1905 / 288 p. 8 (Deutscher Reichsanzeiger, Thu, 07 Dec 1905 18:00:01 GMT) scan diff

ständigkeitsgelüsten unserer polnishen Staatsbürger fürchteten. Das eirle war eine ebenso alberne Erfindung wie das andere. (Zuruf bei den Polen.) Wie f\ih die russischen Verhältnisse weiter ent- wideln, was in Rußland weiter vor sih geht, ist lediglich Sache der Russen. Das versteht si von selbst, daß wir ein Uebergreifen der Unruhen auf unser Gebiet nicht dulden werden. (Sehr richtig! bei den Nationalliberalen, in der Mitte und rets.) Bei uns werden wir die Ordnung aufrecht zu erhalten wiffen, darauf verlässen Sie ih. (Lebhaftes Bravo !) L

Meine Herren, was nun die Marokkofrage angeht, so kann ich Fhnen in dieser Beziehung feine neuen Tatsachen vorführen. Fch kann auch nicht alles sagen) was die Akten enthalten. Es ersheint mir aber durchaus angemessen und berechtigt, daß die Vertretung des deutshen Volkes weiß, wie der verantwortliche Leiter unserer auswärtigen Politik zu einer Frage steht, die über ihren unmittelbaren materiellen Wert hinaus die inter- nationále Stellung des Reis berührt und ernste Schwierigkeiten geshaffen hat. Ich glaube, das geshieht am besten, indem ih hnen in ganz einfachen Linien ein Bild der Entwicklung dieser Frage gebe.

Es ift Ihnen bekannt, daß Deutschland s{chon zur Zeit der Madrider Konferenz, also vor 25 Jahren, in Marokko keine Sonder- vorteile suchte, sondern, wie damals alle übrigen Mächte, eine ruhige und unabhängige Entwicklung des \erifishen Reichs begünstigte. Indem wir an diesem Standpunkt festhielten, konnte eine deutshe Aktion wegen Marokko nur defensiver, nicht aggressiver Natur sein. Also keine territorialen Erwerbungen in Marokko, wohl aber Achtung vor den bestehenden Verträgen, Achtung unserer politishen Stellung zu Marokko als einem unabhängigen Staat, Achtung unserer wirt- \chaftlihen Gleichberechtigung in Marokko.

Nun hatten Anfang April vergangenen Jahres England und Frankreich wegen überseeisher Fragen ein Abkommen mit einander geshlofsfen. In bezug auf Marokko bedeutete dieses Abkommen eine Desinteressierung Englands zu Gunsten Frankreihs. England ver- pflichtete sich dur dieses Abkommen, Frankreich in Marokko freie Hand zu lafsen. Selbstverständlih haben wir niemals der englischen Regierung das Recht bestritten, ebensowenig wie später der spanischen, über die marokfanishen Interessen ihrer Untertanen nach Gutdünken zu verfügen. Aber deutshe Rechte konnten durch ein english-französishes Abkommen niht aufgehoben werden. (Sehr richtig! bei den Liberalen, in der Mitte und rets.) Diese unsere Rechte ergaben sih aus der zwischen den größeren europäischen Staaten, den Vereinigten Staaten von Amerika und Marokko am 3. Juli 1880 zu Madrid abgeschlossenen Konvention und ‘aus dem deutfch- marokfanishen Handelsvertrag vom 1. Juni 1890. Haupt- sählih kam der Artikel 17 der Madrider Konvention in Betracht, durch welchen Marokko allen auf der Madrider Konferenz vertretenen Mächten das Recht der Behandlung als meistbegünstigte Nation eingeräumt hat. Wenn alfo Frankreich auf Grund des französish-englishen Abkommens in Marokko Sonderrehte erwerben wollte, welhe mit dem Meistbegünstigungsreht der anderen Staaten in Widerspru stehen, so hatte es nicht nur die Zustimmung von Marckko, sondern auch diejenige der übrigen Signatarmächte einzus

E T A Oi Hls: (Lebhafte Zustimmung.) Fb uf, bei iee Néêu-

4 mai

Hofs E eri rbältnisse in Maroklo mit gehört zu werden. (Sehr richtig!) Unsere Handelsinteressen in Marokfo sind zu erbeblich, als daß wir eine Entwicklung der Dinge hätten zu- lassen können, an deren Ende die vollständige Abschließung von Ma- roffo stand. Wir haben ein erhebliches Interesse daran, daß die noch freien Gebiete in der Welt nicht noch weiter eingeshränkt werden (lebhafter Beifall), und daß der Beotätigung unserer Industrie und der Ausbreitung unseres Handels in einem fommerziell wichtigen und zukunftsreihen Lande die Wege nicht verschlossen werden. Und wenn gesagt worden ist, diese unsere Handelsinteressen wären nicht erheblich genug, um eine ernsthafte Ver- tretung zu rechtfertigen, so erwidere ih darauf, daß jedes Land das Recht hat, felbst zu entsheiden, wie hoh es den Wert solcher seiner Interessen shäßen will. (Lebhafte Zustimmung.) Jedenfalls trifft das „minima non curat praetor“ nit auf Angelegenheiten zu, bei denen das Vertragsrecht und das Ansehen eines Landes in Frage kommen.

Meine Herren, ich hätte lebhaft gewünscht, daß die Ver- ständigung mit Frankreich über die Vereinigung unserer vertrags- mäßigen Rechte in Marokko mit dem französish-englishen Abkommen si ras, glatt und geräushlos vollzogen hätte. Von diesem Wunsche geleitet, habe ih mich vor diesem hohen Hause bald nach dem Ab- {luß des englisch-französishen Abkommens über Marokko in ent- gegenkommender und versöhnliher Weise ausgesprohen. Ich hob damals hervor, wir brauchten bis auf weiteres nit anzunehmen, daß unsere Interessen und Rechte in Marokko verlegt werden würden. Ich be- tonte, wir hätten keinen Grund, a priori zu glauben, daß dem engs lisch-französishen Abkommen eine Spiye gegen uns gegeben werden folle. Die Andeutung, welche in diesen Worten lag, war, wie ih glaube, verständlih; sie war jedenfalls voller Courtoisie. Meine Er- wartung, daß die andere Seite, bevor sie an die Verwirklichung ihrer Pläne in Marokko ging, an uns herantreten und ih mit uns verständigen würde, hat ih jedoch nit erfüllt. (Hört, hört!) Man machte uns keine, jedenfalls keine ernsthafte und ausreihende Mitteilung über das Abkommen. Ein Teil der französishen Presse war bemüht, dem Abkommen eine Spitze gegen Deutschland zu geben. Auch sonst trat die Tendenz hervor, uns Schwierigkeiten in den Weg zu legen.

