1904 / 113 p. 7 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 14 May 1904 18:00:01 GMT) scan diff

Sozialdemokraten stellen kann. Ein Verteidigec der Sozialdemokratie als solcher ist Miquel nicht gewesen, und das habe ich für meine Pflicht gehalten, hier festzustellen. (Bravo! rets.)

Herr Dr. Schmoller: Ich kabe ausdrücklich bemerkt, daß Herr von Miquel diefe Dinge gesagt bat, solange er noch Oberbürgermeister war. Ich möchte Herrn von Rheinbaben aber sagen, wenn er in den Staatsratssizungen im Jahre 1896 anwesend gewesen wäre, so würde er von Herrn von Miquel eine Reihe Aeußerungen gehört haben, die nicht für ihn, wohl aber für mich sprechen.

Herr von Wedel-Piesdorf: Von einem Staatsstreih, den die Herren von Manteuffel und Graf Mirbach gefordert haben follten, habe ih nichts gehört, aber das Rufen nach einem festen Programm

egenüber den Sozialdemokraten wird ihnen niemand verargen können. Die Größe der Sozialdemokraiie haben wir selbst vershuldet durch unser radikales Wahlreht. Neulih hat si ein Nationalliberaler da- gegen au®2gesprochen und gesagt, was die Mehrheit seiner Fraktion denkt. Mit geistigen Waffen ist gegen die Sozialdemokratie nihts zu machen. Sie sagt dem Arbeiter: Du sollst weniger arbeiten und mehr Lohn bekommen, das leuhtet ihm ein. Alle anderen volkswirtschaftlichen Theorien aber sind für ihn unverständlih und aussichtzlos. Jh kann allerdings dem Herrn Reichskanzler nur recht geben, wenn er es ab- lehnt, Geseßentwürfe einzubringen, die jeßt nicht die Mehrheit er- halten. Aber ich glaube nicht, daß es dem Reichskanzler gelingen wird, durch Betätigung seiner durchaus lobenswerten Grundsätze die Sozialdemokratie niederzuzwingen. Auch seinen Vorgängern ift es auf diesem Wege nicht gelungen. Unter seiner Amtsführung ist die Sozialdemo- kratie stetig gewachsen, und wenn es so weiter geht, wird sie \{ließ- lih die Mehrheit im Reichstag haben. Daß wir kein Mittel gegen dieses Wachsen haben, liegt nur daran, daß die liberalen Parteien in einem verhängnisvollen Optimismus sich der Einsicht verschlicßen, ‘daß etwas mchr geschehen muß, als mit geistigen Waffen zu kämpfen. (Nuf links: Was denn?) Deshalb is es mein Wunsch und meine Hoffnung, daß die Lberalen, auh die, welhe in breiter Masse im Zentrum sigen, sich davcn überzeugen, daß eine Aenderung des Wahlgescßes notwendig ist. Ih will nicht das Dreiklassenwahl- system einführen, aber gewisse Aenderungen find notwendig. Vor allem muß die Wahl eine öffentlihe werden (Aha ! links), ein ge- wisser mäßiger Zensus muß eingeführt werden, und {ließli varf das wahlfähige Alter frühestens mit 30 Jahren beginnen. Wenn die Liberalen diesen wahrlih bescheidenen Wünschen Folge geben, so wird es die Staatsregierung nicht an sih fehlen lassen. Jh hoffe zu Gott, daß es dann noch nit zu spät sein wird. Jh hoffe, daß dann die Stüßen der Monarbie noch so fest sein werden wie heute und es elingen wird, eine Neform dur(zuführen. Die Liberalen aber ordere ih auf: tut bald, was Ihr tun müßt, damit es nicht zu spät wird.

Dr. Freiherr Lucius von Ballhausen: Ich nehme keinen Anstand, zu sagen, daß ich in der Beurteilung des Neichstags- wahlrechts usw. vollklommen mit dem Vorredner übereinstimme. Als es eingeführt werden sollte, wies selbst Waldeck darauf hin, daß es eine Gleihmäßigkeit der Bildung vorausseße, wie sie nie vorhanden fein werde. Am entschiedensten bekämpfte es von Sybel. Dieser sah darin den Uebergang zu der reinen Demokratie, die noch überall zum Umsturz geführt hat. Er ist damals mit größter Ent- schiedenheit für das Dreiklassenwahlsystem eingetreten, weil unter dessen Herrschaft mehr mit Vernunft unter vernünftigen Leuten tisfutiert werde. Die Verhältnisse haben ih seitdem nicht wesentlih geändert. Eine Wandlung aber hat \ich vollzogen dur das Wachsen der Sozialdemokratie; und ih glaube, durch das Prinzip „laissez faire, laissez aller“ fommt man mit ibr nit weiter. Das Wahlrecht bätte man nicht dur das neue Geseg über die Wahr- nehmung des Wahlgeheimnisses verstärken sollen. Wenn wir erklären, daß wir nicht eine weitere Befestigung dieses Systems wollen, so ist hon etwas geshehen. Jh habe das Sozialistengeseß für sehr gut gehalten und bedauere das Scheitern desselben aufs tiefste. Während der Geitung des Geseßes sind nur 11 Sozialdemokraten gewählt worden. Das Wachstum begann erst nah der Aufhebung des Geseßes. Es war ein verhängnisvoller Fehler von der Regierung, daß sie nicht erklärte, das Gese sei nicht unannehmbar, wenn der Aus- weisungsparagraph falle; darum fiel das ganze Geseß und wurde kein Teil unseres gemeinen Rehts. Mit dem Kampf mit geistigen Waffen haben wir nit den geringsten Erfolg erzielt. Alle Parteien, die ver- fut haben, mit ihnen zu paftieren, haben nur Hohn davongetragen. Es gehört ein großer Optimismus dazu, auf eine Mauserung zu hoffen. Immer neue Ansprüche werden erhoben, die unerfüllbar find, die aber wirken, weil sie ein Appell an die niedrigsten Leidenschaften find. Das Kassenwesen scheint jeßt in den Händen der Sozialdemokratie zu sein. Die Leistungen der Aerzte werden in einer Weise heruntergedrükt, daß jeder anständige Dienst aufhört. Und find die staatlichen Einflüsse nit stark genug, um dies zu paralysieren, fo wird wieder ein Kriegsfonds gebildet. Es ist ein naheliegender Ge- danke, daß die staaterhaltenden Parteien fih zusammentun zu gemein- schaftlidem Vorgehen gegen die Sozialdemokraten, und haben unsere Verhandlungen dazu nur das Geringste geleistet, so sind sie nicht verloren.

