1905 / 54 p. 9 (Deutscher Reichsanzeiger, Fri, 03 Mar 1905 18:00:01 GMT) scan diff

den Kreishaupimann behandeln! Der daraus hervorgegangene Zu- stand ift für uns kein wünschenswerter; die Kampfesstellung zwischen der Leipziger Arbeitershaft und den Aerzten muß ein Ende nehmen. Die Familienbehandlung mußte zum ungeheuren Schaden für die Leipziger Mitglieder aufgehoben werden. Es wurde ein Sanitätéverein gegründet; aber die ärztlihen Bezirksvereine erklärten die Behandlung der Mitglieder dieses Vereins für standesunwürdig und stritten dagegen. Die zugezogenen Aerzte behandelten aber dennoch die Mitglieder, und nun wurden fie angeklagt und wverurteilt vom Ehrenrat Leipzig. Stadt zu 600 und Leipzig-Land zu 1500 A Geldstrafe und zum Verlust des aktiven und passiven Wahlrechts zum ärztlichen Be- zirk8verein. Da saßen doch die Herren, ae MAnS waren, zu Gericht, sie ließen sich aud nicht durch die Anzweiflung ihrer Unbefangenheit im geringsten verblüffen, sie erklärten sich für niht befangen. In der Berufungsinstanz sind die Strafen auf 300 und 600 herabgeseßt worden. Nicht weil sie die Mitglieder behandelt, sondern weil fie durch ihre Behandlung den Sanitätsverein unterstüßt haben, darum sind sie verurteilt worden; au eine Argumentation! Der § 29 der Gewerbeordnung wird einfach dadur illuforisch gemacht. Ein Arzt ist zu 1500 # Geldstrafe verurteilt worden, weil er einen Vortrag in einem Naturheilverein gehalten hatte. Die Be- schwerde gegen diese Vorgänge wird bis an die böchste Instanz geführt werden. Solches Eingreifen der Behörde hat die Tätigkeit der Kassen vollständig gelähmt; ein solches Vorgehen muß ja die Aerzte geradeiu anfreizen, Beshwerden zu fabrizieren, um die Be- börden zum Eingreifen und zur Vernichtung der Kassen zu veranlassen. In den nächsten Jahren soll die Leipziger Kasse 500 0C0 A dem Neservefonds zuführen; sie ist nah diesen traurigen Zwischenfällen dazu gar nicht imstande. Die freie Selbstverwaltung darf den Kassen nit genommen werden. Politik wird da nit getrieben ; auch Sozial- demokraten können in den Kassenvorständen die Interessen der Ver- sicherten wahrnehmen. Wenn die Regierung weiter dieses Umspringen mit der Selbstverwaltung zuläßt, dann können die Arbeitgeber nicht mehr Lust und Liebe zum Mitarbeiten besißen. Ausbau, niht Unter- bindung der Selbstverwaltung der Krankenkassen; ohne Selbstverwaltung

keine Sozialreform! Stellvertretender Bevollmächtigter zum Bundesrat, Königlich \äbsisher Ministerialdirektor Dr. Fischer: Ich muß aner- kennen, daß die Ausführungen des Vorredners über den Lipziger Aerztestreik im ganzen sachlich waren. Ein gut Teil davon kann ich vollständig untershreiben. Aber die eigentliche Darstellung des Aerztestreiks war doch so einseitig, daß eine Nichtig- stellung nöôtig ist. Das Verhältnis der Aerzte zur Krankenkasse ist von Anfang an nit sehr gut gewesen. Von der im § 26a der Novelle zum Krankenkassengeseß den Kassen gegebenen Befugnis, Distriktsärzte usw. anzustellen, wurde von der Kasse ein ziemlich umfangreiher Gebrauch gemacht. Die Krankenkasse war wohl in der Honouterung der Aerzte sehr zurückhaltend, selbst der Vorredner hat darauf hingewiesen, daß manche Sätze mit dem Standesbewußtsein der Aerzte niht vereinbart waren, daß jeder Dienstmann mehr bekam. Bei der Ueberfüllung des Aerztestandes ift allerdings bei der Bewerbung bei den Kassenvorständen unlauterer Wettbewerb und Lohndrückerei zum Schaden des Ansehens der Aerzte vorgekommen, aber es ist eine bekannte Tatsache, daß nihts lo sehr geeignet ist, das Ebrgefühl und Standesbewußtsein abzu- chwächen, als die finanzielle Notlage, und diese besteht bei sehr vielen Aerzten. Ih will die bereits vom Vorredner darüber gegebenen Zahlen noch ergänzen. Nach der Statistik vermehrte sich die Bevölkerung in Deutschland von 1876 bis 1900 um 8329/0, die Aerzte aber haben fich in dieser Zeit von 13 000 auf 44000, also um 145 9/9, ver- mehrt. Der Notstand eines Teiles der Aerzte wird auch durch die neuesten Féststellungen über die Einkommen der Berliner Aerzte be- kundet. Der dritte Teil der Aerzte hatte ein Einkommen von weniger als 3000 Æ, 8,79% sogar unter 1050 / Ich nehme keinen An- stand zu erklären, daß daß System der freien Arztwahl der Theorie nah das Ideal ist, allein in der Praxis liegt die ‘Sache doch ganz anders. Dadurh, daß die Aerzte sh bereit erklären müfsen, zu den Bedingungen der Kasse zu arbeiten, werden ohne weiteres diejenigen au8ges{lofsen, die vielleiht das meiste Vertrauen bei den Kranken haben, denen es aber bei ihrer großen Praris ar nicht beifommt, sich den Bedingungen der Kasse zu unterwerfen. erner tritt bei diesem System an die Stelle der Abhängigkeit von den Kafsen die Abhängigkeit der Aerzte von den Versicherten. Das Publikum wird zu denjenigen Aerzten gehen, die weniger Nüksicht auf die finanziellen Verhältnisse der Kassen als auf die Mitglieder nehmen; dadurch ergibt sich eine erheblihe Mehrbelastung der Krankenkassen. Jch könnte Ihnen Beispiele von Kassen angeben, die das System der freien Arztwahl aufgeben mußten, weil die Kosten zu hoch wurden. Wenn die Aerzte meinen, daß dieses Svstem der freien Arztwahl vor allen Dingen der Gerechtigkeit insofern Genüge tue, als die Entlohnung und die Jnanspruh- nahme der Aerzte ziemlich gleih war, so hat {on der Vorredner mit vollem Recht darauf hingewiesen, daß das nicht der Fall ift. Ein Arzt hatte ein Einkommen von 20 ÆÆ, ein anderer von 70 bei derselben Kasse, und in diesen Grenzen \{chwankten die Ent- lohnungen der übrigen Aerzte. Der Abg. Fräfßdorf ist natürlih mit der ärztlihen Organisation niht einverstanden. Von politischen Maßnahmen infolge der sächsif{chen Standesordnung habe ih nichts gebört, ich muß aber zugeben, daß man bei der Beratung dzs Gesetzes niht daran gedaht hat, daß es gegen die Kassen so ausgenüßt werden würde. Auf den Streik in Cöln einzugehen, ist niht meine Saße. Daß die Aerzte dort, um ihre Forderung durhzuseßzzn, zum äußersten Mittel der Selbsthilfe, dem Streik, gegriffen baben, ist gerade im Interesse der Aerzte selbst aufrihtig zu be- dauern. Der Kampf zwishen der Krankenkasse und den Aerzten in Leipzig erinnert an den Lohnkampf in Crimmitschau. Die Kreis- hauptmannschaft Leipzig hat dem Kampf anfänglich ruhig zugeschaut und hat sih darauf beschränkt, eine Vermittelung zu versuchen, da fie von der Anschauung ausging, daß bei diesem Streik das öffent- liche Interesse mehr berührt wurde als bei anderen Streiks. Es befanden. sih aber unter den Aerzten solhe, die den an Kafsenärzte zu stellenden Anforderungen nit entsprahen, und da die Für- sorge für die Krankenkassenmitglieter litt, so hielt sich die Kreis- hauptmannshaft auf Grund des § 56a des Krankenkassengesetes für berechtigt und verpflichtet, einzugreifen. Wenn der Abg Fräßdorf gemeint hat, sie hâtte von auswärts Krankenkassenärzte berbeirufen sollen, so wird doÿ jeder, der die Leipziger Verhältnisse kennt, zus geben, daß das ganz unmögli ift, denn den Krankenkassen selbs war es ja nit gelungen. Die Kreiëhauptrannschaft mußte deswegen mit den Distrikttärzten in Verbindung treten und ist natürlich deswegen angegriffen worden. + Als sie entgegen den Wünschen der Aerzte nicht einschritt, sagte man, da fieht man, wie die \ächsishe Regierung jeßt von dec Sozialdemokratie verseuckt ist. Es wurde fogar für die Beamten, die in dieser Angelegenheit tätig gewesen sind, der neue Titel „Hofsozialdemokrat“ erfunden. Von anderer Seite wurde hbe- haurtet, die Selbstverwaltungsrechte der Krankerkassen sollten auf- gehoben werden. Auch der Abg. Fräßdorf hat das vorbin be-

