1884 / 71 p. 6 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 22 Mar 1884 18:00:01 GMT) scan diff

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Sozialistengeseß bereits unwiderleglich nachgewiesen, daß eine solhe Ergänzung des gemeinen Rehts Gefahren für die all- gemeine Freiheit mit sih bringen werde ; daß man lieber ein Aus- nahmegesetß erlassen solle, dur welches doch nur Leute betroffen würden, die wirklih eine Ausnahmestellung im Staate ein- nähmen. Die Sozialdemokraten hätten sodann in früheren Zeiten immer ihren internationalen Charakter betont. Heute hóôre man bereits, daß die Abgg. Hasenclever und Kayser jagten, fie seien eine deutshe Partei. Auch das sei eine gute Folge der Sozialpolitik der Regierung und des Geseßes von 1878. Der Republikanismus der Sozialdemokraten ferner werde, wenn man nur konsequent die jeßt eingeleitete Politik fortseße, wohl ebenso vershwinden, wie derselbe bei vielen Herren von den 110 vershwunden sei, die, im Jahre 1848 noch Republikaner gewesen seien. Die neue Zoll- und Steuer- politik der leßten Jahre habe die arbeitenden Klassen bereits sehr entlastet. Von Vertheuerung der nothwendigsten Lebens- mittel könne doch keine Rede sein. Wann sei das Getreide billiger als heute gewesen? Und wenn man etwa sage: dann habe der Getreidezoll der Landwirthschaft nihts genußt, derselbe sei ja immer noch viel zu niedrig ; aber derselbe habe doch immerhin mindestens den Nußen gehabt, daß er Millionen eingebra@t habe, die sonst durch Steuern hätten aufgebracht werden müssen. Auch das Petroleum sei heute billiger als jemals, denn die inländishen Mineralöle könnten jeßt mit dem aus8- ländischen Petroleum konkurrire! Die Arbeitslöhne hätten allenthalben zugenommen ; der Druck der direkten Steuern habe nachgelassen ; die Exekutionen wegen der Klassensteuer seien zum großen Theile verschwunden. Er hoffe, daß bei weiterer Fortführung der Sozialpolitik des Reichskanzlers bald das Vertrauen der Arbeiter zur Regierung im Allgemeinen wieder- kehren werde. Uebrigens könne er nicht unterlassen, darauf aufmerksam zu machen, daß man im Augenblick einer Krisis entgegengehe, die niht nur in Deutschland allein, sondern in allen civilisirten und uncivilisirten Ländern empfunden werden werde, einer Verkehrskrisis, deren erste Anfänge sih bereits in dem beispiellosen Preisdruk zeigten,. der jeßt auf allen Artikeln liege. Diese Krisis sei vorausgesehen von einem der Tcharfsinnigsten Staatsmänner dieses Fahrhunderts, Lord Beaconsfield, von dem geistvollen Carey, von Wolowski und von Lavelleye. Und zwar sei diese Krisis begründet in der immer allgemeineren Einsührung der Goldwährung. Er wünsche, daß der Reichskanzler sih mit dieser Frage eingehend beschäftige. Die Regierung dürfe unter keinen Umständen in ihrer passiven Währungspolitik der leßten Jahre fortfahren. Uebrigens habe auch ein bewährtes Mitglied der Fortschritts- partei, das allerdings hier niht im Parlament siße, erklärt, es würde ein großer politischer Fehler sein, gegen die Ver- längerung des Sozialistengeseßes zu stimmen. Er bitte daher, für das Gesetz zu stimmen und es nicht erst an eine Kom- mission zu verweisen.

Der Abg. Sonnemann erklärte, seine politischen Freunde hätten kein Jnteresse, die Vorlage an eine Kommission zu ver- weisen, da sie bereit seien, jeden Augenblick abzustimmen, wollten sich aber auch der von einer großen Partei verlangten Kommissionsberathung nicht widerseßen. Nur wünsche seine Partei, daß ein Sozialdemokrat in die Kommission gewählt werde, schon um der thatsächlihen Auskünfte wegen, die noth- wendig vorkommen müßten. Er bedauere, daß man niht auch in die Unfallkommission einen Sozialdemokraten gewählt habe ; die Herren hätten dann ihrerseits positive Vorschläge machen müssen. Was die Vorlage betreffe, so habe seine Partei 1878 gegen dieses Geseß gestimmt, ebenso gegen die Verlängerung 1880, und werde selbstverständlih wiederum einmüthig gegen die Verlängerung eintreten. Seine Partei stehe auf dem Standpunkt, daß man Meinungen und Ansichten, soweit sie niht unter das Strafgeseß fielen, niht verfolgen dürfe. Auch der Reichskanzler habe gestern eingeräumt, daß das Gesetz die soziale Krankheit nah FJnnen getrieben habe. Sei das aber der Fall, dann habe wan die Situation verschlimmert. Was der Abg. Hänel von den Wahlflugblättern gesagt habe, passe im Allgemeinen auf die Presse. Dieselbe sei anstands- halber nicht in der Lage, die sozialdemokratishen Blätter zu bekämpfen, weil dieselben im Julande verboten seien. Die Re- gierungsblätter selbst bekämpften eher alle anderen Parteien als die Sozialden: okratie. Am meisten sei wohl der Reichstag enttäusht gewesen von den Ausführungen des Ministers von Puttkamer. Ueber den von demselben behaupteten Zu- sammenhang der Sozialdemokraten und Anarchisten habe derselbe nicht den geringsten Nachweis gebracht. Gegen den Vorwurf, Agents provocateurs angestellt zu haben, die sogar zu Dynamitattentaten Arbeiter hätten verführen wollen, habe der Minisier sih nicht vertheidigt. Dagegen habe derselbe einé lange Vorlesung gehalten aus einem Buche Bebels, der in diesem Punkte, ohne erst auf Plato und Thomas Morus zurückzu- gehen, einfach aus Cabets l’Jcarie ges{chöpfi habe. Sollte der Minister in der sozialistischen Literatur so wenig orientirt sein, um das nicht zu wissen“ Was die Frankfurter Vorgänge betreffe, so sei es notorish, daß die dortige Polizei durch einen Agent provocateur, Namens Horsch, ver- schiedene Arbeiter zu irgend einem Sprengungsattentate habe anreizen lassen. Dies sei vor dem Reichsgericht festgestellt. Horsh habe sogar selbs|st in Darmstadt die Chemikalien ein- gekauft. Hier habe die Polizei nah seiner Ueberzeugung das Maß des Zulässigen weit überschritten. Es sei erklärlich, daß in Folge dieser Enthüllung die Frankfurter Bürgerschaft auch das wirkliche Attentat im Polizeigebäude mit einem ge- wissen Mißtrauen aufgenommen habe. Er könne ih jedo nicht denken, daß das Mißtrauen in diesem Falle berechtigt gewesen sei. Von wem das Attentat ausgegangen sei, sei bis heute nicht festgestellt. Der als verdächtig verhaftete Reinsdorf, den übrigens der Abg. Bebel auch als mit der Polizei in Ver- bindung stehend bezeichnet habe, habe sein Alibi nahgewiesen. Solche verbrecherischen Attentate kämen leider nicht nux in Deutschland, sondern au in anderen Ländern vor. Zur Be- strafung solcher gemeinen Verbrechen müßten die Strafgeseßze ausreihen. Sollte dies niht der Fall sein, dann verbessere man dieselben. Ausnahmegeseße gegen die Sozialdemokratie seien hier um so weniger am Plate, als diese Partei in- und außerhalb des Reichstags jede Gemeinschaft nit den Anarchisten entschieden in Abrede stelle. Der Minister habe von der loyalen Anwendung des Gescßes gesprochen und darauf hin- gewiesen, daß es nie in der Absicht der Regierung gelegen habe, es auch auf andere Parteien auszudehnen. Aber man habe doch viele Fälle erlebt, wo das Geseh freilih meist durch Schuld untergeordneter Polizeiorgane auch auf An- dere Anwen dung gefunden habe. Eine nachträgliche Nemedur, die oft viele Wochen auf sich habe warten lassen, könne da- {ür nur geringe Besriedigung gewähren. Hätten denn solche frafsen Ausnahmegeseße, deren Handhabung lediglih in die