Meine Herren, der Minister, der die Verantwortung, die {were Verantwortung trägt für die Sicherheit und den Frieden eines großen Landes, darf sich niht einshläfern oder düpieren lafsen; er soll aber au nicht vorzeitig die Nerven verlieren, sondern abwarten und shweigen können, bis sih die Situation in der einen oder anderen Richtung geklärt hat.

Dieser Augenblick kam, als die französishe Regierung sich an- \{hickte, ohne weitere Erklärung, ohne Anfrage bei uns aus dem Ab- kommen mit Marokko die weitestgehenden Konsequenzen zu ziehen. Zu diesem Zwecke wurde der französishe Gesandte Herr] St. René Taillandier nach Fez geshickt, welher der marokkanishen Regierung Vorschläge unterbreitete, deren Annahme Marokko in eine ähnliche Lage gebraht haben würde wie Tunis. Diese Vorschläge wurden in Formen gestellt, die als Ultimatum gelten konnten. Indem fie uns hiervon in Kenntnis seßte, teilte die marokkanische Regierung uns

gleihzeitig mit, der französishe Gesandte habe sich zur Unterstützung seiner Forderungen auf ein europäisches Mandat berufen. Damit waren unsere vertragsmäßigen Rehte aus der Madrider Konvention offenkundig verleßt, die dur internationale Verträge verbürgte Souveränität von Marokko in Frage gestellt, unsere wirtschaftlichen Interessen in Marokko in absehbarer Zeit mit Vernichtung bedroht. Die verschiedenen Phasen der langwierigen diplomatischen Kampagne, die sich seitdem abgespielt hat, will ih nit im einzelnen rekapitulieren. Die Gesichtspunkte, die für uns während dieser mehrmonatlichen Verhandlungen leitend waren, sind in einem Erlaß zusammengefaßt, den ih am 11. April d. I. an den Kaiserlichen Botschafter in London gerichtet habe, den ich vor diesem hohen Hause verlesen will :

„Obwohl ih aus Euerer Exzellenz Berichterstattung entnehme, daß die öffentliche Meinung in England einer sahlichen Würdigung marokfkanisher Angelegenheiten und insbesondere unserer Marokko- Politik wenig zugänglich ist, möchte ih doch nicht unterlassen, Sie über die Hauptgesihtspunkte dieser leßteren zu orientieren.

In dem englisch-französishen Abkommen ist die Erhaltung des status quo ausdrüdlich vorgesehen. Wir waren daher berechtigt, anzunehmen, daß, falls im Laufe der Zeit Neuerungen eingeführt werden sollten, welhe geeignet wären, die Interessen der Fremden zu berühren, Deutshland zu denjenigen Staaten gehören würde, mit welhen man deswegen in Verhandlung treten werde. Hiervon ausgehend, traten wir aus der Beobachterrolle nicht heraus bis zu dem Augenblick, wo die marokkanische Negierung unsern Vertreter in Tanger fragen ließ, ob wirklich der französishe Gesandte, wie er das vor dem Matsen erklärt habe, Mandatar der europäischen Mächte sei. Ungefähr gleichzeitig damit erfuhren wir, daß das von dem Gesandten zur Annahme vorgelegte Programm Forderungen enthalte, welhe mit dem status quo unvereinbar find. Um jeden Zweifel an den Endabsichten der französischen Regierung zu be- seitigen, maten einige inspirierte Organe der großen Pariser Prefse Stimmung für ‘den Gedanken, daß Marokko zu Frankreich in das gleiche Verhältnis wie Tunis zu bringen sei.

Wir tehen auf dem Standpunkte, daß diesem französischen Vorhaben die völkerretliche Grundlage fehlt, und daß dadur die Interessen aller derjenigen Staaten beeinträchtigt werden, welhe bei den früheren marokkanishen Konferenzen mitberaten haben und jeßt niht von Frankreih gefragt worden sind. Der Einwand offiziöser französisher Blätter, daß es \ih bei den früheren Konferenzen nicht um eine politishe Aenderung, sondern lediglich um die Regelung privatrechtliher Interefsenfragen gehandelt habe, ist rabulistisch und nicht stihhaltig. Denn eine Aenderung, wie die Tunifikation von Marokko, welhe darauf hinausläuft, das nit französishe Element nah dem Vorgange von Tunis gänzlich aus dem marokkanischen Geschäftsleben zu ver- drängen, berührt selbstverständlich die fremden Privatinterefsen in ihrer Gesamtheit. Eine Befragung der Vertrags\taaten ist daher nicht zu vermeiden, sofern Frankreih nicht den Rechtsboden ver- lassen und lediglih die Machtfrage stellen will.

Was England und auch Spanien angeht, so bestreiten wir feiner der beiden Regierungen das Recht, über die marokkanishen Interessen ihrer Untertanen für Gegenwart und Zukunft nach Gut- dünfken zu verfügen. Wir glauben aber nicht, daß eine der beiden

E E tia üher die Interefsen der Ange- hörigen Dea eetheb e AEA taaten, j. H! Uber die Deutschën zu

disponieren. Diese unsere Annahme wird gestüßt durch den Ar- tifel des english-französishen Vertrags, wo die Erhaltung des status quo ausdrüdlich vorgesehen ift.