Graf von Mirbach: Herr Schmoller meinte, einer Reform auf den Gebieten, die wir erwähnt haben, ständen die Mebrheiten der Parlamente im Wege. Im preußischen Abgeordnetenhause würde dies niht der Fall sein, und was den Reichstag anbetrifft, so fönnie man ja dur einen neuen Reihstag eine andere Majorität \{haffen, wie es {hon bei anderen Gelegenheiten geschehen ist. Herr Shmoller \sprah ferner von einem feudal-aristokratischen Klassenregiment. Ih dâchte, wir sind doch noch in Preußen. Was das Ausnahmegesez gegen die Sozialdemokratie anlangt, so ist von den Führern der Sozialdemckraten auf allen Parteitagen zugegeben worden, daß es außerordentlich wirksam war. Es ist sehr bedauerlih, daß das zweite Sozialistengeseß fiel. Herr Schmoller exemplifizierte auf England. Man wird stets an dec Wahrheit vorbeishießen, wenn man eng- lishe Zustände und d28 englishe Volk irgendwie mit anderen Nationen in Parallele stellt. Das englishe Volk if bis in die arbeitenden Klassen hinein im Gezensaß zum deutschen und französischzn fo konservativ, fo patriotish, daß man es mit einem anderen nit in Vergleich segen kann. Soziale und politishe Reformen lassen ih infolge dieses Grundzugs des englishen Volkêcharakters in England auch viel leihter vornehmen als anderwärts. Herr Schmoller jagte, wir ständen ziemlich isoliert, wir seien nur ein kleines Hâäuflein, während feine Ansicht im Lande uad wohl auch in dzn Parkamenten geteilt werde. Jch glaube aber doch, daß seine Meinung nit so verbreitet ist, und vor allem hat die Regierung gegenüber der Sozial- demokratie eine Stellung eingenommen, die seinem Standpunkt diametral gegenübersteht. Man hat von der Sozialdemokratie als einer vorübergehenden Erscheinung gesprohen. Im geschichtlichen Leben ist schließlich alles eine vorübeczehendz Ersch:tnung, auch die französishe Revolution war eine solhe. Es fragt f nuc, welhe Folgen solche Ersheinungen für die Dauer zeitigen fönnen. Dem Herrn Finanzminister bin ih sehr dankbar dafür, daß er das, was über den Minister von Miquel geäußert worden ist, so entschieden zurückgewiesen hat. Meine Stellung zur Sozialdemokratie habe ih seinerzeit im Neichstage ganz klar definiert. Es würde unserem hristlihen Standpunkt durhaus nit entsprechen, wenn wir über jeden Sozialdemokraten, weil er ein solcher ist, den Stab brächen. Ich kann mir aber sehr wohl denken. daß gerade ideal angelegte Naturen, die in ihrem Leben Schiffbruch gelitten haben, zu der Ansicht kommen können, unsere staatlihen Zustände seien vezrrottet, und daß sie sih_ dann in das Lager des Umsturzes bezeben. Aber die Führer der Sozialdemokraten, darüber besteht kein Zweifel, sind Todfeinde von Religion, Gesellschaft und Staatsordnung. Sie müssen auf das nachdrücklihste befämpft werden. Es ist eben ein Kampf um die Existenz, dem man nicht aus dem Wege gehen kann Die Handels- verträge von 1894 nannte Herr Schmoller eine retiende Tat. Schon Herr Lucius von Balihausen, der damals Minister für Landwirtschaft war, batte eine andere Ansicht und schied aus seinem Amte. Die jeßige Lage der Neichéfinanzen zeigt gew!ß, daß im Abschluß der Handels- verträge keine rettende Tat lag. Ih möhte Sie bitten, nicht so glatt

und leiht über die Zollherabsezung hinwegzugehen. Jh wünsche niht, daß unsere Ansihten über die Reform des Wahlrechts ver- dunkelt werden. Jch muß über die Stellung der konservativen Partei [O infolge meiner Zugehörigkeit zum Parteivorstande do orientiert ein, und ih kann wiederbolen, daß die Frage des Wahlrechts niemals zur Diskussion irgend eines Teiles der konservativen Partei gestanden hat, und daß wir noch weniger in der Lage gewesen sind, dazu Stellung zu nehmen. Jch vers önlich bin nit so radikal. Ih habe nur gefagt, ich würde, wenn man es in meine Hand legte, nur die eheime Wahl ändern. Als neulih der Ministerpräfident von einem Ansturm der konservativen Partei sprach ih hatte überhört, daß er dies nur auf die Presse bezog —, und ich hiergegen protestierte, fiel der Zwischenruf : Kanalvorlage. Ich kann in Uebereinstimmung mit meinen Freunden folgendes erklären: Die Vorgänge bei der Beratung der leßten Kanalvorlage sind im Abgeordnetenhause so erschöpfend kritisiert worden, daß ih kein Wort dem hinzuzufügen habe. Daß sie schmerzlihe Erinnecungen in uns hinterlassen haben, wird uns niemand verdenken, aber ih füge hinzu, das wird die konservative Partei niemals dahin führen, von der ruhigen und objektiven Prüfung dieser Frage abzuweichen, und ih kann persönlich hinzuseßen : ih hoffe und wünsche eine Verständigung. Eine folche ist aber au beute sehr viel leihter gegenüber der neuen Vorlage, die nach vielen Richtungen einen ganz andern Naum einnimmt als die frühere. Jch weise also die Berechtigung dieses Zwischenrufs namens der konser- vativen Partei sowohl hinsihtlih der früheren Kanalvorlage als au hinsihtlih der St-llung meiner Partei gegenüber dec neuen Vorlage entschieden zurück. Als ih neulih lebhafte Klage darüber führte, daß auch Professoren für ein Bündnis mit der s\ozialdemokratishen Partei eingetreten seien, fühlte sich Herr Schmoller getroffen, und er bemerkte, davon fönne keine Nede sein. Ih babe Nach- forshungen angestellt. Professor Delbrück, der selbst beteiligt war, gibt in der „Politishen Korrespondenz“ der „Preußisch-n Jahrbücher“ unumwunden“ zu, daß ein solcher Plan bestanden hat; allerdings habe man nachher das Experiment aufgegeben. Fecner teilte die ,Kreuz- zeitung" am 27. November v. F. mit Bezug auf die Nachrihten über die Versuche mehrerer Professoren, im Wahlkreise Teltow-Charlotten- burg ein Kompromiß mit den Sozialdemokraten herbeizuführen, mit, daß Professor Schmoller im „Vogtländishen Anzeiger“ schreibe, unter gewissen Umständen sei er dafür gewesen, mit den Sozial- demotraten darüber zu verhandeln, daß ein Liberaler und ein sozial- demokratisher Kandidat aufgestellt werde. Jh möchte wünschen, daß Herr Feglesor Schmoller für die Zukunft von derartigen Vorstößen uriert sei.

Herr Dr. Shmoller: Ih möchte darauf erwidern, daß Herr Graf Mirbach vollständig bestätigt hat, was ih neulich gesagt habe. Daß Erwägungen stattgefunden haben, habe ih ausdrücklich betont.