Hände der Polizei gelegt seien, übrigens etwas Gutes zu Stande gebracht ? Habe man nicht ein lehrreihes Beispiel an dem nahen Rußland? Da habe man ja die Polizei in ihrer höchsten Macht, da habe man alle die Zwangsmittel des Despotismus in furhtbarster Anwendung. Und was für Früchte seien daraus gezeitigt worden? Alle Welt kenne sie. Die Regierung habe ja genügend geistige Waffen in der offi- ziöósen Presse; fie könne damit belehren, die Gegner überzeu- gen. Allerdings sei diese offizöse Presse, namentlih, wie sie sich in der „Norddeutshen Allgemeinen Zeitung“ präsen- tire, zu derartigen guten Zwecken sehr wenig geeignet. Redner ging nun auf die Stellung der einzelnen Parteien zur Vorlage ein und deduzirte, daß Jedermann, der sih die Bezeichnung liberal vindizire, gegen dieselbe stim- men müsse. Auch das Centrum könne, wenn es TkTonse- quent bleiben wolle, niht für die Verlängerung stimmen. Er (Redner) halte die G:rüchte, wonach sich das Centrum bereits für das Geseß schlüssig gemacht habe, für unbegründet. Eine Partei, die so viel selbst unter Ausnahmegeseten ge- litten, die das Expatriirungsgeseß über sich habe ergehen lassen müssen, könne nicht für Ausnahmegeseße sein, durch welche weite Kreise des Volks {wer betroffen würden. Seine Partei werde gegen das Geseß stimmen, und hoffe noch immer, daß der Reichstag sih in gleichem Sinne entscheiden werde.

Hierauf ergriff der Staats-Minister von Puttkamer das Wort:

Meine Herren, nur ein einziger Punkt der Ausführungen des Herrn Vorredners nöthigt mich dazu, noch einmal das Wort zu er- greifen. Er glaubte feine Darstellung, die ja das Interesse des Hauses in hohem Maße erregt zu haben scheint, damit verzieren zu können, daß er das bekannte Attentat auf das Dienstgebäude des Polizei-Präsidiums in Frankfurt in ein Licht stellte, in welhem do, wenn er auch vor- sihtig um die Sache herumging, ziemlich deutlih der Verdacht aus- gesprochen wird, daß wohl die Behörde selbs nicht ganz unbetheiligt bei der Herbeiführung dieses Ereignisses gewesen sci. Er sagt, es ist ja ganz notorisch, ein früherer Agent hat Dynamit gekauft und in der Bürgerschaft von Frankfurt, ih will das zwar nicht mit Be- stimmtheit sagen, ist man doch nicht ganz klar über die Sache. Nun, meine Herren, ih glaube, soweit es überhaupt gestattet war, objektiv zu gehen, is der Herr Vorredner doch gegangen, um die Behörde dabei in einem Lichte erscheinen zu lassen, welches gerade in die Sphäre des Verbrechens hineinreiht.

Ich habe mit guter Absicht es vermieden, bei meinen gestrigen Ausführungen dieses einzelnen Falles zu gedenken. Hätte ih gewußt, daß der Hr. Abg. Dr. Windthorst, wie ih aus setnen Erklärungen ersehe, ein so großes Gewicht auf die Darstellung einzelner unter dem Verdachte der verbrecherischen Anstiftung stehenden Fälle legen würde, so würde ic keinen Augenblick gezögert haben, diese Dinge hier mit- zutheilen. Das konnte ih in der That nicht voraus sehen, und ich habe es deshalb vermieden, um meinen Ausführungen keine über- flüssige Breite zu geben, hierüber eine Bemerkung zu machen.

Was die Frankfurter Angelegenheit betrifft, meine Herren, so liegt sie außerordentli einfah. Wir sind leider nicht in der Lage gewesen, den Thäter bis jeßt zu fassen und {hon das war ein Grund, der mir gewissermaßen Stillschweigen auferlegte, denn weshalb foll ich über Dinge reden, auf deren Grund die Behörde noch nicht mit Sicherheit sehen kann? Daß aber die anarchistishe Partei der Urheberschaft dieses Attentats sich rühmt, kann ich allerdings sagen. Offen gestanden, ih glaube noch nicht ganz an die Wahrhcit, aber in dem Mostschen Organ „Freiheit“ wird ausdrücklich mit Triumvh die Thatsache des vollzogenen Attentats verkündet und der Ruhm dafür in Anspru genommen. Uebrigens auch die gemäßigten Sozial- demokraten, was ich beiläufig anführen möchte, haben ein höchst wunderbares Urtheil über dieses Attentat fällen zu müssen geglaubt. Ich lese aus dem amtlihen Monitcur der Partei Bebels Fol- gendes vor: |

Das Dynamit geht um. Zwei Dynamit- Attentate werden wiederum gemeldet. In Frankfurt a. M. wurde am 29, Oktober, 5 Uhr Abends, der Versuch gemacht, das dortige Polizeigebäude in die Luft zu sprengen, während am 30. Oktober in London ein Bahn- zug der unterirdiswen Eisenbahn wahrscbeinlich durch auf die Scbienen gelegtes Dynamit demolirt wurde, wobei 32 Personen, meist Arbeiter, verunglückten. Wir stehen niht an, leßteres Attentat als ein insames Verbrechen zu bezeichnen, j Das erstere also nicht!

