1904 / 113 p. 6 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 14 May 1904 18:00:01 GMT) scan diff

fangenanstalten, die unter der Verwaltung des Ppreußishen Justizs minisleriums stehen. Ich glaube also, es ift mebr geschehen als das- jenige, was der Herr Vorredner verlangt. Es wird nicht in Form einer Mitteilung an dieses Haus in einer beshränkten An- zahl von Exemplaren das Material von der Verwaltung geliefert, fondern das Material wird vollständig in die Oeffentlichkeit gebraht; jedermann kann davon Einsicht nehmen und seine Kritik daran üben; auch die Herren Antragsteller der Resolution. Ich glaube, das hohe Haus wird doch geneigt sein, die tat!sählid vor- hantene Statistik zunächst einmal einer Prüfung zu unterziehen und sich zu fragen, ob Anlaß vorliegt, die Drucksachen noch weiter zu ver- mehren mit Aufwendung erhebliher Kosten und Mühen, bevor es geneigt fein wird, die Resolution der Herren von der Liaken an- zunehmen. Ich kann auch in diesem Punkte niht empfehlen, der Resolution zuzustimmen.

Meine Herren, ih resümiere mich dabin: ih glaube behaupten zu dürfen, daß im großen und ganzen die Einrichtungen unserer Strafar stalten einwandsfrei sind. Ich glaube keinem Widerspruch innerbalb urd außerhalb Deutschlands zu begegnen, wenn ich fage, daß die Einrichtung der Strafanstalten in Deutschland mindestens fo gut ist wie in irgend einein Kulturstaat Europas. Jch behaupte ferner, daß die Fürsorge, die getroffen ist durch Vorschriften und durch Aufsicht, um die Gefangenen ordnungëmäßig und das füge ih hinzu der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit entsprechend zu halten, so gut getroffen sind, wie sie unter den obwaltenden Ver- hältnissen überhaupt getroffen werden könren. Fälle von Dienfst-

widrigkeiten, von Ordnungsverleßungen werden auch unter dem schönten |

Strafvollzugs8gese8, das wir noch machen wollen, immer w.eder vor- fommen, ebenso häufig vorkommen wie hier, denn de Verhältnisse bleiben in dieser Beziehung unter den Menschen immer dieselben ;

Menshlichkeiten können nicht verhindert werden. In Fällen dieser | ket 8 i | zusteht, ist zu weitgehend.

Art wird aber stets \trengstens cingeshritten werden, wie früber, fo au in Zukunft. Das Interesse der Verwaltung geht nicht dahin, Unregelmäßigkeiten, die vorkommen, zu verscleiern, sondern sie zu ahnden.

Meine Herren, ich glaube, daß deéhalb keinerlei Veranlassung vorliegt, eine Resolution von dem vorg: s{lagenen Jahalt anzunehmen. Im Lande würde dies nur dahin verstanden werden, daß das hohe Haus die Klagen der Herren, die die Resolution eingetracht baben, unter- stüte und billige, und in der Presse wütde das rur Veranlassung geben zu einer ungerechten, unwahren und leidenshaftlihen Heße; ih glaube nit, taß das hohe Haus Interesse bat, cine sclcke Hetze zu befördern, und ih bitte desfalb das hohe Haus, die Nefolution abzu- lehnen. (Lebkafter Beifall.)

Abg. Dr. Spahn (Zentr.): Das Lußshe Buch verdient nit |

die Beachtung, die es erregt hat. Herr Leuß bat nur von si 1eden machen wollen. er, und der die inzwischen ergangenen neuen Vorschciften gar nit ber üd- sichtigt, kann nicht als ein gerechter, otjcftiver Beurteiler angesehen werden. „Wir steben alle auf dem Standvunkt, daß wir jeden Mißbrauch der Diszivlinargewalt verwerfen. In dem Leitzr unseres preußischen Gefängniswesens baben wir einen Mann, auf den wir stolz sein können. Die neuen Vorschriften sind speziell über die Krankenbthandlung und tie Behandlung der Geisteskranken ganz besonders {arf und ein- gebend; sorgfältigere Vorschriften find auch niht im geordneten

Familienleten denftar. Daß Mißgriffe geschehen, daß ein Kranker |

fälshlich als Simulant angesehen wird, kommt das niht im bürger- lichen Leben aub vor? Wie kann man der Verwaltung unterlegen, dag das mit Bedaht geshehe- Fälle der fkörperlihen Züchtigung find ganz außerordentlih gering; dieses Disziplinarmittel wird fast gar nicht mebr angewendet. Die freie Arztwahl könren wir doH für die Gefängnisse nicht einführen; wir werden immer auf Anftaltsärzte angzwiesen bleiben. Ob es ein Vorteil ist, wenn der Arzt keine Privatpraris hat, kann auch eventuel vom Standpunkte des Gefangenen felbst, dcr erkranft, zweifelhaft sein. Die ganze Nesolution ist La1 det- jae. Wern wir nit etwas Besseres vorschlagcn können, sollten wir urs in Gebiete niht einmiscken, die niht unserer Zuständigkeit uzter- stehcn. Die bebaupte'e Uekterlastung der Unterbeamten ist mit den bestebenden Vorschriften nicht in Einklang zu bringen. Jch bin selbst eine Zeitlang G«fängnisaufseher gewesen und kann also aus Erfahrung mitsprehen. Bei den Gefanzenen muß man, wern man etwas er- reichen will, niemals ablassen, auf das Gemüt und das sittliche Empryfinden einzuwirken. Lehren Sie die Nefolution ab!