hauptet, aber der erwähnte § 56a bätte der Aufsihtsbehörde zu noch | | | Bebel hat seiner Zeit diesen Herra von Schweizer als politischen

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[ weiteren Maßrahmen das Recht gegeben. Die Kreiëhauptmann- einen Vertrag mit den Aerzten

schaft konnte ihr Ziel nur durhch } erreihen, es waren aber in demselben den Aerzten auch {were Bedingungen auferlegt worden. Der Vorredner hat gemeint, eine der

urerfreulidsten Grisheinungen des YAerztestreiks sei die, daß die

Bektandlung der Familienangehörigen habe eingestellt werden müssen. |

längst ohne Mehrbelastung für werden fönnen, wenn das dem jest voliständig im sozialdemokratishen Fahrwasser s{chwimmenden Kafsenvorstand icgend gepaßt hätte. Uber sie wollten den Aerzien das Leben so {wer machen wie mögolich, und deéhalb gründeten sie einen sogenannten Sanitätéverein. Nah meiner Ber:chnung ift zwar die Behantlung der Familien in diesem Verein deppelt so teuer, aber der Jude wird verbrannt, die Aerzte \ollen znigftens ißre 300 000 Æ nidt bekommen. Eine ebrengeritliche Ver- ilung der Aerzte, die in Leipzig tätig waren während des Streiks, erfolgt, weil fie ihren Kollegen in den Nücken gefallen seien, nit

il fie im Sinne der sozialdemokratishen Bestrebungen gehandelt

Familienbebandlung bätte

Le lie Kassen wieder eingeführt

haben. Die Verurteilung eines Arztes wegen Verleßung der Standesehre ist allerdings erfolgt, weil er mit Leuten niederen Standes verkehrte. Es war dies aber ein wenig geshickter Ausdruck des Urteils, und es waren nit die Arbeiter damit gemeint, sondern andere Berufsklassen, mit denen der betreffende Arzt verkehrte. Der Streik hat au auf die finanziellen Verhältnisse der Kasse lange nit die s{hädigende Wirkung gehabt, die man annimmt. Mir liegt der Abschluß der Kasse vor. Danach sind die Auëgaben Sie (zu den Sozialdemo- kraten) werden sofort, das weiß ich schon, rufen: hört! hört! um rund 1 300 000 Æ höher gewesen als 1903. Davon entfallen aber 480 000 M auf ganz bedeutende Erhöhungen der Krankengelder. Man könnte auch bierin einen erneuten und erweiterten Beweis finden da- für, daß die freie Arztwahl zu einer erheblichen Verteuerung der Kassen- kosten führt. Die Frage der deleplidhen Regelung des Verhältnisses der Aerzte zu den Krankenkassen halte i, ohne den Reihsbehörden vor- greifen zu wollen, für noch nit spruchreif. Bei der Beratung der leßten Novelle haben wir ja die Möglichkeit einer solhen künftigen Regelung geschaffen, ¿. B. durch die Bestimmung, daß die auf Grund des

rankenversiherung8geseßes abges{chlossenen Verträge der Aufsichts- behörde vorzulegen sind. Wenn aber einmal eine geseßlihe Regelung eintritt, so muß es einerseits den Aerzten unmöglih gemacht werden, einen Honorarsaß zu fordern, der mit den finanziellen Verhältnissen der Kassen niht im Einklang steht, anderseits dürfen die Kassen nicht fo niedrige Honorarsätze bieten, daß es den Aerzten ihre Ehre ver- bietet, zu solen Säßen zu arbeiten, und die Grundlage der Arbeiter- versicherung, die Krankenversicherung, zeitweise auszuscalten. Das darf unter keinen Umständen zugelassen werden.

