausgebreitet, und Niemand habe davon

Schaden. Die Vorlage fasse die Oeffentlichkeit in der Weise auf, wie es früher der Absolutismus gethan habe. Umgekehrt gebe es aber feine bessere Kontrole als die Oeffentlichkeit. Wäre es nicht eine Ungerechtigkeit, wenn man die parlamen- tarishe Strafe der Oeffentlichkeit übergeben wollte, die straf- baren Exzesse selbst aber verschleierte? Das Vertrauen auf die sittlihe Kraft des deutshen Volkes veranlasse ihn, gegen den Entwurf zu stimmen. E

Der Bevollmächtigte zum Bundesrathe Präsident des Neichs-Justizamtes Staatssekretär Dr. Friedberg bemerkte, es habe dem Vorredner gefallen, in seiner Ausführung gegen die Vorlage auch den Beamten anzugreifen, dem das Wenige, was an Reichsjustiz vorhanden, anvertraut sei. Seine Er- widerung werde an diese Rede niht heranreihen, aber den einen Vorzug werde sie haben: die Kürze der Zeit, die er dafür in Anspruch nehme. Der Vorredner habe in die Ver- urtheilung dieses Geseßentwurfes auch einen Entwurf An gezogen, der niemals diesem Hause vorgelegt worden fei, er habe geglauktt, daß das Haus mit den ihm obliegenden Ge- ichäften zu viel zu thun habe, als daß es noch Zeit haben

| follte über Gesezentwürfe, die für dieses Haus gar nit vor-

banden seien, eine sachliche Diskussion zu führen. Der Redner habe ferner gemeint, es sei eine Heuchelei, wenn von diesem Tische aus die Behauptung aufgestellt sei, der Entwurf beabsichtige nicht in die autonomischen Befugnisse des Hauses und in die Präsidialgewalt einzugreifen, und der Redner habe selbst ausgeführt, wie er sich einen Entwurf zur Verstärkung der Autonomie des Reichstages denke. Das sei sehr ansprehend, nur sei er davon ausgegangen, daß ein jolcher Entwurf blos die Befugnisse des Haujes stärken, nicht aber demselben auch Pflichten auferlegen sollte. Der vorliegende Geseßentwurf wolle dem Hause die Pflicht auferlegen, ungebühr- lie Ausschreitungen mit shwereren Strafen zu belegen, als die Geschäftsordnung gestatte. Die Meinung der Regierung gehe davon aus, daß bei neuen Rechten auch neue Pflichten auf- zuerlegen feien. Wenn dann der Redner einen großen Exfurs darüber gemacht habe, daß der Bundesrath die ihm obliegende Pflicht, ein Wächter der Verfaffung zu sein, hierbei verleßt

be, so glaube er, daß die Frage, ob eine Verfassungs- estimmung der Aenderung bedürftig sei, eben zur Kognition des Bundesrathes stehe. Wenn der Bundesrath eine solche Verfassungsänderung für nöthig hielte und niht 14 Stim- men sich dagegen aussprähen, dann sei die Sache erledigt. Dann habe der Vorredner es auch für zulässig gehalten, seine Persönlichkeit wiederholt in die De- batte zu ziehen; er habe seine Verwunderung darüber aus- gesprochen, daß der Leiter der Reichsjustiz seine technischen juristishèn Kenntnisse habe herleihen können, einem solchen

Geseze die Form zu geben. Damit wollte tr dur{blicken lassen, daß ein Jurist mit einem solchen Geseßze unmöglich einverstanden sein könne, daß man ihm einfach den Entwurf oftroyirt, und er armer Mann nit anders gekonnt habe, als fich Fe Formulirung herzugeben. Er würde seine Pflicht als Reichsbeamter verleßen und gegen die Wahrheit verstoßen, wenn er dur sein Schweigen auch nur die Möglichkeit der Annahme aufkommen ließe, als ob dieses Geseß wider seine Ueberzeugung von ihm ausgearbeitet worden sei. Er sei mit dem Inhalte vollständig einverstanden, weil er son seit langer Zeit der Meinung fei, daß an der Redefreiheit des Reichstags etwas krank sei. Würde der Entwurf die Remedur dagegen in einer anderen Jnstanz als im Reichstage selbst suchen, so würde das allerdings ungerechtfertigt sein; das sei aber nicht der Fall.