Graf von Mirbach: Professor Delbrü, der selbst beteiligt ist, schreibt: gerade im Wahlkreise Teltow Charlottenburg war eine größere O von Professoren bereit, an die Spiße dieser Wahlbewegung zu treten.

Herr Dr. Dernburg: Die neuliße Mitteilung des Grafen Mirbach hat eine gewisse Aufregung bei einem Teile meiner Kollegen hervorgerufen. Unter anderem hat man sih auf mi berufen. Jch kann nichts anderes antworten, als daß ih es tief beklagen würde, wenn die deutshen Führer der Wissenschaft mit der Sozialdemo- kratie Kompromisse abschließen würden. Aber niht nur ih, auch die große Mehrheit der Professoren hat \ich dagegen erklärt. An diesem Widerspruh is au der Plan, dessen Durchführung ih schmerzlich bedauert hätte, gescheitert. Jch habe das Vertrauen, daß so etwas niemals geschehen wird, folange das preußische Königtum und die Universität in Berlin bestehen. Ich möchte im Interesse meiner Kollegen, im Interesse der großen Korporation, der ih an- gehöre, den Wunsch aus\prechen: Möchten die deutschen gebildeten Klassen ih nicht auf den Abweg führen lassen, der ihnen so ver- lockende Bilder vorzeihnet, möchten sie festhalten an dem historischen Necht, an unserem Königtum, an unseren Jnstitutionen, an allem, was bisher Deutschland und Preußen teuer war, was uns groß ge- macht hat, was uns erhalten wird in dem Widerstreit mit den Netdern der Nation, und was uns zu weiteren Erfolgen führen wird.

Herr von Buch: Ich bin der Meinung, wir stehen {hon mitten drinnen in der Revolution und wissen es gar niht. Zum Beweise möchte ih darauf hinweisen, daß wir uns der Sozialdemokratie gegen- über in der Defensive befinden, bei der wir {on wichtige Posten auf- gegeben haben. Wenn Sie zurückdenken, so iit es geradezu bedenklich, wie wir teilweise uns selbst in unseren Anschauungen der Sozial- demokratie gegenüber in den leßten 30 Jahren geändert haben. Vor 30 Jahren hâtte es fast kein Mens für mögli gehalten, was wir heute als ganz selbstverständlih betraten, daß eine starke Partei im Reichstag vorhanden ist, die dem deutschen Reichsoberhaupt und den Landesfürsten die geringste Ehrerbietung versagt, und daß den Herren, wie mir von zuverlässiger Seite mitgeteilt wird, Gelegen- heit gegeben wird, das Lokal zu verlassen, wenn ein Hoh auf unseren Allergnädigsten Herrn ausgebraht wird. Bedenken Sie serner, daß an der Spiße der Geschäftsordnungékfommission der Sozialdemokrat Singer steht, und daß eine Reichstags- kommission ihre Sißangen ausgeseßt hat, um den fozialdemo- kratishen Mitgliedern die Teilnahme an der Maifeier zu ermöglichen. Das sind doch Tatsachen, die ernst genug aufgefaßt werden können. Bedenken Sie ferner, wie aggressiv die Sozialdemokratie vorgeht; es find in leßter Zeit wieder Nachrichten durch die Zeitungen gegangen, daß königstreue Männer gezwungen worden seien, Arbeiter zu ent- lassen, die sih nicht den sozialdemokratischen Organisationen anschließen wollten, daß im Distriktsverband des Kriegerbundes zu Hannover der Beschluß gefaßt worden, daß kein Grund vorhanden sei, ein Mitglied wegen sozialdemokratischer Gesinnung auszuschließen, das sh wegen Ge- fährdung seiner wirischaftlihen Eristenz gezwungea sche, sih der Sozial- demokratie anzuschließen. Das passiert also schon in Kriegervereinen., Jett werden die Arbeiter gezwungen, fozialdemokratishe Stimmen abzu- geben, sie dürfen niht einmal Stimmenthaltung üben. Das Zustande- tommen der Abgeordnetenhauswahlen ist in vielen Bezirken nur durch die Gnade der sozialdemokratiscen Führer möglich. Sind das Zus- stände, angesihts deren wir von „geistigen Waffen" reden können ? Wir sprehen viel von Reichspolitik, und das müssen wir, denn das Reich ist auf Preußens Fundament aufgebaut, und wenn das Neich ins Wadeln kommt, fällt Preußen mit. Wir habzn die Pflicht, Preußen fo zu überliefern, wie wir es bekommen haben. Es gibt tue O kein Mittel, das ih niht für die Ecreichung dieses Zweckes guthieße.

Freiherr von Manteuffel: Die Herren Becker und Shmoller baben aus meiner und des Grafen Mirbah Wede Behauptungen konstruiert, die wir nie ausgesprochen haben. Ich habe nicht das Verlangen gestellt, daß das Sozialistengesetz wieder in Kraft gesetzt werden solle; ich habe nur ausgesprochen, daß ih auf das lebhafteste bedauerte, daß das Sozialistengeseß aufgehoben worden Ul, daß G eme Teinen rechten Sinn darin erblickden fönnte, daß man di: im Vergleihß mit den Sozial- demokcaten harmlosen und gemäütlichen Polen \{chlimmer behandle. Niemand wird beweisen können, daß das Sozialistengesey nicht \häd- lih gewirft habe. Das kann man aber beweisen: folange das Sozialistengeseß gegolten, hat sih die Zaktl der fozialdemokratischen Abgeordneten im VWeichstag verringert. Jch habe auch von der Ab- änderung der Wahlgesez2 ken Wort gesprohen. Endlich ist mir der Staatsstreich tatsäh!ih gar niht in Gedanken gekommen, ih habe wirklih an einen Staatsstreich zur Zeit niht gedacht. Er kann ja vielleicht später cinmal kommen, er würde jeßt durhaus inopportuna sein. Jh habe die Regicrung darauf aufmerksam ge- macht, daß man die geeigneten Momente gegen die Sozial- demokraten, in denen sie wirklichen Schaden davon haben, nit ver- passen sollte, und ein derartiger Moment is nach meiner Meinung schon verpaßt worden. Die Stimmung im deutschen Volke war nah den Vorgängen im Winter 1902/1903, als die Sozialdemokraten die systematische Obstruktion gegen den Zolltarif ins Werk gesetzt hatten, derartig erbittert ih erinnere nur an die Stellungnahme des Abg. Nichter —, daß, wenn damals die Regierung den Reichstag auf- gelöst bätte, die Neuwahlen zum Neich?tag ganz anders ausgefallen