Abg. Erzberger (Zentr.): Der Abg. Fräßdorf hat den Arbeit- gebern die seltene Anerkennung gzzollt, daß sie mit den Arbeitern in den Krankenkassen mitarbeiten. Nicht überall bestehen so ideale Ver- hältnisse; deshalb ist eine geseßlihe Regelung der Aerzte- und auch Apothekerfrage und der Behandlung der Angestellten in den Kranken- kassen notwendig. In diesem Gese müßte au ein obligatorishes Schiedsgeriht zur Schlichtung der Streitigkeiten geschaffen werden. Es ist auch eine Zusammenfassung der Krankenkassen notwendig. Wir werden uns damit näher beshäftigen, wenn wir an eine Ver- einfahung der Arbeiterversiherung herantreten. Eine Ausdehnung der Krankenversicherung auf die Landarbeiter und Dienstboten auf dem Wege der NReichsgesezgebung, nit, wie der Abg. Gamp wollte, auf landesgeseßlihem Wege, halten wir für notwendig. Welche Er- fahrungen hat man mit einem analogen Geseze in Württemberg ge- macht? Eine Kommission hat die Sache dort geprüft. Auf tem Gebiete der landwirtshaftlihen Unfallversiherung sollte für die Unfallverhütung mehr gesehen als biéher. Umfafsende Unfall- vorschriften für die Landwirtschaft sind ja shwerer zu erlassen, als für die Industrie. Eine große Zahl der landwirtschaftlihen Unfälle ift aber gerade bei landwirtshaftlihen Maschinen vorgekommen. Graf von Posadowsky wollte einen Gesamtbesuch der Ausstellung in Charlotten- burg durch den Reichstag ins Werk seßen, um diesem Gelegenheit zu per sich davon zu überzeugen, wie die dort ausgestellten Maschinen mit Unfallverhütungsapparaten versehen sind. Auf dem Lande selbst if es ganz anders. Die landwirtschaftlißen Be- rufsgenossenschaften sollten dahin wirken, daß diese Maschinen mit modernen Shußvorri{tungen versehen werden. Ih möhhte den Staatssekretär um Auskunft bitten, ob wirkli®ß, wie in der Presse gemeldet wird, einzelne Landesversicherungsanstalten \{lecht finanziert sind. Es wird dics namentlich über die \{lesisde berihtet. Unbegreiflih ist, daß Heilstätten junge Leute nicht auf- genommen haben. Könnte das viele Geld, das für diese Heilstätten ausgegeben wird, nicht besser für eine richtige Wobnungsfürsorge verwendet werden? Eine durchgreifende Wobnungsreform ist weit besser als alle Heilstätten. Das Kapital sollte lieber in gemein- nüßigen Baugenossenshaften angelegt werden, als in so luxuriös ge- bauten Heilstätten wie Belit, das bisher mehr als 10 Millionen gekostet hat und nur eine geringe Anzahl von Betten hat. Die Beschwerde des Leh Spahn vom vorigen Jahre, daß die katho- lishen Genofsen\schaften bei der. Kapitalabgebung zu wenig berüd- sihtigt worden sind, ift inzwischèn gegenstandslos gewo1den. Dagegen bleibt bestehen, daß nur ein Orden zur Krankenpflege herangezogen worden ist. Der Preis für die Gewerbeinspektionsberihte müßte er- mäßigt werden. Zu wünschen wäre es, daß der gesamte Klerus ih eingehend in das Stadium dieser Berichte vertiefen möge. Der Vor- wurf des Abg. Wurm gegen die bayerischen Abgeordneten wegen der Vermehrung der Gewerbeinspektoren ist \{chon zurückgewiesen worden. Man hat au vergessen, daß wir in Preußen und Württemberg für die Vermehrung der Gewerbeinspektoren eingetreten find. Unter- streihen möhte ih den Wunsch des Abg. von Gerlah wegen eines aus- reihenden SPutes der Hoteldiener. Kein Stand ist so \{limm daran, wie diefer. Eine Statistik über das Hausiergewerbe verlangen wir, um festzustellen, ob die Gesetze, die nah hartem Kampfe von uns be- {lossen worden \ind, nur auf dem Papier stehen oder wirklich aus- geführt worden find. Ich gebe zu, daß es in manchen Landesteilen anders sein kann. Herr von Strombeck hat ja eine abweichende Stellung eingenommen wie die große Mehrheit der Fraktion. Er vertritt einen Wahlkreis, der durch seine Produktionsweise auf den Ausweg des Hausierhandels kommen muß. Unsere Statistik würde aber nichts schaden; sie würde nur aufdecken, daß in manten Teilen des Neichs der Hausierhandel betrieben wird, wo er nit notwendig ist. Die Be- mühungen der GeistliGen, Ortsvorstände, Lebrer, die Jugend seßhaft zu machen, wird in meiner Heimat dur die laxe Praxis der Behörden untergraben. Die Behörde sollte mitarbeiten, um diese Elemente \eß- haft zu mahen. Ich möchte Ihnen einen Antrag empfehlen, der an die Stelle des Antrags Albrecht seßen will: „die verbündeten Re- gierungen zu ersuhen, noch im Laufe dieses Jahres eine Verordnung zu erlassen, durch welche in Glashütten die Dauer der Arbeit gemäß §9 120 6 von der Gewerbeordnung (sanitärer Marimalarbeitstag) be- shränkt und die Arbeit an Sonn- und Festtagen verboten wird, mit Ausnahme der erforderlichen Hilfsarbeiten zur Unterhaltung der Glasöfen.“ Der sozialdemokratische Antrag enthält nur das Verbot der Sonntagsarbeit. Ferner bitte ih um Annahme unseres Antrages, der die verbündeten Regierungen ersucht, für die Verarbeitung giftiger und erxplosfiver Stoffe besondere Verordnungen auf Grund der SS 1200 und 139a der Gewerbeordnung zu erlassen. Was den ®Zehnstundentag betrifft, so hat. mein Freund Trimborn nit von dem Maß der Ausnahmen, sondern nur von dem System der Ausnahmen gesprohen. Der Angriff des Abg. Wurm war also ganz unberehtigt. Wir können dcch nit dafür, daß wir {Gon vor aët Jahren klüger gewesen sind, als die Sozialdemokraten jeßt sind; {on 1897 hat der Abg. Hige einen allgemeinen Marimalarbeitstag verlangt, und daneben die immer weitere Ausdehnung des sanitären Marimal- arbeilstages gefordert; seit 1897 wird un8 diese Parallelaktion von den Sozialdemokraten vorgeworfen, und dabei wandeln sie mit ihren neuesten Anträgen genau dieselben Pfade wie wir. Wer für seine sozialen Anträge die Priorität in Ansvruch nehmen kann, dürfte {ließli gleidgültig fein; wenn Herr Wurm gesiern auf 1869 und einen Antrag des Herrn von Schweizer zurückging, so kann ih bis in die 50er Jahre zurückgeben, ja, wenn es sein muß, bis ins Alte Testament. Herr Lumpen im Neichstage gekennzeihnet, das muß der Vollständigkeit wegen hicr erwähnt werden. Wir hoffen, jeßt die sechsunddreißig- stündige Sonntagsruhe mit einer großen Mehrheit des Hauses A zuführen.