Der Abg. Frhr. Schenk von Stauffenberg erklärte, mit großem Erstaunen habe er soeben die Ausführung des Staats- jekretärs gehört, daß es nicht die Absicht gewesen sci, in die Rechte, Befugnisse und Jnitiative des Reichstages einzugreifen ; Wortlaut und Motive der Vorlage bewiesen das gerade Gegen- theil. Beim ersten Bekanntwerden dieses Geseßentwurfes habe sich dur ganz Deutschland eine hohgradige Erregung und selbst Entrüstung bemerkbar gemacht. Die Einbringung des Entwurfs, fowie die Verhandlungen hier im Hause hätten es

P

dem Präsidenten gewiß nicht leiht gemacht, die Verhandlungen fortzuführen. Mit der Vorlegung sollte Seitens des Bundes- rathes keine Kritik über die bisherige Geschäftsführung des Präjidiums geübt werden; lese man aber auf Seite 1 der Motive: „Die bisherige Geschäftsordnung hat vielleiht aus- gereiht, um die Ordnung nothdürftig aufreht zu er- halten“ fo liege darin, falls die Worte der deutschen Sprache noch eine Bedeutung hätten, die shärfste Kritik gegen die Amtsführung der Präsidenten, die überhaupt ausgesprochen werden könnte. Die Hinweise auf England und Amerika ent- behrten jeder Unterlage, weil die konstitutionellen Verhält- nisse mit den deutschen sich gar niht in Vergleich stellen ließen. Die Hauptsache blieben die Motive \{huldig, nämlich den unwiderleglihen Nahweis von der Unentbehrlichkeit der ver- \chärfenden Bestimmungen. Alles, / was seit dem konstituiren- den Reichstage, ja scit dem Zollparlament in dieser Hinsicht an Ausschreitungen vorgekommen sei, sei durchaus minimal. Das Argument, das sih als Ornament in den Motiven finde, nämlich die Verhütung von Beleidigungen dritter Personen, sei auh nicht durch einen cinzigen konkreten Fall belegt. Redner erklärte sh für die Vornahme der zweiten Berathung im Plenum.

Staatssekretär Dr. Friedberg erwiderte, der Vorredner habe ausgeführt, daß der Geseßentwurf namentlich in seiner Motivirung gewissermaßen ein Mißtrauen gegen die bisherige Führung der Präsidialgeschäfte enthalte, und habe sich zum Beweis auf die Worte der Motive be- rufen, daß die vorhandenen Bestimmungen der Geschäfts- ordnung vielleiht ausreihten, um die Ordnung im Hause nothdürftig aufrecht zu erhalten, aber unzulänglich feien, um den schädlichen, ja gefährlichen Wirkungen von Ausschreitun- gen in den Reden außerhalb des Sißungssaales vorzubeugen. Das sei nicht der Fall, vielmehr sei ausdrücklich gesagt, daß der Präsident niht in der Lage sei, mehr zu thun, sondern ihm vielmehr die Geseßgebung zu Hülfe kommen müsse. Der Vorredner Yabe ferner wiederholt, was der Abg. Lasker bereits ausgeführt habe, daß es doch vor Allem Sache der Régierungen gewesen wäre, das Bedürfniß nah einem folchen Geseße nahzuweisen. Nun könne das Haus überzeugt sein, daß die Regierung eine Anzahl von Stellen demselben ver- lesen könnte, welche den Mißbrauch der Redefreiheit bewiesen und das Bedürfniß der Vorlage zur Ge- nüge erhärteten. Jndeß werde er dem Beispiel des Abg. Lasker folgen und weder Aeußerungen verlesen, noch Namen nennen, zumal die Redner, welche er im Sinne habe, sich noch im Hause befänden. Was nun ferner die Motive anlange und die Vorwürfe, die der Abg. Lasker der Gründlichkeit derselben gemacht habe; so müsse er sagen, daß er auf die herbe Kritik, als ob fie „auf der Straße aufgelesen“ wären, niht zurückfommen möge. Was über englische Rehtsübung in den Motiven stehe, beruhe auf Studien, die man, wenn man nicht selbst in England lebe, doch nur anstellen könne aus der Literatur und dem, was man sonst in den Rechts- quellen finde. Und danach bestreite er ganz entschieden die Behauptung des Abg. Lasker, daß das im Parlamente straf- frei gesprohene Wort straffrei bleibe, wenn es gedruckt fei. Das gedruckte Wort sei in England dem gemeinen Recht un- terworfen. Er bleibe dabei, daß die fo apodiktisch ausge- \sprochene Behauptung des Abg. Lasker unrichtig sei, es müß- ten denn alle Quellen lügen.