Es werden jeßt in der englishen Presse große Anstrengungen gemacht, um, wie dies übrigens {on seit Jahren gebräuchlih ift, der deutshen Politik allerlei düstere Pläne unterzu- sieben. Auf unsere Lage paßt der Spruch: Cet animal est très méchant, quand on l’attaque il se défend. Wir treten für unsere Interessen ein, über welche, ansheinend ohne unsere vertrags- gemäße Zustimmung, verfügt werden soll. Die Bedeutung der Interessen ist dabei Nebensahe. Derjenige, welhem Geld aus der Tasche genommen werden soll, wird sich immer nach Möglichkeit wehren, gleichviel, ob es sich um 5 Mark oder um 5000 handelt. (Zuruf und Heiterkeit.) Daß wir wirtshaftlihe Interessen in Marokko haben, bedarf keines Beweises. Wenn wir dieselben ftill- \chweigend preisgeben, so ermuntern wir damit die zushauende Welt zu ähnlihen Rüksichtslosigkeiten gegen uns bei anderen vielleiht größeren Fragen. (Sehr richtig !) Euere Exzellenz werden also, da wo Sie eine Besprehung der Marokkopolitik für angezeigt halten, sagen können, daß Deutschland in Marokko für die Interessen seiner Reichsangehörigen eintritt, welche dort identisch sind mit den Interessen der Angehörigen aller übrigen Vertragsstaaten und mit der Erhaltung der offenen Tür. Ferner, daß Deutschland nicht die Absicht hat, bei diesem Anlaß durch Sonderverhandlungen ih Sondervorreile, welcher Art es auch sei, in Marokko oder anderswo zu verschaffen.“ (Lebhafter Beifall.)

Meine Herren, in Uebereinstimmung mit diesem Gesichtspunkte

haben wir von dem Augenblicke an, wo die Mearokkofrage, niht dur unsere Schuld, in ein afutes Stadium getreten war, eine neue Konferenz der Madrider Konferenzstaaten als den sichersten Weg zu einer friedlihen Lösung des entstandenen Interessenkonflikts angesehen. Wir haben also in dieser Frage von Anfang an einen klaren Rechts- standpunkt eingenommen und festgehalten. Dieser Rechtsstandpunkt {lo die Anerkennung der besonderen Stellung in sch ein die Frankreich als algerisher Grenznachbar einnimmt, wie seiner Rechte aus seinen früheren Verträgen, mußte aber gegenüber einer unberechtigten und gefährlihen Ignorierungs- politik um so entschiedener zur Geltung gebracht werden. (Lebhaftes Bravo rechts, in der Mitte und links.)

Die französishe Regierung hat nunmehr den Konferenzgedanken angenommen, \ich mit uns über das Konferenzprogramm verständigt, und die anderen Signatarmächte ebenso wie auch Rußland werden an der neuen Marokkokonferenz teilnehmen. Es versteht sich von selbst, daß wir auf dieser Konferenz das, was wir bisher für recht und billig gehalten haben, auch weiter vertreten und verteidigen werden. (Bravo!)

Meine Herren, darin sollen uns au die von alter Feindschaft und Mißgunst unternommenen Versuche niht beirren, der deutschen Politik falshe Beweggründe unterzushieben, Mißtrauen zu säen und insbesondere die deutsche Friedensliebe zu verdächtigen. (Sehr gut!)

Man hat uns nachgesagt, daß wir nach einem Anlaß suchten, um über Frankrei herzufallen. Meine Herren, warum follten wir

das? Aus Revanhe? Wofür? Oder aus bloßer Rauflust? Das ist absurd. Dann hieß es wieder, wir wollten Frankreich zwingen, mit uns gegen England zu gehen. Das ist ebenso absurd. Alle diese und ähnliche Aus\treuungen, alle - diese und ähnliche Lügen erklären fi nur daraus, daß feindselige Stimmungen gegen uns bestehen, gegen die wir auf der Hut sein müssen. (Sehr richtig! rets, in der Mitte, bei den Nationalliberalen und Freisinnigen.)

Meine Herren, dieser Rückblick auf die Entwicklung der marokka- nishen Angelegenheit soll mir nicht den Anlaß bieten, feierlich und in \{chönen Worten vor diesem hohen Hause, vor Europa, vor der Welt den friedlihen Grundzug unserer Politik zu versichern. Denn gerade unsere Haltung gegenüber der Marokkoangelegenheit, wie ih fie in großen Umrissen gezeihnet habe, beweist unanfehtbar, daß, wenn wir die deutshen Rechte und Interessen zu wahren bestrebt sind, wir dohch auch materielle Schwierigkeiten und diplomatische Gegnerschaften ohne Mißachtung der Rechte anderer, ohne Provokation fciedlih zu überwinden traten. (Bravo!) Indem wir das tun, sind wir ganz im Rahmen der deutschen traditionellen Politik, die seit der Erlangung unserer Einheit kein höheres Ziel und kein höheres Interesse gekannt hat, als die Kräfte innerer und äußerer Kultur zu entfalten und allezeit gegen die Strecken des Krieges gerüstet zu sein. (Bravo!) Wer das noh nicht erkannt hat, der will es nicht sehen, und da helfen auch rednerishe Versicherungen nid;ts. (Lebhafter, anhaltender Beifall auf fast allen Seiten des Hauses.) 2

Hierauf wird gegen 6 Uhr die Fortsezung der Beratung auf Donnerstag 1 Uhr vertagt.

Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 2. Sigung vom 6. Dezember 1905, Vormitttags 11 Uhr. (Bericht von Wolffs{Telegraphishem Bureau.)

