1904 / 88 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Thu, 14 Apr 1904 18:00:01 GMT) scan diff

versichern : die deuts-hannoversche Partei will gar keinen Krieg, fie will mitarbeiten an allen Aufgaben des preußischen Staates, aber die Mitglieder wollen niht ihre Üeberzeugung dahin verleugnen, daß sie an dem, was sie für unrecht halten, id beteiligen. Der Minister warf der Partei ferner vor, daß sie einen Unterschied mache zwischen deutschen und preußischen Untertanen; sie habe wohl deutsche, aber keine preußischen Untertanen. erge en V ih feierli Verwahrung einlegen. Die Treue bewährt sich im Unglück, und wenn einmal, was Gott verhüten möge, schwere Tage für unser Vaterland kommen sollten, fo werden wir zusammenstehen und die Treue aufs neue bewähren. Die deuts: hannoversche Partei hat 1 ne eine Verlegung von Ver- fassung und Geseß zu Schulden kommen lassen, aber die preußischen egierungsorgane haben nicht das Recht, uns in der Ausübung unserer verfassungsmäßigen Rechte zu bekämpfen. Ich wende mich an die verbündeten Regierungen und das Haus, uns in diefen unseren Rechten zu \{üten. ui Preußischer Minister des Jnnern Freiherr von Hammer- El;

Meine Herren! Jch werde demselben Gedankengange folgen, den der Herr Vorredner eingeshlagen hat. Derselbe hat damit begonnen, sih darüber zu beklagen, daß der Vorstand oder der Berbandsvorstand der Kriegervereine in Nordhannover seine Mitglieder davor gewarnt hat, sih welfisch zu betätigen, weil das mit den Zwecken und mit dem Charakter der. Kriegervereine nit übereinstimme. Ja, ih kann dem Herrn Vorredner nicht in Aussicht stellen, meinerseits irgend- welhen Einfluß auf die Leitung der Kriegervereine aus- zuüben, daß diese Warnung abges{wäht werde. Ich halte diese Warnung für sehr notwendig. Die preußischen Krieger- vereine sind dazu da, die Gesinnung gegen ihren König, dem sie gedient haben, aufrecht zu erhalten und im Leben zu betätigen. (Sehr richtig! rets.) Dieses tun ehemalige Königlich preußishe Soldaten nicht, wenn sie sich aktiv beteiligen an welfifhen, antipreußischen Demonstrationen und Agitationen. (Sehr rihtig! rechts.) Das ist der kurze Sinn der Warnung, und diese Warnung ist erlassen im eigenen Interesse der Leute, weil sie, wenn Fe sih verfehlen, ausges{lossen werden müßten aus den Krieger- vereinen und, wenn sie ausgeshlossen werden, auch derjenigen Nechte verlustig gehen, welche sie dur die frühere Teilnahme \fih erworben haben. Ih hoffe, daß diese Warnung bei den Kriegervereins- mitgliedern ihre wohltuende Wirkung üben wird. i

Der Herr Vorredner hat dann weiter die Klage gerichtet gegen Organe der Königlih preußishen Regierung und gesagt, er würde s{chweigen, wenn nicht der Minister des Innern felbst die übrigen Parteien aufgefordert hätte, in dem Kampfe gegen die Welfen zusammenzuhalten. Es könnte ja vielleicht zweifelhaft er- scheinen, ob ich als Königlich preußischer Minister über die Behand- lung, die die Königlih preußishe Regierung einer ihrer Provinzen zu- teil werden läßt, hier im Reichstage Rede und Antwort zu stehen habe. Jch antworte dem Herrn Vorredner troßdem, weil ih an- erkenne und weil gerade au durch meine Behauptungen, auf die der Herr Vorredner eingegangen ist, festgestellt worden ist, daß eben die Treue zum Reiche, das Verhältnis des Einzelnen zum MNeiche bei den welfishen Agitationen stark mit in Frage kommt. Unrichtig ist es, wenn der Herr Vorredner sagt, daß i, als ih in der Versammlung in Havrnover gesprohen habe, erklärt hätte: „aufs neue" sei der Krieg erklärt. Wenn ih mihch rest entfinne und wie ih mich eben noch überzeugt habe aus der Darstellung meiner Nede, die das welfische Organ gebräht hat, habe ih nicht gesagt: „aufs neue", sondern: „noch immer" (Widerspru aus der Mitte); „noch immer", bitte!:

Schulter an Schulter zusammenzustehen zegen eine Partei, welche noch immer und heute unverhüllter als jemals dem preußischen Staate den Krieg erklärt, das ist die welfishe Partei. Das ift das Referat der „Deutschen Volkszeitung“, also desjenigen Organs, auf das der Herr Vorredner vielleicht am meisten Gewicht legt.

Abgesehen von diesem kleinen Irrtum, der übrigens ohne wesent- lihe Bedeutung ist, kommt es doch auf die Sache an, und da bleibe ih bei meiner Behauptung in Hannover vollsiöndig stehen. Ich habe, wie ich auch im Abgeordnetenhause erklärt habe, diese Worte in Han- nover mir sehr reiflich erwogen und habe es für notwendig gehalten, das einmal in Hannover selbft auszuspre{en. Es ist in der Tat ganz eigentümlih, daß noch heutigen Tags im Deutschen Reichstag von einem Mitglied desselben ohne Einspruch gesprochen werden kann von einem Protest gegen den Nechtsbruch und die Gewalt, welGe im Jahre 1866 dem Lande Hannover geshehen wäre. (Sehr richtig! rechts.) Dieser RNehtsbruch und diese Gewalt wäre einmal durch den Ablauf von 38 Jahren gewissermaßen hon Necht geworden (Wider- spruch von den Welfen); aber es ist kein Nechtsbruch, es war eine Kriegsentscheidung, und der Krieg ist ein Gottesgeriht, und in diesem Gottesgeriht ist Hannover unterlegen. (Sehr wabr! rets.)