Der Abg. Bebel bemerkte, daß eine Reihe von scharfen Aeußerungen, welche im Parlamente des Norddeutschen Bundes gefallen seien, bei Weitem noch alle diejenigen überträfen, auf welhe in den Motiven des Entwurfs zurücgegangen werde. Die Motivirung des Geseßentwurfs wie sie bisher gegeben sei, beweise, daß die Regierung mit der Vorlage eîin- fah die Sozialdemokraten aus dem Hause drängen und zu- gleih die gegen dieselben herrshende Stimmung zur Beseiti- gung der Redefreiheit benußen wolle. Vor der Grün- dung des Deutschen Reiches sei die Redefreiheit im preußischen Abgeordnetenhause weit excessiver ausgeübt, als es jemals im Reichstage vorgekommen sei. Redner citirte zum Beweise Stellen aus Reden während der Konfliktszeit. Leßtere habe selbs im Herrenhause, welhes doch eigentlih für eine Art „parlamentarisches Offiziercorps“ gelte, viel herbe Worte gezeitigt, ohne daß ein Geseß, wie das vorliegende, als noth- wendig erachtet worden wäre.

Der Präsident von Forckenbeck rügte die vorstehende Be- zeihnung des Herrenhauses als unparlamentarisch.

Der Abg. Bebel fuhr demnächst fort, man möge doch nicht glauben, daß man mit solchen Geseßen der Sozialdemokratie schade oder sie gar damit beseitigen könne. Diese Waffe, wenn das Haus dieselbe der Regierung gäbe, würde sih gar bald gegen die übrigen Reichstagsmitglieder kehren. Redner kritisirte fjodann die Ausführung des Sozialistengesebes und besprach demnächst den Einfluß, welchen die offizióe Presse auf die parlamentarishen Körperschaften zu üben s{iene.

Als er dies dur ein Beispiel zu belzgen versuchte und hierbei eine Kritik der Geschäftsführung des Präsidenten ein- fließen ließ, bemerkte der Präsident von Forckenbeck, er könne eine Kritik seines gegenwärtigen Präsidiums nicht zulassen. Er müsse sich zwar eine Kritik seiner Geschäftsführung aus der vorigen Session, da dieselbe abgeschlossen sei, gefal- len lassen ; eine zu weit gehende Kritik könne indessen dieß; lich die Fo ge haben, daß ihm die Geschäftsführung überhaupt unmögli gemacht werde.ÿ

zielten Prämieneinnahme

Der Abg. Bebel bedauerte, wenn er zu weit gegangen ei; in seiner Absicht habe nicht gelegen, den Präfidenten zu verlegen. Hierauf verglih Redner die Pflichten, Rechte und Freiheiten der Mitglieder der Parlamente anderer Staaten mit denen eines deutshen Abgeordneten und kam zu dem Schlusse, daß nirgends ein so geringes Maß von parlamen- tarisher Freiheit bestehe, wie in Deutschland. Dadurch wür- ben dann auswärtige Preßurtheile provozirt, wie das kürzlich ausgesprochene, daß die Vorlage eines Gesetzes, wie das in Rede stehende, allein in Deutshland möglih sei. Er bitte daher, den Entwurf abzulehnen.

Hierauf wurde die Diskussion geschlossen.

Persönlih bemerkte der Abg. Dr. Lasker, daß er seine Behauptung, daß Publikationen der Parlamentsreden in Eng- and straflos seien, dem Staatssekretär Dr. Friedberg gegen-

M her aufrecht erhalte. ; er berufe sih auf die neueste Ausgabe

won May.

Die Verweisung der Vorlage an eine Kommission wurde darauf abgelehnt ; die zweite Berathung wird also im Plenum tattfinden.

Es folgten Wahlprüfungen ; Namens der Ill. Abthei-

Hung beantragte der Abg. von Kardorff, betreffend die Wahl

es Abg. von Kalkstein im 4. Wahlkreise des Regierungs- bezirks Danzig, dem Reichskanzler die in den Aften befind-

Miche Beschwerde d. d. Darslub, den 31. Juli 1871, mit dem

Ersuchen zu überweisen, wegen der bei der Wahl daselbst an- geblih vorgekommenen Unregelmäßigkeiten eine gerichtliche Intersuhung einleiten zu lassen; und betreffend die Wahl des Abg. von Waldow-Reizenstein im 5. Wahlkreise des Re- gierungsbezirks Frankfurt, den Reichskanzler zu ersuchen, die in den Akten befindliche Beschwerde d. d. Reppen, den 31. Juli 1878, wegen angeblicher polizeiliher Wahlbeeinflussung unter- uen, event. Remedur eintreten zu lassen.