Ueber den Beginn der Sigzung ist in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden. i ;

Auf der Tagesordnung stehen die Fnterpellation des Abg. Strosser (kons.): / ;

„Ft der Herr Minister der öffentlichen Arbeiten in der Lage und bereit, Auékunft darüber zu erteilen : 1) wodurch nah den Er- gebnifsen der amtlichen Untersuchung das E if enbahnun glück bei Spremberg herbeigeführt ist und ob insonderheit die Einge der Strecke aitbus Bort, als wesentlihe Ursache des Un alls anzusehen ist, 2) w?lche aßnahmen seitens der Königlichen Staatsregierung getroffen sind, um ähnlihen Unfällen für die Zu- kunft tunlichst vorzubeugen ?“ °

und die Jnterpellation der Abgg. von Schenckendorff (nl.), von Eichel (kons.) und Genossen:

„Die Unterzeichneten richten anläßlih des am 7. August d. I. stattgehabten großen Eisenbahnunglücks bei Spremberg auf der Berlin-Görliger Eisenbahn die Anfrage an die Königliche Staatsregierung: 1) Auf welche Umstände ist der Zusammenstoß der beiden Schnellzüge zurückzuführen ? 2) Welche Maßnahmen hat die Königliche Staatsregierung im Interesse der größeren Betriebs- cherheit bereits getroffen, und welche Maßnahmen Ju insbesondere beabsichtigt, um ähnlihen Vorkommnissen in Zu unft nah aller Tunlichkeit vorzubeugen ?“ .

Nach der Begründung der an erster Stelle erwähnten

Interpellation durch den Abg. Strosser (kons.) erhält das Wort

k; dorff (nl): den Interpellanten, die ba gn, SPen fan orf e a. , gehören auch die

A meinê sämtlichen Abgeordneten, die die hier in Frage kommenden Wahlkreise . und auc die unglücklihen Opfer dieser Katastrophe vertreten. Das Spremberger Eisenbahnunglück hat eine noch größere Beunruhigung

in der Bevölkerung hervorgerufen als das Altenbekener, das mehr einer Verkettung unglückliher Umstände seinen Ursprung ver- dankte. Hier lag weniger eine folche Verkettung vor, als vielmehr eine Reihe grober Nachlässigkeiten, besonders im Dienstbetriebe der Beamten. Es müssen positive Maßregeln getroffen werden, die, soweit es mögli ist, die Wiederkehr einer Katastrophe verhindern. Es liegt bereits eine mit Tausenden von Unterschriften bedeckte Petition dem Hause vor, die Strecke Kottbus Görlitz zweigleisig auszubauen. Die Be- triebssiherheit der Eisenbahn muß unter allen Umständen erhöht werden. Vom Standpunkte dieser gere{ten Kritik aus können wir niht umhin, zu- zugestehen, daß in dieser Beziehung, namentlich wenn man das Ausland zum Vergleich heranzieht, fortdauernd viel geschehen ift. (Der Redner geht uuf die betreffenden statistishen Zahlen näher ein.) In dem Spremberger Falle wird die Katastrophe auf die Kopflosigkeit des vielleicht nicht ganz nüchtern gewesenen Stations- beamten zurüdckgeführt; aber die Schwere des Unfalls wäre doch gemildert worden, wenn nicht gleichzeitig eine Reihe weiterer ODienstvernaclässigungen vorgelegen hätte. Gegen den Alkoholgenuß der Beamten muß streng eingeschritten werden, wenn Pflihtwidrigkeiten infolge desselben vorkommen. Allerdings ist die Alkoholfrage eine etwas eigene, der Alkoholgenuß kommt in den besten Familien vor. Die größere Sicherheit ist zweifellos auf den zwei- gleisigen Bahnen vorhanden, die Zugfolge läßt sich dort viel beffer regeln. Wir müssen das Ziel verfolgen, alle Hauptbahnen zweigleisig auszubauen, allerdings nur allmählich, soweit es mit den Finanzen im Einklang steht. Insbesondere ist der Ausbau der Strecke Kottbus— Görliß unbedingt erforderlih; denn es ist zu berücksihtigen, daß außer den fahrplanmäßigen Personenzügen auch noch viele Güterzüge und während des Reiseverkehrs eingelegte Züge verkehren. Der Osten ist in dieser Beziehung noch immer gegenüber dem Westen unseres Naterlandes vernachlässigt. Der Redner weist insbesondere auf die Eingabe der Görlitzer Handelskammer an den Minister, in der um den Ausbau der Strecke Kottbus—Görliy zu einer zweigleisigen ersucht wird, bin und richtet an den Minister die dringende Aufforderung, diesen Wuns Niederschlesiens möglichst schnell zu erfüllen. Für die Sicher- heit des Betriebes sei auch die Besserstelung der Beamten, nament- lih der Eisenbahntelegraphisten, von Einfluß. Das Haus habe bei früheren Gtatsberatungen immer den Standpunkt vertreten, und er selbst habe z. B. 1897 dem Wunsche Ausdruck gegeben, daß die Eisenbahn- telegraphenbeamten beffer gestellt werden müßten. ur dann könne man ein tüchtigeres Beamtenpersonal baben. In dem Bestreben, die tehnishen Einrihtungen der Cisenbabn zu vervollständigen, werde das Haus die Regierung ftets unterstüßen. Man könne ein volles, unbedingtes Vertrauen zu unserer Eisenbahnverwaltung haben ; aber es ats zu wünschen, daß sie aus solhen Vorkommnissen eine Lehre ziehen möge.

Minister der öffentlihen Arbeiten von Budde:

Meine Herren! Ich bin den Herren Interpellanten dafür dankbar, daß sie mir Gelegenheit gegeben baben, mich vor dem Lande, vor diesem Hause über den traurigen Unfall auszusprehen, den wir bei Spremberg gehabt haben. Meine Herren, es is mir ein Bedürfnis als Chef der Verwaltung, Ihnen zu sagen, daß ih diesen Sommer {wer gelitten habe unter den 14 Opfern der Katastrophe, daß ich mitgefühlt habe die Aufregungen, denen die übrigen Pafsagiere, die in dem Zuge waren, natürlich ausgeseßt gewesen sind. Und ferner be- daure ih diejenigen Beamten und Bediensteten, die den Unglüdtfall verursaht haben; denn, meine Herren, was in der Prefse öfter gesagt

wird, die Staatseisenbahnverwaltung suhe nur einen Sündenbodck bei

einem Unfall, trifft nihcht zu. Nein, meine Herren, der Sündenbock spielt für mich gar keine Nolle; ih betrachte ihn- nur als einen be- dauernswerten Mann. Denn ih glaube niht, daß ter Fall vor- fommen wird, daß jemand absihtlich sein eigenes Leben oder das der Reisenden in Gefahr bringt, sondern es handelt sch um menschliche Zufälligkeiten, und diejenigen bedaure ih, die ihnen verfallen find. (Sehr richtig!)