Staatssekretär des Jnnern, Staatsminister Dr. Graf von Posadowsky - Wehner:

Meine Herren! Ich bin in der gestrigen Debaite als der Lokomotivführer in dec sozialpolitisGen Gesetzgebung bezeihnet, und hierbei ist mir der Vorwurf gema#t worden, daß mein Zug ih zu langsam bewege. Der Lokomotivführer hat allerdings den Gang der Lokomotive zu regeln; aber wie {nell sich die Maschine bewegt,

hängt au davon ab, wie groß die Last ist, die die Maschine zu be- wegen hat. Aus dieser sozialistishen Debatte ersehen Sie aber, wie | ungeheuer die Last ist, die mir auferlegt is vorwärts zu bringen. '

Wenn man \ich auf allen Seiten etwas mehr beschränkte, wenn man®

den Zug etwas weniger belastete, bin ih fes überzeugt, würde die fozialpolitishe Lokomotive auch wesentlich \{chneller fahren können.

Von der linken Seite des Hauses wurde gerügt, daß ih bei Gelegenheit der Beratung des Etats des Reichsamts des Innern erklärt hätte, es entwidele fih eine gewisse Sußt nah Nente; diese Behauptung sei aber unrichtig, diese Sucht nach Rente komme bei gesunden Arbeitern nicht vor. Eine folche unrichtige Behauptung habe ih auch nie aufgestellt. Aber es ist eine Erscheinung, die in weiten Kreisen beobahtet wird, daß Arbeiter, qwelhe au nur kleine Verleßungen erlitten haben, zuweilen in einen gewissen krankhaften, nur psychologisch erklärlißen Zustand verfallen, den Kampf um die Rente in einer Art führen, der wesentlih verzögernd auf die Heilung der Krankheit einwirkt. Das ist von fo viel Sachverständigen behauptet worden, daß man dieser Tatsache ernst ins Gesicht schen muß. Jh habe hier einen Zeitungs- artikel, der von einem berühmten Nervenarzt ges{chrieben ist, welcher die Güte hatte, mir denselben mit einem Begleitshreiben zuzuschicken. Dort beißt es:

Heut nehmen Tausende von Menschen um jeder Kleinigkeit willen, die fie früher kaum beachteten, Hilfe in Anspru, Simulation und Betrug sind in so ershreckender Weise gestiegen, daß die großen Krankenkassen ohne und gegen ihren Willen Versicherungs8anstalten gegen Arbeitslosigkeit geworden find. Wenn der erste Schnee fällt, \{nellt die Krankenziffer in die Höhe. Die barmherzigen Aerzte sollen Krankenscheine untershreiben und geraten fo in einen steten Kampf zwischen Herz und Pflicht. Das hat der Gesetzgeber nicht vorausgesehen; aber es ist so gekommen, und Erfahrene \{chäßen, daß etwa ein Drittel aller Krankengelder niht für wirkliche Krank- heiten bezahlt wird.

Dann heißt es weiter in dem Artikel :

Noch vor 30 Jahren war die Hysterie eine Frauenkrankeit, Ers- krankungen von Männern gehörten zu den Seltenheiten. Heute ist die Unfallhysterie, die frankhafte Willenss{chwähe und Energies losigkeit unter den Kreisen der Verleßten das Kreuz der Aerzte ge- worden. Zu Tausenden zählt man diese hysterishen willensschwachen Menschen. Solange der Zwang auf ihnen lag, bewegten sie sich an der Grenzsheide zwishen den Gesunden und Kranken. Nun er weggenommen ist, gleiten sie willenlos hinüber, sich und anderen eine Last.

Und die Ausführung {ließt mit den Worten :

Wenn wir noch ein Jahrzehnt weiter sind, können wir be- fondere, große Aufbewahrungsanfstalten und pädagogishe Erziehungs3- anstalten für diefe Erzeugnisse des Gesetzes bauen.

Meine Herren, wenn von ernsten Leuten, die selbst auf einem sehr fortgeshrittenen sozialpolitischen Standpunkt stehen, solhe Erfahrungen auf Grund ihrer amtlihen Praxis gemacht werden, dann darf man folhe Erklärungen nicht für unsozial halten oder als lästig beiseite {cieben, sondern hat die Verpflihtung, im Interesse der geordneten und zweckentspreßenden Wirksamkeit der großen und segensêreihen

fozialpolitischen Gesetzgebung darüber nahzudenken, wie man folche

Uebelstände beseitigt, die nebenbei auch sehr gefährliche finanzielle Folgén zeitigen.