Abg. Dr. Mugdan (fr. Volksp ): Als der Vorredner von den neuen Vorsch{riften spra, riefen die Sozialtemokraten: „Papier ift geduldig!" Wenn Sie (zu déèn Sozialdemokraten) auf diesem Stand- punkr stehen, wozu bringen Sie dann eine solche Resclution ein? Es besleht ja alles \{hon, was darin gefordert wird. Auch zeigt die Reso- lution, auf was alles die Sozialdemokraten bereinfallen. Der Gewährs- mann der Herren ist cin entlassener Gefangener; was er Ihnen berichtet, nebmen Sie bin, tragen es in die Blätter und bungen es bier vor. Was meinem Kollegen Pfleger zugefügt worten ist, ist eine Chrabschneidung der allergemweinsten Art. Wir sehen hier wieder die bodgnlose Leicht- fertigfeit, de fch der „Vorwärts“ und die sozialdkmokratischen Zeitungen haben zu Schulden kommen lossen; denn der Fall Grosse ist schon fast cin Jahr alt, und auch die anteren Fälle aus Plöyensee sind alle unrichtig. (Große Unruhe und Zwischenrufe bei den Sozial- demoftraten.) Ich halte es niht für arständig, wenn Briefe und Aktenstücke in dieser Weise benußt werden. Den Fall Grosse hat nämlich Herr Geheimer Sanitätérat Baer in einer be- sonderen Broschüre behandelt, aus der sch Herr Gradnauer bâtte unterrihten fönnen. Grosse suht danach den Geisteskranfkfen zu simulieren ; er kopiert das Verhalten. anderer Geisteékranken und teilt einem Gefangenen seine Absicht mit, einen Aufseher anzugreifen, um als geisteëfrank behandelt und in eine Irrenanstalt gebraht zu werden und von da zu entspringen. Er hatte diese Angriffe auch ausgeführt, sie sind ibm nicht gelungen, und er ift zu feinem früheren Verkbalten zurúdgefehrt. Da wast es Herr Gradnauer, zwei ebhrenwerte Beamte in folher Weise anzugreifen! Diese Resolution war nur dazu ein- gebraht, um wieder einmal von der Sozialdemokratie reden zu machen, daß nur fie ein Herz für die Gefangenen habe; weiter hatte sie keinen Zweck. (Stürmische Unterbrehungen bei den Sozialdemokraten.) Es ist am besten, diese ganze Resolution glatt abzulehnen.

Abg. Dr. Lucas (nl.): Man muß gewiß mit Freuden alles be- grüßen, was geeignet ist, Mißstände zu beseitigen. Aber das Uebel in den Gefängnissen liegt viel weniger im Strafvollzug als auf dem materiellen Strafgebiet oder in seinem Verhältnis ¡um Strafvollzug. Ueber die Krankenbehandlung usw. gibt es eine ganze Masse von Ver- fügungen, aber sie haben nicht dazu beigetragen, alle Mißstände zu beseitigen. Auch in Zukunft werden wir damit rechnen müssen, daß Mißstände herrschen, wie dies auch in jeder Klinik usw. vorkommt. Es kommt da auf die Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit der Beamten an. Uebrigens ist der Strafvollzug Landesfache. Wie denkt man sich die Nechts8garantien? Denkt man an richterlihe Entscheidungen oder an aufshiebende Wirkungen“ Disziplinarstrafen, die nicht sofort aus- geführt werden, haben gar feinen Wert. Die Statistik, die verlangt wird, wird jeßt {hon gegeben. Was follen wir hier im Ee damit anfangen? Sollen wir etwa eine Aufsichtsbehörde über alle Strafanstalten sein ?

Abg. Werner (Reformp.): Die Hauptsace ist, daß wir morgen den Etat zum Abschluß bringen. Es ist sehr liebenêwürdig, daß der preußishe Iustizminisler uns zum Besuh der Gefängnisse einladet, * aber meine Zeit reicht dafür niht aus. Die Resolution ist unannehmbar,

| Zeitungen Man

| es ist nichts wahr an der Geschichte.

Ein Mann, der von unseren Nichtern so spricht, wie |

weil sie praktisch undurchführbar ift. Herr Gradnauer hat ten Fehler begangen, zu verallgemeinern. Die unteren Gefängnisbeamten sind viel {limmer daran als die Gefangenen selbst. Die Notwendigkeit ctner einbeitlihen Reform des Strafvollzugs kann nicht geleugnet werden. Redner führt zum Schluß Beschwerde über einen Fall von Prozeßvershleppung. Nur eine prompte Justizpflege könne zugleich gerecht sein.

Abg. Thiele (Soz): Daß unsere Resolution einen Sturm von Entrüstung hervorrufen würde, war niht vorauszusehen. Der Staatssekretär berief sich auf eine neue Verfügung. Sind denn tamit hon alle Mißstände beseitigt? Herr Mugdan behauptete, die ganze Resolution wäre nur eingebraht, um uns in Erinnerung zu bringen. Was würde er sagen, wenn ih ihm vorwürfe, er wollte ih den Konservativen und Nationalliberalen für die nächsten Wahlen empfehlen? Was wir vorgebracht haben, ift den Akten ent- nommen. Wie fann man da von einem Hereinfall sprechen ? Wir sozialdemokratischen Nedakteure sind ja zum Teil wieder- holt Gefangene gewesen. Ich kann mi persönlich nicht beklagen, aber was man gehört und gesehen hat üter andere Gefangene, muß einen mit Grauen erfüllen. Nedner e1wähnt einen Fall aus Zwidau, wo cin aufgeregter Gefangener zu 14 Tagen Dunkelarreft verurteilt worden sei. Er wendet sich {ließli gegen einige Ausführungen, die der Staatssekretär in der zweiten Lesung u. a. über die Strafver- folgung eines Abgecrdneten während der Dauer der Session gemacht hat. In seinzm eigenen Fall wäre es gar niht nötig gewesen, die Einstellung des Verfahrens beim Reichstage zu beantragen

Abg. Froelich (Reformp.): Unsere Justiz ist bisher stets be- müht gewesen, nah wahrhaft chr1stlihen Grundsäßen Necht zu sprechen. Das möchte ich gegenüber Herrn Gradnauer sagen, der das Wort .hristlih"“ in den Mund genommen hat. Ein Zuchthaus ist kein Vergnügungslokal, darum muß es darin strenge zugehen. Wir werden ja sehen, was an den Fällen ist, die dem Abg. Gradnauer zugetragen worden find.

Abg. Burlage (Zentr.) stellt eine ihm in zweiter Lesung irrtüm- li unterlaufene Zahlenangabe über das Aufkommen des Geroinnes in Ludwigeburg aus Strafanstaltearbeiten richtig.

Abz. Dr. Gradnauer: Die Gefängnisvorschriften waren mir keincêwegs unbekannt. Die Machtbefugnis, die danah dem Vorsteber Die Gegner sind um die neuen Fälle, die ich vorgetragen hate, hcrumgegangen. Vielleiht mat der Staalssckretär in den Pfingstferien selbs einmal in den Ge- sängnissen die Studien, die er uns empfiehlt. Alle Fälle, bis auf einen einzigen, waren seit Monaten in der Presse veröffentlicht, ih muß cs deshalb zurückweisen, daß ich ihm hätte vorher davon Keantnis geben follen. Jetzt will man den Redakteuren zu Leibe gehen. Eine lcya!e Verwaltung und eine politisch anftändige Negierung würde ihre Berwaltug anweis n, zu sagen, wa3 daran ist.

| Seit Monaten standen aber die Fâlle in der Zeitung, und die Ver-

waltung hat nih1s gelan. Jetzt fommt man und verfolgt die wird sh an cinige Formeln halten und die Nedakteure wegen formeller Mängel verurteilen, um sagen zu können : Ich sage, es ist cin unwürdiges Verfahren an den betreffenden Stellen.

