1905 / 296 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 16 Dec 1905 18:00:01 GMT) scan diff

E E Ste L RN L

Deutscher Reichstag. 13. Sißung vom 15. Dezember 1905, 11 Uhr. (Bericht nah Wolffs Telegraphishem Bureau.)

Tagesordnung: Fortsezung der ersten Beratung des Ent- wurfs eines Gesctes , betreffend die Feststellung des Reichshaushaltsetats für das Rechnungsjahr 1906 2c.

Ueber den Beginn der Verhandlungen ist gestern berichtet

worden.

Abg. Ablaß (fr. Bora fortfahrend : Der Reichskanzler hat fih seinerzeit dahin ausgesprochen, daß die rücksichtslose Auf- deckung solher Vorgänge nüßlih sei und ein heilsames Korrektiv, daß Brutalitäten und Ungerechtigkeiten auf das s\chärfste zu verurteilen seien. Hic Rhodus, hic salta! Wir wollen sehen, ob die Kolonialverwaltung in der Tat gewillt ist, mit aller Schärfe gegen folche Mißstände vorzugehen. Der Aktg. Paasche meinte gestern, die Eingeborenen seien Kinder und müßten als solche behandelt werden. Das ist eine merkwürdige Jugenderziehung in den Kolonien. Mit Brutalität erziebt man keine Kinder, sondern Verbrecher. Wir brauen eine Reform an Haupt und Gliedern in den Kolonien, wenn wir wirklihe Kulturträger sein wollen. Wie kann man sich über die Brutalität der Herercs beklagen, wenn zivili- sierte Beamte, die so viel höher stehen sollen, sich nicht entblöden, derartige Ungefeßlichkeiten zu begehen. Es ist nicht richtig, was der Graf von Posadowsly sagte, daß die Sozialdemokratie nur deshalb zunehme, weil das Bürgertum nicht mehr so opferwillig sei wie früher. Wenn die Sozialdemokratie zunimmt, so ist das eine Folge der Politik unserer Negierung, die die Bürgerschaft nicht zur Ruhe

Tommen [äßt und der Sozialdemokratie Waffen in die Hand gibt.

Wenn wir darauf hinarbeiten, daß folhe Waffen niht geschmiedet werden, dann handeln wir im Interesse unseres Vaterlandes. Stellvertretender Direktor der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts Erbprinz zu Hohenlohe-Langenburg: Der Vor- redner hat soeben gefragt, ob die Reichsregierung, falls ihr die Fälle von Brutalität bekannt seien, in Zukunft bereit sei ,* und ob ih speziell bereit sei, dagegen rüdcksihtelos und energisch einzuschreiten. Auf diese Frage gebe ih die_ Antwort : Ja, ih werde, soweit ih kann, soweit mir die Btittel zur Verfügung stehen, stets bestrebt sein, das zu tun. Die ein- zelnen Fälle find mir natürlich noch niht fo genau bekannt. Der Neferent für diese Angelegenheiten wird dem Hause darüber Auskunft geben. Es handelt sich nah dem, was ih gehört habe, vor allen Dingen um Anfragen, ob mit Nücksiht auf die erhobenen An- klagen von der Kolonialabteilung bezw. der vorgeseßten Behörde das Nötige erfolgt ist. Mit Bezug hierauf wird der Referent Ihnen glei jegzt Auskunft geben und, soweit diese Auskunft nit voll- ständig gegeben werden fann, in einem |päteren Zeitpunkt zu jeder Er- gänzung bereit sein. Ich selbst möchte nur noch einmal wiederholen, daß ih Brutalitäten von ganzem Herzen verurteile und alles tun werde, um folhe Fälle auszuschließen. Ich möchte Sie aber Ara zeitig bitten, derartige Fälle immer genau abzuwägen und nicht zu verallgemeinern. Ich mache diefen Vorwurf niht etwa dem Vor- redner, aber im Publikum wird leiht verallgemeinert, und deshalb ift es der Regierung nur willkommen, in breitester Oeffentlichkeit über einzelne Fälle Auskunft zu erteilen. | i j Geheimer Legationsrat von König: Poeplau ist bereits von der Dis- ziplinarkammer verurteilt worden, und diese hat ausdrücklich anerkannt, daß seine sämtlichen, gegen die Beamten erhobenen Beschwerden wegen Nichtverfolgung von Vergehen unberehtigt sind. Es ist fogar als er- wünscht bezeihnet worden, daß Poepliau vor den Strafrichter gestellt werde, er wird also möglicherweise mit Gefängnis belegt werden. Es war auch çar nicht notwendig, daß Poeplau alle diese Fâlle zur Anzeige brate. Aus den Ausführungen des Vorredners ergibt fih schon, daß eine Vertuschung nicht stattgefunden hat. Die angeführten Fälle erstrecken fich auch auf eine lange Zeit und lind längst ge- rihtlih e:ledigt. Soweit bei den Vorwürfen Offiziere in Betracht kommen, handelt es fich um den Hauptmann von Besser. Die Verwaltung konnte niht mehr tun, als ein krieg8gerihtliches