Damit hängt eng zusammen, was über das Anwachsen der Zahl der Rente zu sagen ist. Diese Frage kam zuerst bei der \{lesis{chen Versicherungsanstalt zur Sprahe. Aus Anlaß der örtliHen Er- bebungen, welche im Monat Juni 1904 im Bezirk der Landes- versicherungs8anstalt S@Wlesien stattgefunden haben, wurde damals in der Presse behauptet, daß- zur Deckung der erhöhten Rentenlaft die bisherige, etwa 135 Millionen jährlih betragende Beitragseinnahme nicht mehr ausreihe, vielmehr {hon jeßt ein auf 81 Millionen Mark jährlich \sich belaufender „Fehlbetrag“ ermittelt worden sei. Daran knüpfte man ferner die Behauptung, das Gemeinde- vermögen würde nicht ausreihen, und man würde das Sonder- vermögen in höherem Maße in Anspruch nehmen müssen. Was zunächst letztere Annahme betrifft, so hatten wir, wie den Herren erinnerlich ist, bei dem großen Umbau des Invaliditäts- versiherung8geseßes vorgesehen, aus der Sonderlast. der Einzel- staaten und der Provinzen eine gemeine Reichslast zu machen, was im Interesse ausgleihender Gerechtigkeit unbedingt notwendig war. Wir hatten auch vorgesehen, daß. von den Beitrags- einnahmen selbst 45% dem Gemeindevermögen zugewiesen werden sollten, und hatten damals {hon darauf hingewiesen, daß dieser Prozenisay nolwentig sein würde, um die Lasten zu bestreiten, die dem Gemeindevermögen durch die Geseßgebung aufgelegt find. Der Reichstag seite aber diese Quote auf 409% herab, eine Aenderung, die nach unserer damals sofort bekannt gegebenen Rechnung die Erschöpfung des Gemeindevermögerns im Jahre 1908 herbei- führen werde. Wenn also in der Tat das Gemeindevermögen nicht ausreichen sollte, «so kann man das auf diese Aenderung der Vorlage der verbündeten Regierungen wenigstens zum Teil zurück- führen. Was aber die Erhöhung der Beiträge ketrift, fo liegt die Sache folgendermaßen: Die tatsähliGße Steigerung der Beitragéeinnahmen ketrug 1900 bis 1903 gegen das Vorjahr dur- \hnittlich jährli 4,5 9%, die Zahl der neubewilligten Invaliden, renten ist aber bei sämtlihen Versicherungsanstalten im abgelaufenen Nechnungsjahr 1904 von 152871 auf 140112, oder um 12759 zurückgegangen, nachdem «orher eine ganz außergewöhnlihe Steigerung erfolgt war. Ih sciebe diesen Nücckgang der“ Renten zu einem nit geringen Teil auf die Revisionsverhandlungen, die vom Reichs- versiherungsamt unter Zuziehung eines Kommissarius des Neichs- amts des Innern stattgefunden haben. Bei diesen Untersuchungen hat si zweierlei ergeben: erslens, daß häufig bei Behantlung ter Rentenanträge nicht \{harf genug unterschieden ist zwischen Berufs- invalidität und reih8geseßlicher Invalidität, die keineswegs voll- ommen zusammerfallen. (Sehr richtig! rechts.) Ferner aber hat sich ergeben, daß die unteren Verwaltungsbehörden, die Lokalbehörden, ¿um Teil in einer Weise mit Arbeiten überlastet find, daß es den leitenden Beamten dieser Behörden kaum möglich ist, die Rentenanträge in der Weise zu vertiefen, wie es vielleicht im Inter- esse der Sache notwendig und geboten wäre. Hieraus entsteht aber die finanzielle Gefahr einer zu s{ematischen Behandlung der Rentenanträge. Wenn indes auf der einen Seite die. Bei- träge gestiegen sind und auf der anderen Seite infolge der vor- genommenen Revisionen die Renten gefallen sind in ihrer Zahl, dann möchte ih mich zunähst noch der Hoffnung hingeben, obglei ih dafür keine Gewährleistung übernehmen kann, daß es möglich sein wird, ohne Erhöhung der Beiträge die Verpflihtungen der Versiche-

E sählihe System unserer sozialpolitishen Gesetzgebung ?

rung8anstalten weiter zu erfüllen. Aber diese Nevisionen, deren Ergebnis ich selbstverständlih in den Einzelheiten nicht mitteilen fann, führen doch immer wieder von neuem zu dem Schluß, daß die jetzige Verfassung unserer gesamten sozialpolitischen Gesetzgebung auf die Länge ni§t weiter so bestehen bleiben kann. (Lebhafte Zu- stimmung.) Meine Herren, wir haben einen Koloß aufgebaut im Reichsversicherungsamt ; die Geschäfte daselbst nehmen in einer für mich geradezu beängstigenden Weise zu. Das Reichsversiherungs- amt hat fortgeseßt mit schr großen Nückständen zu kämpfen, troß der Treue und des Fleißes der einzelnen Beamten und aller Beteiligten. Die Anträge der verbündeten Regierungen, bei der Unfallversiherung wenigstens den Nekurs durch das Nechtsmittel der Nevision zu ersetzen, sind bisher immer abgelehnt. Worauf kommt es aber bei einer ge- funden Wirksamkeit der sozialpolitischen Gesetzgebung an? Es kommt darauf an, daß die Anträge sinè ira et studio, mit großer Gewifsenhaftigkeit, mit eingehender Kenntris der tatsählihen Ver- hältnisse geprüft werden; es kommt darauf an, daß der Versicherte, der das Necht auf eine Rente hat, eine solche nicht nur möglichsstt \chnell bekommt, sondern auch durchaus entsprechend dem Grade seiner Erwerbsunfähigkeit, und daß eventuell reht- zeitig ein wirksames Heilverfahren cingeleitet wird, und es kommt endli darauf an, daß die Rentenempfänger unter einer ausreihenden Aufsicht steben, und daß ihnen die Rente entzogen wird, \obald fie einen geseßlihen Anspruch auf dieselbe niht mehr haben, mit anderen Worten, daß ein wirksamer Kampf gegen die bewußte oder unbewußte Täuschung geführt wird. Alle die Herren, die mit den Krankenkassen amtlich ¿u tun haben, wissen das genau, welhe Uebelstände da hervor- treten.

Meine Herren, wie besteht nun aber dem gegenüber das tat- Wir haben oben einen Riesenaufbau im Neichsversicherungsamt; aber dieser Riesenaufbau hat eigentlih keinen Unterbau, sondern man hat dtese großen inneren {werwiegenden Aufgaben der sozialpolitischen Gesetz- gebung einfa den bisher bestehenden Behörden aufgebürdet. (Sehr wahr!) Zu der Ueberzeugung bin ih deshalb von Jahr zu Jahr auf Grund der Neiseberichte der mir nachgeordneten Beamten immer mebr gekommen: diese allgemeinen Verwaltungsbehörden können auf die Lânge die Arbeitslast, die ihnen durch die sozialpolitishe Geseßgebung aufgebürdet ift, nicht tragen und können diese Arbeit nit in der Weise bewältigen, wie sie im dringenden finanziellen und sozial- politishen Interesse bewältigt werden muß. (Sehr wahr!)

Wenn wir heute res integra hätten, würte doc kein vernünftiger

Mensch, glaube ih, daran denken, eine besondere Organisation der Krankenversiherung, eine besondere Organisation der Unfallversicherung und eine besondere Organisation der Alters- und Invaliditäts- versiherung zu hafen. Unfall, Krankheit und Invalidität sind doch drei, ih möchte sagen: physiologishe Zustände, die miteinander in ihren Ursahcn und Wirkungen eng zusammenhängen. (Sehr richtig!) Das fogenannte „System“ unserer sozialpolitishen Gesetzgebung ist also lediglich ein Erzeugnis chronologischer Entwickelung. Würde man heute tie sozialpolitishe Gesezgebung neu aufbauen, dani wäre, glaube ih, in diefem Hause au nit der geringste Streit darüber, daß eine einheitlihe Organisation geschaffen werden müßte. (Sehr richtig! und lebhaftes Bravo! auf allen Seiten des Hauses.) Das würde den Gang dées ganzen Werkes wesentlih ver- einfachen, verbessern und seine Kosten bedeutend verringern. Unterdes haben wir uns mit leinen Hilfêemitteln beholfen. Wir haben in jedes Gesetz eine Reihe von Paragraphen geseßt, die die gegenseitigen Rechte und Pflichten der Krankenversicherung, der Unfallversicherung und der Invalidenversiherung abgrenzen sollen. Aber trotz der forg- samsten jurislishen Fassung bieten natürlich alle diese Paragraphen Anlaß zu zahllosen Reibungen und Nechtsstreitigkeiten. Und weiter: urch dieses vielköpfige verwickelte System wird natürliß auh die WVirksamkeit der Gesetze verlangsamt, und die Aufsicht über die Renten- mpfänger leidet darunter, ganz abgesehen von der Erhöhung der Ver- waltungskosten.