Nun, meine Herren, will ich nur noch auf cine Personenfrage zurückfommen, die der Hr. Abg. Sonnemann berührt hat. Er meinte, man hâtte den Arbeiter Reinsdorf verhaftet und wegen mangelnden Beweises aus der Haft entlassen. Es ift das vollkommen richtig. Ich erkenne ja an, die Spur des Uttentats hat sich nicht soweit feststellen lassen, daß gegen Reinsdorf die Ver- haftung und das Gerichtsverfahren aufrecht erhalten werden kornte. Inzwischen will ich doch mittheilen, daß er nun wiederum verhaftet ist und zwar wegen dringenden Verdachts der Anstiftung des bekannten Verbrechens in Elberfeld, wo auch, allerdings in weni- ger auffälliger Form, eine Dynamitexplosion in öffentlichec Wirth- [chaft herbeigeführt wurde. Der wahrscheinlihe Thäter ift verhaftet, und hat seinerseits bekundet, daß er von Reinsdorf zu dem Ver- brechen angestiftet worden sei. Es wird das, wenn das Haus be- ließen sollte, die Geseßes8vorlage an cine Kommission zu verweisen, die Regierung veranlassen, das Material, was ihr in dieser Be- ziehung zu Gebote f\teht, der Kommission vorzulegen, um daran prüfen zu können das Maß der Gefahren, welches wir durch die Borlage unterdrücken wollen,

Der Abg. Frhr. von Maltahn-Gült erklärte, seine poli- tischen Freunde und er würden auch diesmal für die Verlän- gerung des Sozialistengeseßes stimmen, und hielten eine Kom- missionsberathung nicht für nothwendig. Seine Partei werde für das Gescß simmen, obwohl sie wisse, daß dasselbe eine Partei im Lande auf eine ganz andere Stellung bringe, als alle übrigen Parteien. An diesem Umstande aber sei die sozialdemokratishe Partei selbst s{uld. Andere Parteien ver- kündeten allerdings auch Lehren, die seine (des Redners) Partei für eine zweckmäßige Vorbereitung der Sozialdemokratie halte. Sie stellten si aber do auf den Boden des bestehenden Staatsrechts und der bestehenden Gesellschaft. Der Abg. Hasenclever habe gestern zwar die Dynamit-Attentate verurtheilt, derselbe habe aber die Kritik des „Sozialdemokrat“ zu der seinigen gemacht, nah welcher das Londoner Attentat nur deswegen ver- urtheilt werde, weil es „eine Menge unschuldiger Ar- beiter vernichtet habe und in Folge dessen \sich als ein bloßer unvernünstiger Blutdurst“ darstelle, Von einer Ver- urtheilung des Mordes selbst sei in den Worten des Abg. Hasen- clever und in dem Verlesenen keine Sylbe gewesen. Unter diesen Umständen glaube er dem Abg. Hasenclever nicht, wenn derselbe versichere, daß, wenn es ihm vergönnt wäre, nah Oesterreich die vernünftige Agitation dex deutschen So- zialdemokraten zu tragen, dort die Morde verhindert würden. Er glaube dem Abg. Hasenclever noch weniger, wenn derselbe dem Hause habe einreden wollen, daß das deutshe Geschß gegen die Ausbreitung der Sozialdemokratie an diesen {huld jei. Selbst wenn ein Theil der ganzen Verbrechen, welche der Sozialdemotratie zugerehnet würden, niht von Sozial- demokraten, sondern von agents provocateurs ausgegangen wäre, die in die Partei getreten seien, wie der Abg. Bebel meine, so tresfe doch die Redaktionen der betreffenden Blätter und deren Leser Schuld, welche sich diesen Einfluß gefallen

ließen. Der Abg. Bebel habe es offen eingestanden: „Wir sind heute, was wir waren, und werden bleiben, was wir sind“ (Ruf bei den Sozialdemokraten : Sehr richtig) Er halte die Sozialdemokraten an diesem „sehr richtig“ fest, wie ar ven Worten des Abg. von Vollmar: „Jch bin revolutionär als Sozialdemokrat, nicht nur im Auslande, sondern überall“. Dann sei man hier aber auch verpflichtet Staat und Gesellshaft gegen diese Herren zu schüßen. Er gehe nicht soweit, daß er die Lehrfreiheit be- schränken und die Cenfur wieder einführen möhte. Aber auf den Gassen dürften die sozialistishen Lehren nicht gepredigt werden. Daß das Geseß nicht ohne Erfolg gewesen, habe der Abg. von Kardorff bereits gezeigt. Die eigentliche Heilung diejer Schäden liege auf anderem Gebiet, hier handele es fih nur um eine Verhütung des Umsichgreifens des Uebels. Leider seien England und die Schweiz noh immer die Schußherde der sozialdemokratishen Agitation, und es wäre wohl Zeit, das Asylrecht entsprehend einzushränken. Dem Abg. Windt- horst stimme ef darin zu, daß eine Heilung der Schäden ohne Mitwirkung der Kirche, ohne Christenthum undenkbar fei. Wenn der Abg. Windthorst freilich die augenblicklihen Zu- stände in Frankreih auf Ludwig XIV. und die Losfagung der französishen Kirhe von Rom zurückgeführt habe, so sei derselbe sih wohl nicht bewußt gewesen, in welcher Stadt Deutschlands er gesprochen habe. Es hätte ihm sonst nicht entgehen können, daß die Bewegung in Frankreich ihren Ausgang von der Zurücknahme des Edikts von Nantes gehabt habe. Allerdings sei die Sozialreform nur auf christlichen Boden durchführbar, und es wäre hier woyl ein shnelleres Tempo zu wünschen. Ein großer Theil der sozialdemokrati- schen Wünsche sei berechtigt. Darum bitte er fortzufahren auf dem Gebiet der Arbeiterversiherung. Verschaffe man den Arbeitern im Staatsbetrieb, in Eisenbahn und Post größere Freiheit des Sonntags, stelle man Frauen und Kinder in den Fabriken besser! Seine Freunde und er würden gegen die Kommissionsberathung stimmen, seine Partei hoffe aber, daß auch die Anhänger dieser Berathung s\chließlich mit seiner Partei für die Verlängerung des Sozialistengeseßes stimmen werde

