1906 / 26 p. 6 (Deutscher Reichsanzeiger, Tue, 30 Jan 1906 18:00:01 GMT) scan diff

des Systems, von Heben frei ist natürliG nur die fozial- demokratische Partei. Die Armenpflege hat manherlei Mängel, aber fie ist im leßten Jahrzehnt viel verbessert worden. Es sind Kranken- häuser für arme Leute, Armenhäuser und Armenpflegeanstalten ge- gründet worden. Daß die Armenpflege niht fo geübt wird, wie man wünschen könnte, liegt an dem Mangel an Mitteln, und eine große Frei- gebigfeit kann man den auf das äußerste um ihre Existenz kämpfen- den Gemeinden kaum zumuten. Wie eigentümlich muß es z. B. die Bauern einer armen Landgemeinde, die nur Sonntags zur Kirche Schuhe oder Stiefel anziehen, berühren, wenn sie von einer aus- wärtigen Gemeinde eine teure Shuhrechnung für einen von ihnen ab- gewanderten Genossen bekommen. Der Vorredner meint, die Not- lage der Landwirtschaft bestände niht, die Grundbesißer zögen als wohlhabende Rentiers nach Berlin. (Ruf links: Hat Graf Posa- dowsky gesagt!) Aber Sie haben es als eigene Behauptung über- nommen. In der Näbe von großen Städten oder infolge von Bahn- anlágen usw. steigen ja allerdings die Grundbesißpreise, au die Aus- fichten der neuen Handelsverträge mögen dahin wirken, aber im all- emeinen ist am Grundstückshandel wenig zu verdienen, und die kleinen Be- figer find frob, wenn fie sich mühsam auf der Scholle halten können. Ausländische Arbeiter werden niht nur in Ostelbien, sondern au 3. B. in Wiesbaden beschäftigt. Glaubt der Borredner, daß die Land- bevölkerung mit Vergnügen solche Arbeiter bes@äftigt statt der ein- beimisWen? Wie oft laufen die auéläntishen Arbeiter fort unter Mitnahme von allerband Gegenständen, die ibnen nit gehörten! Fn den Amtsblättern finden Sie ganze Listen solher Personen. Wenn Sie (zu_den Sozialdemokraten) die Verhältnisse bessern wollen, so hegen Sie nit mebr die Arbeiter gegen die Arbeitgeber auf. Wenn es der Landwirtschaft wieder gut geht, wird fie auch menschen- würdige Löhne zahlen können. Der Vorredner \prach vom Mangel des Koalitionsrechts und demokratischer Einrichtungen wie des allgemeinen Wahlrechts. Die Gründe li:gen anders- wo. Ich habe hier Briefe von Leuten, die nach einem Berg- werksdistrift der Rbeinprovinz abgewandert sind und nah der Heimat mitteilen, daß sie viel kürzere Arbeitszeit als hei der Land- wirtschaft hätten, daß die Preise der Lber8mittel billig und daß Kleidung sehr viel billiger sei, und daß sie im Monat 120 bis zu 150 A verdienten. Eine Frau schreibt, daß sie bedauere, niht früber abgewandert zu sein, weil sich in Ostpreußen die Frauen viel mehr quâlen müßten. Das find die wahren Gründe: kurze? Arbeitszeit, erbeblih größerer Lohn auf der einen Seite und auf der anderen Seite die üble Lage der Landwirtschaft. Der Abg. Mommsen wünschte ein Hinausscieben der Vorlage, fie ist aber viel wichtiger als manche andere, z. B. die Maß- und Gewichtsordnung. Hier handelt sih?s um s{chwere Mißstände, und die Kommission wird die Angelegenheit boffentlih. nicht dilatorisch behandeln. Ob eine Kommission von 14 oder 21 Mitgliedern gewählt wird, ist keine prinzipielle Frage. Die Vorlage wird zwar die Abwanderurg aus den östlichen Teilen nit bemmen, aber wenigstens die Belastung einigermaßen mindern. Deêwegen heifen sie meine Freunde willkommen, wenn fie auh noch nit die Schäden von Jahrzehnten wieder gut maht. Aus den Jahresberihten der Landeetversiherungsanftalten ergibt i, daß von 1892 bis 1904 aus Ostpreußen niht weniger als 512 000 Personen mehr abgewandert als zugewandett sind, während in Westfalen der Ueberschvß der Zugewanderten 315 000 beträgt. Au die Zahlen der anderen Provinzen bestätigen, baß ein starker Mer schenstrom von Osten nah Westen zieht. Der Abg. Mommsen hat ähnlih, wie in cinem fürzlich veröffentlihten Aufsaß, der von einem Ver- treter der Berliner Stadtverwaltung berzurühren scheint, ge- meint, diese Novelle rihte sich gegen die großen städtishen Ee- meinden. Ich meine, in den großen Städten wächst niht bloß die Menschenzahl, es wachsen aud die Woßhlfahrtseinrih- tungen, es wächst das Kapital, auf dem Lande dagegen wachsen ledigli; die Hvpotbeken. Berlin erhebt nur 100% Kom- munalstéuerzus{läze. Ostpreußen dagegen in einzelnen Fällen ohne Kreisabgaben 5C0, ja 8009/0. Ih denke, man foll do gcrade die stärkeren Schultern stärker belasten als die \chwächeren. Nun matte der Vorredner einen Vorschlag, der allen Uebel ständen auf radikale Weise abbelfen soll; er empfabl, die Armen- pflege zur Staats- oder Reichssache zu machen. Ich glaube, für ein foles Rezept werden \ih die Gemeinden \{önstens betanken. Es würde dadurch nur das Simulantentum großgezogen und die Willens- kraft im Volke geschwäht werden. Man hat nun einen Fall kon- struiert, um zu zeigen, daß dur diese Novelle eine Lockerung des Familienzusammenbanges herbeigeführt werden fönnte. Will man der Entfremdung der Kinder gegen das Elternhaus wirklih vor- beugen, jo gibt es eigentli nur ein Mittel, nämli, daß man den Kindern die Möglichkeit abshneidet, vor Erreichung eiaes gewissen Alters die Heimat zu verlassen. (Hört, hört! bei den Sozial. demokraten und Zurufe.) Gewiß, das ist eine Beschränkung der Freizügigkeit. Will man das aber nit, und ih will das auch niht nun rufen Sie (zu den Sozialdemokraten) auch: Hört, hört ! —, weil ih eine folde Maßregel nicht für zeitgemäß und durchführbar halte, dann muß man auch die Konsequenzen ziehen as dem gegenwärtigen Zustande und den Gemeinden zu Hilfe kommen. Der Abg. Mommsen wies darauf hin, daß für viele junge Leute von 16 bis 18 Jahren die Städte noch erbeblihe Mittel für die Fort- bildungss{ule aufwenden müßten. Nun, das platte Land würde sih olüdlich preisen, wenn es fih lediglih mit demselben prozentualen Steuersaz seiner Sorge für die Schulen entledigen Tônnte, wie etwa Berlin, es muß aber 50, 75, 100% und mehr der Staatssteuer für Schulzwecke aufwen“en. Durch die Aufwendungen

für die Fortbildungsshulen nügen sch die großen Städte auch sclést. Es strömen in die großen Städte auh niht diese