Präsident Graf von Ballestrem: Ih nehme an, daß der Nedner niht cine Reichébehörde gemeint hat, sonst müßte ich ein- schreiten.

Abz. Dr. Gradnauer bemüht sich dann, fortfahrend, diz Aus- führungen des Staatssekretärs über den Ausgang der Leußschen Anzeize bei der Staatzanwaltshaft zu widerlegen, und bleibt auch in dcn übrigen Fällen bei seinen Behauptungen stehen. Ob jemand ein Verbrecher sei oder nicht, komme hier nicht in Frage. Auch der Verbrecher verdiene eine gerechte und humane Behandlung. Bezüglich der Verhältnisse in Plöyensee habe der Staatssekretär ih üker die Beschaffenheit des Wassers und andere Dinge aus- gelassen, voa denen er (Redner) kein Wort gesagt habe. Sein Gewährsmann habe die Aktien nicht entwendet ; diese Beschuldigung des Abz. Dr. Mugdan falle platt zu Boden. Wer sol@e Akten in die Hände ktefomme, dürfe sie niht unbenutt liegen lassen, das verstoße gegen das Interesse der Allgemeinheit; die Männer und die Zeitungen, die davon Gebrauch gemacht bätten, hätten sich um die Oeffentlichkeit wohl verdient grmacht. Es sei höchst erstaunlih, daß der Staats- sefretär die Sache für erledigt erklärt habe, da er do auf die sämt- lihen Plößenscer Fälle niht eingegangen sei. Auch der preußische Justizminiiter hätte die getadelten Zustände nicht eifriger verteidigen fönnen, als es der Abg. Dr. Spahn getan. In der „Kölnischen Bolkszeitung“ habe das Urteil ganz anders gelautet. Der Reichstaz sei nah tem Abg. Dr. Spahn nicht zuständig, bevor ein Straf- vollzuztg-sez bestebe Das sei unrichtig. Die Strafvollzug8geseß- geburg und die Vorbereitung dazu sei Sache des NReichstazs; die Cinzelregierungen hätten sid üher gewisse genaue Grundsäße in dieser Nichiung geeinigt, um die Mitwirkung des Reichstags moöglich\t weit hinauszuzieten. Jn Plötensee sei ta1sählich cine überlange, zwölf- stüntige Arbeitszeit in Uebung. Der Abg Froelich babe die Aeußerungen über tas Cbristentum völlig mißverstanden. Was ei das nun aber für

| ein Liberaliëmus, mit dem heute der Abg Dr. Mugdan deblüuiert habe!

Kein Nationallibcraler hake je so reaftionär gesprohen w'e der Abg. Mugdan, er müßte s ja ordentlich vor dem Abg. Dr. Lucas schämen. Wie ein Redner mit folden Anschauungen noch zur Freisinnigen Bolkéspartei gehöre: könne, sei rätselhaft. Er habe plumpe, große Worte gebraucht gezcn die Sozialdemokratie, aber Sachliches avjolut niht vorgetragen. Der Staatssekretäc habe die Objektivität des An- tragstellers ane-kan-t, dem Abg Mugdan sei das n.ht möglich ge- we}en. Wenn Dr. Baer neuecdings im Falle Gresse anderer Vêtiaung geworden sei, so wolle er (Redner) tas gern würdigen; aber das er- |chüttere seine bisherigen Ausführungen richt in mindesten, auch könne auf die Autorität eines einzelnen, so hcch er stehe, nicht alzuviel gegeben werden, namentlih, wenn diese Autorität selbst fortgeseyt \hwanke. Sei denn der Grosse auch an andere Autoritäten zur Unter - suhung gegeben worden? Ec habe doch noch 1899 ganz irrsinnige Briefe an ten Reichstag und an den Bundesrat geschrieben. Die Partei habe mit der Vorlegung der Resolution nur ihre Pflicht getan.

Staatssekretär des Neichsjustizamts Dr. Nieberding:

Meine Herren! Ich bitte nur um einen Augenblick Gehör, nicht meinetwegen, sondern lediglich um die Ehre eines ärztlihen Beamten hier zu vertreten, die von dem Herrn Vorredner ang- griffen worden ist. Der Herr Vorredner hat mir vorgeworfen, ih hätte vorher in einem Falle mih irrtümliher Mitteilungen \{chuldiz gemacht und unter diesen Umständen nicht in der Lage, ihm Verhaltungen zu machen, die darauf hinausgingen, daß er hier irrtümlihe Angaben vorgetragen habe. Meine Herren, es handelt si um den Fall, den ih erwähnte, daß Herr Leuß nach seiner Entlassung aus dem Zucht- hause bei der Staatsanwaltschaft Anzeige gemacht hat mit der Be- \{uldigung, daß der Arzt des Zucthauses in fünf Fällen sich einer Handlungsweise s{huldig cemacht habe, die den Krankheitszustand der betreffenden Gefangenen vers{limmert, wenn nicht geradezu dea Tod herbeigesührt habe. Ih habe Ihnen mitgeteilt, daß in diesen fünf Fällen von der Staatsanwaltshaft Erhebungen angestellt sind, um eventuell ein Strafverfahren einzuleiten, und habe ferner mitgeteilt, daß nur in einem dieser Fälle si ein Anhalt für die Annahme einer falschen Behandlung oder vielmehr einer falshen Diagnose des Arztes ergeben habe, die ißm aber nah dem Gutachten medizinifcher Autoritäten nicht als eine Schuld angerechnet werden konnte, während in allen übrigen Fällen die Staatsanwaltschaft keine Veranlassung zu weiteren Schritten gefunden habe. Der“ Herr Abgeordnete behauptet, ih bätte unrichtig referiert, es sei in den übrigen vier Fällen zu einer Kognition in der Sache überhaupt nit gekommen, sondern die Siaats- anwaltschaft habe ein Einschreiten abgelehnt, weil die Sachen verjährt