Wenn nun der Herr Vorredner und mit ibm die Mitglieder der Hannoverschen Partei glauben, daß sie mit ihren Worten, daß sie keinen Krieg wollen, daß fle mitwirken wollen auf allen Gebieten des staatlichen Lebens, nur nicht begeistert mitwirken wollen, daß sie treue Untertanen auch Preußens sein wollen, treu dem deutschen Vaterlande, so sind das Worte, die durch die Taten meines Erachtens nicht Unterstüßung finden. (Zuruf von den Welfen.) Jede Zeitung, welche es sei, jedes Partei- organ, jede einzelne Kundgebung der Partei fußt darauf und erklärt ganz ofen: wir wollen die Herstellung des Königreichs Hannover! Ist das richtig oder ist das nicht rihtig? (Zustimmung von den Welfen) Und wenn Sie das erklären, so müssen Sie annehmen, daß eine s\olche Wiederherstellung nicht anders möglih ist als durch einen großen Krieg (Widerspru von den Welfen) gegen Deutschland und Preußen. Ih halte Sie nil für Träumer und Phantasten, sondern für Politiker; aber wenn Sie Politiker sind, so können Sie niemals den Gedanken fassen, daß ein mähtiges Deutshes Reich, daß ein so mächtiger Staat wie Preußen eine seiner im Kriege erworbenen Provinzen wieder aufgeben könne, um einigen Leuten zu gefallen, die an alten Erinnerungen fest- halten!

Meine Herren, Sie behaupten, in Jhrem Wunsche, Preußen zu verkleinern zu Gunsten von Hannover, liege eine Stärkung Preußens. Das hat der Herr Vorredner ausgesprohen. Ih glaube, mit diesem Ausspruch steht doch wohl der Herr Vorredner allein. Vielleicht findet er bei den Polen Gegenliebe! Auf Grund der erslen Er- widerung auf meine hannövershe Nede habe ih dann au in cinem Blatte gelesen, es hätten vielleiht auch andere Provinzen von vielen Jahrhunderten her Ansprüche auf Selbständigkeit.

Die Zeitgeshichte geht aber unaufhaltsam voran, und wir im Neichstag und im Deutschen Neich haben es zu tun mit dem Wesen

und dem Gebilde, das die Geschichte geschaffen hat, mit dem Deutschen Reich wie es entstanden ist, begründet durch die Verträge der deutschen Fürsten und aufgebaut dur die zwischen den deutschen Fürsten und den Vertretern des deutshen Volks vereinbarte Verfassung! Und in dieser Verfassung ist Preußen sein Anteil gegeben, und wer an diesem Anteil Preußens rüttelt, der rüttelt an dem Bestand des preußi- schen Staats und an dem Bestand des Deutschen Reichs! (Sehr wahr! rets.)

Meine Herren, ih komme dann mit einigen Worten auf meine persönliche Stellung, die auh der Herr Vorredner erwähnt hat. Es wird Sie ja vielleiht im großen ganzen wenig interessieren; aber mir liegt daran meinen Landsleuten in Hannover gegenüber, daß die Worte, die ih hier sprehe, auß in meiner hannoversden Heimat vollständig bekannt werden.

Meine Herren, der innere Kampf, den ein jeder von uns Aelteren, der früher dem Königreih Hannover angehört hat, wie ih auch und der nun mit Freude und ganzer Hingebung dem Königreich Preußen und dem Deutschen Reich dient, dieser Kampf ist auch mir nicht er- spart geblieben und er ist vielleicht viel, viel härter gewesen als die Gewissensbewegung, welhe die jüngeren unter den welfischen Agitatoren au gehabt haben, die von der alten Zeit überhaupt nur von Hörensagen etwas wissen. Wer ih von uns Aelteren noch der Zeit erinnert vor 1866, der Zerrissenheit des Vaterlandes, der politishen Ohnmacht ganz Deutschlands und jedes einzelnen Staats für si, der hatte damals sich in seinem Herzen Ideale gemacht für die Einigung des Vaterlandes, für ein neues deutsches Kaiser- reich. Ich glaube, keiner von den Aelteren ist ohne folhe Jdeale in das Leben hinausgegangen. (Sehr richtig! rechts.) Wenn nun im heißen Ringen in einer großen erhebenden Zeit alle Stämme Deutschs lands einig sich erhoben haben gegen den auswärtigen Feind nnd dort mit Blut und Eifen das neue Deutsche Neich gezimmert haben, so ist das etwas so Großes, so Erhabenes, daß das allen, die damals gelebt haben und damals das mit erfahren haben, hingerissen und erfüllt hat mit Freude über das, was erreicht ist. (Sehr rihtig! rets und bei Nationalliberalen.)

Meine#Herren, und nun der Erfolg! Gehen Sie doch hinaus und schauen Sie auf unser hannoversches Heimatland. Wie sah es da aus vor 40 Jahren und wie sieht es heute aus! Die Städte blühen und wahsen, Handel und Wandel gedeihen, der Landwirt baut im Frieden scine Scholle, es gieht keine Provinz, die so ausge- zeichnete Verkehrsverhältnisse hätte wie gerade die Provinz Hannover. Man wird auf dem Gebiete des öffentlichen Lebens allen Bedürfnissen gerecht, und nur, was in dieser meiner Heimat mangelt, das ist der innere Friede. Und diesen inneren Frieden möchte i, so viel an mir liegt, dieser meiner Heimat geben. Mein Herzblut würde ih ver- sprißen, wenn es mir gelänge, eine Versöhnung herbeizuführen zwischen Vergangenheit und Zukunft. Aber diejenigen, welhe dieser Vere söhnung am meisten Widerstand leisten, welche am meisten eine folhe Versöhnung hindern, sind die Agitatoren der welfishen Partei (sehr richtig !), der twoelfischen Partei, welche beute noch nichts gelernt hat troß aller der betonten Treue zum preußischen Staat, in öffentlichen Versammlungen heute noch erklärt und ausruft :

Wir beginnen unsere Verhandlungen so hat man in einer Sitzung eines Wahlvereins noch vor kurzem gesprochen

indem wir unserem Herrscher, dem Herzog von Cumberland, ein

Hoch bringen. Ja, meine Herren, der Herzog von Cumberland ist eine bohadtbare Person, ein Mann, vor dem man si wirkli beugen fann in Ehr- furt; aber der Herrsher Hannovers ist er ganz gewiß nicht! (Zuruf bei den Welfen.) Bitte, ausdrücklich is es in Jhrem eigenen Bericht gesagt. Bei einem festlichen Anlaß wird ein Festredner aus Hamburg geholt, ein Pastor noH dazu, und ausdrücklich versprochen, daß man lediglih dieses Familienfest des Herzogs von Cumber- land feiern und niht zu politishen Agitationen benutzen wolle.