Der Abg. Dr. von Fazdzewski bemerkte, seine Landsleute würden gegen das Geseß stimmen. Seine Partei erkenne zwar die sozialdemokratischen Fdeen in keiner Weise an, im Namen aller seiner Freunde könne ex erklären, daß seine Partei denselben feindliher gegenüberstehe als irgend eine andere Partei. Aber seine Partei könne niht zugeben, raß eine Bewegung, welche die Regierung selbst als eine welt- zistorische darstelle, mit Mitteln bekämpft werde, wie sie das vorliegende Geseß vorshlage, Denn diese Mittel seien nah seiner Meinung ungerecht und unmoralisch. Auch erx könne aus seiner Heimat konstatiren, daß die sozialdemokratische Bewegung eigentlih im Wachsen begriffen sei. Man habe in Posen bis 1878 keinen Sozialdemokraten gehabt. Erst seit diesem Jahre habe sich eine sozialistische Bewegung unter der polnischen Bevölkerung gezeigt. Die Agitation sei geheim be- trieben, so daß dieser Bewegung nicht rechtzeitig habe ge- steuert werden können. Wenn der Reichskanzler gestern unter Hinweis auf eine ferne Vergangenheit gesagt habe, es sei sonderbar, daß in Polen, wo die katholische Religion die herrschende gewesen sei, sich Wirrniß und Uneinigkeii gezeigt hätten, so könne er das în gewisser Hinsicht zugeben, Jndessen der Reichskanzler werde ihm zugeben, daß diese Wirren in seinem Vaterlande herbeigeführt seien durch die Theilung Polens. Aber diese Wirren, die durch den Einfluß fremder Diplomaten zu Wege gebracht seien, hätten den Nachbar- ländern keine Berechtigung gegeben, das polnische Reih zu theilen. Und wenn heute Einflüsterung und Agitation auch die Sozialdemokralie in Polen importirt habe, so müfse er die preußische Regierung anklagen, daß sie dieser Agitation Vorschub geleistet habe, indem sie die kirhlihe Autorität, die am höchsten stehe, in Posen gewissermaßen mit Füßen ge- treten habe. Jn der leßten Zeit hätten die Organe des Reichskanzlers den Posener Erzbischof in einer Weise behan- delt, daß in der Bevölkerung das Vertrauen zu der Regie- rung verloren gegangen sei, und wenn der Reichskanzler mit seinem grozen Einfluß den Polen helfen wolle, den sozial- demokratishen Fdeen den Weg zu versperren, so bitte er den selben, zu sorgen, daß auch die kirchliche Autorität wieder in Posen hergestellt werde. Er erkenne an, daß die Sozial- politik, die hier inaugurirt worden sei, gesunde Verhältnisse zu Wege bringen könne, und seine Freunde würden den Reichskanzler in dieser Hinsicht unterstüßen. Aber seine Partei bitte ihn auch, zu sorgen, daß in Posen die Grund- säße anerkannt würden, die auf Gerechtigkeit beruhten. Die Polnische Nationalität werde in einer Weise behandelt, als ob sie im Staate Preußen keine Rechte hätte. Sei dieser Wunsch erfüllt, so werde seine Partei jeden Schritt der Reichsregierung unterstüßen, um die sozialdemokratischen Jdeen zu bekämpfen und zu besiegen.

Demnächst nahm der Reichskanzler Fürst von Bismardck das Wort:

Ich habe bei Gelegendeit dieser Diskussion nicht die Absicht, die preußische Kirchenpolitik hier zu vertreten oder auch nur zu diskutiren. Ich möchte nur den Herrn Vorredner, der gewiß mehr als ih mit der Geschichte seiner engeren Heimath vertraut ift, darauf aufmerksam machen, daß die polnishen Wirren und die tragi]chen Folgen, welche sie für die Republik Polen \chließlich gehabt haben, doch ursprünglih nicht von den fremden Mächten, den Nachbarn und deren Intriguen ausgegangen, sondern durch dic innere Spaltung, vorwiegend religiöser Natur, herbeigeführt worden find. J erinnere nur an die Konföde- rationen von Bar und Targowice, die Ihnen ja bekannt sind, und die weiteren Folgen der Unterdrückung der Dissidenten, welche die Einmischung der Fremden herbeigezogen hat. Die Mehr- zahl der Dissidenten waren Russen griechisher Konfession. Aber au die Unterdrückung der evangelischen Kire, wie das Thorner Blutbad von 1724 bezeugt, war nicht unbetheiligt an diesen konfessionellen Wirren, durch welche künstlich die Hereinziehung der Nachbarn, die ausländishe Einmischung das, was der Herr Vorredner Intriguen der Großmächte nannte herbeigeführt wurde. Wären die Dissi- denten nicht in dieser Weise verfolgt worden, wäre nicht die Gegen- reformation durch die Jesuiten vorhergegangen, welche selbst die gro- ßen polnischen Familien evangelischer Konfession, deren Nachkommen heute als eifrige Katholiken unter uns leben, gezwungen, zum Katho- lizismus zurüczutreten, wären nicht die evangelischen Polen unterdrüdt worden, wie in Thorn und an anderen Orten geschehen ist, dann wären die Polen vielleicht eine kompakt geeinte Masse von 16 Mil- lionen geblieben, welche die Theilung zu hindern vermochte. Fch kann deshalb die Unrichtigkeit meiner gestrigen Ausführungen der histo- rischen Kritik des Herrn Vorredners gegenüber nicht zugeben.