Im Namen der V. Abtheilung beantragte der Abg. Uhden bezüglih der Wahl des Abg. Wöllmer die in der Eingabe desselben vom 18. September v. J. aufgestellten Beschwerde- punkte, rit Ausnahme des sub Nr. 5 aufgeführten, zur Kennt- niß des Reichskanzlers behufs Untersuhung und eventueller Rektifikation zu bringen, mit dem Ersuchen, dem Reichstage von dem Resultate Mittheilung zu machen. Diese Anträge wurden ohne Diskussion vom Hause angenommen, worauf sich dasselbe um 41/2 Uhr auf Freitag 11 Uhr vertagte.

Gr Et R E E E E

—— Da bisher in den einzelnen Landestheilen hinsichtlich der Heranziehung der Versicherungsgesellshaften be- ziehungsweise der Agenturen derselben zu den Gemeinde- Einkommen steuern nah verschiedenen Grundsäßen ver- fahren und hierdurch insbesondere mehrfach eine Doppel- besteuerung herbeigeführt worden ist , so hat der Minister des Innern dur Cirkularerlaß vom 30. Juni d. F. zur Be- seitigung der in dieser Beziehung entstandenen Zweifel Fol- gendes bestimmt.

Soweit nach den zur Zeit bestehenden Gemeinde-Ver-

M fassungsgesezen überhaupt eine Heranzichung der juristischen

Personen und Aktiengesellshaften zu den Gemeinde-Einkom- mensteuern zulässig erscheint, ist die Berehnung des steuer- pflihtigen Einkommens und die Vertheilung desselben auf verschiedene steuerberehtigte Gemeinden in der nachstehend bezeihneten Weise zu bewirken:

1) Als steuerpflihtiges Einkommen der Versiche: rungsgesellshaften is nicht die an die Aktionäre vertheilte

Dividende, fondern der aus dem Ueberschusse der cFahres-

einnahmen über die Jahresausgaben sich ergebende 7Fahres- gewinn und zwar nah dem Durchschnitte der leßten 3 Ge- shäftsjahre anzusehen. Zu den Ausgaben sind die für die jährlihe Abnußung von Gebäuden und Jnventarienstücken üblichen Abschreibungen, die Schaden- und Prämienreserven, die zur Verzinsung von Schulden und zur Zahlung von Tantièmen an Beamte und Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsraths verwendeten Beträge, nicht aber die Ein-

Elagen in den Reservefonds und die zur Amortisation der

Stulden und des Grundkapitals beziehungsweise zur Tilgung einer Unterbilanz sowie zu Verbesserungen und Geschäfts- erweiterungen verausgabten Beträge zu renen.

2) Als steuerberechtigt sind diejenigen Gemeinden anzusehen, in welchen sich der Sig der Versicherungsgesellschast bezw. eine Zweigniederlassung oder eine solche Agentur der-

elben befindet, welche ermächtigt ist, Rechtsgeshäste im Namen

Und für Rechnung der Gesellschaft selbständig abzusczließen.

3) Bei der Vertheilung des steuerpflihtigen Einkommens auf die verschiedenen steuerberech- igten Gemeinden if das Einkommen aus den Zins- erträgen des Grundkapitals und Reservefonds niht ausscließ- lih der Gemeinde, in welcher sich der Siß der Gesellschaft befindet, anzurehnen. Vielmehr sind diese Erträge lediglich als ein Theil des Gesammteinkommens aus dem Gewerbe- betriebe für welchen die betreffenden Kapitalien, Gebäude 2c. vestimmt sind, anzusehen.

Von diejem Gesammtbetrage des Einkommens aus dem Gewerbebetriebe sind vorab der Gemeinde, in welcher si dcr Siß der Gesellschaft befindet, 10 Prozent des Steuerobjekts zu überweisen. Von den übrigen 90 Prozent hat jede Gemeinde, in welcher sich eine Zweigniederlassung oder eine zum selbst- tändigen Abschluß von Rechtsgeschäften berehtigte Agentur befindet, diejenige Quote zu beanspruchen, welhe dem Ver- hältniß der in dieser Zweigniederlassung oder Agentur er- 1 zur Gesammt-Prämieneinnahme der Gesellshaft entspriht. Der nach Abzug der Antheile der auswärtigen steuerberehtigten Gemeinde verbleibende Restbetrag der obigen 90 Prozent ist in der Gemeinde, in welcher

) der Siß der Gesellschaft befindet, in Verbindung mit dem Präzipualbetrage von 10 Prozent zur Besteuerung zu bringen. Dppeln, 5. März. (W. T. B.) Die heute hier behufs einer Kundgebun zu Gunsten der Wirthschafts- politik des Reichskanzlers tagende oberschlesisce &%andesversammlung war von etwa 500 Theilnehmern Vesuht. Es wurde einstimmig beschlossen, dem Fürsten Bis-

o arf den Dank Oberschlesiens auszusprehen. Weiter erklärte

sih die Versammlung für s{leunigste Wiedereinführung von Ajenzöllen und beshloß außerdem, an den Reichstag eine Pe- lition zu rihten, dem herrshenden Nothstande durch Erweite- Ung des Systems der indirekten Steuern, durh eine Umge- staltung des Tarifwesens und durch eine Aenderung der Han- dels- und Zollpolitik abzuhelfen.