wären. In einem Punkt stimme ich mit dem Professor Shmoller vollständig überein: Wir wünschen eine monarchische egierung, die über den Parteien und Klassen steht. Ih bin der Meinung, daß wir mit dem fogenannten „geistigen Kampf“ nicht vorwärts, fondern rückwärts kommen. Professor Shmoller sagte, mit einer gerehten Negierung würde man die Sozialdemokraten versöhnen, und er hat dabei auf die Gesezgebung in England usw. hingewiesen: Jch will mich über die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der Regierung hier niht weiter verbreiten, aber daß die Regierung bezüglih der Sozial- demokratie eine besondere Ungerechtigkeit an den Tag gelegt hat, muß ich auf das allerentshiedenste bestreiten. Sie ist von einer Nachsichtigkeit gegen die Sozialdemokratie gewesen, die an Schwäche grenzt und höchstens von einer Ungerechtigkeit zeugt, die zu Gunsten der Sozialdemokraten auszeübt worden ist. Was unseren Sozial= demokraten gegenüber den englisden und französischen fehlt, ist der Patriotismus, die Vaterlandsliebe und der Stolz auf das Vaterland. Wo würde jemals in Frankreih, wenn es #s{ch um .Wehr- vorlagen handelt, die Negierung * von den Sozialdemokraten im Stich gelassen? Wir erfahren es tägli. Der zweite Unterschied is der, daß keines von diesen Ländern ein so radikales Wahlsystem hat wie wir. Jch gehöre jeßt 27 Jahre den öffentlihen Parlamenten an; von jeher ist von der Mauserung der Sozialdemokratie die Nede gewesen. Ein anderer wesentliher Punkt, der uns den Kampf erschwert, ist, daß viele der hochgebildeten und der wissen- schaftlih anerkannten Autoritäten es sih nicht versagen können, allent-- halben bei passenden und unpassenden Gelegenheiten die bösen, \{euß- lichen, habgierigen Konservativen und Junker zu \{chmähen. Unter- lassen Sie dies, lassen Sie uns gegen den gemeinsamen Feind Front machen und ihn, hoffentlich unter a Regierung, energisck angreifen. Dann werden Sie ein großes Werk tun.

Graf zu Stolberg-Wernigerode: Ih möchte, .um Miß- verständnissen vorzubeugen, folgendes erklären: Jch gehöre der konservativen Fraktion des Reichtags seit langem an. Sie ist auf der Grundlage des jeßt bestehenden Wahlrechts gewählt, und ich möHte konstatieren, daß au innerhalb der Fraktion niemals über eine Aende- rung dieses Wablrehts beraten und von keiner Seite, von keinem

Mitgliede der Fraktion eine Aenderung dieses jeßt bestehenden Wahl--

rechts angestrebt worden ist.

Herr Dr. Lente-Barmen: Die Sozialdemokratie ist deshalb so außerordentlih gefährlih, weil sie weder Religion, noch Monarchie, noch Vaterland anerkennt und nur das Wohl ihres Standes im Auge hat. Wie soll man ihr nun begegnen? Ich müßte mich sehr irren, wenn Herr Graf von Mirbah nicht vor zwei Fahren den Ausdruck „Staatsstreih" gebraucht hätte. Derartige Aeußerungen maten die Sozialdemokratie nur stärker. Daß solche fozialdemokratishen Wahlen zu stande kommen, beruht zum großen Teil auf der vorzüglichen Organisation der Partei. Wenn die anderen Parteien ih ebenso organisierten, würden wir weiterkommen. Daß mit dieser Organi- sation etwas zu erreichen ist, haben wir in Barmen gesehen, wo wir nur dadur die Sozialdemokraten in der dritten Abteilung geschlagen haben. Ferner würde es uns den Erfolg verbürgen, wenn wir ebenso opferwillig wären wie die Sozialdemokraten. Herr Graf Mirbach appellierte an das Zusammengehen. Ich gebe ihm diesen Appell zurück. Dandelten die Konservativen fo, so kämen wir weiter: (Graf von Mirbach ruft: Tun wir ja!) Ich weiß davon nichts, und i erinnere nur an die Wahl in Frankfurt-Lebus, wo der Bund der Landwirte den bürgerlichen Parteien in den Nücken fällt. Eine Aenderung des Wahlrehts würde wenig nüßen. Zum Beweise führe ih an, daß i den Städten, wo wir die öffentlihe Wahl haben, die Arbeiter mit Stolz ihre Stimme für den Genossen abgaben, obwohl ifre Arbeit- geber dabei waren. Durch unsere Fehler ec erhalten die Agitatoren Stoff. Ein folher Fehler liegt meines Erachtens namentli au darin, daß si alles im Reichstage vor dem kleinen Mann verbeugt. Man sollte den Arbeitern öfter vorhalten, daß sie auch Pflichten haben; aber wenn die Leute immer lesen, sie würden {lecht be- handelt, fo sind sie \chließliß davon überzeugt. Auch in unseren Bolks\{hulen ist nicht alles rihtig. Wenn die Fragen der Religion und des Vaterlandes richtig behandelt würden, würde mancher junge Mensch nicht Sozialdemokrat. Der Herr Kultusminister sollte doch die Lehrpläne daraufhin cinmal prüfen. Nur wenn wir alle den einen großen Feind vor Augen haben und an Opferwilligkzit und Organisation den Sozialdemokraten gleichkommcn, nur dann werden wir weiterkommen.

Graf von Mirbach bemerkt: Es ist unwahr, daß ih jemals vom Staatsstreich gesprochen habe. Jh muß es als durchaus un- zulässig bezeihnen, daß ein Mitglied dieses Hauses chne zuverlässige Unterlage mir einen derartigen \chweren Vorwurf naht. Der Vor- wurf des Vorredners gegen die konservative Partei in Frankfurt kann nur darin liegen, daß die konservative Partei als die stärkste Partet einen nationalliberalen Kandidaten akzeptiert. Die zweite Kandidatur ist niht von ten Konservativen, sondern vom Bunde der Landwirte aufgestellt.

Herr Dr. Len tze- Barmen: Ich habe auch nur von dem Bunde der Landwirte gesprochen.

Graf von Mirbach: Das Wort „Bund der Landwirte“ ist nicht gefallen, es ist auëdrücklich gesagt worden „die Konservativen“.

Herr Dr. Lene: Ich habe das Wort „Bund der Landwirte“ nit ausgesprochen, aber aus dem Zusammenhange war es unverkennbar zu entnehmen, daß ih den Bund meinte.