¿udringliten Elemerte erwerbstüchtige Kräfte Land und die kleinen \schaftli®e Passiva übrig.

allein hinein, sondern auch gesunde und und woblhabende L:ute, für das platte Städte aber bleiben \{licßlich nur wirl- i Die Wahrrebmurg muß jeder machen, der mit der Steuervercarlazung in ländlichen Bezirken etwas zu tun gehaßt hat, wern er die steuerkräftigsten Einwohner anderen Bezirken überweisen muß. Es wäre nun zu fragen, ob es nit richtiger wäre, die Unterstüßungspfli6t dem Arbeiteort auf- zuerlegen und die Wobrnsißgemeinde ledigliÞ subsidiär heran- zuzichen. Früher trat der Gegensay zwischen und Wobnsiggemeinde niht in solchem Maße kervor Die Wohnsißz1emeinden sind heute infolge ibrer Aufwendungen jür Schulen usw. ti einer recht ungünstigen Lage. Bedauerlicherweise fehlt in der Vorlage eine Besiimmung, die dagegen Vorkehrung trifft, daß jemand unter Zurücklafsung Hilfs- bedürftiger auf und davon geht: in einem solhen Falle muß die Gemeinde für ein verkrüpyeltes Kind bereits seit Jahrzehnten auf- kommen, weles das verschwundene Familienbavpt zurüdckgelassen bat. Auch einige andere ähnlihe Lücken wären auszufüllen. Der Abg. Zrimborn will größere Verbände, um deren Leistungsfähigkeit zu erböben; aber im einzelnen hat er seine Gedanken niht auszeführt; ih meine 0 + 0 = 0, d. b. mebrere leistungsunfäbige Vecbände er- geben zusammen immer not keinen leistungsfäbigen Verband. Ich per- fönlih würde eine Verbefserung nur von einer Bestimmung mir versprecken können. daß jeder Ortsarmenverband nur einen bestimmten Prozentsaß seiner Armenlaft als Sonderlast zu tragen hat, währerd der über- \hießente Teil den höheren Verbänden, Kreis und Provinz, aufzuer- legen wäre. Gegenüber der Behauptung, daß die Vorlage geeignet er- scheine, den Gegensaß ¡wishzn Stadt und Land zu vershärfen, meine id, daß ein solher Gegensag in tolcher Allgemeinheit überhaupt nicht bestebt, cder doch hôbîtens zwischen den großen Jndustriestädten und den kleinen und mittleren Landstädten. Die großen Städte haben ja ewiß auch ihre Bedeutung und ihre Vorteile, aber wie der mer. \{- ide Körper fann auch ter Staatékörper nicht gedeihen, wenn durch Anftauung von Säften ein Glied bypertropbisch wird, die anderen aber faft- und frafiloë; wir können daber dem G-scßgeber nur dankbar sein, wenn er hier durch \4merzlose Passage Abbilfe in Aussicht telt. Diejenigen, welche auf bistorishem Boten weiterbauen wollen, haten allen Grund. daran vereint iitzubelfen. Von diesem Gesichts- Put aus bitte ih, die Vorlage in de: Kommission wohlwollend zu ôrdern.

wie jeßt.

Arbeitsgemeinde |

«die Fürsorge bezahlen. Die Arbeitsgemeinde steht in keiner Beziehung

großen |

Abg. Gamp (Rp.): Die praktische rmionpslege ist tatsäblich durch den Ausbau der sozialpolitishen Gesetzgebung ganz erheblich zurückgegangen; wir haben in Deutschland {hon etwa 990 000 Pensio- näre. Ich kann deshalb nur wünschen, daß auch das leßte Glied der fozialpolitishzn Gesetzgebung, die Witwen- und Wiisenversorgung, baldigit zur Verakbsietung gelangen möchte; denn durch fein Mittel wird man die öffentlihe Armenpflege so erheblich ein- schränken wie dur dieses, und gleichzeitig ist keine Last so shwer für zahlreißhe Gemeinden, als diese. Noch ein anderes Mittel gâbe es, die Einführung der obligatorischen Krankenfürsorge für alle Arbeiter ohne Unterschied, und ih bitte den Staatésekretär, allen seinen Einfluß dafür ein- zuseßen, daß auh ten landwirtschaftlichen Arbeitern diese Fürsorge zuteil werde. Es wird ja dabei notwendig sein, daß au der Staat seine hilfreihe Hand auftut und namentli die Gemeinden unters stüßt, die entlegen oder zerstreut sind, die es nicht so leiht haben wie hier in Berlin, für Krankenpflege und ärztliche Hilfe zu sorgen. In Preußen haben wir Provinzen, wie Pommern und andere, wo solch: Maßregel am Plaße ist. Während in Berlin ein großer Teil der Aerzte Hunger leidet, ist es auf dem platten Lande heute vielfa direkt unmögli, überhaupt ärztliche Hilfe zu erlangen. Hier sollte der Hebel angeseßt werden, dann würde die Armenpflege eine wefentlihe Einschränkung erfahren. Ueber die ausländischen Arbeiter ist der Staatssekretär doch zutreffender unterrichtet, als der Abg. Herzfeld, der meinte, die Landwirtschaft brauckte keine aus- ländischen Arbeiter becanzuzieben, denn ein Besiger, dem 15 Sthnitter fortgezogen seien, Lâtte sofort 15 andere gegen doppelten Lobn er- halten. Das ist doch wirkli närrish, denn diese leßteren sind doh einem anderen fortgegangen, dessen Ernte nun wahrscheinlich ver- nihtet war, weil er die hohen Löhne gegenüber dem woblhabeaderen Konkurrenten nicht zahlen konnte. Die ländlihen Arbeiter sind gerade beim Großgrundbesfiß im Osten so gut gelöhnt, sogar erheblih böber, wenn man die Naturalien, die sie bekommen, wit den Preisen in Nehnung stellt, die sie in den Städten dafür bezahlen, Jm Rheinland kostet der Zentner Kartoffeln 3,60, bei uns in Pommern 1 A Bei 100 bis 120 Zentnern Kartoffeln, die der Arbeiter im Jahre erhält, kommt nah diesen Preifen {on ein großes Wert- objeft heraus. Dazu bekommt der Arbeiter noch 4 Liter Milch täglich. Beim Großgrundbesiß des Ostens stehen si die Arbeiter besser als im Westen. Sehen Sie sich nur an, wie sie Sonntags zur Kirche angezogen sind, wie sie wohnen und si nähren, dann werden Sie vielleicht {hon Jhr Ideal vom Zukunfts\taat erreicht sehen, im Westen aber nicht. Nicht für richtig halte ih es, die ganze Armenlast auf die Arbeits- gemeinde zu übertragen. Wo Arbeitsgemeinde und Wohnsiggemeinde sih niht decken, hat in dec Regel die Wohnsißgemeinde größeren Vorteil von den Arbeitern als die L R, denn dort ver- zehren fie ibren Lohn mit ihrer Familie. Daber hat die Wohnsißz- gemeinde mit Recht die Kosten zu tragen. Zweifelhaft ist mir, ob der § 29 der Vorlage einwandésfcei ist. Danach soll, wenn ein Arbeiter an einem Octe mindestens eine Woche bindurch gearbeitet hat, der Ortsarmenverband des Arbeitéortes bci eintretender Hilfsbedürftigkeit für die erften 26 Wochen die Kosten tragen. Der Staatssekretär spra da von Leistung und Gegenleistung, saber die Leistung für den Arbeitsort ist doch nur minimal. Es kônnen hierdurch die un- angenehmsten Verhältnisse, entstehen und geradezu das Prinzip der Armengesetzgebung wird über den Haufen geworfen. Die Bahnmeister holen z. B. ihre Streckenarbeiter 3 bis 5 Kilometer weit her. Die Gemeinden haven davon feinen Vorteil, baben aber die Streenarbeiter 8 Tage gearbeitet an einem Orte, so soll dieser Ort für. 26 Wochen die Kosten der Fürsorge übernehmen! Es kommt noch das Moment hinzu, daß die Frau eines solhen Arbeiters in der Wohnsitzgemeinde erkrankt, und au für sie muß dann die Arbeitsgemeinde für 26 Wochen

