1906 / 45 p. 7 (Deutscher Reichsanzeiger, Wed, 21 Feb 1906 18:00:01 GMT) scan diff

Ueber die Petition beschließt das Haus nah dem Kom- missionsantrage. Die Forderung wird bewilligt, desgleichen die Einnahmen ohne Debatte. i

Damit ist der Etat des Reichsamts des Jnnern erledigt.

Der Etat des Rechnungshofes wird ohne Debatte un-

verändert angenommen. A

Es folgt der Etat der Reichs justizverwaltung.

Beim ersten Ausgabetitel: „Staatssekretärgehalt“ bemerkt der

Abg. Bassermann (nl.): Der Reichstag hat 1896 einen Antrag meiner Partei angenommen, der eine Sicherung der Bauhand- werker enthielt. Die Frage des Schuyes der Bauhandwerker und Arbeiter ift sehr alt. Jede auffteigende Konjunktur ruft eine große Menge von Neubauten hervor. Geht alles gut, so kommen die Handwerker und Arbeiter zu ihrem Gelde, komwen aber die Unter- nehmer ins Gedränge, so kommen die Handwerker und Arbeiter um cinen Teil ihrer Forderungen. Der Abg. Schroeder - Cassel hat im preußishen Abgeordnetenhause diefe ißstäânde auf Grund der Erfahrvagen in Cassel sehr interessant geschildert. Es sind dort viele Neubauten errihtet worden, und viele fleißige Hand- werkerfamilien sind um den Preis ihrer Arbeit gebracht worden. Der Bauschwindel nimmt oft einen weiten Umfang an. Fch follte meinen, die Maierie ist hinreichend geklärt, und es liegt ein Verlangen des deutschen Handwerks vor, das nicht länger zurüd- gewiesen werden sollte; ich_ hoffe auch, daß ein brauhbares Gefeß zustande kommen wird. - Eine weitere Frage, die ebenfalls im preußischen Landtage ventiliert wurde, ist die der Einbringung einer neuen lex Heinze. Ih möchte dem dringend widerraten; die Dinge, die Gh bei der ersten lex Heinze im Reichstage abgespielt haben, lassen eine Wiederholung niht ratsam erscheinen. Der preußische Justizminister sheint auch zu meinen, daß die bestehenden Gesetze ausreihen, wenn sie strenger zur Anwendung gebracht werden. Das wünschen auch wir. Manche der kleinen Wit- u}w. Blätter, die zu diesem Verlangen Anlaß gegeben haben, befinden sich do tatsäch- lih in einer Verfassung, die es bedenklih erscheinen lassen muß, wenn sie den Kindern in die Hände fallen. Bei den Gerichten ist manches in letzter Zeit versäumt worden; es find Freisprehungen erfolgt, die der gesunde Menschenverstand niht faßt. Daß man zur Definition des Begriffs „unzüchtig* besondere Sachverständige heranzieht, ist mir unverständlih. Das muß doch der Richter allein entscheiden können. Aber wie gesagt, die bestehenden Geseße reihen aus. Die Einführung des Bürgerlichen Geseßbuhs in Deutschland hat sich überrashend schnell und leiht vollzogen; es werden jeßt Kräfte frei für die Reform der bestehenden Gesetzgebung, und reform- bedürftig find ebenso die Straf-, wie die Zivilprozeßordnung. Ueber die lange Dauer der Prozesse und über die hohen Kosten ist eine große Unzufriedenheit in das Volk eingezogen. Auch der neue preußishe Justizminister sheint das zuzugeben. Die notwendige Reform muß ausgehen von der Erweiterung der Zuständigkeit unserer Amtsgerichte; der Einzelrihter verdient in vollem Maße das Ver- trauen, das eine solche Erweiterung seiner Zuständigkeit E Als eines der Argumente kommt für diese Forderung auch die Er- sparung der Anwaltskosten in Betracht. Das Hauptargument gegen diese Forderung, die Frage, ob dann noch die kleineren Landgerichte lebensfähig bleiben würden, ist deswegen nit durchs{lagend, weil den Landgerihten auch die Menge der Berufungen gegen die Erkenntnisse der erweiterten Amtsgerichte zufallen muß. Ein großer Mißstand des heutigen Verfahrens, den jeder Jurist einräumen muß, den aber auch die Parteien anerkennen, ist der, daß die Vernehmung jedes Zeugen, der niht am Orte wohnt, durch Requifition erfolgen muß. Alle diese Umstände haben die Unzufriedenheit mit unserem Zivilprozeß und den Ruf nah Stande8gerichten erzeugt. Wir haben ja {on Gewerbegerichte, und im großen und ganzen is ihre Recht- \prehung eine gute, nur daß die Arbeitgeber aufpafsen müssen, daß nicht zu viel Sozialdemokraten in diese Gerichte gelangen. Ebenso sind die. Handlungsgehilfen mit den neuen i V edie erihten sehr wohl zufrieden. Auch die Handwerker beschweren fich über die Verzögerung der Prozesse und möchten eigene Ge- rihte haben; es ist uns auch eine Petition mit dieser Tendenz zugegangen, die von der Ueberbürdung der jeßigen Gerichte und von der Unvertrautheit der Richter mit dem Material ausgeht. Ich möchte dieser Forderung niht das Wort reden; vielleicht könnten die Kammern für Handelssachen nach dieser Nichtung erweitert werden. Dieselben Beschwerden über Vershleppung und Verteuerung sehen wir auf dem Gebiete des Konkursverfahrens; es wird verlangt, das Zwangs- vergleihsverfahren zu erleihtern, ein Einigungsverfahren zwischen dem Schuldner und seinen Gläubigern ohne gerihtlihe Mitwirkung herbei-