Ich glaube also, meine Herren, es muß eine Aufgabe der Zukunft ein, diese drei großen Versicherungs8gesellschaften in eine einheitliche Form zusammenzufassen. (Wiederholter Beifall auf allen Seiten des Hauses.)

In Desterreih liegt bereits der geseßgebenden Körperschaft ‘ine Denkschrift in ähnliGßem Sinne und mit gleihem Ziele vor. Meine Herren, damit muß eben auch die ganze sozialpolitische Ver- iherung ein festeres Gerippe bekommen, als es bisher der Fall ift.

Ÿ glaube, daß die Entwidlung dahin gehen muß, daß man einen aterbau unter berufs8mäßiger Leitung \{chafft, der die fozialpolitische Sesezgebung innerhalb beschränkter Verwaltungsbezirke in erster nstanz auszuführen bat, der alle Anträge auf ihren sachlich:n Jnhalt rüft, die Einziehung der Beiträge leitet, die Nentenempfänger über- pabt, das Heilverfahren anordnet und die Zahlung der Renten ver- nlaßt. Ih kann mir ferner sehr wohl denken, daß einem solchen elbständigen Unterbau ter Gewerbebeamte, der Kreisarzt angegliedert vird, und daß so cine fozialpolitishe Behörte für engere Bezirke ntsieht, die ein wirksames örtlihes Organ für die Ausführung der ozialpolitik des Staats, seiner sozialpolitishen Fürsorge überhaupt, stt. (Sehr richtig !)

Meine Herren, dieses große Werk zu hafen, möchte ih sagen, bürde fast die Allmacht und die Kraft eines Diktators beanspruchen. bs ist cine der verwidckeltsten Aufgaben gegenüber der gescickchtlichen Entstehung unserer \ozialpolitis(en Organisation, einen einheitlichen, aren und \chnell arbeitenden neuen Organismus zu schaffen, und an wird diese Aufgabe nur lösen können, wenn fh ein Reichstag ndet, der, falls ihm ein solches Geseß vorgelegt wird, darauf ver- tet, in alle Einzelheiten desselben hineinzugehen, der vielmehr mit nem gewissen Vertrauen die aroßen Grundzüge eines solchen Gesetzes nimmt und dann der kessernten Hand der Zukunft den allmählichen titeren Ausbau einer solchen gemeinshaftlihen Grundlage überläßt.

Meine Herren, ih weiß nicht, ob mir das Schicksal Amts- und bensdauer und Lebenékraft genug lassen wird, dieses große Werk (bst auszuführen, aber wenn die Sozialpolitik bei uns auf einer tfsamen, sozialpolitisch und siranziell sicheren Grundlage aufgebaut erden soll, wird nichts anderes übrig bleiben, als an eine solche große ‘form mutig beranzutreten. (Lebhafter Beifall.)

Meine Herren, ich will nun auf eire Anzahl einzelner Punkte ergehen. Es ist gestern die Ausdehnung der Krankenversichecung ! die Heimarbeiter angeregt roorden. Diese Ausdehnung der

Arbeil3- und Lohnverhältnisse der Heimarbeiter; es bietet große Schwierigkeiten, eine einfahe und möglich| wenig kostspielige Organi- sation für diese Arbeiterklasse zu schaffen, und vor allen Dingen * liegt die Schwierigkeit au in der geringen finanziellen Leistungéê- fähigkeit der zu Versichernden. Wir sind mit dieser Arbeit bes{äftigt, hoffen auch, daß wir zu einem Erfolg kommen werden, ic kann aber augenblicklich mit Sitherheit den Zeitpunkt hierfür noch nit angeben.

Bei Behandlung der Krankenversiherung ist auch die Regelung der Arzneitaxe besprohen. Jch gestatte mir, zu bemerken, daß die Arzneitaxe nicht ein Reichsgeset ist, sond:-rn nur eine Vereinbarung unter den verbündeten Regierungen, hiernach eine gleihartige Arznei- taxe für jeden einzelnen Bundesstaat aufzustellen. Ih bemerke, daß den Bundesregierungen bei dieser Vereinbarung ausdrücklich überlassen ist, einen etwaigen Nachlaß für Arzneien an öffentlihe Anstalten, an Kassen und an folhe Vereine und Anstalten, welche der öffentlihen Armenpflege dienen, sowie für Tierarzneien vorzuschreiben. Die Grundsäße sollen auch von Zeit zu Zeit einer Prüfung unterzogen werden, und es liegt gar kein Bedenken vor, bei der erneuten Prüfung auch Vertreter der Krankenkassen mit ihren Gutachten zu hören.

Wenn gleichzeitig die Ausdehnung der Invalidenversiherung auf die Heimarbeiter gefordert ist, so möchte ih dringend davor warnen, jeßt {hon an diese Frage heranzutreten. Die notwendigste und dringendste Frage ist die Krankenversiherung für die Heimarbeiter, und erst, wenn wir diese Frage gelöst haben, werden wir za der Ent- \cheidung der Frage übergehen können, ob au die Invalidenversicherung auf die Heimarbeiter auszudehnen ist. Jin übrigen ist bekanntlich die Hausindustrie, soweit sie der Textil- und Tabaksindustcie angehört, {on der Invalidenversiherung unterworfen.

Ob die Wahlordnung, die für die Krankenkassen besteht, formelle Mängel aufweist, ist mir amtlih nicht bekannt geworden. Jch werde aber nicht unterlassen, dieser Frage na@zugehen. Wenn bet dieser Gelegenheit für die Krankenkassen das allgemeine Proportionalwahl- system gefordert ist, so ist das eine Frage, die mir sehr beachtenswert zu sein \{cheint, aber es empfiehlt sfich vielleiht, diesem Gedanken eine geseßgeberishe Gestalt nicht zu geben, bevor niht weitere Er- fahrungen bei den Kaufmanns8gerihten mit dem Proportionalwahl- \system gemacht sind.

Die Kaufmannsgerichte sind leider noch nit überall eingerichtet. Das lag einerseits an den SYwierigkeiten, die die Kaufmannsgerichte für weitere Bezirke mit vershiedenen Gemeindebehörden bilden, ander- seits aber auch an der Ausführung des Proportionalwahlsystems. JchH glaube, es wird in der nächsten Zeit ein Werk erscheinen, was sich nur mit der Frage beshäftigen wird, wie das Proportionalwahlsystem bei den Kaufmannsgerihten gewirkt hat. Ih hoffe, man wird aus diesem Werk manche Belehrung \{chöpfen und dann auch die Frage klarer ers- örtern fönnen, ob das Proportionalwahlsystem auf andere Wahlen ausgedehnt werden möchte.