zu der Frau und kann au nit kontrollieren, ob die ganze Krankheit nur vorgeschoben ist. Der bei der vorigen Novelle gemachte Vor- shlag, daß die Aufenthaltsgemeinde die. Kosten tragen folle, hat etwas für sich denn die Aufenthaltsgêmeinde teckt Gh in der Regel mit der Wohnsitzgemeinde, in ihr ist au die Familie ver- einigt, und sie könnte Aufsicht üben, ob die Koften angemessen sind. Ich behalte mir einen entsprechenden Vorschlag für die Kommisfion vor. Ursprünglid wurde diese Bestimmung der Vorlage aus Anlaß der Salsengängerei vorgeschlagen, weil es unbillig sei, daß, wenn die Sahjengänger an einem Ort 9 Monate gearbeitei bâätten, ibr Heimatsort die Fürsorge übernehmen sollte. Richtig ist die Herab- seßung der Grenze für den Erwerb des Unterstüßung8wohnsitzes auf das 16. Lebensjahr. Die jungen Leute von 14 Jahren verlassen mögli bald nach der Einsegnung das elterlihe Haus, um ih der Aufsicht *zu entziehen, und müssen dann durchaus als wirtschaftlich selbständig angeseben werden, daher müssen sie auc einen eigenen Unterstüßun2swohnsiß erwerben können. Bedenklih ift dagegea die Abkürzung der Frist auf 1 Jahr. Ih glaube niht, daß das die Arbeiter seßhafter mahen wird. Dageg:-n wäre es menshlich verständliÞ, wenn die Gemeinden solche Personen, von denen sie eine dauernde Last befürchten, abscieben, da sie jx nur so fkurze Zeit von ihnen Vorkteil gzhabt haben. Wenn diese Verkürzung der Frist eintritt, können wir allerdings nicht mehr einjährige Kontrakte mit den Arbeitern machen, sondera müssen sie verkürzen ; aber gerade bei den einjährigen Kon- traften steht \sih der Landarbeiter besser. Ferner bitte ih die Ne- gierung, die Bestimmung in die Vorlage aufzunehmen, daß Personen über 60 Jahre keinen Unterstüßungswohnsiz mehr erwerben können. Wenn die Frist für die Erwerbung des Unterstüßungswohnsißes auf ein Jahr verkürzt wird, so ist die Gefahr für die Gemeinden, daß alte Leute ibnen auf dem Halse bleiben, sebr viel größer. Im eigenen Interesse der Arbeiter läge es daher, wenn mit dem 60. Lebensjahre ein neuer Unterstüßungêwohnsiß niht mehr erworben werden könnte. Das ift au ganz logisch, denn fchließlich muß die Arbeitskraft des Menschen einmal abnehmen. (Zwischenruf links.) Wenn Sée noch weiter herabgeben wollen, so hâtte ic nidts dagegen und wäre eventuell au für das 58. Jahr. Dem Abg. Mommsen kann ih nur sagen, wenn er der Vorlage ein Motto geben will, so kann es nur heißen: Gesegentwurf zur gerechteren Verteilung der Armenlasten. _Abg. Dr. Wolff (nirtsch. Vgg.): Au wir begrüßen diesen elen our, sofern er die Grenze für den Erwerb oder Verlust des Unterstüßungswohnsißes vom 18. auf das 16. Jahr herabsetzen will. Dagegen haben wir wie der Vorredner gewisse Bedenken, ob es richtig ist, die Frist für den Erwerb oder den Verlust des Unter- stüßungéswohnsißes nur auf 1 Jahr zu bemessen. Gegen den Vorschlag des Vorredners, die Grenze auf das 69. Jahr festzusetzen, haben wir nichts einzuwenden. Die Frage, dic ec in bezug auf cin2 anderweitige Regelung des Wanderarmenwesens angeregt hat, wird beffer in der Kommission zu prüfen sein. Die jungen Leute wandern vielfa {on früher ab als mit 16 Jahren, es geschieht {on mit der Konficmation. Der Graf Posadowsky hat uns in einer sehr \ch{önen Rede den Umfang dieser Abwanderung und deren Gefahren für tas platte Land geschildert. Seine Zahlen bezogen fich aber mehr auf die östlihen Bezirke. JIch muß nun bekennen, daß diese Abwanderung auch im Südwesten zum Teil ershreckende Formen angenommen bat. Auch gutsituierte ländlihe Gemeinden weisen bei jeder Volkëêzählung immer weniger Einwohner auf; niht bloß die Großgrundbefizer, sondern au die fleinen Besiger können Knechte und Mägde nur \{hwer finden, , trosdem sie mit ihren Knechten und Mägden aus derselben Suppenschüssel esscn, von einer \{lechten Be- bandlung und Verpflegurg also niht die Nede fein knn. Die Folge dieser Abwanderung ist eize Ueberfüllung ter Städte und vor allem ter Vororte. Dies- leßteren, {chwachsituierten Gemeinden haben infolgedessen enorme Schul- uad Armenlasten und wünschen die Eingemeindung in tie naheliegenden größeren industriellen Zentren. Ih möhte hier einen typishen Fall anfüßren, den Sie ja recht ernst nehmen wollen. Es fommt da z. B. eine Un- {huld vom Lande in die Stadt und in einem Zustand, der naher der Unterstüßungswohnsitßzgeme-inde die Sorge für zwei auf- erlegt. Würde es sih da niht empfehlen, die Frist niht auf ein Jahr, sondern auf neun Monate herabzusezken? Gewiß tun unsere größ:ren Städte sehr viel für die Fortbildungs\{ulen.