Meine Herren, ih muß mir nun bei Beantwortung der Inter- pellation, troydem der legte Herr Vorredner eine große Ausführlichs- keit von mir erwartete, eine gewisse Reserve auferlegen (Bravo !);

denn der Unfall befindet sich noch in der Untersuhung des Straf- ;

rihters; ih habe niht das Ret, dem Strafrihter vorzugreifen, ih

habe sogar die Pflicht, zu vermeiden, daß ich irgead jemanden dur * die ih habe erfahren müssen, waren sehr herb, waren fehr hart; aber

meine Rede beeinflufse. Was ih also jet ausführe, soll nicht die

Schuldfrage berühren, sondern die Ursachen des Unfalls kla r- ftellen, wie ih sie als Verwaltungshef erkannt habe:

allerdings den Unfall in dies selten mözlich ist.

einer Weise fklargelegt (Hört, hört!) Wenn ein Professor, der Betriebödienst lehrt, vom Katheder herunter seinen Shülern ein Beispiel fkonstruieren wollte, daß auf einer eingleisigen Bahn ein Unglück nicht vorkommen könnte, dann hätte er dieses Beispiel erfinden sollen und hinzufügen sollen : „So viel Unsinn kann niht zusammen gemacht werden; ergo ist auch der eingleisige Betrieb ein durhaus gesiherter. Wenn er aber gesagt hätte: „Das kann auf einer eingleisigen Bahn vorkommen, daß 7 Personen ganz direkt wider ihre Instruktionen handeln“ —, dann würde man dem Herrn Professor gesagt haben: du übertreibst, das kann nicht vorkommen. (Sehr richtig !)

Meine Herren, wie ist nun der Unfall passiert? Ih muß da kurz vorweg bemerken, daß auf einer eingleisigen Strecke der Melde- dienst derartig eingerihtet ist, daß, wenn ein Zug von A nach B fährt, A bei B anfragt: „kann der Zug kommen* ; ist die Strecke frei, so antwortet B: „Zug kann kommen“; ist sie niht frei, dann antwortet B: „Zug muß warten“. Nun hat der Stationsassistent, der übrigens meines Wissens 4 Jahre auf der Station war und soweit mir bekannt kein Gewohnheitssäufer gewesen sein foll, sondern wahrsheinlich nur durch Unglück bei einem Urlaub dem Alkobolgenuß verfallen war und sich durch nächt- lihes Schwärmen zur Versehung des Dienstes unfähig gemacht hatte, shwer gefehlt. Dieser Mann hat eine Depesche von der Station Schleife, der nächsten vor Spremberg, bekommen, ob der Zug abgelassen werden könnte, der von Görliß nah Berlin unterwegs war. Die hat er nicht gelesen, sondern er hat dummes Zeug tele- graphiert, hat sogar die Depesche, die nah der anderen Seite gegeben werden mußte, für einen Zug, der von Spremberg nach Berlin ab- fahren follte, nah Schleife abgegeben. (Hört, hört!) Durch das viele dumme Zeug, das er auf dem Morsestreifen telegraphiert hat, das zum Teil ganz unverständlich ist, hat er den Beamten am Apparat in Seife konfuse gemaht. Meine Herren, mit Rücksicht darauf, daß hier alles hon ausführlich erwähnt worden ift, erlaffen Sie es mir wohl, die einzelnen Morsestreifen vorzulesen. Jedenfalls, die Depesche des Stationsassistenten, der wahrscheinlich im Alkoholgenuß gewesen ist und den Apparat, troßdem er ein ordentliher und gut ausgebildeter Beamter gewesen ift, falsch bedient hat, hat den Mann in Schleife verdreht gemacht, sodaß er ohne Zustimmung von Spremberg den Natzug von Sthleife nah Spremberg abließ.

Dieser von Görliß kommende Zug sollte in Spremberg kreuzen ; das war alles festgeseßt, aber troßdem läßt der Stationsassistent in Spremberg den Zug, der auf der Station war, los, wiewohl ihm von Stleife telegraphiert war: „Nachzug 112 hier ab“. Da war das Unglüdck fertig!

Nun kam aber noch weiter hinzu: wenn die Kreuzung nah Shleife verlegt werden sollte, dann mußte der Stationsdienstleiter an den Zugführer eine \hriftlihe Order geben, die auf den Block aufgeshrieben wird. Der Zugführer quittiert auf dem Stamm, daß er die Order bekommen hat, und muß zu dem Lokomotivführer hin- gehen und ihm die \chriftlihe Order vorzeigen, daß die Kreuzung ver- legt worden ist; anders soll dies niht stattfinden. Auch diese Vorschrift is wahrscheinlih, soweit die Feststellung hat gemaht werden Tönnen, nicht beachtet, sondern der noch lebende Zugführer behauptet: er habe den Lokomotivführer mit dem Stationsassistenten sprehen sehen und habe geglaubt, daß alles abgemacht wäre, der Lokomotivführer habe ihm etwas zugerufen und dergleihen Behaup- tungen mehr. Der Lokomotivführer hat sein Versehen mit dem Tode gebüßt, folglich is darüber niht mehr zu reden.

Das Unglück wäre weiterhin aber niht passiert, wenn der End, weicensteller auf dem Bahnhof seine Schuldigkeit getan hätte. Er mußte die beiderseitigen Glockensignale hören, von Schleife und von der anderen Seite her. Auh der Mann ist konfuse gewesen (hört höôrt!), hat nachher einige Entshuldigungsredensarten gemacht, und hat nihts getan.