Verfahren gegen ihn einleiten. Er ist kriegsgerichtlih verurteilt worden und nicht wieder in die Kolonialverwaltung übernommen. Der Oberleutnant Kannen- berg ift ebenfalls frieg8gerihtliÞ verurteilt worden, wenn ich nit irre, zu 3 Jahren Gefängnis, er hat nachher allerdings im Gnadenwege, namentlich auf Bitte seiner Mutter, eine Pension be- kommen. Hier handelt es si aber um das Begnadigungsrecht, in das sih die Kolonialverwaltung nicht einzumishen hat, und soviel ih weiß, wird auh im Reichstag daran nie Kritik geübt. Auch die Angelegenheit des Hauptmanns Brandeis ist eingehend untersucht worden, wobei auch die juristishen Sachverständigen des Auswärtigen Amts hinzugezogen worden sind. Es ift kein Grund gefunden worden, gegen den Landeshauptmann vorzugehen. Sein Charakter ist au so lauter und unanfechtbar, daß nicht angenommen werden fann, er habe die Grenzen von Neht und Menschlichkeit überschritten. Der Hauptmann Dominik ist einer der ältesten Offiziere, er hat es wie kein anderer verstanden, bei aller Energie und Schneidigkeit den Ein- geborenen Vertrauen einzuflößen. Die Vorwürfe gegen ihn stammen aus anonymer Quelle, und zwar von einem englischen Distrikts- kommifsar, mit dem Dominik öfter zu verhandeln. gehabt hat, und der darüber orientiert war, daß Dominik die Ver- hältnisse im Schuygebiet so gut zu beurteilen verstand, daß er, der englishe Kommissar, niht immer das erreichen fonnte, was er wollte. Es lag kein Grund vor, gegen Dominik ein- zuschreiten. Gegen den Hauptmann in Lome, der inzwischen dur einen Pfeilschuß gefallen ist, ist man überhaupt erst naträglich amtlich an uns mit Ansprüchen herangetreten. Der Gouverneur ift zum Bericht aufgefordert worden. Der Vorwurf insbesondere, der Verstorbene habe sih einen Harem gehalten, hat nicht als richtig er- wiesen werden können. Die Vorwürfe gegen ibn beruhen meist auf Küstenklatsch. Der Fall des Stationsvorstehers Wegener in Togo fällt in das Jahr 1899, es ist darin Urteil des heimischen Kriegs- gerichts- im Januar 1902 ergangen. Es lautete auf Freisprechung, weil der Generalstabëarzt, der Stabsarzt und Oberarzt einstimmig er- klärten, bei Begehung der Straftat sei die freie Willensbestimmung des Angeklagten ausgeschlossen gewesen. Der Gouverneur von Putt- kamer hat sich große Verdienste erworben, es war tatsächlih niemand vorhanden, der die Verwaltung fo gut hätte aus- üben können. Ueber den Vorgang bei den Aqualeuten wird in der Kommission oder hier später Vêitteilung gemaht werden. Wir müssen an dem Grundsaß festhalten : Audiatur et altera pars! Was die erwähnten angeblichen Grausamkeiten gegen einen Eingeborenen anbetrifft, die dessen Tod unter Qualen herbeigeführt haben jollen, so ist nicht festgestellt, ob der betreffende infolge der ihm zur Strafe vom Obergericht in Kamerun zudiktierten 2 mal 25 Hiebe oder infolge der Fesselung gestorben ist. Dagegen ist es keineswegs ausgeschlossen, daß der Tod durch Mißhandlungen herbeigeführt ist, die der Eingeborene wegen verschiedener Untaten, die er begangen hatte, von anderenen Eingeborenen am Tage vorher erlitten hatte. Der Redner verweist \chließlich darauf, daß sih folche Mißstände, so {wer man sie auch verurteilen mag, nicht ganz würden vermeiden lassen. So seien im Kongostaat {were Vercfehlungen vor ekommen von den Beamten, die dort auf Tantieme angestellt seien. Es würde alles gesehen, um folhen Fällen in Zukunft vorzubeugen. Er hoffe, daß seine Ausführungen genügten für den Nachweis, daß das, was von den einzelnen Rednern hier vorgetragen sei, niht begründet wäre. Abg. von Gerlach (fr. Vag.): Ich erhebe zunächst Protest da- egen, daß der Kommissar die Rechte des Reichstages antastet. Es scheint mir Aufgabe des Reichstages zu sein, zu entscheiden, was er in den Kreis setner Betrachtungen ziehen will, aber nit das Recht eines Kommissars, darüber zu bestimmen. Der Graf Stolberg hat ein Loblied auf die Sparsamkeit der Großgrundbesißer gesungen. Er hätte nur auch erwähnen sollen, wo diefe Sparsamkeit am deutlichsten zutage tritt, nämlich beim Steuerzahlen. Man erlebt da merkwürdige Dinge auf dem Lande: Grokgrundbesißzer, die den Kaiser als Jagd- gast einladen, sind z. B. von jeder Einkommensteuer zeitweise frei,