Oesterreich-Ungarn. Wien, 5. März. (W. T. B.)

Eine Meldung der „Polit. Korresp.“ aus Konstantinopel von

gestern bestätigt, daß eine griehische Freishärlerbande

| Bosniens und der Herzegowina.

| NRorkes Drift heranrückenden Obersten Durnford

einen Einfall in das thessalishe Gebiet gemacht hat. Da die Grenzgegend stark von türkishen Truppen beseßt sei, so wäre das Umsichgreifen einer Jnsurrektion kaum zu besorgen. Pest, 5. März. Jn der heutigen Sißung des Aus- \chusses der österreihishen Delegation erflärte Graf Andrassy in Beantwortung verschiedener Anfragen, daß die staatsrehtlihe Stellung der okkupirten Länder von den beiderseitigen Legislativen bestimmt werden würde, sobald der Zeitpunkt hierfür gekommen wäre. Heute würde eine Diskussion darüber unzuträglich sein. Jn Betreff Novibazars handle es sich nicht um eine Okkupation, sondern um ein bloßes Garnisonreckt in einzelnen Orten unter Aufrechterhaltung der türkischen Herrschaft. Von einem Aufgeben dieses Rechts sei keine Rede; aber die Regierung habe auch gegenwärtig keine Veranlassung, die Ausübung dieses Rechtes zu beschleu- nigen, die in voller Freundschaft mit der Türkei ohne wesent- liche Opfer vollzogen werden solle. Bezüglih der Gren z- regulirungen theilte Graf Andrafsÿ mit, daß Rußland die Mächte aufgefordert habe, in Betreff dieser Frage an die Delimitationskommission detaillirte Jnstruktionen zu erlassen, doch sei eine Revision des Berliner Vertrages von keiner Seite angeregt worden, eine folhe würde auch von keiner Seite angenommen werden. Jn der Frage Betreffs des Forts Arabtabia sei allerdings eine definitive Lösung dur eine Botschafterkonferenz in Aussiht genommen worden, worüber noch verhandelt werde. Ein positiver Antrag auf Aufhebung der Beschränkung, daß der Gouverneur von Ostrumelien ein Christ scin müsse, sei nicht gestellt worden. Von den Bulgaren würden auch die Balkanabhänge zur Sicherung einer Defensiv- stellung verlangt. Diese Frage sei eben der Prüfung der Delimitationskommission vorbehalten. Eine Botschafter- fonferenz in Berlin sei von keiner Seite angeregt

| worden. Der Aus\{uß hat ferner mit allen Stimmen

gegen zwei den Antrag des Abg. Sturm, nach welchem das Heereserforderniß für die okfupirten Pro- vinzen pro 1879 mit 30 Millionen Gulden festgestellt wird (anstatt mit ca. 341/24 Millionen Fl., wie die Regierung verlangt hatte), angenommen. Sodann wurde ein weiterer Antrag Sturms, durch welchen die Regierung aufgefordert wird, die Okkupationstruppen noch unter die von ihr für das 4. Quartal in Aussiht genommene Anzahl zu vermindern und auf den Friedensstand zurückzuführen, mit 11 gegen 8 Stimmen angenommen. Bei der Berathung eines ferneren Antrages Sturms, betreffend die Nihtverwendung der bewillig- ten Gelder für Administrationsauslagen gab der Minister Hofmann ein ausführlihes Exposé über die Verhältnisse Die weitere Berathung dieses Antrages wurde s{hließlich auf morgen vertagt.