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Sie tun damit aber nur ihre Pfliht, nachdem die kleinen Heimat- gemeinden die großen Lasten der Elementarshulbildung haben tragen müssen. Der Abg. Herzfeld \prach von Junker usw. Ich babe schon bewiesen, daß diese Vorlage kein Aus. fluß der Begehrlichkeit der ländlihen Bevölkerung ist. Diefe hat schon Lasten genug zu tragen, ist nur recht und billig. Demgegenüber war die Rede des Staats. sekretärs sehr erfreulih. Sie hat einen sehr guten Eindruck gemadt, und sie würde einen noch besseren gemaht haben, wenn sie nicht ge. halten worden wäre nah seinen Ausführungen zum Befähigun nahweis im Baugewerbe. In diesen Ausführungen hat er einen £s fähigungînachweis nit als Lokomotivführer, sondern höchstens als Bremser erbraht. Hoffentlih wird er au in der Mittelstaudspolitik die Hoffnungen, die wir immer noch auf ihn seßen, wenn fie au klein sind, erfüllen. Ohne eine rihtige Agrar- und gewerbliche Mittel - standépolitik kann auch eine rihtige Sozialpolitik nit gemacht roerden. In der Agrarpolitik sind ja Fortschritte gemacht worden. Wir wünschen aber auch in der gewerblihen Mittelstandspolitik etwas mehr Volldampf voraus.

Abg. Ablaß (fr. Volksp.): Wir sind mit den Ausführungen, die der Abg. Mommsen am a gemacht hat, in allen bauptsächlihen: Punkten einverstanden. Die Vorlage verfolgt namentlich nach der Begründung des Grafen Posadowsky eine durchaus agrarishe Tendenz. Diese Tendenz ist heute von der rechten Seite noh befonders bervor- gehoben worden. Der Abg Shikert sprach sogar von einer Masffsage. Auf

das Masstieren versteht si ja die rehte Seite recht gut, und se voll- zieht fie meist niht s{chmerzlo3, sondern ziemli |{merzhaft. Der

Abg. Wolf wollte die Frist sogar auf 9 Monate herabsezen, damit eine in der Stadt zu Schaden gekommene Unschuld vom Lande ihren Unter- Lidungawobnsth in der Stadt findet und nicht auf dem Lande. Bedenklih ist uns die Ordnung, die der § 29 vorsieht. Die Krankenlast für die ersten 13 Wochen bestebt ja hon, sie wird nur auf 26 Wocßen ausgedehnt. Es ift dies bloß die Konsequenz eines Prinzips, das seit 1894 {hon feststeht. Die größten Bedenken haben wir gegen die Herabseßung von 18 auf 16 Jahre und gegen die Ver- kürzung der Frist auf 1 Fahr. Wäre dieser Vorschlag eine Forde- rung der Gerechtigkeit und Billigkeit, fo wire meine Partei die leßte, die sich dagegen sträubte. Dieser N2weis ist aber niht erbracht worden. Die Motive spreckŒen von der Landfluht. Daß eine sole in gewissem Sinne vorhanden ist, läßt si nicht leugnen. Es wäre aber für einen Geseßzgeburgskünstler viel rihtiger, zu versuchen, die Gründe, die zu dieser Landfluht führen, zu beseitigen, anstatt ledigli die Folgen zu kurieren. Der Staattsekretär hat selbst nicht geleugnet, daß es fih hier um eine durhaus azrarische Maßregel handelt. Es ist bisher immer die Kunst der Agrarier gewesen, Verpflichtungen, die ihnen oblagen, auf andere abzuwälzen, und wenn der Staats}ekretär von der Vorlage als einer „agrarishen“ |priht, sind wir schon aus diesem Grunde von Mißtrauen gegen sie erfüllt. Wir bestreiten aber auch, daß, wie die Motive erklären, heute die industrielle Gntwicklung dahin geführt habe, daß die wirtschaftlihe Selb- ständigkeit des Arteiters niht mehr wie 1894 mit dem 18., sondern jeßt bereits mit dem 16. Jahre erreiht werde; wir vermögen nit einzusehen, welche Wandlungen in diesen 12 Jahren eingetreten fein sollen, um eine solhe Verschiebung zu rechtfertigen. Die Motive treten einen weiteren Beweis dafür auch in keiner Weise an. Daß die Armenlast stellenweise drückender geworden ift, geben wir zu, es hâtte sich aber da dur anderweit: Verteilung, dur Schaffung größerer Verbände Abhilfe hafen lassen. Den Städten können wir zu Gunsten des platten Landes diese neue Armenlast nur auf- erlegen, wenn uns nahgewiesen ift, daß die St:igerung der Armen- last auch die Folge der Abwanderungen ist. Wenn der Graf Posadowéky das Beispiel anführt von dem Manne, der in ein:r Großstadt heiratet, aber noch in einer kleinen Landgemeinde seinen Unter- stüßungswohnsiß hat, dann stirbt und nun der leßteren die Fürsorge für seine Frau und Kinder hinterläßt, die ibrerseits diese Ge- meinde nit gesehen haben, so kommt der umgekfehrte Fall auh rehi bâufig vor. Wic werden in der Kommission ohne Voreipgenommen- heit an der Beratung der Vorlage mitwirken und dazu bei- ¿zutragen suchen, daß etwas Befriedigendes zu stande kommt.