gewesen seien. Wäre diese Behauptung richtig, -so würde der be- treffende Beamte jeßt noch der öffentlihen Meinung gegenüber unter dem Verdacht blciben, daß er bezüzlih der gedachten vier Fälle in seiner ärztlißen Sorge für die Kranken \sich einen Fehler habe zu schulden kommen lassen. Jh bin in der Lage, diesen Verdacht zurückzuweisen, und, ih glaube, ih handle im Interesse des betreffenden Beamten, wenn ih das autdrücklich hier konstatiere, indem ih dem Herrn Abg. Lr. Gradnauer gegenüber erkläre, daß sein Neferat in diesem Punkt unvollständig gewesen ist. Ih braue nur die Erklärung der Staatsanwalischaft, die auf diese vier Fälle Bezug hat, zu verlesen. J glaube, das hohe Haus wird daraus erkennen, wie ich richtig referiert habe und wie der Herr Abg. Gradnauer unrihtig und zugleih ehrenrührig für den betreffenden Arzt sih ausgesprochen hat. Bezüglich dieser vier Fällé erklärt diz Staatsanwaltschaft :

Die übrigen zur Anzeige gebrachten vier Fälle liegen vor dem

Fahre 1894 und sind verjährt, hätten aber auch das fügt die Staatsanwaltschaft hinzu sonst keinen, Anlaß zu strafrehtlichem Einschreiten geboten.

6Das erklärt die Staatsanwaltschaft im Gegensaß zu Herrn Dr. Gradnauer. .

Abg. Stadthagen (Soz.): Der Staatssekretär hat uns den ge- stellten Sirafantrag mitgeteilt. Diese Strafanträge haben nicht den Zweck, die Wahrheit zu ermitteln, denn der Richter stellt fest, was ihm feststellungéwürdig erscheint; eine Korrektur vom MNReichs- geribt aus fann niht eintreten. Erst in neuester Zeit hat das Neichzgeriht sich auf dem Standpunkt gestellt, die Tendenz eines Artikels oder Artikelshreibers zum Gegenstand der Be- strafung zu machen. Die Fälle aus Plötensee sind ja alle altenmäßig; was soll denn da noch festgestellt werden, wenn es nicht auf die Feststellung der Beleidigung ankommt? Die neue G:fängnis- dienstordnung verhütet keineswegs die Möglichkeit soler Fälle; aber Plöôzensee untersteht außerdem durchaus nit dem Minister des Innern, der diese Dienstordrung erlassen hat, sondern dem Justiz- minister. Was will man also mit dieser Dienstordnung gegen uns beweisen? Wer so oft wie ih die Gefängnisse wider Willen inspiziert hat, der weiß, daß es wahr ist, daß die Dienstzeit der Gefangenen- wärter uit 10 bis 11, sondern 12 Stunden beträgt, ja auch 13 und 14 Stunden an manchen Tagen. Nicht auf die Verordnung, sondern auf de tatsählihen Zustände kommt es an. Hier handelt es sh ja freilih um Unterbeamte, nicht um höhere Beamte. Herr Mugdan hat ih des Geheimrats Bazr angenommen. Lingst ehe hier an Herrn Mugdan gedaht wurde, baben wir des Herrn Baer erwähnt, und“zwar stets in lobender Weise, wir haben seine Be- strebungen in der Alkoholfrage und auf anderen Gebieten immer an- erkannt. Es wurde ihm aber ein recht s{chlechter Dienst erwiesen, wenn man ibn jeßt à la Mugdan verteidigt. Wir haben Herrn Baer niht angegriffen. Herr Baer hat früher bekundet, Grosse fei geistig niht gesund, und denno ift eine Disziplinarstrafe vollzogea worden. Was soll dabei der Hinweis auf die spätere Meinungsänderung des Herrn G:heimrats Baer? Wie kommt Herr Mugdan dazu, von Ent- wendung von Aktenstücken zu sprel,en? Es sind berehtigterweise Ab- schriften genommen wordcn, das üt gerihtlih festgestellt. Es kommt aber auch gar nit darauf an, woher die Tatsachen stammen, sondern nur darauf, ob sie wahr sind. Herr Mugdan sagt, alle Ihre Be- hauptungen sind falsch. Wo sind die Akten entwendet, auf Grund deren Sie diese Behauptung aufstellen? Oder haben Sie diese Ihre Behauptung aus der blauen Luft gegriffe:? Es war fick und kühn, eine solWe Behauptung aufzustellen; die Art und Weise, eine sclche wahrheitéwidrige Behauptung auf- zustellen, steht meiner Ansiht nah noch niedriger, als wenn einer be- haupten würde, der Abg. Mugdan habe seine Religion gewechselt, um ein freisinniges Mandat zu bekommen. Mit dem Abg. Lucas stimme ih darin überein, daß die Fraze der Regelung des Strafvollzugs eine der wichtigsten und s{chwierigsten ist, und daß man nicht die Herbei- führung der Einigkeit über alle hier in Frage kommenden Verhältnisse abwarten fann; darum muß so s{leunig wie möglich an die Arbeit (amen werden. Ich bitte Sie dringend, im Interesse der Gerechtig- eit und einer Verringerung der Verbrechen und der Hebung des An- sehens der Justiz unserer Resolution zuzustimmen.

Abg. Dr. Mugdan: Die Abgg. Gradnauer und Stadth1gen haben sih darüber aufgehalten, taß ih behauptet habe, die Aktenstücke seien entwendet. Macht es denn einen Unterschied, ob ich behaupte, jemand habe die Aktenstücke entwendet, otec habe sie entwendet, um sie abzuschreibea und sie einem sozialdemokratishen Redakteur zu über- geben 2 Der Hereinfall der Herren besteht darin, daß diefer Straf- gefangene Ihnen nicht alle Aktenstücke übergeben hat. Jch könnte Shnen über den Fall Grosse einen Brief zeigen, der beweist, daß er sh im Vollbesit seiner geistigen Kräfte befindet. Eine anständige Presse bat die Pflicht, zu prüten, ob Vorwürfe, die die Ehre eines anständigen Menschen angreifen, wahr sind oder nicht. Wenn mir aber solche Dinge von einem Gefangenen mitgeteilt werden, der nur auf unehrlidße Weise von den Aktenstücken Kenntnis be- kommen hat, so muß ich doppelt vorsichtig sein. Es wird immer davon gesprochen, daß der Ohrenkranke monatelang Ein- spritzungen von einem Ausseker bekommen habe. Solche Fälle ver- laufen so ra‘), daß man dem Arzte keinen Vorwurf machen kainn. Der Vorredner frazte mih, woher ih mein Material habe. Nun, gestohlen habe ih es niht, au) nicht entwendet, und daß es wahr ist, wird die Gerichtsverhandlung zeigen. Ihre Aufregung (nach links) beweist Ihr Schuldt ewußtsein. Gerade als Liberaler weade ih mich gegen die Verhetzunzen der sozialdemokratishen Presse. Ich kämpfe für die Frei- heit der Presse, aber die Vorbedingung dafür ijt, daß die Presse ihre Freiheit niht mißbraucht. Wenn die Freiheit der Presse mißbraucht wird zu Verleumdungen, heute gegen einen Rezierungsbeamten, morgen gegen cinen Arzt so wird dadurh die Freiheit am allecmeisten ge- fährdet. Herr Gradnauer hat zugeben müssen, daß er sich in dem einen Fall Grosse geirrt hat. (Widerspruh bei den Sozialdemokraten.) Ihre Sprache ist immer eine andere als die anderer Menschen. Wenn bürgerliche Blätter vor einiger Zeit die Angriffe der sozialdemokratishen Srels unterstüßt haben, ihr geglaubt haben, so war das ein tar