Dann, meine Herren, sind noch vier Schrankenwärter auf der Strecke gewesen, die den Unfall auch noch hätten verhüten können, indem sie rehtzeitig dem einen oder anderen Zuge entgegen- gelaufen wären, mit der roten Fahne ihn zum Halten gebraht hätten. Diese haben wohl das Alarmsignal, das in der leßten Not noch er- [afen ist, läuten gehört, und da ift der eine auf die Idee gekommen, sein Läutewerk wäre in Unordnung, deshalb läutete es immer von neuem, während es noch nie vorher in Unordnung gewesen war.

Es zeigt sh bei diesem Unfall, daß viele Umstände zusammen- gewirkt haben, um ihn herbeizuführen, und ich kann die ganze Sache nur so bezeihnen: es herrshte auf dieser Strecke eine große Be - triebsbummelei! (Hört, hört!) Der ganze Unfall ist mit dem Ausdruck Betriebsbummelei gekennzeihnet, in die ih natürliß von Verwaltungs wegen bereits eingegriffen habe, indem sämtlihe Personen, die mittelbar oder unmittelbar bei dem Unfall beteiligt gewesen sind, schon beseitigt wurden. (Bravo!) Meine Herren, ih stehe nicht an, Ihnen zu erklären, daß die Ver- waltung die Schuld trägt. Ich als Chef der Verwaltung trage die Sthuld; denn ih bin verantwortlih für das, was die mir unterstellten Beamten tun. Meine Herren, ih bin aber, glaube ih, dazu ermähtiät, autorisiert von den etwa 400 000 Kameraden, die mit mir zusammen- arbeiten, zu erklären, daß ih es tief beklage, daß sieben von unsern Kameraden ihre Schuldigkeit an ihrer Stelle niht getan haben. (Bravo !) Ich glaube aber und da werden wir vielleicht bei der

hat, wie

Wagennot, über die wir nachher sprehen werden, noch darauf kommen —, sagen zu können, daß die Leistungen des Personals in

diesem anstrengenden Herbstverkehr au8gezeihnet gewesen sind, sodaß | wir bei diesem Unfall do nicht auf eine allgemeine Bummelei {ließen dürfen (sehr richtig !), sondern ih glaube dem Personal au heute troß ' dieses Unfalls das Zeugnis ausftellen zu können, daß ein guter Geist | im Personal if, und daß der gute Geist uns auch über solche Unfälle hinweghelfen und dafür sorgen wird, daß fie niht wieder vors

kommen. (Bravo!)

Meine Herren, nun ift in der Presse selbsiverständlih eine große Erregung über den Unfall gewesen, und diese Errecung hat mir in diesem Sommer das Leben auch nicht leiht gemaht. Die Kritiken,

dafür bin ich Minister und muß das ertragen können, fonst foll man

' nicht Minister werden. (Heiterkeit. Sehr rihtig!) Ich weiß, daß

| die Presse shnell berihten muß, und finde deshalb die A d Selbstverständlih habe ich unmittelbar nah dem Unfalle eine | ß usteaung un

ganz eingehende Untersuhung nicht dur die zuständige Eisenbahn- | direktion, sondern auch durch meine Kommissare eintreten lafsen, die |

die Uebertreibungen, die in der Presse geschehen find, erklärlich. Wenn aber behauptet worden ist, daß die mir unterstellten höheren Beamten aus Kriecherei, wider besseres Wissen ihr technisches Urteil dur Fiskalität beeinflussen ließen und die Fiskalität über die Betriebssicherheit stellten, so muß ich sagen, das haben die höheren Beamten,

| die wahrlich mit Pflichttreue, mit Sachkenntnis, mit einem Eifer

arbeiten, wie in irgend einem anderen Ressort, doch nit verdient. Meine Herren, die Vorwürfe der Presse gipfelten darin: das ist nichts als Plusmacherei, das ist Fiskalität, das ist Bureaukratie, und was alles noch zusammen gehört, während die Verbältnisse hier so klar liegen, daß an einer Stelle eine chwere Betriebsbummelei gewesen ift, die mit Fiskalität und dergleichen gar nihts zu tun hat. Ich kann hier erklären, daß, soweit die Betriebssicherheit und die Einrichtungen, die für die Betriebs\icherheit getroffen werden müssen, in Frage kommen, mir noch niemals eine Mark als Minister gefehlt hat, und würde sie mir fehlen, meine Herren, dann würde ich nicht mehr Minister sein. (Bravo!) Ih bin auch überzeugt, daß bei denjenigen Ausbauten, die wir weiterhin nötig haben, mir die Mittel nicht fehlen werden, und als ich in diesem Sommer, im Juli \{on, sah, daß wir einer Katastrophe mit den Wagen entgegengehen, habe ich mich nicht gescheut, an den Finanzminister zu gehen und zu sagen: wir haben keine Etats- mittel, wir müssen außeretatsmäßig an Wagen bestellen, was bis zum 1. April 1906 geliefert werden kann ; der Landtag, das Abgeordneten- haus wird {on damit einverstanden sein. Sie sehen, daß in der Eisenbahnverwaltung in der Hinsicht, was Verbesserungen der Ver- fehrs- und Betriebs\sicherheit betrifft, keinerlei Fiskalität besteht. Deshalb is die Behauptung auch nicht rihtig, daß die Strecke Kottbus— Görliß eingleisig wäre, weil man aus Fiskalität zu sparsam wäre, das zweite Gleis zu bauen. Nein, meine Herren, hier waltet ein anderer Grund ob! Ich darf vielleiht einen Vergleih anführen. Niemand spannt vor einen Wagen 4 oder 6 Pferde, wenn er die Last mit 2 Pferden fortbewegen kann; er müßte gerade einen Lurussport treiben. Und niemand baut in einer Fabrik eine Maschine von 100 Pferdekräften, wenn er weiß, daß er reilich mit 50 Pferde- kräften auskommt, sondern er wartet mit der Vermehrung der Betriebs- kraft so lange, bis sich sein Betrieb so gesteigert hat, daß er nun genötigt ist, sch eine größere Betriebskraft anzuschaffen. Dasselbe ift bei Ausgestaltung einer Bahn mit Gleisen der Fall. So lange man mit einem Gleis auskommen kann, wird man sich auch mit diesem begnügen, und alles, was der Herr Abg. von Schenckendorff aus Denk\schriften sehr richtig angeführt hat, bezieht sich darauf, daß man dann, wenn die Verkehrsdichtigkeit so groß geworden ist, daß die Aufenthalte auf eingleisigen Strecken wegen der Zugkreuzungen größer werden müssen und das Durchbringen der Züge zu fehr erschweren, au das zweite Gleis bauen muß. Ja, meine Herren, man wird unter Umständen dann fogar das dritte und vierte Gleis bauen.