Und wenn dessen ganze Nede oder Predigt gespickt ist mil politischen

Partei, und alle diese Dinge säen Unfrieden. Meine Herren, ih will ausdrücklich einige Worte vorlesen von

dem Pastor Budde. Er sagt unter anderem im falbungsvollen Ton : |

Ein großes Ziel hat das Fürstenhaus des Herzogs von Cumberland. Dieses Ziel ist die Residenzstadt Hannover,

Und weiter:

Gott fahre das Königliche Haus bald zurück in das Land seiner Väter!

Und endli das Prägnanteste :

Wenn Gottes Gerichte einmal kommen werden über die von Gott abgefallenen Völker, wenn die Mächte des Umsturzes versuchen werden, die Altäre und Throne zu stürzen, dann wird die Zeit des treuen hannovers{en Volkes gekommen fein. (Hört! hört!. rehts.)

Warten sie etwa auf den Umsturz, um dann im Trüben zu fischen ? Oder sollte das Gegenteilige betont sein: wir wollen den König von Preußen und das deutsche Vaterland erst dann verteidigen, wenn es in Unglück und Not ist? Beides ist fals.

Ich erkläre noch einmal, wie ih in Hannover erklärt babe: es ist cin Sophismus, eine Selbsttäushung vielleit, wenn die Partei glaubt, sie könnte die Treue gegen das Neih halten und hätte die Treue gegen den Herrscher, den Gott ihr gegeben hat, nit nötig, weil beide in Preußen und Deutschland unauflöslih miteinander verbunden sind. Diese Partei wird es si selbs zuzuschreiben haben, wenn, solange fie im Widerstande gegen den König verharrt, den der liebe Gott ihr geseßt hat (Heiterkeit und Zuruf links), die Königlih preußische Re- gierung ihr mit aller Entschiedenheit entgegentritt. Jch habe nicht gesagt: das sei politishe Heuchelei, wenn einzel:e Leute im Lande die Verhältnisse so darstellen, als ob sie mit ihrer Ansicht eigentlih im Sinne der Regierung, im Sinne Seiner Majestät handelten; diesen Ausdruck überlasse ich dem Herrn Grafen von Bernstorff. Aber daß die Herren das tun, dafür haben wir doch auch aus" dem aller- legten Wahlkampf in Lüneburg einen Beweis. Einer der Herren Abgeordneten, der hier sißt, hat in einer Wahlversammlung aus- drücklich gesagt :

Wir haben Beweise von der Gerechtigkeit unseres Kaisers; er wird uns helfen, wenn es uns nur gelingt, sein Ohr zu erreihen. Er wird an seinem Teil beitragen, das wicderherzustellen, was wir wünschen; dessen find wir gewiß und deshalb hören wir nicht auf zu schreien.

| wie ein Deutschland irgendwie bekümmerlich fein sollte.

Das wird den Leuten im Lande vorgespiegelt ; als ob Seine Majestät der Kaiser und König von Preußen in irgend einer Weise den Wünschen der Welfen, der welfishen Partei in der Provinz Hannover auf Wieder. herstellung der Selbständigkeit entgezenkommen und entsprechen könnte. Das ist eine Täuschung meiner armen Landsleute, und vor derartigen Täuschungen möchte i sie gern bewahren. Das, was ih wünsche, ist Frieden im Lande, Frieden au im Herzen und der Friede besonders in meiner hannoverishen Heimat, der aber erst dann vollständig sein wird, wenn die Herren, die dort einen Einfluß ausüben auf einen größeren Kreis der Bevölkerung, diesen Einfluß ausüben zum Nutzen von Kaiser, Vaterland und Reih. (Bravo!) i;

Präsident Graf von Ballestrem: Der Heu Bundesbeyoll, mächtigte hat vorhin mit einem bezeihnenden Blick auf diese Stelle gesagt, daß es dem Abg. Grafen von Bernstorff ohne Korrektur durch, gegangen wäre, daß er von einem Treubruch, von einer Vergewaltigun î. J. 1866 gesprochen hätte. Das hat der Abg. Graf von Bernstor nicht getan. Er hat das Jahr 1866 gar nicht erwähnt. Er hat es nur als ein Prinziy feiner Partei hingestellt, daß sie fh gegen Treu- bruch und Vergewaltigung wende. Was er sich dabei gedaht hat kann ih nit wissen. Jch rihte über Worte, niht über Gedanken Wenn er das Jahr 1866 erwähnt hätte, so hätte ih das nicht dur(- gehen lassen, wie ich es auch früher niht getan habe. Das wollte ih dem Herrn Bundesbevollmächtigten nur sagen.