ehler. Man sollte tn folhem Falle zunächst ni-mals glauben und erst abwarten, wie die Sache verläuft. Der Strafvollzug in Deutschland mag Fehler haben, aber er ist ungleich humaner als in England, Oesterreich und Jtalien. Dort ist er zum Teil mit Grau- famkeiten verbunden, die bei uns richt vorhanden sind. Zu den UVebelständen der Gefängnisse rene ih die Ueberlastung der Unter- beamten und den Mangel an ärztlihem Material. Wenn aber wirklih ein einziger der Fälle wahr wäre, was wollte das beweisen bei der großen Zahl der Gefangenen? Sie (zu den Sozialdemokraten) stellen jeden folhen Fall als typisch hin, um der bürgerlihen Gesell- haft einen Makel anzuheften.

Abg. Dr. Gradnauer bestreitet, daß der Betreffende die Akten entwendet babe; er sei von der Verwaltung damit betraut worden, die Akten zu bearbeiten und babe nur eine Abschrift davon genommen. Sein Verdienst sei es, daß die Alten in die Oeffentlichkeit gekommen seien. Ueberdies sei er gar kein Sozialdemokrat.

Abg. Stadthagen tritt dea Ausführungen des Abg. Dr. Mugdan entgegen ; thm sei absolut nihts zugeg ben worden. Wer sich zu verteidigen habe, sei niht er, Redner. Der Abg. Dr. Mugdan werde si gefallen lassen müssen, s die Gemèinheit, die er der Presse vorgeroorfen habe, auf seiner Seite fei.

Präsident Graf von Ballestrem: Ich rufe Sie zur Ordnung, weil Sie einem Abgeordneten Gemeinheit vorgeworfen haben.

(S@{hluß in der Zwciten Beilage.)

2 113.

(Schluß aus der Ersten Beilage.)

Abg. Dr. Mugdan: Ich will nur sagen, daß ich das Material weder direkt oder indirekt von Gefängnisbeamten habe; von wem ih es habe, ist ganz gleihgültig. (Zurufe bei den Sozialdemokraten.) Ich habe die Aften weder von Gefängniësbeamten, noch habe ih sie abschreiben laffen.

Darauf wird die Resolution Auer abgelehnt.

Der Etat der Reichsjustizverwaltung wird unverändert angenommen; ebenso ohne Debatte der Etat für die Ver- waltung der Eisenbahnen, desgleihen der Etat aus Anlaß der Expedition in das südwestafrikanische Schußgebiet.

Jm Etat für die Expedition nach Ostasien wird auf Antrag des Abg. Dr. Spahn ein tehnisher Sekretär bei der Jntendantur, der in zweiter Lesung nur für ein halbes Jahr bewilligt war, für das ganze Etatsjahr bewilligt, dagegen einer der beiden Oberinspektocen nur auf ein halbes Jahr be- willigt, nachdem der

Antragsteller ausgeführt hat, daß man sich überzeugt habe, daß die Verwaltung durhschlagende Gründe gegen cine weitere BVer- minderung des Perfonals für das Garnisonbauwesen habe ins Feld führen fönnen.

Stellvertretender Bevollmächtigter zum Bundesrat, General- leutnant Gallwißg danft dem Abg. Dr. Spahn für sein Entgegen- kommen.

Die Position zux Deckung des Fehlbetrags im Etat von 1902 war mit 30 608 622 A6 bewilligt, die Zuschuß- anleihe in Höhe von 5 035 200 M.

Zum Etat der Zölle und Verbrauchssteuern liegen zwei Resolutionen der Budgetkommission vor, zum Etatsgeseßz noch ein Antrag des Abg. Spahn.

NUf Antrag des Nbg. Or. Arendt (Rp), der für die Budgelkommission zu berichten hat, wird mit Rückficht auf die späte Stunde die Diskussion dieser Resolutionen ausgeseßt und soll als erster Gegenstand für die nächste Sißung auf die Tagesordnung gesecßt werden.

Bei den Einnahmen aus den Zöllen und Verbrauchs- steuern erklärt auf eine Anfrage des Abg. Schmidt -Wanz- leben (nl.) der

Staatssekretär des Reihsshaßamts Freiherr von Stengel:

Meine Herren! Ich glaube dem Wunsche des hohen Hauses zu entsprechen, wenn ich in das Detail dieser Angelegenheit in so später Stunde meinerseits niGt eingehe. (Sehr richtig! in der Mitte.) Sch glaube mich beschränken zu können auf die ausführliche Dallecund Die Don meiner Seite erfolat it n dex Budgetkommission des Neichêtags, eine Darlegung, die in diesem hohen Hause in der Sißung vom 2. Mai d. I. von seiten des Herrn Abg. Dr. Arendt zur Mitteilung gelangt ist, und die auch Aufnahme gefunden hat in den stenographischen Bericht über die damaligen Verhandlungen.

Wenn es übrigens die Interessenten, die von dem Herrn Bor- redner vertreten sind, beruhigt, fo kann ih auch heute mich wiederum nur dahin aussprechen, daß irgend welche Differenz zwischen derNeihsverwaltung und der preußischen Negierung in der vorliegenden Frage nit besteht, und daß insbesondere au darauf legt, glaube ich, der Herr Vor- redner besonderen Wert, daß ih das ktonstatiere seit der Abgabe meiner Erklärung in der Budgetkommission des Reichstags ein Wechsel in den Auffassungen bis zur Stunde nicht eingetreten ist.