oder ein Besißer von Tauscnden von Morgen zahlt an Einkommen- steuer nur so viel wie ein kleiner Bauer. (Abg. Gamp: Namen nennen!) Jch bin bereit, dem Abg. Gamp Namen zu nennen. (Wieder- holte Rufe rechts: Namen nennen!) Ein früheres Mitglied dieses Hauses war ja betanntlih zur Vermögensfsteuer veranlagt, aber von der Ein- kommensteuer frei. (Rufe rechts: Namen nennen !) Der Fall ist so bekannt, daß ih keine Namen zu rennen brauche. Hier in Berlin foll ein [andwirtschaftlihes Bureau bestehen, in welhem Großgrund- besizer ihre Steuererklärungen aufstellen lassen, um von der Steuer frei zu kommen. Man sagt, die Veranlagungskommissionen brauchten auf so etwas nit cinkn. sie sind aber so einseitig zusammen- flit und so durchdrungen von der Notlage der Landwirtschaft, daß fie ehr geneigt sind, allen pessimistishen Angaben ohne weiteres Glauben zu sherken. Natürlich tun sie das nit gegen besseres Wissen, aber sie siad voreingenommen. Selbstverständlih wäre es ungerecht, zu be- haupten, daß alle Großgrundbesißzer den größten Luxus trieben. Jch.kenne sehr wohl solche, bei denen cs nicht der Fall ist, aber bei manchen andern könnte doch noch viel an den Jagden, Pferden, Bedienung usw. ge- part werden, ohne daß fie darum unter ihrem Stande leben müßten. tamentlih sind die Söhne ein außerordentlich großer Luxusgegen- stand. Von cinem Korps in Bonn sollen einem Aufzunehmenden drei Bedingungen gestellt werden: erstens er müsse stets Lakschuhbe tragen, zweitens er dücfe nur erster Klasse fahren, drittens er dürfe seine Anzüge nur in Berlin anfertigen lassen, Es geht also nicht an, die Großgrundbesißer - als Idealisten par o6xcollence hinzu- stellen. Der Abg. Gröber hat über die Rüksichtslosigkeit der Regierung gegen den Neichêtag geklagt. Eine der größten Rüctsichtslosi„keiten war die Verlegung des Artikels 31 der Verfassung in dem Fall unseres Kollegen Jessen bei der Hausfuchung in der Redaktion des Flensborg Avis. Es ist nicht bekannt geworden, ob in diesem Falle dem schuldigen Beamten auch nur eine Rüge erteilt ist ; da hat fh die Regierung niht um die Nichtaßtung der Rechte des MNeich8tags gekümmert. Was die Finanzlage betrifft, so follte man, anstatt die Fahr- karten zu besteuern, lieber die Betriebsübershüsse der Eisen- baßnverwaltungen zu einem Teil für das Reih nußbar machen. Preußen hat einen folchen Ueberfluß an Gld, daß der Finanzminister die Ueberschüsse kaum unterbringen kann. Diese rühren hauptsächlich von den Eisenbahnen her, während andere Bundesstaaten nichts haben. Würden die Eisenbahnübershüsse mit einem gewissen Prozentsatz für die Bedürfnisse des Reiches herangezogen, so würde das kte kleineren Staaten erheblich entlasten und die Ungerechtigkeit der Matrikular- beiträge ausgleihen. Die Finanzverwaltungen der Einzelstaaten müßten diesen Gedanken mit Freude aufgreifen ; beim preußischen Finanzminister wird allerdings wenig Gegenliebe zu finden fein. Früher hat die Regierung cinmal eingegriffen, um das deutshe Ka- pitalistentum von russishen Anleihen abzuhalten, aber jeßt beim Er- seinen des Buches des Regierungsrats Martin über die russischen Finanzen war es anders. Dieser hâtte zwar besser g-tan niht so apodiktishe Behauptungen aufzustellen, aber sein Bu ist do eine wichtige Zusammenstellung des russishen Finanzwesens. Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ kam mit einer Erklärung gegen das Buch, die so aufgefaßt werden mußte, als wäre es eine hoh offizióse Erklärung der deutschen Regierung, und als ob sie der Neichs- fanzler selbst diftiert hätte. Dem ift nicht widersprohen worden. Die Prophezeiungen Martins irren {sich nur darin, daß er das Tempo der russi chen Revolution zu langsam bemessen hat. Niemand konnte der Regierung vecdenken, wenn sie erklären licß, daß das Buch eine Privatarbeit sei; aber die Vorausseßungen des Buches als haltlos zu erfíären und ihm jeden Wert abzusprehen, war nur geeignet, das deutsche Publikum in falshe Sicherheit zu wiegen. Die russishen Anleihen sind inzwischen bis auf 80 zurückgegangen. Es hâtte den deutschen Kapitalisten ein Verlust von eiwa 25 Mill. Mark erspart bleiben können. Während man erst gegen das Buch von Martin Stimmung machte, erschien in den „Berliner Neuesten Nachrichten“ am 22. November ein Artikel, worin es heißt, der Reichskanzler habe in der Erklärung der „Norddeutschen“ keineswegs eine Eacantie für die Sicherheit der russishen Finanzen übernehmen wollen. Angesichts des dauernden Fallens der rufsishen Anleihen scheint die Regierung es für notwendig gehalten zu haben, eine solche Erklärung in die Presse zu lancteren. In der P:esseabteilung des Auswärtigen Amts soll anfangs fogar den Korrespondenten großer auswärtiger Blätter der Wunsch geäußert worden fein, sie möchten gegen das Martinsche Buch Stellung nehmen. Jch würde mich freuen, wenn nach dem Artikel der „Neuesten Nachrichten“ das deutsche Publikum fih vorsehe. Es kommt darauf an, zu verhindern, daß jemals wieder eine russishe Anleihe ia Deutschland gegeben wird. Der Abg. Bebel hat |chon von der Nücksichtslosigkeit des russischen Grenzvertehrs gesprochen. Sogar die „Deutsche Tageszeitung“ hat eine Zuschrift eines deutshea Landwirts veröffentlicht, der übec das Ver- fahren der russischen Grenzbeamten bittere Klage führt. Der be- treffende Landrat habe auf seine Beshwerde erwi-ert, es sei nich!s zu machen, es handele si eben um Rußland. Das sind geradezu un- erhörte Zustände. Der Reichskanzler hat sich aber gestern auch über diese Frage auszeschwiegen. Gegen Rußland ift die Regierung rüdck- sihtsvoll, gegen andere Leute rücksihtslos, so gegen Jaurès, der sich doch um den Frieden zwischen Deutschland und Frankreich verdient gemacht hat. Es ist keine diplomatische Großtat, einen solhen Mann vor den Kopf zu stoßen, indem man ihn von den deutschen Grenzzn fernhält. Unjere Stellung in der Welt ist ohnehin keine günstige. Wir haben sehr wenig Freunde, und die Art, wie man den holländischen Anarchisten Domela Nieuwenhuis, einen zwar vershrobenen, aber harmlosen und charaftervollen alten Mann, ausgewiesen und behandelt, und wie man den holländischen Journalisten Kaß ausgewiesen hat, ist nicht dazu geeignet, uns das holländishe Voik zum Freunde zu machen. Der Reichskanzler hat gestern versucht, ‘die Hauptschuld an der Gegnerschaft des Auslandes gegen uns auf die Haltung der deutshen Sozialdemokratie zurückzuführen. Es licgt mir ‘nichts ferner, als die auétwärtige Politik der deutshen Sozialdemokratie zu verteidigen; es ist aber unrichtig, daß die Sozialdemokratie die Hauptshuld an der englishen Feindschaft trägt. Einen Teil der Sqhulo tragen vielmehr die Alldeutshen, deren Angriffe in dea Zeitungen gegen England alles Maß überschreiten. Ich kann mir politis nichts Unklugeres denken, als wenn gerade im gegenwärtigen Vèoment ein Mitglied des Flottenvereins im „Leipziger Tageblatt" einen Artikel veröffentlicht, worin er ununterbrochen damit operiert, der nêchste Krieg könne eigentlih nur mit England sein. Das ift um so bedenklicher, als der Flottenverein sehr enge Be- ziehungen zu hohen Stellen hat, und das Ausland daraus seine Schlüsse zieht. Ein moderuer Krieg kann mit Erfolg nur geführt werden, wenn die Masse des Volke3 überzeugt ist, daß der Krieg ein gerehter ist. Der Reichskanzler kann noch viel wilder gegen die Sozialdemokratie sprechen, und er wird doch nicht den Erfolg haben, daß sozialdemofratishe Soldaten mit Begeisiecung in den Krieg ziehea, der unternommen würde zu Gunsten Rußlands. Wir müssen dafür sorgen, daß unsere Arbeiter mit den inneren Zuständen zufrieden sind, dann werden aub fie mit Begeisterung in den Krieg ziehen. Kanonen und Kri-gsfchiffe genügen zum Schuze des Reiches nicht, es muß auch volle Freiheit für die Massen des Volkes vorhanden sein.