zuführen, wie es in einer großen Anzahl europäischer Staaten besteht.

Unzweifelhaft hätte eine solche Ausdehnung des außergerichtlichen Zwangsvergleihs ihre großen Vorzüge; die Abfindung stellt fich jedenfalls bei dem Zwangsvergleih für die Gläubiger günstiger als beim Konkurse. Es möchte also richtig scheinen, dieser Frage näher zu treten und uns zunächst einmal eine Denkschrift über die Frage zugehen zu lafsen. Die Vorarbeiten im Reichsjustizamt über die Reform des Strafrechts sind ja {hon vorgeschritten. Die Materien sind unter die Gelehrten verteilt, bis zur Vollendung der Vorarbeiten werden aber noch Jahre vergehen, und dann werden die eigentlichen Schwierigkeiten erst beginnen. Die Arbeit ist an und für sih {hon s{hwieriger als selbs das Bürgerlihe Geseßbuh, weil hier mehr politische Gesichtspunkte in den Vordergrund treten. Einige Materien sind auch tats|ählich jeßt {hon reif. Es ist unrecht, daß es unmödg- lich ist, bei einem Diebstahl nach der Lage des Falles auch auf Geldstrafe zu erkennen; es sind eine Reibe krasser Fälle bekannt geworden; dasfelbe gilt von dem Diebstahl im Nükfalle. Ob nit gegen diesen krassen Mißstand gesondert vorgegangen werden soll, follte baldigst erwogen werden. Bei jeder Kleinigkeit werden alle Strafen verlesen. Auch hier müßte eine Reform und eine Ver- jährungsfrist eingeführt werden. Ueber die Reformbedürftigkeit der Bestrafung Jugendlicher war sih_der Juristentag in Innsbruck einig. Es follte nur eine beschränkte Oeffentlichkeit bei solhen Verhand- lungen zugelaffen werden, nur die Eltern oder Vormünder, nicht die jugendlihen Genossen sollten zugelaffen werden. Vielleiht könnte ein besonderer Richter mit der Behandlung dieser Fälle betraut werden. Die Vorarbeiten der Kommission des MNReichs- justizamts über die neue Strafprozeßordnung sind ja sehr angegriffen worden. Die Hauptergebnisse der Beratung gehen dahin, daß die Beteiligung der Laien bei der Rech!sprehung in allen Instanzen durchgeführt werden foll, und daß die Berufung eingeführt werden foll gegen Urteile eines jeden Strafrichters. Die Kommission ist der Ansiht, daß die Beteiligung der Laien das Ver- trauen zu der Rehtsprehung erhöhen würde. Ueber die Beschlüsse der Kommission im einzelnen läßt ih ja streiten, insbesondere über die Abstufung der Schöffengerichte usw.: im großen und' ganzen wird man sich den Fortschritten, die in den Beschlüssen der Kommission liegen, nicht verschließen. Jn der Presse wünscht man auch einen besseren Schuß der Zeugen und die Beseitigung des Zeugniszwanges der Presse. Cine überwältigende Mehrheit dieses Hauses hat sh {on für die Beseitigung dieses Zeugniszwanges ausgesprohen. Nun ein Wort über die Schwurgerichte. Die erwähnte Kommission hat si einstimmig für deten Beseitigung erklärt. Es wundert mi, daß die Sozialdemokraten sich fo \charf für die Schwur- erihte ins Zeug legen nah dem bekannten Löbtauer Prozeß. X möchte au auf den bekannten Prozeß in Altona hinweisen, wo 4 Burschen freigesprohen wurden, die ein Mädchen vergewaltigt hatten. Ein ähnlicher Fall ist in Dortmund passiert. Treitshke wies darauf hin, daß Geshworene Sozialdemokraten gegenüber leiht zu {wer urteilen könnten; Laien, die für ihre Geldbeutel zitterten, seien Partei gegen die Sozialdemokraten. Die Shwurgerichte haben gewiß ihre Vorzüge, aber auch ihre Nachteile. Ver- urteilungen oder Freisprehungen sind ja nicht immer ein Glüdsspiel, aber es reiht oft daran heran. Die Ge- \{worenen werden - ausgelost, und der Obmann if der Leit- hammel, dem die anderen folgen. Ein Staatsanwalt sagte ein- mal, ein alter pensionierter Oberst is mir der liebste, die Kaufleute haben ein weites Gewissen. Die Lust unseres Bürger-