Großbritannien und Jrland. London, 3. März. (E. C.) Es ist eine amtliche Depesche des englishen Befehls- habers im Zulukriege, Lord Chelmsf ord, vom 29. Fanuar aus Pietermarißburg eingetroffen, in der der Gene- ral zwar genaue Mittheilungen über seine Märsche mit dem Haupttheil der Glynshen Kolonne macht, über den Ver- lauf des unglüdcklichen Gefehtes bei Jsandula nur Un- vollständiges berichten kann, da er gleichfalls auf die Erzäh- lungen einzelner Flüchtlinge angewiesen war, die durch die Tagespresse bereits bekannt geworden sind. Aus seinen eige- nen Angaben geht indeß soviel hervor, daß der General bereits am Morgen des 22. über die Ansammlung feindlicher Zuluhaufen zwischen seiner Rekognoszirungsabtheilung und dem Lager unterrichtet war und mit der Mehrzahl seiner Truppen nah dem Lager hin aufbrach. Die Zulus zogen fich vor ihnen zurück, 300 wurden dabei abgeschnitten und 50 von ihnen getödtet. „Als diese Operationen vor fich gingen, empfing Oberst Glyn um 9 Uhr Morgens eine kurze Note vom Oberst-Lieutenant Pulleine, daß Feuern zur Linken des Lagers hörbar werde, ohne Angabe weiterer Einzelheiten.“ (Dies Feuern rührte wahrscheinlich von dem Treffen des E mit den Zulus her.) „Jh fandte deshalb“, fährt General Chelmsford fort, „meinen Ädjutanten sofort nah dem Gipfel eines hohen Hügels, von wo aus das Lager gesehen werden konnte. Er blieb dort wenigstens eine Stunde lang mit einem sehr starken Teleskop, konnte aber nihts Ungewöhnliches erblicken. Da ih deshalb keinen Grund zur Beforgniß um die Sicher- heit des Lagers sah, gab ih dem Oberst Russell Befehl zum Rückzuge 2c.“ Dann suchte der Oberbefehlshaber einen neuen Lagerplaß und rückte erst gegen Abend weiter, worauf er das Lager genommen und die Besaßung niedergemetßelt vorfand. :

Uebec die Stärke derx Lagerbesaßzung macht er fol- gende genauere Angaben : Artillerie: 2 Offiziere, 78 Mann, 2 Geschüße; 2 Raketengeshüße: 1 Offizier, 10 Mann; 1. Ba- taillon 24. Regiments: 15 Offiziere 334 Mann; 2. Bataillon 24. Regiments!: 5 Offiziere, 90 Mann; berittene europäische Abtheilung: 5 Offiziere, 204 Mann; Natal-Eingeborene: 19 Offiziere, 391 Mann; Natal-Pioniere: 1 Offizier, 10 Mann; Oberst Durnf ords Abtheilung (Eingeborene) : 18 Offiziere, 450 Mann. Summa der Eingeborenen: 851 Mann; Summa der Europäer: 772 Mann (darunter 66 Offiziere), Oberst-Lieutenant Pulleine, 1. Bataillon 24. Regiments, war als Kommandant zurücgelassen mit dem strikten Befehl, fich auf die Vertheidigung des Lagers zu be- schränken.

Frankreich. Paris, 5. März. (W. T. B.) Tirard, Deputirter von Paris, ist zum Handels-Minister ernannt worden und hat das Portefeuille übernommen, nachdem er sich mit dem Conseils-Präsidenten Waddington und dem Finanz-Minister Léon Say über die Fragen der allgemeinen Tarife und der Handelsverträge verständigt hatte.

Nußland und Polen. St. Petersburg, 3. März. Der heutige „St. Petersburger Herold“ veröffentlicht eine auf die Krankheit des Thürhüters Prokofjew bezüglihe Gegen- erflärung des Professors Dr. Botkin, die ih Jhnen mit Rücksicht auf das Jnteresse, welches diese Angelegenheit verdient und gefunden hat, nachstehend dem vollen Wortlaute nach mittheile: : :

In der Sitzung des medizinishen Conseils unter dem Prä- sidium des Verwesers des Ministeriums des Innern am 26. De- zember 1878 sprach die Mehrzahl der Mitglieder des Conseils ihre Meinung dahin aus, daß die in Wetljanka herrschende Epidemie durch Pestinfektion bedingt sei. Tief überzeugt von der Aufrichtigkeit dieses Urtheils machte ich in der Administrativ- sißung der Gesellschaft der russishen Aerzte vom 28, Dezember vorigen Jahres den Mitgliedern diefer Gesellschaft den Vor- \{lag, si mit der Literatur über die Menschenpest zu beschäf- tigen, indem ih einerseits die der Kürze wegen ungenügenden Darstellungen dieser Krankheitsform in den gebräuchlichsten neuesten