Das Einziehungsverfahren für die Invalidenversiherung ift da, wo man die geeigneten Organe dazu findet, wie namentlich in Süd- deutshland mit einer dihten Bevölkerung, jedenfalls dem allgemeinen System des Markenklebens durch die Versicherten selbst vorzuziehen. Aber je \{chwächer bevölkert ein Bezirk ist, d. h. je mehr na Norden und Often er liegt, desto s{chwerer wird es sein, hon mit Rüksicht auf die großen Entfernungen, auf die nihtges{lossenen Ortschaften, allgemein das Einziehungsverfahren anzuwenden.

Es ist auch richtig, daß die sogenannten freien Kassen zum Teil zu sehr bedenklihen Gründungen Anlaß gegeben haben, und es ist unbedingt notwendig, hier einen geseßgeberishen Eingriff zu machen. (Bravo! in der Mitte.) Ich habe bereits ein eingehendes Gutachten vom Aufsichtsamt sür Privatversicherungen eingefordert, und mein Ge- danke geht dahin, diese freien Kaffen unter das „Zulassungssystem“ zu stellen und damit unter das Aufsichtsamt für Privatversicherung. (Sehr gut!) Dann werden meines Erachtens folche gefährlihen, man kann fast sagen betrügerischen Gründungen, wie sie vorgekommen sind, in Zukunft unmöglich sein. Ich hoffe, daß der Reichstag, wenn ihm ein solhes Gesetz vorgelegt wird, demselben seine Zustimmung nicht versagen wlrd.

Was die Witwen- und Waisenversihrung betrifft, so ist ja bekanntlich der geseßliche Zeitpunkt für deren Inkrafttreten das Jahr 1910. Wie die Herren wissen, sind im Reichsamt des Innern schon eingehende Grundzüge für die Witwen- und Waisenversicherung aus- gearbeitet und den verbündeten Regierungen mit der Bitte zugesandt, ihr Gutachten hierzu abzugeben. Bis jeyt sind von 16 Regierungen Aeußerungen eingegangen, die zum Teil sehr beahtenswerte Fingerzeige entfalten und eine wesentlihe Grundlage für die Ausarbeitung des Gesetzes geben werden. Aber, meine Herren, die Hauptsache ist : wie wird ih der Einnahmefonds stellen, der für die Witwen- und Waisen- versicherung vorgesehen is? Davon wird es abhängen, unter welchen Bedingungen überhaupt diese geseßlihe Maßregel, die auf Antrag des Neichstages beschlossen ist, ins Leben geseßt werden kann.

Mas die Ausdehnung der Krankenversiherung auf die Landwirt- schaft betrifft, so habe ich durch Kommissarien des Reichsamts des Innern diejenigen Landesteile bereisen lassen, wo bereits eine Kranken- versiherung für landwirtshaftliße Arbeiter und Dierstboten einge-

rihtet ist. Besonders in Württemberg haben meine Kommissarien sih überzeugt, daß diese Einrihtung zum teil ganz qusgezeihnet wirkt, zur allgemeinen Zufriedenheit der Bevölkerung, von Arbeitgebern und Arbeitnebhmern. Aber ih möchte darauf hinweisen, daß die obligato- rishe Krankenversicherung in Württernberg überall da die landes- gesebliche Krankenversiherung einführt, wo kcine reih8geseß- lie Fürsorge besteht; sie umfaßt für Erwerbsfähige freien Arzt und Arznei, für Erwerbsunfähige grundsäßlih daneben freie Verpflegung im Krankenhause, eventuell auchG auf Grund statutarischer Vorschrift ftatt dessen cin Verpflegungsgeld.

Wenn man jeßt auf reihsgeseßliher zwangsweiser Grundlage eine Krankenversiherung einführen wili, so kann man drei Wege gehen. Man kann entweder ein eingehendes Reichsgese* machen, das im einzelnen die Krankenversiherung für das ganze Reich gleiGmäßig regelt. Dem stehen große Schwierigkeiten ent- gegen, weil die landwirtshaftliGen Verhältnisse in Deutsch- land ganz außerordentlih verschieden sind, namentlich auch in der Art der Löhnung der Arbeiter. Man [kann aber auch durch ein Reichsgeseß nur die Mindestleistungen allgemein feststellen und die ganze weitere Ausführung und namentli etwaige Mehrleistungen der Landesgeseßgebung überlassen. Würde man diesen Weg gehen, so wäre es allerdings möglih, dur die

Entschädigungen bis zum Behbarrungszustande steigen.

Gebiete der Landwirtschaft und der landwirtschaftlihen Löhne in den etizelngn Bundesstaaten bestehen, im einzelnen Rehnung zu tragen. Endlich haben wic jeßt im hohen Hause den Wunsch gehört, diese Frage überhaupt landesrechtlich zu regeln. festen Standpunkt zu der Sathe einnehmen, vielmehr nur sagen, daß

Ich kann beute keinen

nah den beiden ersten Richtungen hin Geseßentwürfe im Reichsamt

des Innern vorbereitet werden.

Einer der Herren Vorredner hat darauf hingewiesen, daß die Verwaltungskosten der Schmiedeberufsgenofsenshaft sehr hoh seien im Verhältnis zu den gezahlten Entschädigungen. Es ist richtig, daß in der Shmiedeberufsgenossenschaft auf 100 (A Verwaltungskosten nur 101 Æ gezahlte Entschädigungen fallen. (Hört! hört!) Diese Erscheinung hat fich wohl bei allen Berufsgenossenshaften im Anfange gezeigt. Es sind von der Schmiedeberufsgenossenschaft im Jahre 1903 verausgabt als Entschädigungen 210 745 6 und als laufende Verwaltungskosten 207 744 4, allerdings ein auffallendes Mißverhältnis! Aber es muß darauf hingewiesen érden, daß die Schmiedeberufsgenossenshaft erst \eit zwei Jahren besteht und die Entschädigung noch nicht volle zwei Rentenjahre umfaßt. Die Ent- \chädigungszahlen werden äber von Jahr zu Jahr bis zum Beharrungs8zustande steigen. Wenn ih das Beispiel anderer Berufs- genofsenshaften anführen darf, so sind z. B. im Jahre 1886 in den anderen Berufsgenossens{aften auf 100 # Verwaltungskosten nur 82 Æ. Entschädigungen gekommen, im Jahre 1903 kommen aber auf 100 A Verwaltungskosten 1063 #4 Entschädigungen. Also die Verwaltungékosten steigen niht annähernd in dem Umfange, wie die Ein ähnliches Verhältnis werden wir auch bei der Schmiedeherufsgenossens{aft beobachten können.