Abg. Graf zu Reventlow (wirtsch. Vgg.): Wenn wir auch {licßlich dem Reichskanzler sein Gehalt bewilligen werden, fo soll damit nicht gesagt sein, daß wir ihm in irgend einer Beziehung unsere Anerkennung zum Auédruck bringen wollen; wir sind ings besondere nah seinen gestrigen Auseinanderseßungen dazu nit in der Lage. Vorweg richte ih an ihn die dringende Bitte, dem fo oft ges faßten Neichstagsbeschluß auf Gewährung von Tagegeldern endli Geltung zu vershafen. Ih will auf den materiellen Inhalt der Aufhebung des § 2 des Jesuitengeseßes niht eingehen, aber ih muß erklären, daß wir in Uebereinstimmung mit den bedeutendsten Staatsrechts- lehrern den Beschluß der Zustimmung zu einem Beschluß eines früheren Reichstags für verfassungswidrig halten; wir halten es nicht für statthaft, daß man sih die Beschlüsse des Reichstags gewissermaßen auf Vorrat hinlegt und daraus nah Belieben dieses oder jenes herausgreift. Wir müssen ferner ven dürftigen und ungenügenden Nachrichtendienst aus Südwestafrika bemängeln. Sodann muß ih die Aufmerksamkeit des Kanzlers auf die Beziehungen lenken, in denen das Reich zum „Wolffschen Telegraphen-Bureau“ steht. J darf als bekannt vorausseßen, daß das „Wolffshe Telegraphen- Bureau“ anfangs nur eine Ergänzung und Verbesserung des Nat- rihtendienstes enthielt; es diente dem Zwecke, solhe Nachrichten zu verbreiten, auf deren Verbreitung die Regierung Wert legte, und cs wurden dem „Wolffshen Telegraphen-Bureau“ zugegangene Nach- rihten von den zuständigen Behörden auf ihre Nichtigkeit geprüft und eventuell forrigiert. Das war eine wünschenswerte Verbesserung des gesamten Nachrichtendienstes. Die Sache hat . aber inzwischen eine andere Gestalt dadurh angenommen, daß das „Wolffs{e Telegraphen- Bureau“ zugleich ein rein geschäftlihes Unternehmen geworden ift. Redner behauptet, daß das „W. T. B.“ dur den Ankauf eines der bedeutendsten parlamentarischen Berichterstattungsbureaus die ganze parlamentarische Berichterstattung \{Gon heute beherrshe und seinen Abnehmern der Nachrichten in mehr oder minder zwingender Weise nahelege, auch die Parlamentsberihte des „W. T. B.“ zu nehmen. Er könne einer Verbreitung der Wolffschen Nachrichten keinen erheblichen Wert beimessen; das „W. T. B.“ tue dies auch selber nit, denn es verkaufe feine parlamentarischen Berichte und die Stimmungsbilder zu Schundpreisen, zu' 25 und 50 §Z§. Es würden dem „W. T. B.*, wie Redner weiter behauptet, direkte Vermögenszuwendungen aus Neichsmitteln gemacht, zu denen die anständigen, ordentlichen Journalisten, deren Mörder das Bureau sei, doch auch bet- trügen. Seine Depeshen würden zu dem Preise einfacher Depeschen als dringliche befördert; seße das Burcau einer Depesche noch ein „a. c.“ vor, so würden diese sogar vor allen anderen dringlichen Depeschen befördert. Ferner genieße das Bureau die Vergünstigung, daß es ein Telegramm an fämtlihe in Betracht kommenden Orte einer Telegraphenlinie gleichzeitig telegraphieren könne. Ferner genieße es auch noch gewisse Vorrechte hinsichtlih des Ferndruckapparats, die bisher niht genügend aufgeklärt seien. Ferner tellt Nedner die Behauptung auf, daß das ,„W. T. B.“, das über die Hälfte der sämtlichen täglih in Deutschland erscheinenden Zeitungen beeinflusse, niemals geneigt fein würde, sih in irgend welden Wiver- spruch) zur Regterung zu seßen, daß auf diesem Wege also die ganze öffentliche Meinung mehr oder weniger offiziös gefärbt, daß sie zu einem offiziós abgestempelten Massenfabrikat des „W. T. B.“ gemacht werde. Nedner wendet sih fodann zu den gestrigen Ausführungen des Neichs- fanzlers über die auêwärtige_Politik. Soweit diese die marokkanische

Anspielungen und mit politischen Invektiven gegen Preußen, fo ist | Frage betroffen hätten, hättea sie eine tiefe Niedergeshlagenbeit her-

das nicht auf den Pastor zurückzuführen, sondern auf die welfise | } y ‘t E : i N | N i: usuyren, [ondern auf die welfische | aufrechnen aegen Marokko, und daß so cine Reibungsfläche weniger | zwischen diesen beiden Staaten bestehe. Er könne niht anerkennen, daß

vorgerufen. Der Vorgang set der, daß England und Frankrei Aegypten

es der Beruf einer Großmacht sei, stets nur sich zu freuen, wenn irgendwo in der Welt eine Neibung oder ein Zusammenstoß vermieden werde; die Großmächte könnten auh den Beruf haben, Zusammen- töße für wünschenswert zu halten, und er vermöge nit einzusehen, Zusammenstoß zwishen England und Frankreich für Wenn man die Auf- gabe der auswärtigen Politik darin sähe, die Neibungsflähen zu vermindern, so sollte man lieber dieses Handwerk der Frau von Suttner in die Hände legen. Man könne überhaupt die politishe Entwickelung nur mit Betrübnis ansehen. Dieses shwäch- lihe Nachjagen nah der Gunst des Auslands, sährt der Redner fort, finden wir namentlich zum Ausdruck gebraht in unserem Ver- bältnis zu (Ruf bei den Sozialdemokraten : Nußland!) nein, zu England. Unser Verhältnis zu Rußland überlasse ich den auf jener Seite (links) fißenden Autoritäten. Jh will hier nicht etwa eine Heßrede gegen England halten, aber etwas mehr Selbst- bewußtsein müßten und müssen wir fordern. Den deutshen NReichs- angehörigen in Transvaal ist der deutsche Schuß zugesagt worden, aber nur ein Zehntel der Schadensersaßforderungen hat Berüksichti- gung gefunden. Woran liegt das? Jn einer ganzen MNeihe von Fällen ift ein offensihtlihes Unrecht geschehen, wie ih aktenmäßig nachweisen kann. Ein Deutscher namens Thiel wurde geschädigt durch englishe Nequisitionen; 2800 Pfund wurden ihm an Wert ruiniert, Er kann nit den allermindesten Ersaß erwirken, weil er ohne sein Wissen und Wollen in Südafrika in irgend eine Wählerliste eingetragen war. Selbst eine an eine englishe Behörde gezahlte Kaution von 1000 A ift ihm vorenthalten worden. Dieses Verfahren grenzt doch fehr nahe an gewisse Eigen- tumsyergehen. Unsere Regierung hätte doch alle Ursache, diesen Mann, auch wenn -es sich nicht um Venezuela handelt, zu shüyen. Einem Arzt namens Thielmann wurde fein Ambulanzwagen forts genommen. Manche Deutsche sind durch die Eigenartigkeit des eng- lischen Verfahrens mürbe gemacht worden und haben auf die Weiter- verfolgung ihrer Ansprüche verzihtet; sie erklären, es würde ihnen besser gehen, wenn ihre Vertreter Vertreter einer anderen Macht wären, aber ihre Vertreter seien nur bei Festlich- keiten, bei Raisersgeburtstagsfeiern zu finden, s\onst nicht. Ich bitte den Kanzler, die zuständigen Behörden zu erhöhter F A anspornen zu wollen. Wir bitten ihn auch, daß unsere Konsuln etwas mehr sich ihrer Verpflichtung beroußt werden, daß sie ch au Deutschen gegenüber deutscher Sprache, deutsher Stempel usw. bedienen. Der deutsche Konsul in Dover kann kein Wort Deuts sprechen.