Der Abg. Liebknecht erklärte im Namen seiner politischen Freunde, daß sie gegen die Kommissionsberathung stimmen würden, damit die Entscheidung möglichst rasch stattfinde. Sollte aber die Kommission beschlossen werden und man einen Sozialdemokraten hineinwählen wollen, dann würde seine

Partei das zurückweisen. Seine Partei wolle niht in der Kommission in die Rolle des Angeklagten hineingedrängt werden, sondern lieber hier auf der Tribüne als Ankläger auftreten. Der Minister von Puttkamer und der Abg. von Kardorff hätten in keiner Weise widerlegt, daß das Gesetz nußlos und gemeinschädlih sei; sie hätten vielmehr wirksamer gegen das Geseß gesprochen, als dessen wirklihe Gegner. Was sei das für eine Methode, einzelne der sozialdemokra- tischen Aeußerungen aus dieser oder jener, oft schon vor langen Jaßren gehaltenen Rede, aus dem Zusammenhange zu reißen, und die Sozialdemokraten dar- aufhin als gefährlihe Umsturzpartei zu schildern! Verfahre man nach dieser Methode einzelne Citate herauszureißen, #\o fönne man wie er bei den Verhandlungen des Leipziger Hochverrathsprozesses nahgewiesen habe leiht auch darthun, daß etwa die Bibel das unsittlichste aller Bücher, Shakespeare der roheste aller Dichter, Luther ein roher Mensch oder Dantes göttliche Konödie ein verbrecherishes Werk sei. Der Minister von Puttkamer habe ferner nicht nur keine Thatsachen seiner- seits vorgebracht, sondern auch nicht eine einzige der von seiner Partei vorgebrachten, die Regierung furchtbar kompromittiren- den Thatsachen, widerlegt. Redner kam dann auf die einzelnen Fälle Reinsdorf und Wolff zurück und suchte zu beweisen, daß diese Leute Seitens der Polizei mißbraucht worden seien zu sogenannten Ättentaten und zu gemeinen Spionstiensten. Es sei evident erwiesen, daß das Attentat im Polizeigebäude in Frankfurt a. M. von der Polizei angestiftet sei. Redner be- legte das durch Vorlesen einer langen Reihe von Stellen aus einigen Nummern des Sozialdemokraten und warf dem Mi- nister von Puttkamer vor, daß es nicht sittlich sei, wenn die Polizei zu folhen Mitteln greife. (Glocke des Präsidenten.) Der Präsident von Leveßzow machte den Redner darauf aufmerksam, daß derselbe hier ein staatlihes FJnstitut, wie es die Polizei sei, niht beshimpfen dürfe.

Der Abg. Liebknecht (fortfahrend): Bezüglich des Falles Wolff könne er beweisen, daß dieser Spißbube und Fälscher von der sächsischen Polizei gegen die Sozialdemokraten in Dienst genommen worden sei; ebenso könne er beweisen, daß si ein Polizeiwachtmeister einen Beruf daraus gemacht habe, Sozial- demokraten, die sih in bedrängter Lage befunden hätten, zum Eintritt in den Detektivdienst zu veranlassen. Und da solle man nicht von einer Korruption durch das Sozialistengeseßz sprechen! Man gehe sogar so weit, daß heute 10—12 ver- kappte Polizisten unter Anführung eines Wachtmeisters auf die JFournalistentribune kommandirt worden seien, die jeßt wohl rash verdustet sein würden. Der Reichskanzler sollte doch nicht immer mit der Definition von Revolution kommen, daß diese „gewaltsamen Umsturz“ bedeute. Gegen eine solhe Ausdehnung des Begriffes habe er sih immer ge- wehrt. Der Kanzler habe im gewaltsamen Umstürzen doch auch sehr viel geleistet. Revolutionär werde den Kanzler des- wegen aber doch Niemand nennen. Seine Politik sei schr geeignet gewesen, die Sozialdemokratie wachsen zu machen, wofür er dem Kanzler seinen Dank abstatte. Sei es denn nicht auch „Gewalt“, welche das Deutsche Reich habe entstehen lassen , denn Lavendelöl und Nosenöl habe man dabei doch nicht angewandt! Darum solle man doch nicht so zimperlich sein, und ih vor einem Wörtchen fürchten! Welches seien denn die glorreichen Traditionen der französishen Geschihte gewesen, von denen der Abg. von Kardorff gesprochen habe, daß sie dur die französischen Sozialisten in den Staub - gezerrt worden seien. Damit habe derselbe doch wohl nur die Vendomesäule meinen können, dieses Zeichen des permanenten, zumeist auch gegen Deutschland gerichteten Krieges, das Symbol des Chauvinismus und der Unterdrückung anderer Völker! Für seine Partei sei es sehr gleichgültig, wie das Haus sich über das Gesetz entscheide; man habe durch das Geseg eine Saat auszgesäet, welche seiner Zeit auch entsprechende Früchte zeitigen werde. Das sozialdemokratishe Volk habe troy des Gesezes seine Organisation aufrecht zu erhalten verstanden, und hoffe dur seine Propaganda die von demselben erstcebten Ziele noch friedlih erreichen zu können. Wahrlih, man habe das So- zialistengeseß pro nihilo gemacht, wenn man es eben nit pro nihbilisto gemacht habe. Er schließe mit den Worten, die der Minister gestern gebraucht habe, allerdings eine andere Kon- Jequenz daraus ziehend: Wem die Ehre, die Freiheit, die Sicherheit des deutschen Vaterlandes am Herzen liege, der stimme gegen die Verlängerung des Sozialistengeseßes, dieses Denkmals ewiger Schande für seine Urheber.

Der Präsident von Leveßow erklärte, für den letteren Ausdruck rufe er den Redner zur Ordnung. Als Jnhaber der Polizei hier im Hause sei er dem Hause schuldig, mitzu- theilen, daß, nah den eingezogenen Erkundigungen während der heutigen Sißung auf der Journalistentrivüne nur Jour- nalisten gewesen seien.

Nach Ablehnung eines Schlußantrages erklärte sih der Abg. Frhr. Langwerth von Simmern (auf |der Journalistentribüne schwer verständlich) zwar im Prinzipe gegen die Vorlage, er werde aber, wie die Verhältnisse eben lägen, für die Kom- missionsberathung stimmen. i