Staatsminister, Staatssekretär des Jnnern Dr. Graf von Posadowsky-Wehner:

Meine Herren! Es ist- gestern und heute wieder vom Falle Martin die Nede gewesen. Da ih der Vorgeseßte des Herrn Regierungsrats Martin bin, der am Statistishen Amt angestellt ist, werden Sie mir gewiß nachfühlen, wie peinlih es für mich sein muß, mi über diese Frage auch nur mit wenigen Worten zu äußern, um so mehr, als das meines Erachtens lediglih eine Frage der Disziplin innerhalb der Exckutive, d. h. innerhalb d:r Regierung, ist. Meine Herren, die un- angenehme Lage, in die unsere Regierung dur das Buch des Herrn Regie- rungsrats Martin gebracht war, lag vor allen Dingen darin, daß auf dem Titel des Buchs dem Namen des Verfassers sein amtlicher Titel bei-

gefügt war. Man konnte oder wollte im Auslande nit Tauben daß in Deutschland, in Preußen, in dem Lande der strafen Disziplin innerhalb unserer Verwaltung, es möglich wäre, daß ein Beaniter ein sfolhes Buch schreibt, wenn nicht die offene oder stillschweigende Zu, stimmung der Regierung hierzu erfolgt wäre. Deshalb konnte man in fremden Zeitungen sogar die Behauptung lesen, dieses Bug wäre geshrieben von einem Beamten aus der nächsten Umgebung Seiner Majestät des Kaisers. Im Auslande kennt man die amtlie Behördeneinrihtung Deutschlands nicht so genau; ja man ift man, mal geradezu überrasht, wie wenig man sie kennt. Daß demgegen, über die Regierung die Verpflihtung hatte, öffentli festzustellen, daß das Buch ohne ihr Wissen, ohne Wissen des Vorgeseßten des Ne, gierung8rats Martin geschrieben und veröffentlicht sei, daß fie das Buch au nicht billige, ih glaube, das war ihre Pflicht. (Sehr rihtig! rechts.) Das war um so mehr ihre Pflicht, als sich in dem* Buße auch ein feierliGer Protest dieses Bo, amten der, wie gesagt, Mitglied des Statistishen Amtes ist gegen eine etwaige zukünftige Amtshandlung der amtlichen Zulassung, stelle für Effekten befand, also einer auf Reichsgesez begründeten amtlihen Stelle. Das Recht hat aber kein Beamter eines Ressorts, daß er öffentlich protestiert gegen eine künftige Amtshandlung einer anderen amtlihen Stelle. Wenn das in Deutschland einrisse, sg würde das vollständige Anarchie sein. (Sehr richtig! rechts.) Ih habe keinen Anlaß, Ihnen noch weiteres hierüber zu sagen, denn ich glaube durch meine Erklärung die Handlung der Negierung gerechtfertigt zu haben, daß sie darüber keinen Zweifel lief, daß sie dieses Buh und die Form seiner Veröffentlihung nicht billigt,

Meine Herren, der Herr Abg. Gröber und einige andere Herren haben im Lauf der Debatte verschiedene Fragen angeregt, die in das Nessort fallen, das ih zu vertreten die Ehre habe. Da ih bei Be, antwortung dieser Fragen auf eine Reihe von Einzelheiten eingeben müßte, fo glaube ih, wird es besser sein, wenn ich mir die Beant, wortung für die zweite Beratung meines Etats vorbehalte.

Ich will aber einige andere Aeußerungen, die im Verlauf der Debatte gefallen sind, kurz berühren. Der Herr Abg. Bebel hat in seiner gestrigen Rede erinnert, und er hat dag wiederholt schon getan, an eine für jeden preußishen Patrioten, und ih kann wohl sagen, für jeden deutshen Patrioten \{chmerzlichs\te Periode der preußishen Geschichte, an das traurige Jahr 1806 und an das, was in diesem Jahre an Mangel an Mut, an Mangel an Pflihtbewußtsein zu Tage getreten is. Wenn man fo scharf tadeit, so sollte man annehmen, daß man dèe beroischen Taten der preußishen Regierung und des preußischen Volkes, als es sich von der Napoleonishen Herrschaft befreite, au innerhalb ter sozialdemokratishen Partei entsprehend würdigte, Ich selbst habe über die Wiedergeburt des deuts%en Volkes im Beginne des 19. Jahrhunderts in meiner Rede vom 12. Dezember gesproh?-n. Was finde ih nun in einem sozialdemokratischen Blatte, der „Neuen Zeit“ ? Dort heißt es:

Der Flottentaumel reißt die leßten Trümmer der bürgerlichen Opposition fort, die thm bisher noch immer einen gewissen Wider- stand entgegenseßten. Der König rief, und alle, alle kamen, ganz wie bei der großen Eselei von 1813 (hört, hört! rechts), wo sich die Großväter der heutigen Generation mit Gott für König und Vaterland auch das feudale Joch wieder in den Nacken drüden liezen, das 1hnen durch den ausländishen Eroberer halb und halb gelcckert war.

(Unruhe rechts.) Weiter heißt es:

Um so dringender wird die Pflicht der Arbeiterklasse, die Ehre des deutschen Namens zu retten, um mit allem Nachdruck die Nevolution zu vertreten, die auch das Deutsche Reich längst ergriffen hat.

Meine Herren, wer das s{reibt, und eine Partei, die folbe Aeußerungen vertritt, muß allerdings keine Ahnung haben von der politisch und wirtshaftlich fürchterlichen Zeit der Franzosen- herrschaft in Deutshland. Jch glaube, hier in diesem Haufe sind z¿ahlreihe Männer, die von ihren Vätern und Vätervätern gehört haben, was die Franzosenherrschaft in Deutshland bedeutete an RNécht- losigkeit und Knechtshaft. Das Eiserne Kreuz, das unsere Vorfahren im Kampfe gegen jene Knechtschaft erworben haben, wird noH heute in vielen Familien pietätvoll aufbewahrt. Wenn man trotzdem in der Politik dahin kommen kann, einen Mann wie Napoleon I. als einen Befreier hinzustellen gegenüber der eigenen Regierung, und wenn man hier gleichzeitig die traurigen Ereignisse des Jahres 1806 so hart, und mit vollem Rechte so hart tadelt, so scheint mir das ein innerer Widerspru zu sein, der niht zu vereinigen is. Die Herren von der fozial- demokratischen Partei ih \prehe ohne alle Gereiztheit und völlig objektiv, dann sind unsere Verhandlungen auß nah außen immer am klarsten —, besonders Herr Bebel, haben gestern erklärt, die Arbeiter wollen nihts als gleiches Reht. Ja, meine Herren, gleiches Recht haben doch politish und rechtlich die Arbeiter in

‘Deutschland unzweifelhaft seit längst (Widerspruch links), und ih

wünsche, daß ihnen auch auf allen wirtshaftlißen Gebieten gleiches Recht zu teil wird. Das wird, glaube ih, in diesem hohen Hause auch von keiner Seite bekämpft. (Widerspruch links.) Aber diese Forderung stimmt nicht mit dem, was Sie auf Ihr Programm schreiben. Sie \{reiben auf Ihr Programm : Herrschaft des Proletariats. Das können Sie in allen Jhren Preßäußerungen finden; ich könnte Ihnen Hunderte davon vorlegen. Die Herr- schaft des Proletariats {ließt aber das gleiche Recht gegenüber den anderen Gesellshaftsklassen aus. (Sehr rihtig ! rechts.) Sie wollen die Klassenherrschaft beseiligen, gleihzeitig aber eine andere Klassenherrshaft an ihre Stelle sezen. (Zuruf links. Große Heiterkeit.) Meine Herren, ich bin für jede Belehrung zugänglich und erwarte sie. Aber ih habe ausgeführt : in keinem Staate gibt es eine Herrschaft des Proletariats, und es kann eine solche auÿh nicht geben. (Zuruf links.)

Meine Herren, Sie selbst sind gar keine Proletarier Jhrer Lebenshaltung nah; Sie siad auch nicht Proletarier Jhren Lebens- bedürfnissen nah; Sie sind endlih auch nit Proletarier Ihrem ganzen Bildungsmaße nah; Sie selbst haben sich hon längst vom Proletariat losgelöst. Eine Herrschaft des Proletariats kann und darf es nicht geben, und ih hake meine leßte Rede damit ge- \{lossen, daß in jedem Staate das regierende Element die bürger- lie Gefellshaft sein muß. i

Man hat au, um den ewigen Frieden zu si{ern, hier auf ein etwaiges internationales Parlament Bezug genommen. Jch glauke, bei dieser

Auffassung verkannte der Herr Redner der sozialdemokratishen Partei doch die fördernde Kulturkraft, die in dem Unterschied der Nationali- täten, in dem Wettkampfe der Nationalitäten mit einander liegt, in der Wehrhaftigkeit, zu der die Nationen durch den Gegensaß ihrer nationalen Interessen gezwungen werden. Bei einem inter- nationalen Parlament würde wenig herauskommen. Wenn dieser Traum jemals verwirkliht würde, müßte das zu einer Erfchlaffung der Nationen führen, zu einem Capua, was man im Interesse unseres eigenen Volkes niht wünschen kann.