(Schluß in der Zweiten Beilage.)

zum Deutschen Reichsan

M S,

(Schluß aus der Ersten Beilage.)

Auch diplomatisch ist das Deutsche Reich nicht überall fo vertreten, wie es sein sollte. Ih weise da besonders auf den deutshen Bot- schafter bei den Vereinigten Staaten hin. Wenn unser Botschafter dort zum Gaudium amerikanisher Reporter Bismarksche An- shauungen für veraltet erklärt, „wenn er auch amerikanische Interessen vertreten zu wollen erklärt, wenn er noch im Dezember aussprach, daß die deutshen Beschwerden über Zoll\{chikanen über- trieben seien, wie ih dem halb oder ganz offiziöósen „Berliner Tage- blatt“ entnehme, so möchte ich doch anregen, die Vereinigten Staaten zu veranlassen, die Hälfte des Gehalts für diesen Botschafter auf ihre Kassen zu übernehmen. Unter den drei Kommissaren für die St. Louis- Ausstellung hätte sich auch wenigstens ein rein deutsher Mann be- finden föônnen. Unser Ceterum censeo ist: Jede Syur von Ver- trauen zu wirischaftspolitishen Zusagen der Regierung ist längst ver- s{wunden; nur wenn endli den Versprehungen Taten folgen, wird eiwas von diesem Vertrauen wiederkehren. Auf die Kassandrarufe des Herrn Gothein über die Agrarier und Herrn von Kardorff gehe ih nit näher ein; aber das flelle ih fest, daß Herr von Richt- hofen uns keine ausreihende Auskunft gegeben hat. Er meint, der neue italienische Handelsvertrag sei vorzüglich. Die italienische Ls ist ganz derselben Meinung. Sie würden unsere Unterhändler nit loben, wenn Italiens Interessen niht zu ihrem Recht gekommen wären. Herrn von Nichthofen foll es ja auch nit vergessen sein, daß er in der Zolls tariffommission die Interessen der italienifden Gemüsebauern und Weinbauern energischer vertrat, als die der deutschen Landwirtschaft. Die anderen Aufklärungen gipfelten darin, daß wir Unterhandlungen mit zahlreihen Staaten führten, daß viel Arbeit und Papier verbrauht werde. Damit wissen wir denn recht genau Bescheid über den Stand der Dinge. Wir müssen befürhten, daß man die deutsche Viehzucht wie den deutschen Kornbau zu Grunde richten wird. Vir haben zu ihm das feste Vertrauen, daß in diefer Beziehung alles möglihe geleistet werden wird. Es is der Wendepunkt ge- kommen, wo entschieden werden soll, ob ein gesunder Mittelstand noch weiter auf dem Lande bestehen können soll (Zuruf) über den gewerblihen Mittelstand sind wir ja {hon aufgeklärt, nachdem Graf von Pofadowsky die Versicherung des Handwerks weit von ih gewiesen hat, Auf die Dauer können wir nicht von Zusagen für die Landwirtschaft leben, auch muß den Herren von der Regierung dieses ewige Einerlei der Versprechungen langweilig werden. Weitere zehn Zahre kann die Landwirtschaft den Caprivijammer nicht ertragen. Wenn der Kanzler den deutshen Wünschen und Bedürfnissen ver- stärkten Nachdruck geben will, auch auf dem Gebiet der Wirtschafts- politik, dann wird er sih den unvergänglihen Ruhm erwerben können, ein großes, Deutschland erhaltendes Werk geleistet zu haben. Staats- männer sind doch nicht dazu da, alle gegebenen Sa(hlagen als un- verändezlih hinzunehmen. Auf die Dauer wird der Reichskanzler niht aus\schließlich mit dem Zentrum regieren können, selbst dann nicht, wenn er si beständig auf die ganze Linke verlassen sollte, felbst dann nicht, wenn diese sich nach fünf Jahren so ver- ändert hat, daß sie aus 110 Sozialdemokraten und anderthelb Freifinnigen besteht. Er kann aber eine Mittelstandspartei her- stellen, wenn er eine ersprießlihe Politik für diese in Szene seßt, und dann wird er auch eine Mehrheit haben. Nicht dem Kanzler geben wir die Schuld an dieser Sachlage; wir bitten ihn aber, sie cinheitliher und ersprießlißer umgestalten zu wollen, dann werden wir ihn mit Freuden als den ersten Nachfolger Bismarcks begrüßen. Sollte er diese Aufgabe nit erkennen, dann wird die Geschichte von dem Kanzler sagen, daß er da, wo es ihm noch möglich war, den Mittelstand am Leben zu erhalten, die leßte Schaufel Erde auf sein Grab geworfen hat.

Darauf wird Vertagung beschlossen.

Schluß 61/4 Uhr. Nächste Sißung Donnerstag 1 Uhr. (Fortseßung der Beratung; Etat des Auswärtigen Amts; Jnterpellation Oriola; Etat für die Expedition nah Ostasien; Jnvalidenfonds; allgemeiner Pensionsfonds.)

Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 51. Sigung vom 183. April 1904, 11 Uhr.

Ueber den Beginn der Sißung ist in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden. S

Das Haus seht die zweite Beratung des Staats- haushaltsetats für das Nechnungsjahr 1904 im Etat des Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten bei dem Kapitel „Höhere Lehranstalten“ fort.