Lehrbüchern, andererseits die Popularisirung der wissenschaftk- lichen Kenntnisse über die Krankheit, bei deren bloßer Nennung {hon die Panik die Leute ergreift, im Auge hatte. Tief überzeugt, daß nur das wahre Wissen der Panik, dem pathologishen Zustande des mens{blihen Gehirns, welcher in gewissen Fällen niht weniger als eine Epidemie s{haden kann, entgegen zu wirken vermag, konnte ih mi nit auf die Sißungsverhandlung über diese Frage allein bes \{ränken und bat die Mitglieder der Gesellshaft der russischen Aerzte, ihre Studien in dieser Frage fortzuseßen. Im Laufe dreier Sißungen widmete sih die Gesellsbaft der russischen Aerzte fast aus- \{ließlich der Berathung über die Pestinfektion Überhaupt und über die Ausbreitung der gegenwärtigen Epidemie in Rußland im Spe- ziellen. Hierbei unterlies ih es nicht, beständig die Unwahrschein- likeit einer Ausbreitung der Pest in Rußland in dem Maßstabe, wie sie in früheren Jahrhunderten bei uns auftrat, hervorzuheben. Zugleih sprach ic sowohl in den öffentlihen Sißungen der Ge- jellschaft d-r russishen Aerzte, als auch in meinen Vorlesungen in der medico-cirurgischen Akademie wiederholt die Ansicht über die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer größeren oder geringeren Zahk von Erkrankungen an der Pestkrankheit, in verschiedenen Gegenden Rußlands, ohne die {weren Symptome derselben nit im Sinne der Mortalität und der Ansteckung und Uebertragung derselben, aus. Wiederholt wies ih in meinen Fflinisben Vorlesungen, wie au in den Sigzungen der Gesellshaft der russishen Aerzte darauf hin und demonstrirte öffentlih in der Klinik an Kranken die Abweichung in dem klinishen Verlauf unserer gewöhnlichen Typhen, indem ih auf das Auftreten primärer Petehien beim Fleck- und Unterleibs- tvphus und auf die akute Anshwellung der Lymphdrüsen in den Achselhöhlen, mit größerer oder geringerer Affeftion derselben, bei gleichzeitiger Weränderung der Milz und Leber, die kaum bei der flinishen Untersuchung bemerkbar warea, bins- wies. Dur derartige Fälle veranlaßt, sprach ih wieder- holt die Vorausfezung aus, daß das Pestgist {on bis zu uns ge- drungen fei, welhes jedoch wegen gewisser, uns unbekannter Bedin- gungen, die den Peststoff paralysiren, in seiner \pezifishen Form nicht aufgetreten sei. Am 13. Februar kam ih in die Lage, in Gegen- wart meiner Zuhörer den Patienten Naum Prokofjew, welcher das volle klinishe Bild der Pest in ihrer milden Form darstellte, zu untersuben. Naum Prokofjews Krankheitsbild ergab eine afute, febrile Erkrankung fkontagiösen Charakters mit {nellen Anschwel- lungen der Lymphdrüsen in der linken Achselgegend, die in weniger als 24 Stunden fic entwidckelten und die in Eiterung übergingen und am 26. Tage von selbst aufbrahen. Am 28. Tage wurde das Fieber, welches unterdessen nachgelassen hatte, wieder heftiger und im Laufe einer Nacht shwollen die reten Achseldrüsen an und zeigten eine akute Entzündung. Auf der Haut des Kranken fanden sich bei der öffentlihen flinischen Besichtigung desselben am 13. Februar kleine Flecken petechialen Charafters und verschiedener Färbung: die einen bellroth, zinnoberfarbig; andere, hauptsächlich auf den Händen, von der Farbe der Petechie bläulih gefärbt, wieder andere endlih mit einer weniger hellen Färbung braunroth. An einzelnen Stellen der Haut waren Spuren von früheren Petechin in Gestalt kleiner Punkte in der Epidermi- \{icht bemerkbar. Auf der Haut des Ünterleibes endlich waren unter den Petechialfleden drei Bläschen von der Größe eines Stecknadelkopfes bemerkbar, welche sich ofen- bar aus vorhergehenden Petechien entwickelt hatten. Im Harn des Patienten fand sich Eiweißstoff *), die Temperatur zeigte 39,2 Gr., während der Demonstration zählte der Puls 120 Schläge, 20 Athem- züge, die Achseldrüsen waren nicht scharf abgegrenzt angeschwollen. Obschon bei der Erklärung des vorher geschilderten Bildes der Krankheit nichts mit einem syphilitishen Prozeß Gemeinsames zu finden is, wurde doch der Patient öffentlih in der Klinik auch in dieser Rih:ung ausgefragt. Derjenige, welcher die öffentlichen Ausfagen eines Patienten auf eine wahrscheinliche konfsti- tutionelle Syphilis, welche vor 10 Jahren aufgetreten war und Hin- weisungen auf ein Geschwür, welches vor drei Jahren sich gezeigt hatte, angehört hat, der wird verstehen, daß ein solcher Fehler in der ch2 iagnose für einen Professor der Klinik für innere Krankheiten unverzeihlih wäre und zwar in Anbetracht der konstatirten akuten Erkrankung kontagiôösen Charakters mit Petechien auf der Haut, mit aufgegangenen Bubonen in der linken Achselhöhle und mit akuter Anshwcllung der Drüsen in der rechten Achselhöhle. So wünschenswerth es auch wäre, daß ih mich in diesem Falle geirrt bätte, so kann ich doch einen Fehler nicht zugeben und bin tief durchdrungen von der Richtigkeit meiner Ueberzeugung. Jch würde es mir nit erlauben, meine Meinung öffentlih zu vertheis digen, wenn es nur meine Person betreffen würde, und würde und werde, ohne zu klagen, alle gegen mich gerichteten Anklagen und selbst die unwürdigsten Însinuationen ertragen wenn dieses Alles nur dem Gemeinwohl zum Heil gereihte. Aber bereits früher, so wohl in den Sitzungen der „Gesellshaft der Aerzte“ und den Sißungen der der St. Petersburger Duma beigegebenen Sanitäts- kommission, wie auch in meinen Vorlesungen habe ih mich wieder- bolentlich in Bezug auf die Nothwendigkeit und Wichtigkeit aus- gesprochen, scharf und aufmerksam das Auftreten der ersten Fälle von Erkrankungen an der leichten Pestform zu verfolgen und zu be- obacten, die Fälle, welhe den bekannten Gegenstand des Streites bei allen Epidemien ausmachten: Deshalb halte ich mi für ver- pflichtet, meine ausgesprochene Meinung als meine alleraufrichtigste wissenshaftlihe U-berzeugung ungeachtet aller Angriffe aufrecht zu erhalten, welhe man gegen mich richtet und welhe ich mit aller Standhaftigkeit zu ertragen wissen werde. Professor Botkin.