Der Abg. Dr. Windthorst bemerkte, er müsse den Antrag auf Kommissionsberathung gegen verschiedene Mißverständnisse ihüßen. Derselbe solle nur gestellt sein, um die Entscheidung hinauszuschieben. Nichts sei unrihtiger, obglei ein sehr starker Grund dafür vorhanden sei. Das Zusammentagen des Reichs- tazes und Landtages mache die Anwesenheit vieler Mitglieder un- möglich; es wäre aber gerade bei dieser hohwichtigen und folgen- fchweren Abstimmung nothwendig, alle Kräfte zusammen zu haben. Ohne die Anwesenheit der Bayern, Sachsen, Badenser sollte man über diese Vorlage nicht abstimmen. Der Abg. von Kardorff habe dann geglaubt, der Antrag solle nur ein Mäntelchen sein; er wisse niht, welche Blöße es bedecken sollte. Es handel° sich um einen ernsten Akt, Die Debatten hätten bewiesen, daß man nicht einfah „ja“ oder „nein“ sagen könne. Es werde sih darum handeln, ob nicht auf anderem Wege das Ziel zu erreichen sei. Hätte er allein seine Ansicht aus- zusprechen, jo würde er bald zum Schluß kommen. Er ver- trete aber seine Partei, deshalb könne er derartige Aeußerungen nicht ungerügt ins Land gehen lassen, namentlih in einem Augenblicke, wo das ganze Land auf die Vorgänge schr ge- spannt sei. Daß man im Lande eine gründlihe Kommissions- berathung erwarte, zeigten ihm lange Zuschristen. Deshalb bitte er, in der Kommission eine ernstlihe Vermittelung zu versuchen. Der Abg. von Kardorff meine, die Verhältnisse hätten sih so geändert, daß das Centrum anders stimmen könnte, als früher. Seine Partei werde stimmen nah Lage der Dinge, wie sie sie für rihtig halten werde. Wenn seine. Partei dabei auf die Ausnahmegeseßze hinweise, unter denen dieselbe stehe, und die viel härter als das Sozialistengeseß seien, so sei es wohl begreiflih. Jm

Uebrigen sei in der kirchenpolitishen Gesehgebung nichts Wesentliches verändert. Dur die Huld des Landesherrn seien einige Erleichterungen eingetreten, aber die Maigeseßze beständen heute noch fort. Alle Versuche einer organischen Revision seien gescheitert. Die Revolution in Frankreich sei, wie er gestern gesagt habe, eine Folge des Absolutismus ge- wesen. Dabei habe er niht an die Person gedacht, sondern an das Regime. Die Verderbniß der hohen Gesell- hast und des Klerus möge ihr Theil dazu beigetragen haben: aber der Klerus das seien eben die Satelliten der gallikanishen Bewegung gewesen. Die Schäden in der höheren Gesellschaft wolle er nicht bemänteln, aber nur den Wunsch daran knüpfen, daß während die jeßige Zeit vielfah anLudwig XIV. erinner?, niht auch derartige Krebsschäden in Deutschland auf- tauhen möchten. Der Abg. von Maltßahn habe von der Zurücknahme des Ediktes von Nantes gesprochen, ders:lbe scheine aus einer einseitigen Kirchengeschichte geschöpft zu haben. Das Edikt sei aufgehoben worden, weil es nicht in den Kram des Staats- und Nationalkirhenthums gepaßt habe. Man habe in Frankrei herstellen wollen, was man in Rußland herzustellen bemüht sei und bei Beginn des Kulturkampfes auch in Preußen herzustellen versucht habe. Der Papst habe übrigens die Aufhebung des Edikts bedauert. Jn Preußen sei ein viel bedenkliherer Widerruf erfolgt; die Auf- hebung der Verfassungsartikel bedeute den Widerruf der magna charta für die Freiheit der Kirche. Es habe an Märtyrern, die aus dem Lande geflüchtet seien, nicht gefehlt. Er bedauere, daß der Ruhm Preußens, den es sih durch die Aufnahme der sranzösischen Protestanten“ erworben, einen Flecken be- fommen habe, weil jeßt in Preußen nit so viel Gewissens- freiheit bestehe, daß die armen Männer und Frauen, die zurücgezogen im Kloster lebten, sih darin aufhalten könnten.

Die Diskussion wurde geschlossen.

Es folgte eine Reihe persönlicher Bemerkungen.

Der Abg. Liebknecht bemerkte (persönli), der Präsident habe ihn als Jnhaber der Polizeigewalt im Hause bezüglich der Anwesenheit von Geheimpolizisten auf der Fournalistentribüne rektifizirt. Wie ihm aber von mehreren Kollegen und dur das positive Zeugniß von Journalisten versichert werde, habe sich der Polizei-Rath Krüger in Begleitung von fünf Geheimpoli- zisten auf der Journalistentribüne befunden bis zu dem Mo- ment, wo der Präsident seine Bemerkung gemacht habe. Es werde ihm mitgetheilt, daß der Polizei-Rath Krüger im Anfang der Sitzung mit zehn bis zwölf. Mann auf der Tribüne er- schienen sei. Jedenfalls werde zugegeben werden müssen, daß er nicht leichtfertig etwas behauptet habe.

Der Präsident von Leveßow betonte, er habe dem gegen- über zu erklären, daß die Ermittelungen, welche er habe an- stellen lassen, zu dem Resultat geführt hätten, daß keine anderen Personen als Journalisten auf der Tribüne an- wesend gewesen seien. Er werde demnächst der Sache weiter nachforshen und wenn das Resultat von seinen Angaben ab- weiche, niht ermangeln, dem Hause Mittheilung zu machen.

Der Abg. Lenzmann bezweifelte niht, daß die Ermitte- lungen des Präsidenten zu dem mitgetheilten Resultat geführt hätten. Es befinde sich aber eine Persönlichkeit im Hause, die authentishe Auskunft geben könne, der Minister von Puttkamer; er möchte an ihn die Frage richten

Der Präsident von Leveßow erklärte, das gehöre nicht zur Geschäftsordnung.

Der Abg. Dr. Windthorst erklärte, das Haus tage hier öffentlih; deshalb fönne man wohl Niemand von der Tri- büne weisen, auch Polizisten nicht; freilih soliten sie au niht in Räumen sich aufhalten, die für andere Zwecke be- stimmt seien.

Der Abg. Sonnemann bemerkte, dem Minister von Putt- kamer erwidere er, er habe durchaus nicht gesagt, daß er die Polizei in Frankfurt in Verdacht habe, daß sie das Attentat im Polizeigebäude angestiftet habe. Er habe nur ausgeführt, daß es nicht zu verwundern sei, wenn man nach derx Affaire Horsh Mißtrauen bekommen habe, und ausdrücklich zugegeben, daß er das erklärlihe Mißtrauen in diesem Falle niht für gercchtfertigt halte.

Die Vorlage wurde darauf einer Kommission von 21 Mitgliedern überwiesen.

Ohne Debatte erledigte das Haus in erster und zweiter Berathung die mit der Schweiz wegen gegenseitiger Zulassung der in der Nähe der Grenze wohnhaften Medizinalpersonen zur Ausübung der Praxis am 29. Februar 1884 abgeschlos- sene Uebereinkunft, und den Geseßentwurf, betreffend die Kon- trole des Reichshaushalts für 1883/84.

u O vertagte sich das Haus um 4 Uhr auf Montag 2 Uhr.