Abg. Viereck (freikons.) erörtert einge jend die geseßlichen Be- stimmungen über die Anrechnung der Wartezeit bei der Pensionierung und bezweifelt die Nechtsgültigkeit der Ministerialverfügung von 1896; jedenfalls müsse gegen dieselbe der Nehtsweg offen gelassen werden. Die Rechtsgültigkeit solle einmal gerihtlich festgestellt werden, denn oie jegige Unsicherheit sei das s{chlimmste. Der Andrang der Kandidaten habe die Wartezeit in den einzelnen Provinzen ganz bers schieden gestaltet. Es sei auch zu bedenken, daß der Kandidat selbst leinen Einfluß auf die Länge der Wartezeit habe, sondern diese ganz bon dem Ermessen der vorgeseßten Behörde abhänge. Der Redner tritt ferner für eine Gleihlegung der Schulferien mit den Gerichts- ferien und für cine einheitlihe Regelung in der ganzen Monarchie ein.

Abg. Strosser (konf.): Der Abg. Eickhoff is ein begeisterter Apostel der Reformshule. Meine Freunde betraten dagegen die Reformschule vorläufig lediglih als einen Versuch, der noch längst nicht abgeschlossen is. Auch ein großer Teil meiner

reunde steht auf dem Standpunkt, daß die _humanistischen Iymnasien zweifellos die beste Grundlage aller höheren Bildung sind. Ich glaube behaupten zu können, daß das humanistische Gymnafium mehr als jede andere Anstalt in der Lage ist, den Idealismus zu pflegen, den wir heute ganz besonders nôtig haben. Die Ferienfrage i für meinen Wahlkreis Breslau befonders rennend geworden. Die Gleichlegung der Ferien der Volksschule und der höheren Schule hat das Haus bereits 1901 beschäftigt, aber troß mehrfaer Eingaben von Breslau hat sich nichts geändert. Die Gleichlegung der Ferien der Volksshulen und der höheren Schulen ist für die großen Städte wichtig, weil eine große Zahl von Eltern tin Interesse daran hat, daß ihre Kinder, die teils die Volksschule, teils die höhere Lehranstalt besuchen, zu gleiher Zeit die Sommer- frische genießen können. Die Rektoren der Volks\{hulen erhalten stets bor Beginn der Sommerferien eine roße Zahl von Gesuchen um tühere Beurlaubung. Es is für die Leiter der Schulen immer chwierig, diese Gesuche zu genehmigen oder abzulehnen. Es handelt ch hauptsählich um die Sommer- und Herbstferien. Jn den Volks- hulen Find die Schüler sowohl als auch die Lehrer und Lehrerinnen ebenso erholungsbedürftig wie in den höheren Lehranstalten. Im Jahre 1901 wurde hier erklärt, daß bereits cine Anzahl von Städten die Gleihlegung der Ferien vorgenommen habe. Warum ift man in Städten wie Stettin und Breslau weniger {nell damit vorgegangen ?

Zweite Beilage zeiger und Königlih Preußischen Staatsanzeiger.

Berlin, Donnerstag, den 14. April

Auch die Fortbildungs\hulen bereiten der Legung der Ferien Shwierig- keiten, da hier Lehrer sowohl der Volkss{hulen als au der höheren Schulen beschäftigt werden. Und wieviel Zeit kommt eigentlich in Betraht? Bei den Sommerferien vier, bei den Herbstferien zwei Tage. Das is fo wenig, daß man wohl den Wünschen der Eltern nah Gleihlegung der Ferien entgegenkommen könnte. 2A eins. Unsere s{önsten Erinnerungen aus der Schülerzeit sind die Erinne- rungen an die Turnfahrten. Diese Turnfahrten „find in der leßten Zeit sehr beshnitten worden. Die paar Tage könnte man doch frei- geben. Ist es denn wirklich so s{chwer, die Beschwerden zu berück- fihtigen? Solche Fahrten dienen doch der körperlichen Erholung, und es bleibt immer wahr das alte Wort: mens sana in corpore sano.

Minister der geistlihen 2c. Angelegenheiten Dr. Studt:

Meine Herren! Seitens zweier der geehrten Herren Vorredner ist die Frage der Ferienordnung berührt und dabei befürwortet worden, daß eine einheitliche Regelung der Ferien durch die ganze Monarchie erfolgen möge, und zwar nicht nur für die höheren Schulen, sondern auch für die Volks\hulen. Ja, meine Herren, in diesem Umfange ist die Forderung unersüllbar. (Sehr richtig!) Man muß den besonderen Verhältnissen der einzelnen Provinzen Rechnung tragen (sehr rihtig!)), den historisWen wie den klimatischen. Nimmt man alles dies zusammen, so kommen so verschiedene Ver- hältnisse heraus, daß ich glaube: der Wunsch nach einer ganz einheit- lihen Schablone für sämtliche Kategorien der Unterrichtsanstalten wird niemals in Erfüllung gehen können. (Sehr richtig!) Im übrigen beschäftigt \fih die Unterrihtsverwaltung mit dieser Frage in erhöhtem Maße aus Anlaß von Anträgen, die namentlich in dem Sinne gestellt sind, daß eine Uebereinstimmung der Ferien mit den Gerichtsferien erfolgen möge. (Bravo!) Ja, meine Herren, \o viel als möglich ist den Wünschen der Beteiligten {hon entsprochen worden; aber es ist immerhin notwendig, die Wünsche, die von seiten der Cltern und gewisser Berufs\tände usw. kund gegeben werden, mit dem Schulinteresse tunlichs in Einklang zu bringen. Die Verhandlungen s{hweben noch; sie find auh auf die Frage ausgedehnt worden, inwieweit aus Gesundheitsrüsichten für die Schüler eine anderweitige Ordnung erforderlich fein würde, und darüber hat ih die Medizinalabteilung des mir unterstellten Ministeriums noch eingehend zu äußern. Ich verfolge diese Sache mit großem Interesse und hoffe, daß ih ¿u einem be- friedigenden Ergebnis gelangen werde. Zur Zeit bin ich nicht in der Lage, abgesehen von der bestimmten Erklärung, die ih {on dahin abgegeben habe, daß eine einbeitlihe Schablonisierung dur die ganze Monarchie untunlich erscheint, eine andere Zusiherung als die zu geben, daß die Sache seitens der Unterrihtsverwaltung mit Sorgfalt verfolgt und daß darauf Bedacht genommen wird, bald zu einer Ent- \chließung zu kommen.