Ich wende mi nun zu einigen Ausführungen des Herrn Grafen zu Stolberg. Es hat mir vollkommen fern gelegen, zu bestreiten, daß die Arbeitslöhne in den leßten 10, 20 Jahren sich sehr wesentlich ge- hoben haben; dafür geben die Statistiken der fozialpolitischen Gesegz- gebung, die Publikationen der großen industriellen Gesellshaften, die Jahresberichte der großtèn Städte ein unzweifelhaft zutreffendes, klares Bild. Der Herr Graf zu Stolberg hätte noch für seine Behauptung etwas Weiteres hinzufügen können, nämli, daß seit 1892/93 die Zahl der Zenfiten von 900—3000 A Einkommen in Preußen um 14 Mil- lionen gestiegen ist, also auch ein Beweis, wie si die Einkommens- verhältnisse der ärmeren Volksklassen gehoben haben. Es hat mir au vollkommen ferne gelegen, bei meinen Ausführungen etwa an den Neibtum der Landwirtschaft zu denken; niemand weiß besser wie ih, welche {were Zeiten die deutsch: Landwirtschaft durchgemacht hat; nur wer der Landwirtschaft fernsteht, kann da3 bestreiten. Jch weiß auch sehr wohl, daß es feinen Erwerbszweig gibt, wo das Risiko, die täglihe Mühe, die tägliche Gefahr bes

Verlustes größer ist wie in der Landwirtschaft gegenüber einem ver- |

hältnismäßig sehr besheidenen Gewinn. Die Statistik, die ich in dicser Beziehung seinerzeit darüber aufgestellt babe, gibt dafür cinen unwiderleglihen Beweis. Mein: Ausführungen gingen viel weiter: ih habe gesagt, daß mit der Wohlhabenbeit die Opferfreudigkeit der besißenden Klafse niht in gleihem Maße geflicgen sei. Wenn der Herr Graf zu Stolberg seinerseits optimistisher über diese Frage denkt, so nehme ih an, hat er günstige Erfahrungen gemacht, und das wird jedenfalls den Auffassungen und den Zielen, die er im öffentlichen Leben vertritt , nüßlich fein. Fh sprehe niht davon, daß es unter Umständen klug fein fann, politish und wirtshaftlich klug, acwisse Konzessionen im wirtscaft- lichen Leben nit erst zu machen unter dem Dcuck der Verhältnisse, sondern fo rechtzeitig zu machen, daß sie wirkli auch Anerkennung und Dank finden. (Zuruf rechts.) Aber die Opferfreudigkeit liegt nicht

nur auf wirtshaftlihem Gebiete: die Opferfreudigkeit eines Volkes und |

der bürgerlichen Klassen muß sih noch auf ganz anderen Gebieten zeigen. Ich erinnere nur an die eine Tatsache, daß bei den Wahlen des Jahres 1903 von 125 Millionen Wählern fast 3 Millionen der Wahlurne fern geblieben sind, und diese 3 Millionen nehme ich an waren ni cht Sozialdemokraten (sehr rihtig!); denn die Sozialdemokraten haben, glaube ih, fo ziemli ihren leßten Mann an die Urne gebracht, weil sie eine auêgezeihnete Wahldiéziplin haben. Ich habe ferner be- rehchnet, daë, wenn in den Wahikreisen, wo die einzelnen bürgerlihen Par- teien au nit die geringste Aussicht batten, allein einen etgenen Kan- didaten durchzubringen, diese bürgerlien Parteien {h unter einanter auf einen gemcinsamen Kandidaten geeinigt hätten, es der fozialdemos

| den krankbaften Zust1nd unseres deutsHen VolkEkör)-c-8 abr mte er fn

der fortgesezten Zunahme der Sozialdemokratie liegt, keineswegs keilen kann. Man hat sich meines Erachtens bisher viel zu wenig mit der Frage beschäftigt und zwar ist das eine sehr schwere psychologise Frage : auf welchen Ursachen beruht denn eigentli dieser franf- hafte Zustand unseres Volkes ? auf welchen Grundlagen beruht es, daß in dem geordneten deutschen Staatswesen si eine Partei bon 3 Millionen findet, oder wenigstens eine Partei, die 3 Millionen Stimmen auf sich vereinigt, die das ganze be- stehende Staatswesen mit seiner politishen und Kulturgeschichte ver- [leugnet ? (Zurufe.) Kennen wir die Ursachen, so werden wir auch bessere Mittel finden, die Folgen zu bekämpfen.

Meine Herren, ih habe versucht, nur einige Gründe anzudeuten ; wenn irgend jemand bessere Gründe angeben fann, wen er in besserer Weise erklären kann, worin eigentlih die innere Ursache dieser poli- tischen Krankheit beruht, so wird der Mann \ih ein Verdienst um das Vaterland erwerben. Man muß eben erst die Ursache cines folhen Zustandes erkannt haben, um die rihtigen Mittel zur Heilung ¿u finden. Die Heilung fann nicht dur Repression, auch nicht allein dur \ozialpolitische Gesetze erfolgen. Nein, meine Herren, der Zu- stand kann sih erst ändern, wenn wir wirkli die Ursache der Sozialdemokratie in Deutschland gefunden haben; wir müssen vielleicht noch viele Wege gehen, um dem Uebel zu steuern.

Meine Herren, ih glaube, man bewertet die Vertreter der Sozial- demokratie zu hoh (sehr ritig! rechts), wenn man bier im Neichêtag und au in der Presse so oft äußert, daß die ganze sozialdemokratische Bewegung eigentli nur die Fclge der Agitation der Führer wäre. Nein, meine Herren, diese hypnotishe Kraft haben die Führer allein niht (sehr richtig! bei den Sozialdemokraten) ; das bestreite ih. Es müssen also innere Urfachen vorhanden sein, die das deutsche Volk in diefen Zustand ge- führt haben und es darin erhalten (sehr richtig! bei den Sozial- demofratea), und diesen inneren Urfachen nachzuspüren, ist meines Erachtens Pflicht jedes Patrioien; zu diesem Nachdenken aufzufordern, das deutsche Bürgertum zu eigner Kraftentwicklung anzuregen, das war der Zweck meiner Rede vom 12. Dezemker. (Bravo!)