Stellvertreter des Reichskanzlers, Staatssekretär des Innern, Staatsminister Dr. Graf von Posadowsky-Wehner:

Meine Herren! die Vorlage wird fortgeseßt als eine agrarishe bezeihnet; ih halte das für völlig verfehlt und nicht für zulässig, den Begriff „agrarish“ in seiner engeren Bedeutung allgemein mit dem Begriff des platten Landes zu verwechseln. Bei dieser Vorlage handelt es sih nicht nur um speziell agrarische Interefsen, sondern um Interessen außerhalb der großen Städte, um die Interessen an der kleinen und mittleren Städte, die mit dem Agrariertum gar nichts zu tun haben, die aber aufs s{chwerste darunter leiden, wenn cs den Landbewohnern \{lecht geht, weil sie unmittelbar auf den Woblftand tes platten Landes angewiesen sind. Der Rückgang, die Verödung der kleinen Städte, wie ih es in meiner lezten Rede tarftellte, ist aber

zum großen Teil die Folge der meines Erachtens durbaus unzu- -

treffenden Verteilung der Steuerlast und vor allen Dingen der Armenlaften. Außerdem, meine Herren, kann man do nicht alles dadur als unberechtigt darstellen, daß man €s eagrarish* nennt; ebenso gut wie die Industcie ihre berechtigten Forderungen gegenüber der Stagis- gesezgebung hat, haben auch die Agrarier ihre bercchtigten Forde- rungen. Eine jede Forderung eines so gewaltigen Erwerbszweiges, wie die Lantwirtschaft es “ist, die dech noch immer sehr erhebliche Teile unserer Bevölkerung beschäftigt, die so wichtig ist für das W: hl des ganzen Staats und Reichs, kann man doch nicht dadur, daß man sie mit dem S{lagwort „agrarisch“ bezeihnet, als eine unbegründete darftellen! (Sehr richtig! rets.)

Meine Herren, es ist hier auf die Frage der Armeng:segebung von Elsaß-Lothringen eingegangen. Bisher wurde bekannilih die Armenpflege in Elsaß-Lothringen ledigli (aritativ gewähri. Jo einem so wohlhabenden Lande, das tamals vor der Okkupation ziemlih von dem großen Verkehr abgeshlofsea war, das damals auch verhältnismäßig nur wenige Kommunikationtmittel hatte, mohie cine folhe Auëübung der Armeapflege möglich und ausreihend sein ; aber schon nit lange nah der deutshen Ofkkupation zeigte es sich infolge des Verkehrs, der sh zwishean dem alten Deutschland und Elsaß-Lothringen entwickelte, insbesondere infolge des Verkehrs der Arbeiter nach dorthin, in Verbindung mit den großen Bahnbauten, die man zum Teil aus strategischem Interesse ausführte, daß diese charitative Armerpflege den veränderten Ver- hältnissen nicht mehr genügt. Die elsaß-lothringishe Regierung {loß daher mit Preußen und einer Anzahl süddeutsher Staaten Ver- träge ab, in denen sie sich verpflihtete, Personen, die 5 Jahre in Elsaß Lothringen ihren Aufenthalt gehabt hatten, niht mehr aus- zuweisen, sondern für sie im Wege der Armenpflege sorgen zu lassen. Aber auch dieser Ausweg kann kein ausreihender und auf die Daner befriedigender sein, und ih kann Ihnen mitteilcn, daß man in Elsaß-Lothringen sehr ernst damit umgeht, diefen Zustand

der Dinge zu ändern. Der Herr Statthalter von Elfaß- Lothringen

hat bei der Eröffnung des Landesaus‘chufses am 26. Januar erklärt :

(S&luß in der Zweiten Beilage.)

einer ofitgier der-

und eine Erleichtecung in dieser Richtung.

Zweite Beilage zum Deutschen Reichsanzeiger und Königlih Preußischen Staatsanzeiger.

M 26. Berlin, Dienstag, den 30. Januar 1906.

(Sé&hluß aus der Ersten Beilage.) des Abschieb-ns von Leuten, die in Gefahr der Armenpflege sind,

würde man damit nicht wirksam begegnen.

Ich kann das hohe Haus deshalb nur dringend bitten, recht bald in die Beratung dieses wihtigen Gesetzentwurfs einzutreten. Weitere Erklärungen behalte ih mir für die Kommission vor. (Bravo !)

Abg. Sh rader (fr. Vgg.): Die erste Nede des Staatssekcetärs hat nur den Eindruck verstärkt, daß das Geseß dem Schutze der not- leidenden Landwirtschaft dient. Unser Landarbeiter ist und bleibt Tage- löhner, er kann nichts anderes auf dem Lande erreichen, er kann feinen Besiß erwerben. In Frankreich liegen die Verhältnisse anders, wo Leute, die in Amt und Würden gestanden haben, sich auf das Land zurüZziehen, um dort ihre Tage zu beschließen. WelÞes Recht haben wir, den länd- lichen Staatsbürger zu zwingen, daß er an die Sholle gefesselt bleibt ?

Korrektionsanstalt in die andere zu gehen, und es gibt auch Personen, die sih absihtlih der Verpflichtung entziehen, ihre Familie zu unter- halten. Da muß eine Instanz sein, die näher ift wie die allgemeine Staatêverwaltung, wenn auch ein Gesamtarmenverband gebildet wird, kurz eine Instanz, die diese Leute rehtzeitig erkennt und die demgemäß sofort energish einshreitet. Wenn der gesamte Staat die finanzielle Last der Armenpflege tragen sollte und keine Lokalinstanz mit der persönlichen Verantwortung auch die finanzielle Verantwortung für die getroffenen Maßnahmen zu tragen hätte, würden, fürchte ih, die Armenlasten ins NRiesengroße wachsen und einen fehr \{ädlihen Ein- fluß auf unsere Bevölkerung ausüben.

Die seit längerer Zeit in der Armenfürsorge hervorgetretenen Uebelstände lassen zeitgemäße Reformen auf“ diesem wichtigen Ge- biete der sozialen Fürsorge dringend geboten ecscheinen. Der vom LandesaussGuß am 4. Mai 1904 geshlossenen Resolution ent- sprehend, wird Ihnen zunächst eine Denkschrift vorgelegt werden, welhe neben einer Darlegung der dermalig wenig befriedigenden" Lage des Armenwesens Vorschläge über die in Aussicht zu nehmenden Maßnahmen enthält.