Bei der Branntweinsteuer erklärt auf eine Anfrage des Abg. Rettich (d. kons.) der

Staatssekretär des Reichsshaßamts Freiherr von Stengel:

Meine Herren! Ih muß ohne weiteres anerkennen, daß dur den ganz eigentümlihen Verlauf, den die Verhandlungen hier in diesem hohen Hause und in der Reichstagskommission seinerzeit über den Entwurf der Novelle vom 7. Juli 1902 genommen haben, eine Unstimmigkeit in den betreffenden Geseßzesparagraphen hineingekommen ist, und daß tie \chließlihe Fassung, wie sie hier beschlossen worden ist, eine Unstimmigkeit enthält, die keineswegs unbe- denklih is. Um eine Unstimmigkeit handelt es #ich, die auch nach Auffassung der Neichsfinanzverwaltung unter allen Umständen wird beseitigt werden müssen. Wenn wir eine Beseitigung nicht herbeiführten, so würde aus der gegenwärtigen Fassung des Gesetzes die Gefahr entstehen, daß neue Brennereien demnächst errihtet werden können, welche später entgegen den Absichten der Novelle von 1902 ein Kontingent bis zum Höchstbetrag von 80 000 1 in Anspru nehmen könnten. Die Gefahr scheint indessen im Augenblick noch nit so dringend, und zwar um deswillen nicht, weil die neuen Betriebe noch bis zum Ok- tober 1908 roarten müssen, bis ihnen das erböhte Kontingent zugewiesen werden könnte. Jedenfalls würden wir deshalb mit geseßlichen Maß- nahmen im Augenblick noch warten können. Es erscheint aber immer- hin indiziert, nicht mehr zu lange zu warten, sondern wo möglich {hon in der nächsten Reichstagssession eine Aenderung der betreffenden Bestimmung der Novelle von 1902 herbeizuführen, und da kann ich nur sagen, die Absicht der Reichefinanzverwaltung geht allerdings dahin, für die nähste Session eine folche abändernde Bestimmung vorzubereiten, die dann den gesetzgebenden Körperschaften zu unter- breiten wäre.

Ich bin übrigens dem Herrn Vorredner sehr dankbar, daß er den Gezenstand hier bei der dritten Lesung des Etats seinerseits noch zur Sprache gebracht hat, und zwar um deswillen, weil es immerhin ein avis au lecteur bedeutet, wenn ih nun meinerseits hier erkläre, daß diejenigen, die etwa, vertrauend auf jene Unstimmigkeit im Gesetz, Baulichkeiten vornehmen würden, um dann vom Jahre 1908 ab auf Zuweisung eines höheren Kontingents zu spekulieren, auf Sand gebaut haben würden. Ich möchte von dieser Stelle aus insbesondere auch davor warnen, daß solche, die ctwa jeßt {hon derartige Bauliÿkeiten eniriert haben sollten, si elwa der Hoffnung hingeben, daß sie künftig aus jener Unstimmiykeit der. bestehenden Geseßgebung für fich Nutzen würden ziehen können.

Zweite Beilage zum Deutschen Reichsanzeiger und Königlich Preußishen Staatsanzeiger.

Berlin, Sonnabend, den 14. Mai

Der Rest des Neichshaushaltsetats für 1904 wird ohne weitere Diskussion erledigt und die Beshlüsse zweiter Lesung überall bestätigt.

Zum Etatsgeseßt liegt folgender Antrag Spahn vor, als S 3a einzufügen:

„Insoweit die von den Bundesstaaten aufzubringenden Matrikularbeiträge für das Rechnungsjahr 1904 den Betrag von 219 650 000 A übersteigen, wird der Reichskanzler ermächtigt, deren Erhebung vorerst für dieses Nechnungsjahr auszuseßen, bis der zur Deckung des Bedarfs für dasselbe nah dea wirklihen Ergebnissen des Reichshaushalts erforderlihe Betrag festgestellt ist.“

Abg. Dr. Spahn: Die Einzelstaaten hatten sich darauf ein- gerichtet, die 24—25 Millionen ungedeckte Matrikularbeiträge zu über- nehmen. Jeßt ist die Summe durch unsere Beschlüsse um 174 Mil- lionen erhöht worden. Manche Einzelstaaten sind gar nicht in der Lage, diesen Beschlüssen ohne die größten Schwierigkeiten zu ent- sprehen, insbefondere diejenigen, die einen mehrjährigen Etat haben. Dieser Lage will mein Antrag gerecht werden.

Staatssekretär des Neichsshaßzamts Freiherr von Stengel:

Meine Herren! Der Bundesrat hat ja zu dem jeßt vorliegenden Antrag noch nicht förmlich Stellung genommen, aber ih erahte mich doh für ermächtigt, die Stimmung, die innerhalb des Bundesrats herrs{cht, zum Ausdru zu bringen, wenn ih erkläre, daß dieser Antrag in dankenswerter Weise den Weg zeigt, auf dem noch in letzter Stunde über die Finanzierung des Etats zwischen dem Reichstag und den ver- bündeten Regierungen zu einer Verständigung gelangt werden kann.

Der Beschluß, der bezüglih der Zuschußanleihe vom Reichstag in zweiter Lesung gefaßt wurde, hat in begreiflißer Weise niht nur bei den Einzelregierungen, fondern auch noch in weiteren Kreisen ge- rechte und lebhafte Beunruhigung erregt. Ih möchte jeßt niht mehr auf alle Gründe zurückfommen, die von meiner Seite und außerdem auch noch von anderen Seiten am Bundeêratstishe gegen eine solche Beschlußfassung geltend gemacht worden waren. Ich möchte bier nur noch einen Umstand besonders betonen, den au der Herr Vorredner {hon hervorgehoben hat. Die Beunruhigung, die entstanden ist bei den Negierungen, in parlamentarischen und in noch weiteren Kreisen ist um \o begreif- licher, wenn man bedenkt, in welcher Jahreszeit wir uns gegen- wärtig befinden, wenn man bedenkt, daß wir bereits in der Mitte de3 Monats Mai s\tehea und daß der NReihhshaushaltsetat noch immer nit zur Verabschiedung gelangen konnte.