Es ist in der heutigen Debatte Heilstätten hingewiesen und gesagt,

würden wahrsheinlich gute Wohnungen wirken. (Zuruf.) Meine

Herren, für die allgemeine Gesundheitspflege kommen aber sehr

viele Gesichtspunkte in Betraht. Jedenfalls i die Wohnungsfrage

nur einer der Gesichtspunkte, allerdings, wie ih zugestehe, einer der

wichtigsten. Aber wenn fich jeßt die Sterblihkeit beim männlichen

Geschlecht auf 90,12 9% und beim weiblißen Geshlecht auf

80,95 9/6 der Sterblichkeit von 1890/91 vermindert hat, also eine

derartige Verminderung im Laufe von 12 Jahren eingetreten ift, \o

glaube ih, hat die Heilstättenbewegung daran keinen geringen Anteil.

Was die Wohnungsfrage betrifft, so wird ja der Bau von Wohnungen,

namentlih für Arbeiter der Neichsbetriebe uud für die mittleren Neichs-

beamten, vom Neich alljäßrlich durch Darlehen unterstüßt. Aber felbst

gegen diese geringe Unterstüßung, die weiter nichts ist wie die Hergabe

der leßten Hypothek zu billigem Zinsfuß, ist von seiten der Bau-

interessenten der allerlebhafteste Widerstand erhoben worden.

Wenn man annimmt, daß die deutshe Bevölkerung sich jährlih um etwa 700 000 Perfonen vermehrt, fo sind für diese 7C0 009 Per- sonen, selbst wenn man die Familie nur in Höhe von fünf Köpfen durhscchnittlich annimmt, 140 009 neue Familienwohnungen zu bauen. Wenn man ferner annimmt, daß eine derartige Familienwohnung, nach dem billigsten Preise berechnet, durchschnittlich einen Kostenauf- wand von 4500 Æ verursacht, so würden in Deutschland, allein um dem Wohnungsbedürfnis der wachsenden Bevölkerung bei ge- ringstem Wohnungsbedürfnis zu genügen, 630 Millionen, also rund 700 Millionen jährlich zu verbauen sein. Wenn man ferner das hinzurehnet, meine Herren, was an Schulen, an Krankenhäusern, an Kircden, an allen möglichen öffentlihen Anstalten für diese wahsende Bevölkerung noch gebaut werden muß, so geht man vielleiht niht zu weit, wenn man sagt, daß in Deutschland hierfür noch einmal 700 Millionen im Jahre ausgegeben werden müssen. Man kann also annehmen, daß in Deutschland, um den Wohnungsbedarf und den übrigen Bedürfnissen seiner wachsenden Bevölkerung gereht zu werden, 14 Milliarden im Jahre für Bauten ausgegen werden. Und dem gegenüher werden die Reichéverwaltung und ebenso die preußis@e Verwaltung aufs allerheftigste angegriffen, weil sie alljährlih in ihre Etats 5 resp. 15 Millionen einstellen, um den Bau billiger Wohnungen für die minderbesoldeten Beamten und für die Arbeiter zu unterstüßen! Kann denn wirklich ein Haus- eigentümer gegenüber diesem ungeheuren Bedarf der wachsenden Be- völkerung aus diesen geringen Unterstüßungen eine Schädigung seines Gewerbes nachweisen? (Sehr gui!) Das sind doch geradezu un- verantwortlihe Behauptungen. (Sehr richtig!) Worin besteht denn das ganze Opfer, was das Reich bringt? Wir geben das Geld zu etwas billigerem Zinsfuß, wobei wir bis jeßt noch nicht einen Pfennig verloren haben. Dieser billigere Zinsfuß macht pro Jahr, wenn man eine Jahresleistung von 5 Millionen zu Grunde legt, die große Summe von 16 666 A, die das Reich zuschießt, eine Summe, die natürlich mit der wahsenden Tilgung des Kapitals jährli sih noch fortgeseßt verringert. Wegen dieses geringen Zuschusses gibt es Kreise, die aufs allerheftigste die Neichsregierung angreifen, weil sie ihren nachgeordneten minder besoldeten Beamten und ihren Arbeitern hygienisch gesunde Wohnungen zu vershaffen suht. Meine Herren, das ist eine Agitation, die ich für geradezu unvecrartwortlich halte. (Sehr gut!)

Ich bin auch nach dem Material der Enquete für die Privat- beamten gefragt worden. Dieses Material ist eingegangen; es liegt dem Reichsstatistishen Amt vor und wird dort einer eingehenden Be- ratung unterzogen. Dann kann man überhaupt erst sehen, ob und wie man dem Wunsch der Privatbeamten vielleiht entgegenkommen kann.

Im Anschluß an die Ausführungen des Herrn Kommissarius der Königlich sächsishen Regierung möchte ih bemerken, daß der Konflikt zwischen Aerzten und Krankenkassen in Leipzig gewiß tief bedauerlich ist. Ich glaube aber, die sähsishe Regierung hat vollständig ihre Pflicht getan, wenn sie, wie gesehen, eingegriffen hat. Die Krankenkassen sind niht der Organisation wegen geschaffen, die Krankenkassen sind auch nit geschaffen für die Aerzte, sondern sie find geschaffen, um den kranken Arbeitern zu helfen. (Sehr richtig!) Wenn ein derartiger Zustand entsteht, daß die Aerzte ihre Tätigkeit infolge eines Konflikts versagen, fo, glaube ih, hat jede Regierung, der das Wohl ihrer Staatsbürger am Herzen liegt, dafür zu sorgen, daß der Hauptzweck der geseßlihen Einrichtung erfüllt wird, und das ist die ärztliche Pflege der Kranken. Deshalb handelte die sächsishe Regierung gezwungen und hat nah meiner Ueberzèugung nur ihre Pfliht getan, wenn sie ihrerseits eingriff.

SIch gehe über zu den Forderungen, die auf den Gebieten der Gewerbeordnung und des Arbeiterschußes gestellt sind. Die Erhebungen

auch auf die Kosten der besser als die Heilstätten

ankenversicherung bietet ganz erheblihe und zum Teil auch un- herzusehendz Schwierigkeiten wegen der großen Verschiedenheit der

.

Landesgeseßgebung den vielfachen Verschiedenheiten, die auf dem

über die Sonntagsruhe im Binnenschiffahrtsgewerbe sind bereits be-