Herr Dr. Schmoller: Zunächst möchte ih den Herrn Grafen Mirbach bitten, den Zweifel zurückzunehmen, den er an meiner Wahr- haftigkeit bezüglih der Dinge, die ih von Herrn von Miquel berichtet habe, ausgesproden hat. Diesen Zweifel habe ih nicht verdient. Ferner möchte ih daran erinnern, daß au in Torgau Freikonservative und Sozialdemokraten zusammengearbeitet haben, zur Bestätigung meiner Bemerkungen, daß solhe Kompromisse einmal vorkommen können. Was meine Bemerkungen über den Staatsstreich betrifft, so habe ih nicht gesagt, daß ih einen folhen von seiten des Herrn Grafen Mirbach erwarte, sondern daß man in der Oeffentlichkeit hinter dem Worte Geheimnis diesen Staatsstreih vermuten werde. Ih kann jeßt nur konstatieren, daß Freiherr von Manteuffel und Graf Mirbach denselben mit großer Energie perhorresziert haben. Was die geistigen Waffen betuiffft, so habe ich ausgeführt, daß derartige Erscheinungen nur im Laufe der Zeit durch eine gerechte Staatsverwaltung und ge- rechte Behandlung unter Vermeidung von Auêsnahmegeseßen nah und nah sih ändern. Ich habe auch nit behauptet, die Sozialdemokratie werde vershwinden, sondern habe nur gesagt, sie werde in eine Arbeiterpartei sich verwandeln, mit der die übrigen paktieren können. SHließlih habe ih die Konservativen nie angegriffen und habe sehr oft ihre großen Verdienste hervorgehoben. Ich aber werde systematis{ von der „Kreuzzeitung“ mit der Ehre bedaht, von ihr nach allen Seiten angegriffen ¿zu werden. Jm übrigen bätte i noch vieles zu sagen, aber ih verzihte darauf, weil bei folhen Nekriminationen ohne den stenographishen Bericht nihts herauékommt. Jh habe bei allen den Antworten, die ih bekommen habe, das Gefübl gehabt, daß fi? das niht trafen, was ih gesagt habe, und ließe damit, an 7 mich in keiner Weise widerlegt fühle dur das, was ge- agt ist.

Graf Botho zu Eulenburg: Ich kann, ohne den Wert einer gerechten und 1ihtigen Behandlung irgendwie zu unters{häßen, mi nicht der Meinung hingeben, daß auf diescm Wege allein diese Gefahr überwunden werden könne. Notwendig ift eine kräftige Abwehr und der Schutz der Staatsbürger gegen die Angriffe der Sozialdemokratie. Und darum follten alle bürgerlichen Parteien ehrlih zusammenfstehen in der Bekämpfung der Gefahr. Nur wenn wir das tun, werden wir des Sieges sicher sein. Dieses Ziel fördert man aber nit, wenn man unausgeseßt Leuten Motive unterlegt, die sie nicht haten, und ihre Vorschläge als brutale Gewalt oder Streben na Klafsen- herrschaft bezeichnet. i :

Damit s\{ließt die Generaldiskussion über den Staats- haushaltsetat für 1904.

Das Haus tritt sodann in die Spezialberatung ein und

verhandelt zunächst über den Etat der landwirtschaft-

lihen Verwaltung.

err von Me aratarti erstattet den Kommissionsbericht.

raf von Korff bittet den Minister, zu veranlassen, daß § 14 des Fleischbeshaugeseßes dahin abgeändert werde, daß eine einmalige Stempelung auch zur Einfuhr in die Städte genüge.

Minister. für Landwirtschaft 2c. von Podbielski: Die Unter- suhungen stehen zur Zeit nit durchweg auf derselben technis{hen Höhe. Die gewöhnlichen Fleishbeshauer find approbierten Tierärzten nit gleihwertig. Daher ist eine Abänderung des Gesetzes in dieser Richtung in den nähsten Jahren nicht zu erhoffen.

Graf von Mirbach: Jh möchte den Minister bitten, unserer

ausgindustrie seine Fürsorge in erhöhtem Maße zuzuwenden, und LN künftig Aufforstungen wesentli in diejenigen Kreise zu leiten, in denen es an Wäldern und Winterarbeit fehlt.

Minister für Landwirtschaft 2c. von Podbielski:

Ich möchte dem Herrn Grafen Mirbah zunächst antworten auf die erste Frage. Gewiß ist es meine Aufgabe, die ländlihße Haus- industrie zu unterstüßen und den Herrn Handelsminister zu bewegen, aus seinen Fonds dazu etwas herzugeben. Speziell Industrie- und Gewerbefragen sind das Nessort des Herrn Handelsministers.

Was nun die Forstfrage anlangt, so möchte ich Herrn Grafen Mirbach die Frage vorlegen: glaubt Herr Graf von Mirbach, daß auf solchem Boden, auf mäßigem Sandboden, auf dem durch lange Jahre hindurh mit s\chlechtem Erfolge Landwirt- haft betrieben worden ist, in absehbarer Zeit Wald von be- friedigendem Ertrage erzogen werden fann? Ih stehe im großen Ganzen auf auf dem Standpunkt, die Forstverwaltung muß mehr bestrebt sein, eigentlitden Waldboden als altes ausgesogenes und minderwertiges Ackerland zu erwerben. Die Er- fahrungen, die mit der Aufforstung solchen ausgenußten Ackerlandes gemackdt worden sind, sind im allgemeinen so unerfreuliche, daß ih dem Wunsche des Herrn Grafen Mirbach, vorzugsweise derartige Ländereien zu Aufforstungszwecken zu erwerben, um so weniger werde entsprechen fönnen, als diese Akerböden im allgemeinen noch viel zu hoch und weit über den Forstboden bewertet zu werden pflegen. Meine Herren, steigt der Preis solhen Bodens über 80 4 für das Hektar, dann ist tatsählich dur die Holzzuht eine Nente niht mehr aus ihm herauszuwirtshaften. Ich halte mi ferner für verpflichtet, in Hin- sicht darauf, daß wir jeßt erheblihe Einschläge infolge teils von Witterungéshäden, wie z. B. in Oberschlesien, teils von dem Auf- treten verschiedener {ädlicher Insekten, die große Waldbestände ver- nihtet haben, machen müssen, in dem gleihen Maße, wie unsere Bestände infolge f\olcher außergewöhnli&en Kalamitäten über den gewöhnlißen und dauernd möglichen Abnutungss\aßtz hinaus zum Einschlag gebracht werden müssen, neuen, Holz erzeugenden Grundbesiß- zu erwerben. Aus Bestand und Boden scßt \sich der Wert der Forst zusammen. Geht von den normalen Bestandes- vorräten der Forst etwas verloren, so muß, um ihren Gesamtwert niht zu vermindern, der Bodenwert entsprehend erhöht werden. Ih glaube aber, wie bereits hervorgehoben, daß wir gut daran tun, für sol&e Erwerbungen in erster Linie alten Waldboden und nit aus- gesogene Ackerländereien ins Auge zu fassen. Es kommen im Osten ganz folossale Flähen zum Angebot, sodaß wir nur wünschen können, die staatlihe Forstverwaltung hätte die Mittel, in umfangreiherem Maße dem Angebot entsprehend mit Ankauf vorzugehen.

Graf vonMirbach: Wenn der Herr Minister von allen idealen Zielen absieht, hat er ja vollkommen recht. Wir aber wünschen, au wenn der Wald in der esten Eeneration keine Rente ergibt, Wald dorthin zu bringen, wo es an Holz und Winterarbeit fehlt.

Znzwischen ist ein der Anregung des Grafen von Korff entsprehender A ntrag eingegangen.

Herr Struckmann- Hildesheim bittet um Ablehnung des An- trages, da er eine insanitäre Maßregel sein würde.