Sie sehen also, meine Herten, die Frage ist im Flusse. Meines Er-

ahtens wäre das einzig Richtige, das deuts? Reichsgesey über den Meine Verren, es ist mir vorge en as He Rede, die ih | Wir haben jet die Freizügigkeit, und deshalb will man bier Unterstüßungswohnsiß auch in Elsaß-Lothringen einzuführen. (Sehr | gehalten habe zur Unterstüßung dieses Geseßes, sei vorzugsweise wenigstens indirekt einen großen Teil unserer Bevölkerung richtig) Was die Verhältnisse in MSaborni betrifft, so handelt es sich | agrarisch gewesen, weil ich betont habe, wie wichtig es ist, dafür zu | zwingen, unter ungünstigen Verhältnissen längere Zeit auf dem

Lande zu bleiben. Will man die Freude am Lande behalten,

hier um ein Reservatrecht, ein Reservatrecht, auf dessen- Zugeständnis | sorgen, daß das plane cany E 2 E aar so gestalte man die Verhältnisse dort so, daß die Leute keinn das Deutshe Reih mit begründet ist, Jch bin deshalb | sucht infolge Ueberbürdung mi O Und M Drang mehr empfinden, fortzugeben. Burns wollte etwas niht in der “Lage, mich zu dieser Frage weiter zu äußern. | an Entvölkerung infolge Abwanderung der arbeitéfähigen | ganz anderes, er will vor allem, daß auf dem Lande kleine länd- x éinem Dex Kräfte leide. Jh kann für meine Auffassung einen | lihe Besißungen entstehen, die dem Arkeiter belfen können, und

Von Herren Vorredner ist behauptet worden,

z . i; : 7 von einer Unterstükung des Großgrundbesitzes ist gar feine Rede. in den großen Städten wären die Armenlasten erhebliG höber Ang bg 118 d

ü ¡ellei ner der fozial- Ier ur grundD + ti Zeugen anführen, den vielleicht au der Herr Red Ne, Jopal Berechtigte Forderungen d?r Landwirtschaft wird jeder von uns gern

demokratishen Partei anerkennt. . Der englische Arbeiterführer Burns,

wie in Ostpreußen. Eine solche Behauptung kann aber y 0A 1E : j 2 L gewähren, aber bei den Agrariern bestehen daneben sehr viel un- tatsählich kaum begründet werden. Eire dur\{nittliße Armenlast | der jeßt Mitglied der englischen Regierung ist, hat erklärt, er wünsche berechtigte Forderungen. Das Unterstüßung8wohnsißggeses bedarf von Oftpreußen kann man überhaupt nicht feststellen, sondern jeder | „tÉleinere Städte und größere Dörfer“. Das ist ganz derselbe | einer vollständigen Revision, während man hier nur einzelne

Punkte zu Gunsten der Agrarier vors{lägt. Zur wirklihen Er- leihterung der Armenlasten für die kleineren Gemeinden bleibt nibts übrig, als der Weg einer größeren Nov?lle. Die Aufgabe ift, die Leistungs- fähigkeit der Gemeinden für die Armenlasten zu berücksihtigen und

Standpunkt, den ih versuht habe, in meiner leßten Rede zu vertreten. Es ift hier auch ein Fall angeführt worden, daß angeblich auf der Besitzung eines deutschen Fürsten eine Frau, deren Mann 40 Jahre

Armenverband hat seine besondere Armenlast. Es mag in Ostpreußen ein paar Städte geben, wo infolge besonderer Verhältnisse, günstiger

Erwerbsverhältnisse, einer frengen Armenpolizei usw. die Armenlasten j h s E 4 i 1 n für die nla er igen __ niedrig n A im großen Bua find E Ost- und West- | im Dienste dieses Fürsten gestanden hat, mit einer täglichen Armen- | für gewisse Fälle die subsidiäre Haftung größerer Verbände preußen in der Provinz Posen und auch zum Teil in St(hlesien die | unterstüßung von 18 - abgefunden worden sei. Jch werde mir an- | oder des Ganzen darüber zu stellen. Der Staatssekretär gibt zu,

, daß das Geseg auch in Elsaß - Lothringen eingeführt werden

gelegen sein lafsen, die tatsählichen Grundlagen dieses Falles zu er- mitteln. Aber ih möchte den Herrn Vorredner, der dieses Beispiel angeführt hat, doch fragen, ob er auch festgestellt hat, ob die Frau neben dieser baren Unterstüßung niht noch freie Wohnung erhält, ob sie nicht noch mit Naturalien unterstüßt wird, und ob diese 18 die Gefamtunterstüßung sind, die sie beklommt. Bei allen diesen Fällen, die mit den ländlihen Arbeitern zusammenhängen, liebt man es, immer nur die Barzahlung anzuführen (sehr rihtig! rets) und vollständig zu vergessen, welher Wert in der Gewährung freien Landes, in der Gewährung freier Wohnung und freier Naturalien liegt. (Sehr richtig! rechts.) Erst wenn Sie das alles zusammenrehnen, und wenn Sie die Naturalien nah ihrem wirklichen Werte einsetzen, bekommen Sie ein zutreffer.des Bild von den wirk-

müßte. Als aber die Rede auf Bayern und sein Neservatrecht kam, wehrte der Staatssekretär mit beiden Händen ab. Diese Ifolierung Bayerns is niht mehr mözlich. Es liegt doch nicht _in einem anderen Weltteil, sondern mitten in Deutshland, urd gewisse Gebiete Bayerns gehören zu den industriell entwickeltsten des ganzen Reiches. Auch die alte Heimatsgesezgebung Bayerns muß von Grund aus um- gestaltet werden. Nichts ist einer \olhen allgemeinen Regelung ab- trägliher, als wenn man hier einige Punkte herausgreift. Wenn wir aber die allgemeine Revision wollen, brauen wir die Beratung nicht zu überhasten. Wir haben {hon 200 Mitglieder in Kommissionen. Diese müssen erst ihre Arbeiten fördern, daß sie bis Ostern fertig sind, dann können wir uns hierum kümmern.

Abg. Schi ckert (kons.): Ich habe die Arbeiter nit an die Sholle binden wollen, \fondern im Gegenteil gesagt, daß mir eine solche Ab- sicht durchaus fern liege. Es ist auch nit in seiner Allgemeinheit richtig. daß die Tagelöhner abwandern, weil sie im Osten nit die Möglichkeit haben, ih anzusiedeln. Was wir erreichen wollen, ift nur eine gerechtere Verteilung der Armenlasten.

Nach einer persönlihen Bemerkung des Abg. Herzfeld wird darauf auf Vorschlag des Abg. Singer die Vorlage

Armenlaften von ershreckender Höße in den einzelnen Gemeinden ; ähnlihe Verhältnisse bestehen auch im industriellen Westen. Weil aber die Gemeinden, wo eine besonders starke Abwanderung stattfindet und diese Abwanderung erstreckt \ich auf ganze Gegenden, weil das Abwandern nah den Städten ebenfo wie die Auswanderung über See häufig ansteckend wirkt —, unverbältnismäßig hohe Armenlasten zu tragen haben, muß geseßlihe Abhilfe geshafen werden. Es ist auch gegen mein Beispiel bezüglih der Verteilung der Armenlast zwischen den Vororten und den Arbeitergemeinden ein- gewendet worden, ja, die Arbeiter, die des Abends mit den modernen Verkehrsmitteln nach ihren Wohnungsgemeinden von den Arbeits- gemeinden zurüdckfehren, wären ja alle versiherungspflihtig nah dem Inbalidenversicherungsgeseß und könnten deshalb der Armenpflege gar y i niht anheimfallen. Das is ein großer Irrtum; denn erstens | lichen Leistungen.