Meine Herren, ih habe in der Presse gelesen, solche Ausführungen wären nicht staaismännish. Fieilih, wenn man die Politik betreibt, die der Franzose als „nager entre deux eaux“, als ¿wischen zwei Strömen \chwimmen“* bezeichnet, fo ist das vnendlih viel bequemer; für einen Mann im politishen Kampfe ist es eben immer eine crnste Sache, einmal der Kage die Schelle anzuhängen. (Sehx gut! in der Mitte.) Ich werde mih aber nit davon abbringen lassen, solange ih an dieser Stelle stehe, das zu sagen, was ih für ret halte, und wovon ih glaube, daß es dem deutshen Volke gesagt werden muß. Wer den Schläfer in der Stunde der Gefahr wedt, wer ibn kräftig an der Shulter rüttelt, der erwirbt sich unter Umständen ein Verdienst.

| (Bravo! in der Mitte.)

kratischen Partei nicht nur nitt gelungen wäre, gegen 80 Abgeordnete i

in den Reichêtag zu \hicken, sondern daß fie auch nit die Anzakl

laturperiode bier im Hause hatten. (Zuruf bet ten Sozialdemokraten.) Die Allerhöchste Botschaft tes Hochseligen Kaisers Wilhelm I. er- llârte: wir müssen positive Maßregeln ergreifen zum Wohle der Arbeiter, der ärmeren Volksklassen, um neue dauernde Büörgschaften für unseren inneren Frieden zu schaffen. Wir haben seitdem in Deutshland Wesentlihes getan zum Besten der unteren Volks- klassen, wir können in der Tat auf große positive Leistungen zum Besten der arbeitenden Klassen hinweisen; aber das muß man

gestehen: die neuen dauernden Bürgschaften des inneren Friedens, die

wir bisher davon erwarteten und die die Allerhöchste Botschaft er- wartete, sind bisher nit eingetreten. (Zustimmung rets.)

(Es gibt zwei Richtungen gegenüber dieser Erscheinung. Es gibt eine Nichtung, die immer mehr fozialpolitische Gesetze fordert und die die Negierung ih lese das fast tägli in den Zeitungen befHuldigt, daß sie auf sozialpolitishem Gebiete noch lange nicht genug tue, daß tie Sozialpolitik des Reis ins Stocken geraten sei. Meine Herren, die Thronrede hat demgegenüber ausorücklich anerkannt, daß die Fortführung der Sozialreform eine der vornehmsten Aufgaben der Gesetzgebung si. Wir eiben Sozialpolitik nicht nur um politisher Ziele willen: nein, wir treiben Sozialpolitik, die verbündeten Regierungen treiben Sozialpolitik, und der Reichs- tag, nehme ih an, tut es mit ihne», weil es sittlihe Pflicht eines geordneten Staats ist, für die armen und \{chwach2n Volkskreise zu forgen. (Sehr ri&tig! rech!s)

Aber das muß ih zugestehen: wenn man fortgeseßt in den sozialistischen Zeitungen liest und hört von dem „Appell an die Gewalt“, wie ich Ihnen hier vorgelesen habe, oder wenn man sagt: „auch in Deutschland sind wir bereits in der Revolution“, wenn man die Provinzialblätter der sozialdemokratis&en Partei liest, die häufig noch viel s{ärfer find als das Zentral- organ derfelben Partei, so ist unzweifelhaft, taß es sos- wohl der Regierung wie den bürgerlißen Parteien immer shwerer wird, Sozialpolitik zu treiben. JIch kann Ihnen fagen, meine Herren, bis weit in die Kreise ter Linken hinein ift die \oztial- politische Begeisterung, der sozialpolitische Eifer infolge dieser Er- sheinungen wesentlich abgekühlt. Das ift aber eine Folge dieser Haltung, die die sozialdemokratishe Partei namentlich seit dem Fenaer Parteitage einnimmt.

Wer trägt aber schließlich den Schaden hiervon? Nicht die Vertreter der fozialdemokratishen Partei im Reichstag, sondern der Schaden, wenn man dem vernünftigen Fortschritt der lozialpolitis{en Gesetzgebung Hindernisse bereitet, wenn Gegner auch aus den Reiben derer erwachsen, die bisher aus innerster Ueber- ¿eugung eine kräftige Sozialpolitik wollten, der Schaden, sage i, trifft draußen die Arbeiter und damit zum Teil ihre Wähler. (Sehr richtig !) S Es gibt auch Personen im öffentlihen Leben, die von der ganzen G vlalpolitik öffentlih oter in ihrem Herien wenig halten, denen Sozialpolitik eigentli etwas ist, was sie als wirtschaftliß und politisch bedenklih nit billigen, was ihnen deshalb unsympathis{ ist, und diese rufen fortgeseßt nah Repression. Jh bin nun der Ansicht und das war eigentlih der Sinn meiner Rede vom 12. Dezember —: ß man mit Geseßen zwar ungeseßlihe Ausbrüche verhindern,

. Abg. Stoecker (Wirts. Ver.): Der Akg. von Gerlahh hat mit seiner Nede auf der Rechten Unwillen hervorgerufen, und mit Ret. Gr wundert sih, daß landbesitzende Leute jahrelang feine Ein- fommenfsteuer bezahlen und dann beim Verkauf des Grundbesitzes Hunderttausende lösen. Das sind doch ganz natürlihe Sachen; wenn ein Gut nichts einbringt, kann der Besißer davon keine Steuern zahlen. Ein wirkliher Notstand sind die Warenbäuser, die Hunderte und Tausende von selbständigen Cristenzen ruinieren und keine ge- nugenden Steuern zahlen. Daß der &raf Posadowsky die Landwirte bei

J v 5 i ; j 1 seinen Ausführungen gemeint hat, habe i nit anaer L von Abgeordneten hätten wählen können, die sie in der vorigen Legis- ! | laveungen g t hat,“ Fabe, h nicht ngenommen,: sondern

ih habe ihn dahin verstanden, , daß er den Millionären das amerika-

nishe Beispiel vorhalten wollte, die von ibrem Besiße Millionen

und aber Millionea zu gemeinnützigen Zwecken hergeben. Unsere reihen Leute find nicht geizig, aber sie haben feine ¿echte Vorstellung von der Wirksamkeit der religiösen und sittlihen Macht. Dem Groß- zrundbesiß nachzusagen , daß er auf seinen Gütern in Ostelbien Luru3 treibt, ist ganz unmöglih. Ich komme mehr als d-r Abg. von Gerlah in meiner Stellung in der Stadtuission auf tem Larde herum; in zwanzigjähriger Erfahrung habe ih keinen Luxus, nicht im Weintrinken und niht sonst angetroffen. Dies zur Steuer der Wahrheit. Jaurès ist, das will ih gern zugeben, ein ver- ständiger Mann und verständiger als viele seiner .Parteizenossen ;

| eine andere Frage ist, ob wir ihm gestatten werden, mit dem Abg.