Herr Kirschner - Berlin: Im Kösönigreih Sachsen - hat die Negterung eine andere Ansicht als unfere Regierung. Dort wird den Städten das Recht der Kontrolle gewahrt. Die Dresdener werden also die Sicherheit haben, die uns unter der Devise: „Preußen in Deutschland voran“ genommen wird. Außerdem ist der ähsische Tarif doppelt fo hoch als der Berliner. Dem Herrn Minister möchte ich auf seine kürzlich gemahten Ausführungen erwidern: folange das Ortsstatut besteht, werden alle Minister- erklärungen nichts daran ändern, daß wir die NachuntersuGung ver- langen und jeden, der dagegen sündigt, vor den Strafrichter ziehen werden. Wir brauchen die Nachuntersu(ung zur Bekämpfung der Tuberkulose. Ich bitte daher, daß das Staatêministerium nicht auf den einseitigen Vorschlag des Landwirtschaftsministeriums bes \hließt, sondern daß man wahre Sachverständige hört. Jm übrigen bin ih ohne Sorge. Erfechten Sie jeßt einen Sieg, so wird es ein Pyrrhuésieg sein, denn das Interesse ter Volkshygiene wird hließlich siegen.

Minister für Landwirtschaft 2c. von Podbielski:

Meine Herren! Der Herr Oberbürgermeister von Berlin geruhte neulich {hon anzudeuten, daß die Straße, die ih ginge und bisher gegangen fei, gepflastert sei mit zahlreichen Leichen, die i auf dem Gewissen hätte. Meine Herren, ih weiß ja sehr wohl, daß Berlin ein ausgezeihnetes Pflaster und daher keine Verwendung für Pflaster- steine hat. Vielleit ist das aber an anderen Stellen, ctwa bor den Toren der Stadt möglich. Au heute wieder war die Mede des Herrn Oberbürgermeisters auf denselben elegishen Ton abgestimmt, für den ih kein Verständnis habe. Da ist es mir, meine Herren, doch viel lieber, wenn ofen und ehrlich gesagt wird, wie das der Herr Oberbürgermeister von Cöln getan hat : „die Frage ist für uns in hohem Grade von finanzieller Bedeutung“. Nun aber hüllen Sie sich wieder in den hygienis@en Mantel! (Oho!) Gewiß, meine Herren, der Herr Oberbürgermeister sagte eingangs seiner Rede, der städtischen Bevölkerung ia Berlin werde in sanitärer Be- ziehung das versagt, worauf sie berechtigten Anspru habe. Herr Dberbürgermeister, ih frage: Kennen Sie einen Unterschied zwischen den Bewohnern der Städte Schöneberg, Rirxdorf und Berlin? Sie werden als ehrliher Mann antworten müssen: „nein, es find hier wie dort s\tädtishe Bewohner, deren sanitäre Bedürfnisse die gleihen sind." In den Vororten Berlins, wo \ich keine Sÿlachthäuser befinden, ist nun aber eine Nachuntersuhung tierärztlih vorunte:suhten Fleishes nit zulässig. Für Berlin selbst dagegen, an dessen Straßenzüge sch die bebauten Vororte vielfach unmittelbar ans{licßen, wird der Anspruch auf eine folhe Nachuntersuhung als bygienis unerläßlih bezeihnet. Meine Herren, ih kann das nicht als berechtigt anerkennen. Es ist durhaus kein Grund erfindlih, weswegen Fleish, das in Schöneberg ohne weitere Beschränkung in den Konsum kommen kann, den Be- wohnern Berlins vielleiht nur einige Schritte weiter Schaden tun foll. Ja, meine Herren, das können Sie doch nicht verteidigen; ich meine, das ist ein Standpunkt, der ganz unmöglich ist. Jch muß dem Herrn Oberbürgermeister ein sehr komisches Erlebnis erzählen. Unmittelbar nachdem vorgestern die Debatte hier über die

gleihe Frage stattgefunden hatte, hat mir jemand zwei Pfund Rindfleisch zur geneigten Ansicht geshickt, die auf der hiesigen Zentral- markthalle gekauft und so mit Karbol behandelt waren, daß kein Mensh sie genießen konnte. Ja, meine Herren, auch in Berlin wird durch die Nachuntersuhung der Verkauf gesundheits\{ädlihen Fleishes nicht verhindert werden können. Dazu muß eine wirksame Markt- und Fleiscerlädenkontrolle hinzutreten. Das gilt ebenso für die etwa 400 Städte mit öffentlihen Shlachthäusern wie für sämtlihe etwa 1200 s\täd- tische Gemeinden in Preußen überhaupt, namentli für die- jenigen, die unmittelbar vor den Toren Berlins liegen. Nun wird mir die Regelung der Frage im Königreih Sachsen vor- gehalten. Es ist richtig, daß dort die Nachuntersuhung frischen Fleishes in Schlahthausgemeinden noch unbeschränkt stattfindet. Aber das entspricht doch auch dem gegenwärtig noch in Preußen geltenden Zustande, und es is eine bekannte Erfahrung, daß die kleineren Staaten in solchen Fragen ers nach oder mit Preußen vorgehen. Ich kann dem Herrn Oberbürgermeister mitteilen, daß dies beispielsweise auch für Hamburg gilt. Man ist dort dur- aus bereit, sobald in Preußen dem tierärztlih untersuten Fleis die Breizügigkeit in Schlachthausgemeinden gewährt sein wird, die gleiche Negelung loyalerweise au einzuführen. Bis dahin kann man es aber Hamburg nit verübeln, wenn es die Nahuntersuhung verlangt.