Eine in dec heutigen Nummer der „St. Petersburgskie Wjedomosti“ enthaltene Korrespondenz, welche für die Ansicht Botkins eintritt, bemerkt unter Anderm: „Alle jungen russi- schen Aerzte und Studenten stehen in Phalanx für Professor Botkin ein.“

§5. März. (W. T. B.) Der Reichskanzler Fürst Gortschakoff empfing heute den neu ernannten engli)hen Botschafter, Earl Dufferin. Nach hier eingegangener telegraphisher Nachricht sind die deutschen u nd die österreichischen Aerzte in Wetljanka eingetroffen und hatten bereits eine Konferenz mit dem Dr. Krasjowsfy.

6. März. (W. T. B.) Lord Loftus hat si gestern von Sr. Majestät dem Kaiser verabschiedet. Der Mini- ster des Jnnern hat der deutshen „Petersburger Zeitung“ den Straßenverkauf entzogen.

Nach einem Telegramm der „Jnternationalen Telegraphen- Agentur“ aus Taschkend, vom 5. d. M., entstand nah dem Tode Schir Ali’'s am 21. Februar in Mazarischerif ein Aufruhr, aus dem shließlich Jacub Khan sieg-ei hervorging. Jn Jerabad cirkulirt das Gerücht, neben Jacub Khan würden Schir Ali's Sohn, Jbrahim Khan, und Schir Ali's Enkel, Ahmed Khan, als Prätendenten auftreten.

General Graf Loris-Melikoff telegraphirt aus Astrachan, vom 5. d. M.: Jn Wetljanka ist ein 14 Mo- nate alter Knabe an einer bräuneartigen, mit Ruhr verbun- denen Lungenentzündung, welche sih aus einer zwei Monate dauernden chronischen Krankheit ausgebildet hatte, gestorben. Die von dem österreichishen Professor Bessiadeßky in Gegen- wart des Dr. Krassowsky und anderer russisher und auslän- discer Aerzte vorgenommene Sektion hat diese Diagnose be- stätigt.

*) Der Eiweißstof im Harn verschwand im Verlaufe des 16.

und des 17, Februar. In der Nacht auf den 18. Februar trat auf der Oberlippe und auf dem unteren Theil der Nase ein kritischer Ausschlag (herpes) hervor; ein neuer Beweis, daß ein akuter, an-

steckungsfähiger Fall vorlag.