Bebel zusammen bei uns das sffentlihe Leben in Gefahr zu bringen. Jaurès meint wie Bebel, daß das gesamte W-ltproletariat in Kriegsfragen die Entscheidung geben soll. Der Ubg. Bebel hat die Friedensaufgabe, die er ih gestelli hat, niht gelöst und wird sie niht lôsen, das hat gestern der Kanzler klar gezeigt. Eine Partei von 3 Millionen Männern, die sich vorbehalten will, ob sie bei ausbrehendem Kriege ihre Pfliht tun will, ist dech cine sehr bedenklihe Sache; nichts kann den auswärtigen ‘Mächten, die uns mit Krieg überziehen wollen, mehr Mut einflößen, als die An- nahme, daß etwa eine Million von Bürgern des gegnerishen Landes niht mittun wird. Der Abg. Bebel verwahrt sich, mits{uldig zu sein an dem Mord und Brand in Nußland, aber es sind doch sozial- demokratishe Agenten, die dort den Brand s{hüren. Einen Unter- schied zwishen Revolution und Aufruhr, Morden und“ Bre: nen zu machen, ist ganz verwerflich. Der Parteitag in Jena hat mit freudiger Genugtuung die rufsische Revolution begrüßt, die endlich den mit Verbrechen beladenen Zarismus stürze. Wenn nun ungebildete, wahn- wizige Völkerschaften das lesen und sagen: die deuts4e Sszial- demokratie hat jedcs Mittel für erlaubt erkiärt, so können Sie die Verantwortung “dafür gar niht ablehnen. Rosa Luxemburg, diese feine Dame, die jetzt Nedakteuria des „Vorwärts* geworden ist, schreibt von den „stupiden Kanaillen“, die in NRuß- land noch für das verbrecherishe Nagaika - Regiment tämpfen. In dem betreffenden Artikel ist auh gesagt, daß die russishe Sozial- demoktratie in einem Bunde mit der deutshen Sozialdemokcati- stehe ; dieser Passus ist vom „Vorrärts“ unterduückt worden, wabr sck;einlih aus ftaarsanwaltliher Vorsicht. Alles, selbst deutshe Landleute in den Ostseeprovinzen, lassen Sie abshlahten, ohne ein Wort zu sagen, aber sowie cs an die Juden geht, da ist die Sozialdemokratie auf dem Posten. Dieses Hcten von einem sicheren Oct, wie Berlin, aus halte ih für etwas sehr S(lechtes; Sie treiben damit unverständige L-ute ins Verderben. Der Masserstreik, der in Jena protlamiert worden ist, bat in Rußland seinen Anfang genommen, er wird mit größter Heftigkeit durhgehalten; Frauen und Kinder sterben, die arbeitenden Klassen müssen dem Elend anheimfallen, das ist das Ende: grenzenlofes Glend über armes, sianloses Volk! Wo ist in Jhrer Partei irgend ein Widerspru dagegen? Man sagte ja in Jena, die Rosa sollte doch hingehen, wo die Revolution ist. Jh finde es tatsächli un- glaublich feig, bloß zu heten, aber nicht Ihr Blut dafür einzusetzen. Und was tun Sie seit 30 Jahren? Nichts als die revolutionäre Maul- und Klauenseuche in das Land hineintreiben und dann da sigen und sih die Geschichte ansehen. Auch die Revisionisten sagen zu diesen Dingen nichts und ordnen sich im Grunde der Diktatur unter, au die „edlen fechs“ die armen fech8, sagen wir können zulegt nihts anderes, als fich der Diktatur unterordnen. Eine Partci, von folhem Geist erzeugt, jede freie Meinungsäußerung erstickend und zuleßt folhe armen Schlucker zu einem Widerruf veranlafsend, eine folhe Partei foll doch niht sagen, daß sie charakterbildend ist. Rot ist Ihre Farbe. Es gibt vershiedenes Not, blutrot, {arlach- rot, rosa. Im Grunde tun Sie nichts, was sozial heilsam ft, sondern Sie |chüren lediglich die Revolution bei uns und im Aus- lande! Und nun verlangen Sie noch dasselbe Wahlre(t in anderen Parlamenten, das Sie in dieser Weise mißbrauhen. Sie müssen