Die Mehrzahl der Bundesstaaten hat ihren Haushalt \{on, und zwar zum nicht geringen Teile auf zwei Jahre, auf die Jahre 1904 und 1905 im voraus geordnet und geregelt; es sind Dispositionen ge- troffen oder wenigstens in die Wege geleitet worden, die auf diese beiden Jahre ih erstreen, und es war dabei von der bestimmten Vorausf\ezung auêëgegangen und es konnte au in Rücksicht äuf die Vorgänge in den früheren Jahren davon ausgegangen werden, daß dur die Beschlüsse des Neichstags eine Mehrbelastung an Matrikular- beiträgen gegenüber dem ursprünglichen Ansage in dem Etatsentwurf nit eintreten würde.

Nun kam der in der zweiten Lesung von seiten des Reichstags ganz unerwartet beschlossene Eingriff in die zum großen Teil bereits geordneten Haushaltsetats der Einzelstaaten, und da möchte ih meinerseits doch die Frage an das hohe Haus richten : was können die Einzelstaaten dafür, daß in diefem Jahre der NReich3- haushaltsetat von seiten des Reichstags in fo später Zeit erst erledigt wird? und erscheint es da nicht geradezu als ein Gebot der Gerechtigs- feit, unter dem langsamen Gange, den die Etatsberatungen diesmal im NReichêtage genommen haben, doch jedenfalls die Einzelstaaten und die Ordnung in ihren Haushalten nit leiden zu lassen ?

Ich möchte {ließlich meinerseits nur noch das eine bemerken, daß auf diesen Antrag des Herrn Abg. Dr. Spahn wohl auch von seiten des Reichstags wird um so eher eingegangen werden können, als ja durch diesen Antrag zugleich vermieden wird, daß auf die ur- sprünglich vorgeschlagene Zuschußanleiße irgendwie zurückgegriffen würde. Im Einvernehmen mit den verbündeten Regierungen möchte ih Ihnen daher die Annahme dieses Antrags auch meinerseits dringend empfehlen.

Abg. Freiherr von Richthofen-Damsdorf (d. kons.): Wir sehen cine Zuschußanleihe nach wie vor für verfassung8widrig an, wir wollen aber der Zwangslage Rechnung tragen und stimmen dem An- trage ausnahmsweise zu.

Abg. Dr. Sattler (nl.) erklärt, er finde es merkwürdig, eine fo weittragende Frage vor einem so s{chlecht besuchten Hause (25 bis 30 Abgeordnete sind anwesend) zu erörtern; er sei aber sachlih über den gefundenen Ausweg fs#hr erfreut und billige den Vorschlag um so mehr, als überhaupt sehr zu erwägen wäre, ob nicht die Matrikular- beiträge im Gegensaß zur bisherigen Praxis nach Maßgabe des be- stehenden Bedürfnisses erhoben werden sollten. Seine Partei sei für den Antrag.

Mit diesem Anirag wird das Etatsgeseß und mit ihm der Etat endgültig in dritter Lesung gegen die Stimmen der Sozialdemokraten angenommen.

Schluß 8 Uhr. Nächste Sißung Sonnabend, 1 Uhr (Nehnungsvorlagen, Resolution der Budgetkommission zur Zukersteuer, erste Lesung der Vorlage und des Antrags, be- treffend die Entlastung des Reichsgerichts).

Preußischer Landtag. Herrenhaus, 14. Sißung vom 13. Mai 1904, 12 Uhr.

Das Haus seßt die Generaldiskussion über den Staats- haushaltsetat für das Etatsjahr 1904 fort.

Herr Dr. Shmoller: Herr von Manteuffel und Graf Mirbach baben in Form von Wünschen ein allgemeines Regierungsprogramm entwickelt. Vielem stimmen wir zu, aber anderem müssen wir wider- \sprechen. In patriotisher Gesinnung stehe ih nicht hinter den Herren zurück. Ihre Reden baben mir den Eindruck gemacht, als treten hier zwei große Parteiführer mit einein neuen Programm auf, als sagten sie: das ist unser Programm, wenn wir einmal Minister werden. Wir haken aber, Gott sei Dank, kein parlamentarishes Sysiem. Sie haben Dinge dringlich und energisch gefordert, von denen der Herr Minister-

1904.

präsident wiederholt erklärt hatte, daß er dafür nicht zu haben sei. Wenn ih den Herrn Ministerpräfidenten mit den Agrariern reden höre, denke ih immer an den Vater, der mit seinem liebsten Sohne spricht. Die Herren forderten eine andere Sozialpolitik. Was für Mittel haben nun die Herren dafür angegeben ? Herr von Manteuffel hat {h in den Schleier des Geheimnisses gehüllt, Herr von Mirbach war etwas offener; er will Ausnahmegeseße haben. Die erste Vorbedingung für die Durchführung folher Programme ist aber immer, ‘Majoritäten zu finden. Daß die Herren sie hier haben, weiß jeder; aber das genügt für eine Veränderung unferer Reichspolitik niht ganz. Es ist in ab- sehbarer Zeit ganz undenkbar, daß der Reichstag, das Abgeordneten- haus und noch mehr der Bundesrat den Wünschen zustimmt. Und das tit der entsheidende Punkt. Wenn die Herren nun gesagt haben: wie das zu ändern ist, das ist ein- Geheimnis, so würde ich Herrn von Manteuffel dankbar sein, wenn er ein anderes Arcanum vorbrähte. Ih möchte ihn an seinen Vater erinnern, der mit dem Oberpräsidenten von Senfft-Pilsah die Aufhebung der Ver- fassung hinderte. Man hielt fest an den Formen der Ver- faljung und suhte 1867 Indemnität nah. Auch wir wünschen eine monarhishe Regierung über den Parteien und Klassen ; - was Herr von Manteuffel wünscht, ist eine Parteiregierung. Dem stehen wir {rof gegenüber. Die Sozialdemokratie ist allerdings eine große Gefahr, aber sie_ist nur cine Teilersheinung der heutigen Hebung der anderen Klassen. Wir haben eine technische und wirtschaft- lihe Revolution gesehen, wie sie die Menschheit in Jahrtaufenden niht erlebt hat, und die Reibung ist daher nicht wunderbar. Bei uns ist aber das Beklagenswerte, daß die Arbeiter unter die Herrschaft von Leuten gekommen \ind, die die bestehende Staats- ordnung bekämpfen. Das i das Traurige für Deuts{hland. Das Gefährlihe ist die politishe Theori ie sich daran knüpft, der Gedanke der Volks\ouveränität. Aber das ist noch nit die größte Gefahr. Die größte Gefahr ist die, daß die Führer der Sozial» demokratie unter die Herrschaft eines Mannes gekommen sind, der als Privatmann rein dastand und ein großer Gelehrter war, der aber die Gehässigkeit in die arbeitenden Klassen Deutschlands hineingetragen hat, den Gedanken: die bestehende Ordnung sei nur eine Kampfordnung. Aber solche geistigen Im- ponderabilien heilt man nicht mit der Polizei. Die Heilung in der Gefühlswelt zwishen den Klassen ist nur herbeizuführen durch eine gerehte Regierung, nie durch ein Klassenregiment das würde bie Dinge vergiften —, am wenigsten durch eine Erneuerung des Soztalistengeseßes. Ich muß sagen, dieses hat mehr geschadet als genüßt. Jett jedenfalls liegen die Dinge so, daß ih eine Erneuerung für den größten Fehler halten würde. Blicken Sie doch auf die anderen Länder. Die Spinnereien wurden während des Chartismus mit Kanonen beseßt. Das alles hat \sich gegeben, vor allem, weil Disraeli auf die Seite der Arbeiter trat und die Sozial- gesezgebung in die Hand nahm. Dadurch gewannen die Arbeiter wieder Vertrauen zu den Tories und stimmten jahrelang für dieselben. Ja, wenn wir einmal eine solche Aristokratie hätten, dann ließe \sich das machen. Eine gerehte Negierung über den Klassen ist das Richtige. Und wenn die Regierung heute so vorgeht, so gebe ih voll- fomnmen zu, daß dies nie den Erfolg verbürgen kann, aber noch weniger kann eine Gewaltpolitik diefen verbürgen. Alle großen Reformatoren haben eine Doppelpolitik verfolgt, zunächst und vor allem haben sie versucht, den besitzenden Klassen die Sicherheit ihres