Die Vorwürfe der Presse gipfelten hauptsächlih darin, daß sie sagte, das Unglück sei passiert, weil die Strecke eingleisig war. Ich kann gegen diese Logik nichts einwenden. Zwei Züge wären natürlich nicht zusammengefahren, wenn sie sich auf einer zwei- gleisigen Strecke bewegt hätten. Aber daraus darf man doch nit den Schluß ziehen, daß nun deshalb, weil einmal auf einer ein- gleisigen Strecke zwei Züge zusammengefahren sind, eine Strecke zweigleisig gemaht werden muß, die mit 11 Zügen nach der einen und mit 12 Zügen nah der andern Richtung, eventuell noch mit zwei weiteren Bedarfszügen, befahren wird. Ich erinnere Sie an die ganz großartige Leistung, die wir im Jahre 1870 gehabt haben. Da haben wir 12 Züge, d. h. in jeder Richtung, also 24 Züge mit den Leer- zügen, gefahren, und zwar wochenlang unter den allershwierigsten Verhältnissen, also lange, {were Militärzüge und mit den doch immerhin nur mangelhaften Sicherheits- und Meldeeinrihtungen, die wir im Jahre 1870 gehabt haben. Und hier waren wir normalmäßig auf der Strecke Görlißz—Kottbus noch nicht so weit. (Zuruf.) Die nieders{chlesische Bahn leistet ja das, was sie leisten foll. Ich nehme es dem Herrn Abg. von Schenckendorf und den betreffenden Vertretern durhaus nit übel, wenn sie die Gelegenheit benußen, ein zweites Gleis von neuem anzuregen. Daß der. Verkehr auf einer zweigleisigen Bahn sicherer ist, kann man durchaus nicht behaupten. Man hat sich \{recklich über eine Notiz in der „Nord- deutschen Allgemeinen Zeitung“ oder im „Staatsanzeiger“ aufgeregt, in der gesagt war, daß der eingleisige Betrieb durhaus sicher wäre. Die Statistik beweist, daß auf den zweigleisigen Strecken viel mehr Zusammenstöße vorkommen als auf den eingleisigen. Ob zwei Züge von vorn aufeinander stoßen oder hinten aufeinander auffahren, dürfte wohl gleihgültig sein; im Gegenteil, unter Umständen kann, wenn die hinteren Wagen des vorderen Zuges stark beseßt sind, das Betriebsunglück viel {chwerer sein, als wenn zunächst die Lokomotive, dann der Pack- und Postwagen zertrümmert worden. Von 1895—1904 kamen auf den preußis{-he\sishen zweigleisigen Strecken, nämlich auf 12545 km 91 Zusammenstöße auf freier Strecke vor, dagegen auf den eingleisigen Hauptbahnen von 7797 km Länge nur 14 Zusammenstöße. Dabei wurden auf den zweigleisigen Strecken 33 Reisende und 13 Beamte getôtet, auf den eingleisigen Strecken kein Reisender. Also auf den zweigleisigen Bahnen ijt die Sicherheit durhaus nit größer als auf den eingleisigen. Wenn man nun sagt: bei Spremberg sind die Züge aufeinander gefahren, weil die Strecke eingleisiz war, dann bedenken Sie folgenden Fall auf zweigleisiger Linie. Ich nehme an, daß bei der Einfahrt in einen Bahnhof ein Personenzug auf einen Güterzug aufgefahren ist ; das kommt leider oft vor. Dann hätte der Kritiker dasselbe Recht, zu sagen: da das vorgekommen ift, so ver,

lange ih, daß grundsäßlich der Personenverkehr von dem

Güterverkehr getrennt wird und daß die zweigleisigen Bahnen von nun an alle dreigleisig oder viergleisig ausgebaut werden. Mit demselben Recht kann man dies verlangen, wie den zweigleisigen Ausbau der Spremberger Strecke wegen des Zusammenstoßes.

Wie andere Staaten über den eingleisigen Verkehr denken, das mag - Ihnen eine kleine Statistik zeigen. Auf einer Reihe außer- preußischer eingleisiger Bahnen verkehren bedeutend mehr Züge als auf der Strecke Berlin—Görli, wo 11 Züge in der einen, 12 Züge in der anderen Richtung fahren, in diesem Winter verkehren sogar nur 21 Züge. Auf der Strecke Rostock—Warnemünde verkehren 35 Züge mit 8 Scnellzügen, Dortrecht—Kerstern 32 mit 8 Schnellzügen, Gmund—Eger 32 mit 10 Scnellzügen, Luzern—Zug 32 mit 12 Schnellzügen. Wir haben eine große Anzahl von eingleisigen Strecken, auf denen viel mehr Züge verkehren als auf der Strecke Görliß—Kottbus. Sollte ih das anerkennen, daß das Spremberger Unglück die Ursache wäre, die Strecke auszubauen, daß also die Ein- gleisigkeit des Betriebs eine Gefahr an sich bildet, dann müßte ich als der für die Betriebsunglücke verantwortlihe Minister den Be- trieb auf allen eingleisigen Bahnen {ließen oder, wenn ich nicht so weit gehen wollte, auf allen, auf denen Schnellzüge ver- kehren. Denken Sie an die Bahn, die jeßt in zweigleisigem Ausbau begriffen ist, nah Swinemünde, die diesen Riesenshnellzugs- verkehr im Sommer hat, denken Sie an die Bahn nah unseren Nord- seebädern, was die für einen Verkehr hat. Jh glaube, es wäre nicht rihtig, aus diesem Unglück zu \{hließen, daß alle Strecken, auf denen ein Schnellzug fährt, zweigleisig sein müssen, daß die Eingleisigkeit der Strecke Kottbus— Görliß ein Versehen, eine Fiskalität, ein Ver- brechen der Verwaltung war, wie ih in den Zeitungen gelesen habe. Wir haben, seitdem wir unser Meldesystem haben, noch niemals einen folhen Unfall gehabt, auch früher nicht, und, um den bekannten Aus- druck zu gebrauchen, die ältesten Leute im Eisenbahnministerium und die ältesten Akten können si) nicht erinnern, daß jemals ein folher Unfall vorgekommen ist.