Jm weiteren Verlaufe der gestrigen (10.) Sißung des Herrenhauses rihtete Herr Stumm an den Minister für öffentliche Arbeiten die Bitte, die Uebershüse, welhe sch in Wirklihkeit noch höher stellten, als im Etat angegeben sei, zu Tarifherab- sezungen zu verwenden. Die Verzinsung des Eisen- bahnkapitals betrage etwa 5,19 Proz.,, eine Höhe des Zins- fußes, wie sie im Gesche keineswegs verlangt sei. Namentlich sei den großen Städten gegenüber, welhe durch große Speditions- geschäfte den Kalamitäten des Stückgütertarifss enthoben jeien, für kleinere Städte und für das Land eine zweite Stückgüterklasse einzuführen, die namentlich den kleinen Handwerkern zu gute kommen würde. Was die Erhöhung der Beamtengehälter betreffe, so müsse man dieselbe ledig- li der, Jnitiative der Regierung Überlassen, die ja ausdrücklich im Abgeordnetenhause ihr Wohlwollen gegen die Beamten heweise und dasselbe auch durch Er- höhung der Gehälter der durch die neuen Bahnen übernommenen 28 000 Beamten um 6 Millionen bekundet habe. Es sei sehr leicht, sih dur derartige Beschwerden zum Munde der Beamten zu mahen. Die dadurch erregte Un- zufriedenheit könnte sich aber sehr leiht auch auf andere Be- amtenkategorien übertragen. Die günstige Wirkung der Ver- staatlihung dex Eisenbahnen werde im Uebrigen jeßt auch schon von der Opposition anerkannt.

Hierauf ergriff der Minister für öffentlihe Arbeiten Maybach das Wort:

Ich danke zunächst dem Herrn Referenten für die freundlicen Worte, die er dem Wirken der Eisenbahnverwaltung gezollt hat. Sie werden dazu dienen, auch in der Eisenbahnverwaltung selbs den Muth zu erhöhen, auf dem bisher betretenen Wege fortzufahren und, wie ich glaube, im Einklang mit der öffentliwen Meinung in der Bevölkerung das Bewußtsein zu beleben, daß die Verwaltung das Beste erstrebt, und daß sie, weit entfernt von der Auffassung, als ob Alles gut wäre, nur darauf aus ist, da, wo sie Mänhel entdeckt, diese zu beseitigen und das preußische Staatseisenbahnwesen möglichst zu dem bestgeleiteten aller Staaten zu machen. Das ift in der That

unser Ziel; ob wir es errecihen werden, is eine andere Frage; an unseren Bemühungen wird es aber niht f:Zlen. Die finanziellen Ergebnisse hat der Herr Referent ausführlich darge- legt; es erübrigt, auf die Zahlen zurückzukommen, wie er sie fi fonstruirt hat. Ich habe sie im Augenblick nicht näher verfolgen können, indessen kein Grund, ihre Richtigkeit anzuzweifeln. Er hat an dieses Ergebniß die Mahnung geknüpft, in der Erleichterung des Verkehrs, in der Herabseßung der Tarife vorsihtig weiter vorzugehen und auf diese Weise unbeschadet der finanziellen Ergebnisse das Eisen- bahnwesen zu machen zu dem, was es scin soll, nämlich zu einem vorzüglihen Kommunifkationsmittel, bestimmt zur Hebung des Wohl- standes dcs Landes und nicht so sehr zu einem Mittel, finanzielle Er- folge zu erzielen. Ich glaube {hon bei früberen Gelegenheiten hier angeführt zu haben, daß die Staatseisenbahnverwaltung diesem Prinzip getreu bisber au verfahren ist, daß fie aber auch mit größter Vorsicht, wie der Herr Vorredner dies auëdrücklich betont hat, vorgehen muß. Fast jeder Scritt, den wir auf diesem Gebiete thun, zieht Einnabmeverluste nah sib, die nicht so ras ausgeglichen werden fönnen, Einnahmeverluste von Hunderttausenden, vielleicht von Millionen. J habe mir früher {on einmal erlaubt, der Herr Referent hat darauf hingewiesen, anzuführen, daß eine ver- bältnißmäßig geringe Ermäßigung derjenigea Tarife, welcher für die Gegenstände des Spezialtarifs IIT besteht, einen Einnahmeverlust von vielleiht vierzig Millionen Mark veranlassen würde. Meine Herren, damit wäre die Sache aber noc nicht abgemacht, wir würden außer diesem Einnahmeverlust noch erheblibe Erhöhungen der Ausgaben haben? wir würden eine Vermehrung der Transportmittel, der Geleise, des Beamtenpersonals eintreten lassen müssen, so daß der Nettoverluft am Ende noch viel größer würde.

Die Aufgabe, nah und nah die Verschiedenheiten in dem Tarife zu beseitigen, haben wir uns fehr ernstlich zu Herzen genommen.

Allein, wenn Sie si veraegenwärtigen, wie verschiede:gestaltig die Sätze auf dem weiten Gebiete waren, auf dem wir die Staats- cisenbahnenpolitik zur Durchführung gebracht haben, und wie die ein- zelnen Sätze mitunter ganz speziellen Bedürfnissen angepaZt sind, fo werden Sie der Regierung Necht geben, wenn sie fich nicht berbeiläßzt, sofort eine Gleichstellung dieser Säße in allen verschiedenen Landestheilen herbeizuführen. Ih habe im anderen Hause schon gesagt: zu welchen Sägen soll sie übergehen? Soll ne die mittleren oder die“ gerinaflen nehmen, auf alle Fâlle? Damit wären ganz kolossale Ausfälle verknüpft und ganz außerordentlihe Verschiebungen. Es würden viele Fabriken und Pro- duktionszweige in einzelnen Landestheilen in ihrer Konkurrenzfähigkeit Einbuße erleiden ohne vermittelnden Uebergang, wir würden auf der einen Seite Ueberproduktien schaffen. während wir auf der anderen Seite wichtige wirthschaftltche Kräfte lahm legen. Also es ift nichts gefährlicher als ein solches Nivelliren, und namentli ein zu rasches Nivelliren. Wir werden auf die Dauer hoffeatlih dahin kommen, durch gewisse vermittelnde Uebergangsmaßregeln eine Gleichmäßigkeit bei denjenigen Artikeln, wo die Verhältnisse dazu auffordern, herbei- zuführen, aber die Vorsicht darf dabei niht außer Augen gelassen werden. Herr Stumm hat insbesondere auch nahe gelegt die Ein- führung einer zweiten Stückgutklafse. Eine folde Maßregel würde vorautseßen, daß das Tarifschema, welches auf Beschluß des Bundesraths für die deutschen Eisenbahntarife festgeseßt worden ift, eine Aenderung erleide. Gegen diese Aenderung hat man {ich auf ver- \ciedenen Seiten sehr gesträubt, weil man dadurch Einnahmeverluste befürchtete. Die Frage ift augenblicklich noch in der Erörterung be- griffen, ob man dazu übergehen könne, diese zweite Stückgutklasse un- vermittelt und gleichmäßig überall zur Einführung zu bringen, oder ob man durch Uebergangëmaßregeln, oder aber durch Spezialtarife für gewisse Gegenstände nicht zunä s den Ausweg suchen muß. Ich kann die Versicerung geben, daß die Regierung der Sache die vollste Aufmerksamkeit zuwendet.