Von einem der Herren Vorredner ist betont worden, daß die Unterrichtsverwaltung durch eine angebli einseitige Begünstigung der sogenannten Reformanstalten die Gefahr hervorgerufen habe, daß eine Zersplitterung in dem allgemeinen Sysiem der höheren Unterrichts- anslaltcn eintreten werde, welche namentlich den Aufgaben des humanistishen Gymnasiums nachteilig sein werde. JIch muß diesen Vorwurf mit voller Bestimmtheit zurückweisen. Aus. den Zahlen, welche ih die Ehre haben werde, Ihnen vorzutragen, wird fich ergeben, daß die Unterrichtsverwaltung, wie auch der leßte Herr Vorredner betont hat, ganz in dem Sinne einer vorsihtigen Erwägung der an fie herantretenden Wünsche und einer vorsihtigen Prüfung der obs waltenden Verhältnisse vorgeht, ohne den Reformgedanken aufzugeben, den fie vorläufig nur als eine Art von Versuch ansieht.

Was die dabei in Betracht kommenden Zahlen betrifft, so be- standen 1892 273 humanistishe Gymnasien, im Jahre 1900 287 und 1903 299. Sie sehen also, daß unter der Herrschaft des gegen- wärtigen Negimes auf Grund des Allerhöchsten Erlasses vom 26. No- vember 1900 fogar noch eine Vermehrung der humanistishen Gymnasien stattgefunden hat. Ich glaube au nachweisen ¿u können, daß meine frühere Behauptung, die durch die Allerhöchste Ordre eingeleitete Reform habe nicht zu einer Benachteiligung des Systems der humanistishen Gymnasien, sondern zu einer Stärkung ihrer Eigenart geführt, fich durch den Lauf der Ereignisse bestätigt hat. (Sehr richtig!) Ich habe ron keiner Seite gehört, daß das humanistische Gymnasium in seiner Aufgabe und Wirksamkeit dur die veranlaßte Reform erschüttert sei; im Gegenteil, es hat eine Vervollkommnung in der Erreichung der Ziele des humanistisGen Gymnasiums statt- gefunden (sehr richtig!), die auch aus diesem hoben Haufe von ver- schiedenen Seiten mit Dank begrüßt worden ist.

Die Zahl der Reformanstalten verhält sch nach dem Stande vom 1. April d. J. zu der der humanistishen Gymnasien wie folgt: im ganzen sind 324 Gymnasien vorhanden; von diesen haben den all- gemeinen Lehrplan 309 und den Lehrplan der Reformanstalten nur 15. Die Progymnasien haben aus\{ließlich den Lehrplan der humanistischen Gymnasien, sodaß also an Reformanstalten überhaupt nur 4,1 rund 4% der Gesamtsumme der humanistischen Gymnasien vor- handen sind. Selbstverständliß war es die Aufgabe der Unterrichts- verwaltung, in dieser Beziehung eine Art von jusfitia distributiva dahin zu üben, daß wo möglich auf die einzelnen Provinzen mindestens je cine Reformanstalt kommt, um einen Maßstab zu haben, wie sich in den einzelnen, verschieden gearteten Landesteilen das Re- formsystem bewähren würde. Die Erfahrungen, die mit ihm bisher gemacht worden sind, sind niht ungünstige. (Hört, hört!) In ein- zelnen Städten, wo ein besonderes Schüler- und Lehrermaterial zur Verfügung stand, können fie fogar als günstige bezeihnet werden. Trotzdem ift auf Grund der bisherigen Erfahrungen ein vorsichtiges Tempo geboten und wird auch seitens der Unterrihtsverwaltung nah wie: vor inne gehalten werden.

Wenn es die Herren weiter interessiert, noch einige Zahlen über die Realgymnasien und deren Entwickelung, über die Realprogymnasien und Realschulen zu hören, fo gestatten Sie mir, Jhnen diese Zahlen vorzuführen.

Nealgymnasien waren im Jahre 1892 85, im Jahre 1900 78 und am Schlusse des Schuljahres 1903 82 vorhanden. Gs hat also seit 1900 eine Zunahme von nur 4 derartigen Anstalten stattgefunden. Die

1904.

Zahl der Realprogymnasien, deren es 1892 noch 86 gab, ist bedeutend gesunken infolge der weiteren Ausgestaltung der Oberrealshulen und Realschulen: sie haben 1892 noch 86 betragen, 1900 nur noch 28 und 1903 26.

Was die Oberrealschulen betrifft, so weisen sie das war die naturgemäße Folge der Gleichwertigkeit der Ziele der drei Schul- arten fo weisen sie 1892 die Zahl von 10 auf, 1900 die Zahl von 31 und nunmehr 1903 die Zahl von 42. Es hat also in den leßten drei Jahren eine Vermehrung um 11 Anstalten stattgefunden. In gleiher Weise ist eine Vermehrung der lateinlosen Realschulen eingetreten, deren Zahl 1892 nur 54 betragen hat; sie ist 1900 auf 140 gestiegen und betrug 1903 152, sodaß unter der Herrschaft des neuen Systems auch die Vermehrung der Realschulen recht beträcht- lich ist.

Wenn ih nun noch die Schülerzahlen erwähnen darf, so ergibt ih für die humanistishen Gymnasien im Jahre 1892 eine Gesamt- \chülerzahl von 79 106, im Jahre 1900 von 94321 und im Winter 1902/3 von 97674. Es ist also im Vergleih zu der Gesamt- zahl der Shüler von 132276, bezw. 153685 und 174603 der Prozentsaß der Schüler an humanistishen Gymnasien von 58 9/ im Jahre 1892 auf 58 9% im Jahre 1900 und auf 56/4 im Jahre 1903 zurückgegangen. Die Besorgnis also, daß die humanistischen

gerechtfertigt.

Was die Verteilung der Gesamtzahl der Schüler auf die ver- schiedenen Schularten betrifft, so sind die humanistishen Anstalten im Jahre 1903 von 56 9/0, die lateintreibenden Realanstalten von 15 °% und die lateinlosen Anstalten von 29 9/6 aller Shüler besucht worden. Wie Sie aus diesen Darlegungen wohl entnehmen können, baben {ih die Besorgnisse, welche in bezug auf das System der Gleichwertigkeit der Anstalten hier geäußert worden sind, nit bestätigt.