steht es fest, daß die Entlastung, die man von unserer sozialen Gesetz- Es ist auch getadelt worden,

g ir die Armengemeinden erwartet kat, keineswegs in dem | unterstüßungsbedürftig werden, ausweist. ; gebung für die Armeng Ë g Erstens möchte ih mir erlauben,

daß man Auskänder, die Ia, ist es denn mögli,

warteten Maße eingetreten ist, aus dem Grunde, weil | einen anderen Weg zu gehen? L l O L es l E A inzwischen E die “vine vedenthiltuna der Arbeiter ge- | daran zu erinnein, daß es Länder gibt mit verhältnismäßig | einer Kommission von 21 Mitgliedern überwiesen. ) hoben, gerade durch die soziale Gesezgebung auch gehoben | niedriger staatliher Kultur, wo eine eigentlihe Armenpflege in Es folgt die erste Beratung des Geseßentwurfs, be-

treffend die Hilfskassen.

Abg. Giesberts (Zentr.): Die Vorlage will den sogenannten Schwindelkrankenkassen zuleibe gehen und dafür sorgen, daß die gut gemeinten Gründungen auf dem Gebiete des Hilfskassenwesens auf eine gesunde finanzielle Basis geftellt werden. Damit könnte man einverstanden sein: Aber der Weg, den die Vorlage einshlägt, scheint uns doch außerordentlich tedenklih, und die Form, in der fie vor- gelegt ist, überhaupt nit akieptabel. Es ist auffällig, weshalb man aus der Fülle der Versicherungsträger so ohne weiteres die freien Hilfskassen berausgegriffen hat und sie gewissermaßen mit einem Federstrih beseitigen will. Die freien Hilfskassen haben sih bis jeßt doch ganz gut bewährt. Sie empfinden selbst diese Art des Vor- gehens als eine Art Ausnahmegesetz gegen sie, als einen Schlag gegen ihre Selbständigkeit. Das hat denn auch der Kongreß der freien Hilfskafsen ganz deutlich zu erkennen gegeben. In seiner Resolution bekennt er sich als einen entschiedenen Gegner jeder Schwindelkasse und erklärt sih bereit, an deren Bekämpfung mit zu arbeiten. Es wird ferner gesagt, daß die Unterstellung der freien Hilfskafsen unter das Privatversicherungsaufsichtsamt gleihbedeutend fein würde mit der Hinwirkung auf die Beseitigung dieser Hilfskaffen

unserem Sinne gar niht vorhanden is oder nur in einem ganz minimalen Umfange, wo auh fkeine fozialpolitishe Geseßgebung besteht. Welchen ungeheuern Gefahren würde das Deutsche Reich und würden die deutschen Einzelstaaten ausgesezt sein, wenn man wüßte, alle Bedürftigen, die nah Deutschland kommen, können dort niht ausgewiesen werden. (Sehr wahr! rechts.) Wir würden dann geradezu der Sammelpunkt für alle verarmten oder zweifelhaften Elemente aus ganz Europa werden. (Sehr rihtig! rechts.) Sehen Sie doch einmal nach England hin, was uns als Muster so oft angepriesen wird; dort hat man jeßt die sogenannte Alienbill angenommen, weil England in Gefahr war und namentli London, daß zweifelhafte, hilfsbedürftige, ja verbrecerische Elemente aus der ganzen Welt nah dort gingen, weil England als ein alter Freihort für alle Einwandernden galt, und die Zu- stände sich so vershlimmert hatten, daß das englische Parlament mit großer Majorität diese Alien-Bill annahm, die der englishen Re- gierung die Möglichkeit gab, paupers fern zu halten. überhaupt, sie würden damit den anderen Kassen gegenüber in e A ee E S es gegen die Auswanderung übt. (Sehr rihtig!) Fortgeseßt werden uns daß sih auch die interessierten Arbeiter gegen die Vorlage erklärt Leute aus Amerika zurückgeschoben, entweder weil sie mit ansteckenden | haben. In der Unterstelung unter das Aufsihtsamt erblickt Krankheiten behaftet sind, oder weil sie arbeitéunfähig sind, oder weil | man ein Präludium für die künftige Vernihtung der Selbit-

N s ; ; verwaltung der Krankenkassen. Ob das beabsichtigt ist, will ih sie Verbrecher oder vorbestrafte Leute sind usw. Bei der Landung in g Die Reform - des Franleabertbberiaivotean

hat, und weil gleihzeitig auch die Ansprüche an die Armen- pflege wesentlich gewahsen sind. Die Fälle sind deshalb fehr zahl- reih, wo neben den Leistungen der \ozialpolitishen Gesetzgebung für einen Mann, der eine besonders große Familie hat, der vorübergehend arbeitslos ist, noch die Acmenpflege in Anspruch genommen wird. Meine Herren, von dem, was der von mir hohverehrte Herr von Meyer (Arnêwa!de), der ein hervorragender praktis@er Verwaltungsbeamter war, seinerzeit über das System des Abschiebens gesagt hat, untersreibe ih jedes Wort; es isst eine der traurigsten und verwerflihsten Er- sheinungen, dieses System mancher Armengemeinden, daß fie, sobald sie glauben, daß ihnen ein Einwohner zur Last fallen kann, ihn ab- zushieben suhen. Was ist die Folge? Man erzeugt dadurch Land- streiher. (Sehr richtig!) Mir find aus der unmittelbarsten Praxis in meinem früheren Leben Fälle bekannt, in denen Leute, die z. B. an einer unangenehmen oder abshreckenden Krankheit litten, von Gemeinde zu Gemeinde, von Armenverband zu Armenverband, von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle getrieben wurden, weil jede Armengemeinde, wenn sie ein Arbeitsherr annahm, fürchtete, daß die Leute der Armenpflege der Gemeinde dauernd zur Last fallen könnten. Solche Leute werden dann entlassen, es wird wohl auch auf die einzelnen Arbeitgeber ein Druck ausgeübt, und so werden die unglücklihen Menschen \{chließlich Vagabunden und kommen aus einem Korrektionshaus in das andere

¿ ; : : : y ; - e j iht behaupten. ( wegen Vagabondag-. Dagegen gibt es nur ein Mittel, und das sehe ich | Amerika wird in New York die allershärfste Kontrolle über liegt G eal in der Luft. Es fragt si, weshalb man nun allerdings auc darin, daß in den Einzelstaaten die Armengeseßgebung | Einwanderer geübt, weil Amerika auch niht Lust hat, \chließ- gerade die freien Hilfskassen dem Aufsichtsamt unterstellen will ; es dahin verändert werden muß, daß man Gefamtarmenverbände bilden | lich das Refugium aller zweifelhaften Elemente der alten E a t ewt A NN, N E P dad fann für größere Bezirke. Nah dem preußischen Ausführungsgeseß | Welt zu sein. Also, meine Herren, eine solhe Gesetz- fassen. Es fällt v lge n A, Menschen ein, sie dem Aufsihtsamte zu

gebung, wie sie hier gefordert ist, würde, fürchte ih, für unser Vater- land recht bedenklih werden.