Mit den Berkehr8erleichterungen, die wir auf dem Gebiete der Tarife berbeiführen sollen, müssen andere Hand in Hand gehen. Wir sind genöthigt, die Zahl der Züge zu vermehren, die Anlagen auf den Stationen zu verbessern 2c. Sie schen, mit welchen kolossalen Aus- gaben vir die Staatsfinanzen belasten müssen , um unsere Eisenbahnstationen auf einen befriedigenden Stand zu bringen. Wir müssen vorsihtig darauf bedawt bleiben, die volle Verzinsung und die volle Amortisation zu sichern. Die Er- fahrungen, die in anderen Staaten gemacht worden sind, wo man Verkehrserleihterungen in überstürzender Weise ausgeführt hat, find für uns warnend, und ih möchte niht, daß wir diese Erfahrungen auf den preußischen Staat übertragen. Sie sehen auf allen Seiten, und ih glaube, daß uns in dea einzelnen Landestheilen das Zeugniß nit versagt wird, daß wir jeden Punkt {arf ins Auge fassen, daß wirerwägen, stehen die Vortheile der einzelnen Neuausführungen und Ein- richtungen im richtigenVerhältniß zu den dafür aufzuwendendenKofsten, und daß wir, wenn wir uns überzeugen, das Allgemeine Interesse erheischt wirklich diese oder jene Ausgabe, zu einer solchen übergehen, indem wir sicher sind, damit dem Lande die Ueberzeugung beizubringen, wir haben den guten Willen, alles das zu thun, was wir mit gutem Gewissen thun können und was die heutige Technik und die Bedürf- nisse des Verkehrs verlaugen.

Der Herr Referent hat die Güte gehabt, noch einen andern Punkt zu erwähnen, und ch bi hm dankbar dan. Gs ist das die Frage der Besoldung der Beamten. Wenn irgend einem RMessorthef es am Herzen liegen muß, die Beamten in guter Stellung zu erbalten, 0 Mo dos Ver X der Fall sein. Von der Tüchtigkeit, von der Bereitwilligkeit, der Freudigkeit, der praktishen Brauchbarkeit des Beamten hängt wesent- lich der Erfolg der Verwaltung, auch die Sicherheit des Betriebs- wesens abz; und daß wir in dieser Beziehung unsere Aufgabe nicht vernachlässigen, beweist wieder der gegenwärtige Etat. Wir haben in demselben mehr als 7000 Beamte mit Gehaltserhöhungen bedenken fönnen. Wir gehen nämlich von dem Grundsatze aus, daß die all- gemeine Gehaltserhöhung, die wir allen Beamten wünschen, au in der Eisenbahnverwaltung nicht eher eintreten kann, als die Finanz- lage solche in allen Ressorts gestattet, daß aber da, wo spezielle Gründe vorliegen, einer Beamtenkategorie durch Aufbesserung des Gehalts zu gedenken, wir uns zu solcher Maßregel sbon jeßt vers tehen können. Unter speziellen Gründen verstehe ih erhöhte An- forderungen an die Leistungsfähigkeit der Beamien und an ihre Leistungen selbst. Wir sind vielfach dazu Übergegangen, die technischen Anforderungen an die Beamten zu erhöhen. Der Bundesrath hat bestimmte Vorschriften erlassen in Bezug auf die Ausbildung der Beamten und ihre technische Qualifikation. Das Material, welches wir gebrauchen, ift vielfach ein kostbareres und möchte ich sagen, ein geistig auf eine höhere Stufe gestelltes. Wir müssen darauf Bedacht nehmen, diese Beamten den erhöhten Anforderungen gemäß besser zu besolden. Dagegen habe ih mich ablehnend gehalten gegen alle Beitrebungen, die über diesen Rahmen und Grundsaß hinausgehen. Es ift ja nicht zu verkennen, daß vielfah in dem Bestreben, bei den Beamten si populär zu machen, die Anforderungen wurzc:n, daß man thnen das Gehalt erhöhen solle. Zu welchem Zwedke man diese Popularität erstrebt, brauche ih nit anzuführen, das liegt auf Aller Zunge. Die Staatsregierung sie steht ja den Beamten viel näher als der Einzelne aus diesem oder dem andern hohen Haufe wird insbesondere auch dieser zahlreichen Klasse von Beamten gegenüber niemals ihre Aufgabe vergessen, und diese Beamten so zu stelle suchen, daß sie thren Beruf mit Freudigkeit und in dem Bewußtsein, daß die Staatsregierung treu für sie sorgt, erfüllen. Wie ja {on im anderen Hause erwähnt, sind besondere Fonds für außerordentliche Anerkennungen und Unterstüßungen ausgeworfen. Diese Fonds sind im reihen Maße verwendet, um den Beamten, wo es nöthig, au materiell zu Hülfe zu kommen. Nun is allerdings das Drängen nach Gehaltserhöhungen, die Unterstüßung aller darauf gerich- teten Bestrebungen schr geeignet, die Disziplin zu lockern. Es mag dieser Erfolg nicht gerade beabsichtigt sein, aber er knüpft si daran. Ich hoffe jedo, daß wir wie in anderen großen Ver- waltungen, z. B. der Post, der Stcuerverwaltung, auch in der Eisen- bahnverwaltung die Disziplin derartigen Bestrebungen gegenüber mit fester Hand aufrecht erhalten werden und die Beamten nach wie vo