Was die Leistungen der Schüler betrifft, so sind die Zahlen au so beruhigend, daß ich in dieser Beziehung etwaige Befürchtungen als begründet niht anerkennen kann; s wird namentlih au seitens der Lehrer bestätigt und derjenigen, die mit der Revision der betreffenden Anstalten von der Zentralstelle beauftragt waren, daß das in der Allerhöchsten Kabinettsorder vom 26. November 1900 in den Vorder- grund gestellte Prinzip „non multa, sed multum“ seine guten Früchte getragen hat. Wir fehen also vertrauensvoll in die Zukunft.

Abg. Dr. von Dziembowski-Pomian (Pole): Unsere Gym- nasiasten lernen die alte Welt und z. B. die römishe Verfassungs- geschihte sehr genau; ganz anders steht es aber mit den Kennt- nissen der heutigen Verfassung unseres Reichs. Die Schüler unserer höheren Lehranstalten müssen besser für das öffentliche Leben vorbereitet werden. Jn der Weltgeshihte lernen die Schüler allerlei einzelne Taten, aber eine rihtige Weltgeshihte, den ganzen Werdegang der Menschheit, der Zivilisation kennen sie nicht. Der heutige Geschichtsunterriht erzielt vielmehr einen Byzantinismus und Chauvinismus. Wenn man die vaterländishe Geschichte richtig würdigen soll, muß man die Geschichte anderer Staaten gut kennen. Ferner wird viel zu fehr das- Hauptgewicht auf die scrift- lichen Arbeiten gelegt. Im Griechishen und Lateinishen mag das noch angehen, aber wie viele Schüler lernen heute Französis \prehen, wenn sie auch gute Exrtemporalien \{reiben können! Es muß mehr Wert auf den lebendigen Vortrag gelegt, es müßten Vor- tragskurse eingerihtet werden. Die Eltern werden über die Leistungen threr Kinder lediglich durch die Schulzeugnisse unterrihtet; jeder Ordinarius sollte verpflichtet sein, wöchentlih eine Sprechstunde für die Eltern einzurihten. Durch die verschiedene Lage der Schulferien und der Gerichtsferien find besonders wir Juristen schwer benachteiligt. Wenn der Minister eine einheitlihe Regelung niht für möglich bält, fo sollte er doch einen Druck auf die Provinzialshulkollegien ausüben. Ich habe in allen Fächern den Unterricht polnish genossen, troßdem habe ich mir das Deutsche einigermaßen angeeignet. Daß die polnische Sprache in der Schule zurückgedrängt wird, ift lediglich eine politische Maßregel.

Geheimer Oberregierungsrat Dr. Matthias: Die Verfassungs- und die Kulturgeshihte wird in unseren höheren Squlen fehr ta berüdsichtigt, ja es gibt mande, die meinen, daß darin sogar zu viel geshehe. Die \{riftlichGe Arbeit im Französischen beim Abiturienten- eramen ift abgeshafft und an deren Stelle die mündliche Aussprache getreten; es wird darauf gesehen, daß der Schüler sich einigermaßen französisch auszudrüden lernt. Die Beziehungen zwishen Schule und Elternhaus müssen gepflegt werden, darin hat der Vorredner recht. Bei jedem neuen Schulbau wird ein Sprehzimmer vorgesehen, in dem die Eltern den Lehrern ihre Sorgen vortragen können. Die Spre@stunden find in dem Schulprogramm festgeseßt. Es ist nit rihtig, daß die Schule mit dem Elternhaus lediglih durch die Schulzeugnisse in Ver- bindung tritt; es finden auch Zwischenmitteilungen an die Eltern statt. Die Eltern könnten auch selbst mehr tun, um sih um die Leistungen ihrer Kinder zu kümmern. Es ift nicht richtig, daß die polniscen Kinder vom fakultativen polnishen Sprachunterriht ausgeschloffen seien; an dem Oberkursus.- können polnishe und deutsche Kinder teil- nehmen. Es genügt aber den polnishen -Schülern der oberen Klassen nicht, daß der polnische Unterricht von deutschen Lehrern erteilt wird. Es wird Mißtrauen, um nicht zu sagen Verbezung, bervorgerufen.

Abg. Dr. von Campe (nl.): J teile die Auffassung meines Freundes Berndt über die Neformshule niht. Jn seinem Auftrage kann ih vielmehr sagen, daß er nur seine eigenen Anschauungen ausgesprochen hat. Meine Fraktion steht entsprehend den früheren Ausführungen des Abg. Beumer auf dem Boden der Reformshule. Bezüglich der An- rechnung der Wartezeit stimme ih dem Regierungskommiffar darin bei, daß die s0dos materiae nit der § 5, fondern der § 13 der Ver» fügung von 1896 ift; aber die Verfügung beruht doch auf dem Grund- saß des § 5. Vor 1872 ist die gesamte Wartezeit angerechnet worden. Bei der Verleihung des Professorentitels hat der Minister bereits die Anrechnung der ganzen Wartezeit zugestanden, wozu also bei der

densionierung noch diese Differenz. Beim Professortitel handelt es ih allerdings nicht um einen finanziellen Effekt wie bei der ensionierung. Mir scheint daher die Schwierigkeit beim ut ministerium zu liegen. Jch bitte deshalb den Minister, seinen Einfluß beim Finanzminister geltend zu machen. /

Abg. Pleß (Zentr.) tritt für die Einführung der Stenographie, und zwar des Gabelsbergershen Systems, als Pflichtunterrichtsgegen- standes in den böberen Schuken ein. Zur Zeit könne höchstens das System Stolze-Schrey dem Gabelsberger)hen System ercgegengerent werden, aber die neuere Entwickelung sei dem Gabelsbergerf n System besonders günstig, sodaß gerade dieses System für die Schule in Frage komme.

Geheimer Oberregierungsrat Dr. Matthias erwidert, da aus der Pflege der Stenographie durch Vereine noch keine Mißstände ergeben hätten, und daß die Systemfrage noch nicht gelöst sei. S6