Sqließlih möchte ich mir noch eine Bemerkung erlauben- Der Gesichtspunkt, daß man, um das Abschieben zu vermeiden!

unterstellen, Warum versuht man nicht eine Reform des Hilfskassen- wesens selbst? Die Hilfskafsen würden gern bereit sein, mitzu- arbeiten, um den Schwindel zu bekämpfen, an dessen Beseitigung sie selbst das größte Interesse haben. Wir werden darum in der Kom- mission versuchen, auf dem Boden des Hilfskassengesezes diejenigen

können Gesamtarmenverbände zwar {hon jeßt gebildet werden. Jh wünschte aber dringend, daß man in den Einzelstaaten die Ausführungs- geseße dahin abänderte, daß durch Beschluß der höheren Verwaltungs- behörden zwangsweise Gesamtarmenverbändz gebildet weiden können.

Gegen diese Verfügung wäre vielleicht ein Berwaltungöstreitverfahren | eine gesegliche Bestimmung erläßt, wona Personen, die das | Maßregeln ju treffen, die notwendig erscheinen. Es fragt fi, ob zuzulassen. Dann würden folche Zustände, wie das Abschieben von | 60. Lebensjahr überschritten haben, keinen eigentlihen. Unter- | durch die Unterstellung der Hilfskaffen unter das Nu Gttoenr, die

tatsächlihen Mißstände überhaupt beseitigt werden können. ( trolle für kleine lokale Bezirke müßte ja do obnehin von den ört- lichen Instanzen ausgeübt werden. So eilig war die Sache ließli doch niht; man hâtte ganz ruhig warten können, bis die Reform des Krankenversicherungêwesens von selbft gekommen wäre. Man hat beinabe die Furcht, daß in den nähsten Jahren an eine Reform des Krankenversiherungswesens niht herangegangen wird, wenn erft diefe Vorlage Geseß geworden ist. Wan befürchtet, daß das Aufsidts- amt den OHilfskassen Bedingungen stellen wird, unter denen ihre Existenz auf der bisherigen Grundlage einfach unmöglich sein würde. Die freien Hilfskassen befürhten gewissermaßen Ausnahme- bestimmungen für sie. Man sollte doch solche historisch gewordene Institution ahten und nicht unnötig durch ein solches Geseh er- \{chweren. Sollten sich Mängel herausgestellt haben, so kann man

Arbeitern von einem Ort zum andern, wie das Herr von Meyer (Arns- walde) treffend dargestellt hat, wahrscheinlich sofort aufhören, und außerdem bin ich überzeugt, daß, wenn infolge der Verbindung der Gemeinden zu Gesamtarmenverbänden ausreihende Krankenhäuser, Waisenhäuser usw. für größere Bezirke gegründet würden, auch die Armenpflege nicht verteuert, wohl aber in einer erheblich besseren und menshenwürdigeren Weise gewährt werden würde. (Sehr richtig ! links.)

Den Gedanken, die Armenlasten auf Staatétkosten zu übernehmen, vird allerdings jede der verbündeten Negierungen weit von sih weisen. In dieser Beziehung haben wir Erfahrungen gemaht auf dem

stüßungswohnsiß mehr erwerben sfollen, wird si, glaube ih, ge- seßlich s{chwer realisieren lassen. Ein ähnliher Vorschlag ist {hon bei einer früheren Reform des Armengeseßes gemacht und von der Ne- gierung zurückgewiesen worden. Ich frage Sie: was soll aus einem Manne werden, der das 60. Lebensjahr überschritten hat und keinen eigentlihen Unterstüßungs8wohnsiß mehr erwerben kann ? Wem soll er zur Last fallen? Soll er dauernd der Gemeinde zur Last fallen, wo er den leßten Unterstützungswohnsißz er- halten hat, oder soll er allgemein Landarmer werden? Ich glaube, es ist rihtiger und entspriht der ganzen Konstruktion des Gesetzes, daß da, wo ein Mensch seinen Aufenthalt hat, und wo er die nötige

; ; A ; ; ; Ï N L j iner Neform unserer Versicherung8geseßgebung beseitigen. Gebiet der sozialpolitishen Gesetzgebung ; je weiter die | Zeit gewohnt hat, er au den neuen Unterstüßung8wohnsiy erwerben kann sie ja bei einer i ] s Fe Y ; c A ; ; ; ; Î ; e ie Betriebtkassen weiter bestehen, darf man die Stelle ist, die \{ließlich zahlen muß, desto größer werden Würde man eine Bestimmung in dem Sinne erlassen, daß ein Silara ane et î E olen E v6 beinzen. U Me

Sechzigjähriger keinen selbständigen Unterstüßungswohnsig mebr er- werben kann, so würde man nur die Grenze des Abshiebens nah unten verlegen. Dann würden die Leute eben hon mit 58 Jahren abges{hoben werden, weil sich jede Gemeinde sagen wird: wenn er bei

Mittel genug, um den s{limmsten Mißständen auf dem Gebiete der Shwindelkassen entgegenzutreten. Vielleiht könnte auf Grund des Betrugsparagraphen des Strafgeseßbuhs eingegriffen werden. Es ift fraglich, ob die Begründung der Vorlage geeignetes Material zur Beurteilung der Frage bietet. Wir hätten gewünscht, die Ne-

unter Umständen die Ansprüche an die finanzielle Kraft des endgültig Verpflichteten. (Sehr richtig!) Sie dürfen auch niht alle Armen für Tugendengel halten! Es gibt Leute, die auf Armenpflege völlig \tudieren, ebenso wie es Leute gibt, die auf Nente studieren. Das ift

unzweifelhaft und aktenmäßig festgestellt ; es gibt Leute, die nicht arbeiten | uns den letzten Unterstütunzswohnsiß hat, werden wir ihn gierung hätte uns eine Uebersicht gegeben über die gerihtlihen Urteile wollen, die es für viel billiger und angenehmer halten, von einem Armen- | ewig zur Last behalten. Es wird also die Frage des Ab- | über die Schwindelkassen und deren Manipulationen. Eine folche bureau zum andern, von einem Armenhaus ins andere, von einer ! shiebens nur nach unten verlegt. Aber dem Mißbrauh |! Zusammenstellung würde hon allein abshreckend gewirkt und das