e: Eigentums zu geben, dann aber haben sie den arbeitenden Klassen ge-

zeigt, daß sie eine billige shicdsrihterlihe Gewalt seien. Damit, glaube ih, kann und muß eine Umwandlung der Sozialdemokratie in einem bis zwei Menschenaltern gelingen. Die Nevisionisten beherrschen beute hon die Partei; und in dieser jüngeren Generation wird si bald ein neuer Geist zeigen. Ferner wie ift es möglich, die Arbeiterkoalitionen zu verbieten in einer Zeit, in der sich alles koaliert ? Vor allem kommt es darauf an, die Führer vernünftig, zu Leuten zu machen, mit denen \ih verhandeln läßt. Der frühere Finanzminister von Miquel hat immer und immer wieder gesagt, als er Oberbürgermeister war: Ih komme sehr gut mit den Sozialdemokraten aus. Auf diese Weise müssen die unteren Kreise lernen, mit zu verwalten und mit zu beraten, dann werden sie ih wandeln. Und nun lassen Sie mih noch ein Wort über die Handels- verträge sagen. Jch bin in den 70er Jahren angesihts der Krise in Wort und Schrift für eine Revision des Zolltarifs eingetreten. Aber hon damals sagte id mit dem Fürsten Bismarck, Erböhungen sind gefährlih. Das hat man vergessen, und man hat auch vergessen, daß man zu neuen Tarifverträgen kommen muß. Deutshland war in Ausland nie shlechter angeshrieben als im Anfang der 90er Fahre. Darum sehe ih die Handeléverträge von 1894 als eine rettende Tat an. Die Tonne Weizen ist damals um 86 # gefallen, aber daran sind die 15 Æ Zoll nicht huld; ziehen Sie diese ab, so bleiben immer noch 71 „J Minderertrag. Die Welthandelskonjunkturen waren daran \{huld. Hätte man diese voraussehen können, \o bätte man anders handeln können, aber das konnte niemand voraus\ehen. Seit 1895 haben sih die Preise auch wieder gebessert, und es ist eine groß- artige Steigerung unserer Industrie und unseres Handels eingetreten, die doch allen zu gute gekommen ist. Man kann der Landwirtschaft einen möglihst hohen Schuß wünshen nach meiner Ueberzeugung geht man jeßt zu weit —, doch davon will ich nicht reden. Wir haben einen Zolltarif zustande gebraht, aber die Handelsvertrags- verhandlungen mußten unter neuen s{wierigen Verhältnissen beginnen. Ueberall droht die erweiterte Schußzollpolitik. Man mußte daher zunächst mit denen verhandeln, mit denen es am leichtesten war. Das \heint erreiht zu sein, und Deutschland ist dann anderen Mächten degenuber dededl. Den Verttraa mil Argentinien 4 D. zut fündigen, wäre meiner Meinung nach grundfalsch, denn dies würde sich dann in Washington melden, ehe wir mit Nord- amerika zu einer Einigung gekommen sind. Nein, eine vorzeitige Kündigung der Handelsverträge würde die s{chwerste Schädigung der deutschen Stellung herbeiführen. Leichten Herzens kann man einen Zollkrieg nur beginnen, wenn man so stark ist, daß man aus dem Zollkrieg cinen wirklihen Krieg hervorgehen laffen kann. Kann oder will man das aber nit, fo foll man den Zollkrieg vermeiden. Wenn man auf das ganze deutshe Volk sicht, so baben die Herren, die vor- gestern sprachen, nur eine kleine Minderheit für ih. Und nach dieser fann man nit gehen. Dixi et salvavi animam meam.

Finanzminister Freiherr von Rheinbaben:

Meine Herren! Ich beabsichtige niht, auf die allgemeinen Aeußerungen des Herrn Vorredners einzugehen; aber ih halte es doch für meine Pflicht, im Interesse meines heimgegangenen großen Amts- vorgänpers dagegen Einspruh zu erheben, daß der Herr Vorredner ihn als Kronzeugen zitiert hat für seine Verteidigung der Sozial- demokratie. (Lebhaftes Bravo rets.)

Es mag sein, daß Herr von Miquel gesagt hat, daß man in Stadtverordnetenversammlungen sehr gut mit dem einzelnen Sozial- demokraten auskomme. Was beweist das für die Bewertung der Sozialdemokratie als Partei? (Sehr richtig!)

Das ift der Grundfehler des Herrn Vorredners, daß er die Tätigkeit des einzelnen Sozialdemokraten in der Stadtverordneten- versammlung überträgt auf die sozialdemokratische Partei als solche. Ich gebe zu, daß man unter Umständen sich mit dem einzelnen