Meine Herren, die Angriffe, die gegen mich wegen angeblider Vernachlässigung hygienisher Gesichtspunkte neulich unter Berufung auf die Finnen, beute unter Hinweis auf die Tuberkulosegefahr geridtet werden, sind um \o weniger gerehtfertigt, als meine ganze dreijährige Tätigkeit als Landwirtschaftsminister in besonderem Maße darauf gerichtet gewesen ist, die dauernde gute Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln sicherzustellen, die durch die Landwirtschaft hervorgebraht werden. Jch kann darauf hinweisen, daß ih der Land- wirtschaft den dringenden Rat gegeben habe, in mögli weitem Umfange Jungvieh aufzuziehen, statt dem durch die hoben Preise für Kalbfleish hervorgerufenen Anreiz, die Kälber zu \hlachten, nachzugeben, damit nicht in einigen Jahren berechtigter Grund zu einer Klage über Mangel an Rindfleisch entsteht. Jh sorge ferner rüksichtslos für eine energishe Bekämpfung der Viehseuchen und nüte damit direkt und indirekt auch der Gesundheit der \tädtishen Bevölkerung. Ih weise nur darauf hin, daß durch die Mil von kranken Tieren Krankheiten auf die Mens§en, namentlih auf die Kinder, übertragen werden können. Dem kann nitt durch cine Untersuhung der Milch, sondern durch die Mafß- nahmen zur Verhütung von Viehseuhen auf dem Lande vorgebeugt werden. Erfüllte ih hier meine Pflicht nicht, dann hätten die Städte alles Neht, mich zu beshimpfen; mih aber wegen meines Eintretens für die Freizügigkeit des tierärztlih untersuhten Fleisches als einen Ver- brecher hinzustellen, das halte ih für ungerecht. Wenn gesagt worden ist, daß in den Vororten Berlins meist Fleisch gegessen wird, daß aus dem biesigen Schlahthof stamme, so erwidere ih, daß jedenfalls die Menge des nicht dort ausgeschlahteten Fleishes ni@t unbeträhtlich ist und daß es z. B. in Nixdorf viele Lokale gibt, nah denen auch die Berliner hinstrômen und in denen sie FSleisch genießen, das nicht den Berliner Beschaustempel trägt. Ich bemerke endlich, daß es sich bei der Stellungnahme für die Freizügigkeit des Fleis(es nicht etwa nur um cine einseitige Erklärung von mir handelt, sondern um cine Ent- schlicßung des Staatsministeriums. Was die Frage anlangt, ob für tas nach Berlin eingeführte und bereits tier- ärztlih vorunte:suhte Fleisch durch Gemeindebes{hluß die Zu- führung zu bestimmten Untersuhungsstationen angeordnet werden kann, so babe ich allerdings eine Antwort in verneinendem Sinne nur für meine Person abgegeben. Der Herr Oberbürgermeister hat die Richtigkeit meiner juristischen Deduktion mit überlegener Miene be- zweifelt. Das läßt mi kalt; tenn ih vermute, daß auch diz Stadt Berlin im Vertrauen auf die mangelhaften juristischen Kenntnisse des Gegners schon manchen Prozeß geführt und verloren hat. Der Herr Oberbürgermeister vocht auf die bestehenden Orts- statute. Ich bin ter Ansicht, daß diese Statute bis zum 1. Oktober

d. J. abgeändert werden müssen und jedenfalls ihre Gültigkeit ver-

lieren, insoweit fie mit den dann in Kraft tretenden geseßlihen Vor- |

schriften nicht vereinbar sind. Wenn das Staateministerium meiner Auffassung beitritt, werden wir auch Mittel und Wege finden, um dieser Auffassung bei den Städten Geltung zu vershaffen. Das werden wir mit derselben Bestimmtheit tun, mit der wir dem Be- streben entgegentreten, au die von Laien autgeführten ÜntersuBungen denen durch Tierärzte in Schlachthausgemeinden glei@zuftellen.

Wenn endlich der Herr Oberbürgermeister noch eine weitere Frist für | s

die Schlachthausgemeinden in Anspru nimmt, um \ich auf die neucn Verhältnisse einzurichten, so weise ih darauf hin, daß ihnen tatsälid eine Frist von 13 Jahren gelassen ist und daß dies meines Er- ahtens genügt. Ich halte den Zeitpunkt für gekommen, um aus der Durchführuung der allgemeinen Fleishbef@au die Konsequenzen zu ziehen.

Herr Schmieding zieht den eingebrachten Antrag zurü.

Herr Becker- Cöln: Der Landwirtschaftsminister erklärt, ih hätte neulich) im höchsten Maße die finanzielle Seite der Sache betont. Er befindet \ih in cinem großen Jrrtum. Ich karn mit Bestinmts- heit erklären, daß ih das nit getan habe. Im übrigen freue ih mich, daß Herr Schmieding den Antrag zurückgezogen hat.

Herr Körte- Königsberg: Ich bin auch ein \tädtisher Vertreter und habe neulich autdrücklich betont, daß die finanzielle Seite es nicht ist, die uns so sehr berührt, daß wir die Lasten, wenn es nötig ist, tragen müssen und werden. Daß uns die finanzielle Seite nit ganz gleichgültig fein kann, ist felbstverständlih. Wie soll denn die Ueberlastung der Städte abnehmen, wenn Sie deren Einnahme- quellen verringern? Wir müssen _darauf sehen, daß Anlagen, die wir, um bessere sanitäre Zustände zu \chafen, errihtct, in die wir Millionen und Abermillionen hineingesteckt haben, sich verziasen. Dem Zusammenarbeiten der verschiedensten Stände, Kreise und Schichten kann ein solches Vorgehen, wie es in dem An- trage und der Verhandlung zum Ausdruck kommt, nit dienen. Es heißt direkt die Mehrheit der Vertreter der Städte und der Be- völkerung der großen Städte, die hinter uns \teht, provozieren durG einen derartigen Antrag. Damit dient man der Nube und dem Oen im Lande niht. Solche Verhandlungen sind nur eine Be- tätigung des Sates, daß man die Städte als quantité négligeable behandelt. L

Herr Kirschner: Der Herr Minister hat gesagt, Oberbürger- meister Becker habe ehrlich gesprochen. (Zurufe: Nein!) Wenn Sie das in Abrede stellen, so können Sie alles bestreiten. J habe es

enau gehört. (Mehrfsahe Rufe: Jch auch!) Jn diesem Worte ist für mich der Vorwurf der Unehrlichkeit enthalten. Das muß jeder logish Denkende zugestehen. Ich bestreite dem Landwirtschaftsminister

das Recht, mir einen solchen Vorwurf zu maten. Wohin foll es kommen, wenn an einer Stelle, wie im Herrenhause, die an der Dis- kussion beteiligten Faktoren ih in dieser Weise entgegentreten ! Der Minister hat auf Schöneberg und Rirdorf hingewiesen, die keinen Shlachthof haben. Diese beziehen aber zum größten Teile ihr Fleisch aus Berlin, mit dem sie eine wirtschaftliche Einheit bilden; sie sind vollständig berechtigt, ih L E dasjenige zu schaffen, was Berlin besißt. Es liegt also nur an ihrer Ent- schließung, und sie stehen Berlin nicht nah. Es ift ja auch bekannt, daß Charlottenburg gegenwärtig damit umgeht, sih einen Shlachthof zu errichten.