Nun sind viele Einzelbemerkungen an den Unfall geknüpft und von den Herren Vorrednern vorgebracht worden.

Was die bemängelte Beurlaubung des Stationsvorstehers in Spremberg in der Reisezeit anbetrifft, so ist zu bemerken, daß dieser Beamte krank war. Wenn unsere Beamten sih im Betriebe über- arbeitet haben, dann können wir fie niht im November oder Dezember auf Urlaub s{chicken wohin sollen sie dann gehen? dann müfsen wir fie in der guten Jahreszeit beurlauben, oder wir haben fein Herz für unsere Leute.

Es ist gesagt worden, daß die Annahme von Telegrammen ver- weigert worden wäre. Meine Herren, es ist möglih, daß das in der Aufregung geschehen ift. Ich kann Ihnen nur sagen, daß der tele- graphishe Nachrichtendienst überhaupt versagt hat; die erfte Nachricht über das Unglüdck habe ich im Ministerium des Abends um 9 Uhr be- fommen. Es kam dann später der Chef oder ein Vertreter des „Wolffshen Telegraphenbureaus“ zu mir und beshwerte sich, daß er die zweite ausführlihere Nachricht erst in der Nacht zwischen 1 und 2 Uhr bekommen habe. Ja, meine Herren, er war glücklicher daran als ih. Denn ih habe die folgende Nachricht ers Nachmittags um 5 Uhr bekommen, durch meinen Vertreter, Geheimrat Scholkmann, den ih an Ort und Stelle geshickt hatte. Weshalb? Weil der Betriebs- inspektor, den ih sehr beklage, daß ihm das passiert ist, an der Vor- chrift gesessen hat: an wen mußt du telegraphieren? An der Spitze steht der Minister der öffentlichen Arbeiten, und den hat er doch vergessen. (Heiterkeit.) Meine Herren, solche Versehen werden immer vorkommen, wenn die Aufregung groß ist. Wenn 14 Tote auf der Station liegen, darf man sih nicht wundern, daß die Beamten aufgeregt werden. Ich bemerke übrigens, daß ich die Direktionen angewiesen habe, daß Telegramme von Reisenden, die ihren Angehörigen mitteilen wollen, daß sie niht verleßt worden sind, soweit es die Diensttelegramme zulassen, angenommen werden. (Sehr gut! rets.)

Ebenso ist es nicht wahr, daß für die Beförderung von Leichen die Kosten gefordert worden find, sondern, im Gegenteil, die Eisen- bahndirektion Halle hat mir auf Anfrage berichtet :

Die unentgeltlihe Beförderung der Lichen ist, wie die Station Spremberg berichtet, in keinem einzigen Falle abgelehnt worden. Es ift im Gegenteil zu den Behauptungen der angezogenen wie der beigefügten Zeitungsartikel dem Begleiter einer Leiche gegenüber, der unaufgefordert, freiwillig Transportgebühren ent- richten wollte, die Annahme der leßteren verweigert worden. (Hört, hört!)

Meine Herren, ich habe ein dickes Afktenstück von Zeitungs- aussnitten, in denen nur Nachrichten über dieses Unglück sind, die zum größen Teik unrichtig oder ungenau sind.

Der Herr Abg. von Schenckendorff. hat bemängelt, daß ih nit genugsam Publikationen an die Prefse erlassen hätte. Ich glaube, wenn er auf meinem Seffel gesessen hätte, würde er dies auch nit getan haben. In einer solhen Zeit, wo die Presse sehr aufgeregt ift, ist jedes Wort, das amtlih veröffentliht wird, nur ein neuer Anlaß zu einem neuen Angriff. (Sehr richtig! rechts.) Ein derartiger Sturm muß verlaufen, wie ein Gewittersturm; dann wird {on wieder Ruhe eintreten. Und wenn ih nit über das Unglück amtliche Publikationen darüber erlassen habe, wer die Schuld trägt, so habe ih das garniht gedurft, weil der Richter das erst feststellen muß. Ich darf das garnicht tun.

Im übrigen, glaube ih, kann meinem Reffort niht der Vorwurf gemacht werden, daß ich keine Fühlung mit der Presse hätte. Es sind viele von den Herren sowohl hier im Hause wie auch außer- halb des Hauses von der Presse oftmals bei mir gewesen, denen ih stets mit großer Bereitwilligkeit Auskunft gegeben habe; denn ih weiß, welhe Bedeutung die Presse in dér Oeffentlichkeit hat. Meine Herren, meine ganze Tätigkeit ist ja öffentlihe Arbeit; also wäre es in hohem Maße unverständlih, wenn ih mit der Presse nicht Fühlung hielte.

Wenn dann über mangelhafte Hilfeleistung geklagt worden ift : meine Herren, ih glaube, Sie werden es mir erlassen, daß ih das alles widerlege. Es ift ja von den Eisenbahndirektionen Halle und Breslau widerlegt worden und von den drei braven Spremberger Aerzten: dem Sanitätsrat Dr. Schich old, Bahnarzt, sowie von dem Or. Steffen und Dr. Zeese. Diese drei Herren, denen ich von dieser Tribüne hier meinen herzlihsten Dank aus\sprehen möchte für die opferwillige und sofortige Hilfe, die sie den Verwundeten geleistet haben, haben stch s{hon in sehr würdiger Weise dagegen gewehrt, daß nit ausreidende Hilfe auf dem Bahnhof Spremberg so früh wie mögli vorhanden gewesen wäre. Auch danke ih der braven Sprem-