toh tic anderen Klasser verstandlos balten. Erft liefern Ste en Beweis, daß Sie keinen Mißbrauch treiben werden, dann werden wir bereit sein, im Interesse der Ai1beiter, die wir viel mehr lieben als Sie, nahzudenken darüber, ob eine Erweiterung des Wahlrechts an- gângig ist. Hier handelt es sih um die revolutionäre Luft der foztial- demofratishen Partei. Nun fragt man, wie kann tei einem gebildeten Volke eine so wahnwigzige Verblendung eintreten ? Ich glaube, zur Beantwortung dieser Frage etwas beitragen zu können. Ich nenne Ihnen Namen wie Marx, Laffalle, Singer, Stadthagen u. a. Kein konservativer, christliher Mann, sondern Mommsen war es der die Juden das Ferment der Dekomposition genannt hat. Fn allen Völkern, wo das Judentum Einfluß in öffentlichen Dingen, in der Presse und Literatur hat, wirkt dieses Ferment der Dekomposition wie ein |d@lechter Sauerteig. So is seit 1848 die überwiegend \{lechte Presse vielfa Judenpresse. Die Saghen sind so ernst, daß man Ihnen die - Wahrheit sagen muß. Wenn Sie es von mir nicht hören wollen, foll es Ihnen Lassalle sagen. Lafsalle sagte: Jh hasse zwei Dinge: Literaten und Juden; leider bin ich : beides. Ießt i unsere Presse völlig demoralisiert. Mehring, Ihr großer Generalstabschef, hat in den Tagen, wo er noch Verstand hatte genau dasselbe über die Presse gesagt. Diese fünfzigjährige Verdummung, Demoralisierung, Entchristiichung unseres Volkes hat alimählich in den Köpfen und Herzen Verroüstung ange- richtel, sie ist die Vorfrucht der beutigen sozialdemokratishen Vec- wüstung des Geistes. Gegen diese unheilvolle Macht hat man nichts getan, und die bürgerlihen Parteien baben si diese Judenmacht an der Börse, in der Presse, Literatur und am Theater über den Kopf wachsen lassen. Bismarck hat einmal gesagt, der Deutsche hat zu wi nig Courage. Auch die Negterung, in deren Hand die Leitung des deutschen Volkes liegen sollte, hat nichts getan, das Unbeil zurückzudrärgen. Vas ist eine der Hauptursachen unseres grausfigen Notstandes. Das is ein Grund „dafür, daß wir bei den auswärti.en Völkern niht mehr die freudige Liebe haben. Carlvle schrieb bei der Mißstimmung Englands im Kriege von 1870: Nie in meinem Leben babe ich von einem n erkwürdigeren Kriege gehört als von dem von 1870. Ich erwarte, daß die Folgen diefes Krieges noch gewaltiger und hoffnungévoller sein werden als von jetem anderen Kriege. Als spater wieder einmal Mißstimmung in England berrschte, be- Eannte er sih zu der deuten Größe. Solche Männer fchlen uns jetzt. Vor noch nit 29 Jahren, wo von dieser Mißstimmung gar nicht die Rede war, hc be ih in Exeter Hall unter dem Jauchzen von 5000 Leuten gesagt, daß wir England darkten, daß cs die Hegemonie Deuts{lands auf dem Kontinent o freudig anerkannt habe. So bedeutend sind Sie ja nit. Sie können das Schlechte nit erfinden. Sie hausieren nur damit. Weon in Deutschland aus einem Volke des Geistcs ein Volk des Mammorns geworden ift, so habe ih schon unter dem Beifall des ganzen Hauses gesagt, daß die Plutokcatie noch {l-chter ift als die Sozialdemokratie, daß dadur in Deutschland allmäblih viel S{limmeres entstanden ist. Was war nicht deutsche Gottes- furt, deutsche Treue, deutshe Ehrlichkeit, deutihes Familienleben sur elw23 Schöônes auch für unsere auswärtige Politik! Wenn jett 3 Millionen Männer ihrem Vaterlande, der Obrigkeit, dem Gesetz und allen Zuständen des deutschen Geistezlebens den Krieg eifklären, und es nicht mehr für anständig gilt, in der Ehe zu Teben, wie in Bebels Buch „Die Frau* zu lesen ist, so tut das. auch etwas dau, uns die Freundshaft der Nationen richt mebr zu er- halten. Damals hatten wir Cariyle Männer. zu bieten, wie Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Herder. Was bringen wir beute? Wir bringen die verjudeten Geistesprodukte Deutichlands ! Das erklärt _Unsere jammervollen Zustände. Sie (zu den Sozial- demokraten) find noch nicht am Ende wit Ihrem revolutionâren Tun, aber wir hoffen do, allmählich zu erreichen, daß dieser 2olks- verderbnis cine andere Erscheinung entgegentritt, die christlich- nationale Arbeiterbewegung, die doch auch siegen kann. (Nufe bei den Sozialdemokraten: Wo denn ?) In Essen, dort lind Sie unterlegen. Wenn die bürgzerlihe Gesellschaft zusammenhält, kann sie Sie überwinden und sc{lagen. Ich bin gewählt in einem retnen Arbeiterbezirk, und auch in Effen ist die Sozialdemokratie ohn- mädhtig, weil da noch eine deutsche Bevölkerung ist von Treue, Glauben, Gottesfurht und Familienleben, unfähig für die Gifte, die Ste aussprizen. Ein anderes Mittel gibt es in Deutsck&land nicht, als die Arbeiterbewegung, die \ih von der Sozialdemokratie los! öfen will, zu stäken um jeden Preis. Das ift niht s{wer, wenn alle Krelie das Ihre tun, und wenn vor allem der unkbeilvolle Haß gegen alles Religiöóse aufhört. Das it in den bürgerlichen Parteien ein Fehler, der so groß ist, wie der Gotteshaß bei der Sozialdemokratie. Der Weg der Rettung ist die Religion. Sie ist nicht bloß etwas Persönliches, sondern etwas durchaus Sozialcs. Sind wir erst dabin gebraht, daß Religion Pcivatsahhe ist, so ist das deutse Volk verloren. Nur die Religion überwintet die sozialdemokratishe, dämos- nishe Macht. Bebel sagt: „Ve:fluht und verdammt ist, wer als Lohnarb-iter im Dienste des Kapitals steht !* Was ist das für eine Anschauung ? Wie muß es in folhem Kopfe aussehen ? Damit v rfluht und verdammt er alle Arbeiter. (Widerspruch bei den Sozialdemokrz2ten ) Dann muß man solchze Sachen niht sagen. Auch in Ihrem inter- nationalen Zukunftsstaat brauchen Sie fleißige, treue, bâäuséliche Arbeiter. Welces Interesse haben Sie für ibren Zukunftéstaat, die Bücger inner- lich zu zerstören durch solche Aeußerungen ? Zwci Vorwürfe mache ih Ihnen: Sie sind revolutionàr, nicht foal, und Sie erziehen die Arbeiterwelt nicht zur cristlißen oder bürger- lihen Tugend, sondern tun alles, um die Köpfe zu ver- wüsten. Daf die Arbeiter das dauernd ausbalten, glaube ich nit. Ich erwarte, daß sih die Arbeiters@aft noch in größerem Maße als bisher von der Sozialdemokratie lôfen wird. Jett hon zählt die christlib-nationale Bewegung über 600 000 Ankbâänger, die können {eon viel Abbruch tun. Diese Bewegung muß gestärkt werden. In darkens- werter Weise ist uns ein Gesetzentwurf über die Nechtsfähigkeit der Berufsvereine in Auésiht gestellt. Vor allem wären au Arbeitsämter notwendig. Jch begreife ja, daß die Negierung nad den s{chlechten Erfahrungen, die sie in der Sozial- politik gewaht hat, ibren Mut etwas bat sinken lassen, aber sie sollte dech zu jener Bewegung ein größeres Vertrauen haben. Wenn der Ruf an die Arbeiter ergeht, so werden ibm noch Millionen von Arbeitern folgen, die feine Sozialdemokraten sind. Es ift bot bedauerlid, daß 10 090 fogenannter nationaler Männer do noch für die Sozialdemokratie in Essen gestimmt haben; so etwas fann einen boffnungslos machen; ih seze aber do meine Hoffnung auf das Erwachen des deutschen Herzens aüùch in der Arbeitertwelt. Im kleinen Manne s\teckt ein tüchtiger Kern. Ih bin ja 70 Jahre alt und werde nicht lange mehr leben, aber ih kann Sie versichern: wenn das deutshe Volk tüchtig an die Arbeit geht, wenn wir dies alle tun, dann werden wir diese revolutionären Leute schon einmal unter- kriegen.

Staatssekretär des Stengel:

Meine Herren! Ich bitte mir zu gestatten, daß ich Sie von dem Gebiete der Sozialpolitik wieder zurückführe zu dem Gebiete der Finanz- politik und der Regierungévorlage, die uns hier in allererster Linie interessiert, und da möchte ich zunä&st nur mit einem Worte er- widern (Glocke des Präsidenten) auf eine Anregung. die der Herr Abg. von Gerlach vorhin gegeben hat. Er hat u. a. angeregt, ob es nicht angängig wäre, das Reich teilnehmen zu lassen an den Eisenbahnübershüfsen der Einzelstaaten. Er hat allerdings sofort au den Zweifel hinzugefügt, ob wohl der Königlich preußische Herr Finanzminister für eine folhe Idee zu gewinnen sein wird. Ih teile seinen Zweifel und möchte nur noch beifügen, daß der Königlich preußische Finanzminister wohl niht der einzige ist, der gegen einen sol@Wen Eingriff des Reichs in die Haushalte der Einzelstaaten den lebhaftesten Widerspruch einlegen würde, ihm würden ohne Zweifel auch die Minister anderer Bundesstaaten sich anschließen.

Reichsshazamts Freiherr von