Minister für Landwirtschaft 2c. von Podbielski:

Ich kann mich nicht genau der einzelnen Worte erinnern, die ih gebraucht habe. Jch muß aber dem Herrn Oberbürgermeister Kirschner erwidern, daß es mir nicht eingefallen ist, den Herren den Vorwurf der Unehrlichkeit zu mahen. Das hat mir vollständig fern gelegen ; ih habe nur klar stellen wollen, daß die hygienishen Besorgnisse gar keine Berechtigung haben und daß für die Stellungnahme der Herren die finanziellen Sorgen von größter Bedeutung \ind, wobei ih auf die Aeußerungen des Herrn Oberbürgermeisters von Cöln zurücgegriffen habe. Jch glaube, die Herren würden dem Interesse der Städte viel mehr dienen, wenn ste versuchten, zu einer Verständigung mit der Staatsregierung zu kommen, als si auf den \hroff ablehnenden Standpunkt zu stellen, den der Herr Oberbürgermeister von Berlin eingenommen hat, und mir sozusagen mit dem Richter zu drohen. Dem- gegenüber muß ih natürli auch meine Haltung mit Bestimmtheit rechtfertigen. Diese Haltung ist mir vorgezeihnet erstens durch die von mir festgestellte Gleihwertigkeit aller tierärztlihen Untersuhungen und zweitens dur die mir obliegende Fürsorge dafür, daß nit eine un- nôtige Verteuerung des Fleisches eintritt, wie sie beispielsweise ein- treten könnte, wenn das Fleish in den Schlachthausgemeinden nit nur in den Formen der allgemeinen Nahrungsmittelkontrolle über- wacht, sondern wenn weiter angeordnet würde, daß das Fleish nah einem bestimmten Orte zur Untersuchung gebracht werden folle.

Wenn dann der Herr Oberbürgermeister von Königsberg sagt, daß dur den gestellten Antrag Unfriede gestiftet werde, so wird er mir nicht verargen, wenn ich ihm erwidere, daß gerade die Fleishverteuerung die Hauptursahe der Unzufriedenheit werden könnte. Das hat sich in Königsberg selbst zu einer Zeit, als

der Herr Oberbürgermeister noch niht dort war, deutlih gezeigt, Damals hat die ungesunde Bildung der Fleishpreise in Königberg, die jungerechtfertigte Spannung zwishen Shlachtvieh- und Fleishs 1 diesem hohen

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preis, die nah den Mitteilungen eines Redners Hause bis auf 47/9 des Viehpreises gestiegen ist, zu der aller-

größten Unzufriedenbeit Anlaß gegeben sowohl draußen auf dem Lande als

auch in den Städten, namentli in der ärmeren städtischen Bevölkerung.

Wir alle haben die Aufgabe, diese ungesunde Pceisbildung zu ver-

hindern. Wie wird doch sonst gezen die Ringbildung auf den verschiedenen Gebieten geeifert ! Es ist nit zu leugnen, daß die S \lachthausgeseßgebung die Möglichkeit zu einer Ningbildung in bezug auf das Fleisch gibt.

Sie müßten einer Ansicht nach auch diese Ringbildung bekämpfen, die nicht dazu beiträgt, cine Verbilligung des Fleishes, sondern etne Verteuerung herbeizuführen. In bezug auf die Preisbildung aber be-

steht kein Gegensaß zwischen Land und Stadt. Beide baben ein mits einandergehendes vitales Interesse an ciner gesunden Fleischpreisbildung

in den Städten.

Herr Körte: Die ärmere Bevölkerung hat in erster Linie ein nteresse an gutem, in zweiter Linie erft an billigem Fleisch. Wenn das Fleis nit gut ist, so haben wir die Pflicht, Einrichtungen zu [chaffen, die es verbessern. Die Legende von dem angeblihen Interesse an der Preisbilduag des Fleishe3 und der etwa vermehrten Unter- suchungsgebübr ist neulich s{chon gründlih widerlegt worden. Daß die &rage der Verbilligung oder Verteuerung des Fleisches niht mit diesem Gegenstande zusammenhängt, ist ebenfalls bereits neulich nah- gewiesen. . : Í

Verr von Klißing: Ih muß mich gegen den Vorwurf wenden, der gegen diese Seite des Hauses erhoben worden ist. Wir sind so loyal verfahren, wie wir konnten. Der Antrag kam uns überraschend, wir lernten ibn erst dur die Verlesung vom Präsidenten kennen. Er ist auch zurückgezogen worden. S E 5 :

Herr Dr. von Burgsdorff bemängelt, daß in den General- kommisfionen die Juristen und nicht die Landwirte überwiegen. Man sollte do nicht Juristen, die landwirtschaftlihe Kenntnisse besitzen, sondern lieber Landwirte wählen, und diese einem jurtsti]shen Examen unterwerfen.

Minister für Landwirtschaft 2c. von Podbielski:

Ich möchte zunächst, was die Frage der Oekonomiekommissare an- | langt, Herrn Dr. von Burgsdorff erwidern: die Zahlen waren lis treffend vor etwa zwölf Jahren; seit der Zeit ist die landwirtschafts lie Verwaltung unausgeseßt bestrebt gewesen, Oekonomiekommissare aus lândlihen Kreisen anzustellen. Da vielfach wenn ih so sagen soll verunglückte Landwirte den Wunsch haben, als Oekonomie- kommissare cine Anstellung zu bekommen, so kann ih es mir sehr wohl erklären, daß hier für die JInieressen dieser Herren auhch mal das Wort ergriffen wird. Aber ich wiederhole:

prinzipiell i eine wesentlihe Aenderuyg seit zwölf Jahren

eingetreten. In der Frage der Rentengutsbildungen darf ih Herrn | Dr. von Burgsdorff darauf hinweisen, daß seit Emanation des Gesezes | bon 1891 nur 329% der Rentengüter zur Subhastation gekommen sind. Das ist jo verschwindend wenig für einen Zeitraum von dreizehn Jahren, daß es kaum in Betracht kommt. Ich gebe zu, die General- lommissionen haben in den ersten Jahren Fehler gemaht; ih kenne

D

solhe mißglückten Rentengutsbildungen bei Glogau, in Ostpreußen,

in Pommern, hier freilich meiftenteils infolge davon, daß wir die | sogenannten Heinrihsdorfshen Parzellierungen übernehmen mußten, | Aber das sind doch im großen und ganzen vershwindend wenig Fälle. | Hierbei möchte ih darauf binweisen was ich auch neulich im | Abgeordnetenhause getan habe —: daß wir dabei sind, eine neue gesetzes lihe Gestaltung für die Generalkommissionen vorzunehmen, und, meine | Herren, dann wird der Moment kommen, wo die Herren ja nah den | verschiedensten Nichtungen ibre Wünsche und Jnteressen zum Ausdruck | bringen können; denn ingbefonderé für unsere innere Kolonisation wird | das Gesetz über die Generalkommissionen von größter Bedeutung sein. Meine Herren, wir haben jeßt ungefähr 2000 Paragraphen in den von den Generalkommissionen zu bearbeitenden Nechtsmaterien, sodaß | es unendlich s{chwer ist, sich darin zurecht zu finden. Inzwischen ist au das Bürgerliche Geseßbuh in Kraft getreten, daß nah manten Richtungen hin alie Bestimmungen des Agrarrechts einschneidend ab- | geändert und modifiziert hat. Dies alles maht die neue Gesetzes vorlage über die Generalkommissionen notwendig. Ich habe sie dem | Abgeordnetenhause zugesagt und hoffe, daß wir, wenn auch nicht im nächsten Jahre, fo doch in zwei Jahren diese Vorlage werden machen können. Inzwischen wolle sch Herr Dr. von Burgsdorff versichert