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iums, als Geshworene iten, is sehr gering. Viele bitten darum, acht zu E n as eine wird niemand leugnen: wollen wir eine große Strafprozeßreform einführen und die Berufung geben, dann ist es ein logischer und juristischer Unsinn, die Meru zu geben bei einem Objekt von 10 #& und fie zu versagen be Ls Straftaten, die vor die Schwurgerichte kommen. Pie Fu tizverwaltung sollte die Schwurgerichte eigentlih niht be- seitigen, sondern fe nur besser zu estalten suchen, wie ja Liszt eine bessere Verbindung zwishen Richtern und Schöffen will. Bei einem größeren S(höffengerihte mit 6 Geschworenen und einer Berufungsinstanz mit §8 Geschworenen würden die Rechte der An- geklagten ganz anders gewahrt werden. Man sagt, das Vertrauen zu unserer Rechtspflege hätte sih vermindert. Wäre das richtig, so wäre das ein Unglück. Man behauptet, die Qualität unferer Richter hätte sih vermindert. Zweifellos hat si die alte Bedächtigkeit der Richter vermindert. Die besten Juristen sollten niht in die Zivilkammern gesteckt, sondern in Strafkammern geshick werden, zum mindesten sollte ein Wandel Plah greifen. Das Schlimmste ist die Veberlaftung unserer Richter. Unsere Strafkammern haben zum Teil Tagesordnungen, unter denen die Richter, wenn niht zusammenbreen, so doch geistig ermüden müssen. Die sozialdemokratishe Presse üÜbertreibt ja. Wir \ind überzeugt von der Gewissenhaftigkeit unserer Richter. Aber daß das Vertrauen ins Schwanken kommt, beweisen auch die Aus- führungen des Professors Kahle. Ih möchte hoffen und wünschen, daß hier Wändel geschaffen wird, daß wir auf dem Gebiete der Strafsachen möglichst bald die Berufung bekommen, und daß unser Zivilverfahren moderner gemacht und besleunigt wird.

Staatssekretär des Reichsjustizamts Dr. Nieberding:

Meine Herren! Auf die sehr bemerkenswerten Ausführungen des Herrn Vorredners in Ansehung unseres Strafprozesses, seiner jeßigen Lage, seiner Revisionsbedürftigkeit und seiner legis[atorishen Aussichten will ih in dieser Stunde nit eingehen. Ih glaube, unsere Unter- haltungen bei dem Etat des Reichsjustitsamts werden diese Frage noh mehrfah berühren, und ih bitte das hohe Haus, mir zu gestatten, bis dahin, daß auch von anderen der Herren Redner, die sich zum Worte gemeldet haben, diese Frage berührt wird, meine Antwort auszusezen. Dagegen bin ih sehr gern bereit, die Anfragen, die der Herr Vorredner an mi gerichtet hat bezügli der übrigen von ihm berührten Materien, \ogleih zu beantworten.

Der Herr Vorredner hat zun ähst gefragt, wie es mit den Vors arbeiten für ein Geseß zum Schuße der Bauforderungen stehe. Meine Herren, die Sache liegt so, daß ein dahin gerihteter Entwurf seit längerer Zeit bereits dem Bundesrat vorliegt, und daß er vorausfihtlich in der nächsten Zeit zur Beratung im Bundesrat kommen wird, sodaß in absehbarer Zeit auch eine Vorlage an den Reichstag gelangen kann. Wenn der Entwurf bis jeßt noch niht im Bundesrat erledigt worden ist, so liegt das nicht an einem Mangel an Rücksicht auf die Interessen, die durch diesen Entwurf gedeckt werden sollen, fondern zurn Teil an der Geschäftslage des hohen Hauses, zum Teil aber auch daran, daß einer der Herren Referenten im Bundesrat {wer er- krankt ift und bisher mit der Sade sh nicht hat befassen können. Daß aber das hohe Haus in verhältnismäßig niht langer Zeit den Gesetzentwurf erhalten wird, nehme ich als sicher an.

Dann, meine Herren, hat der Herr Vorrednec im Anschluß an Beratungen, die im preußischen Landtag stattgefunden haben, die Frage an mich gerichtet, wie es mit den Absichten wegen einer Verschärfung der sogenannten lex Heinze stehe. Meine Herren, mir is von Vor- arbeiten oder von Gedanken oder von Wünschen innerhalb der Regierungs- kreise, die auf eine Verschärfung der Vorschriften des Strafgeseßbuchs wider Unsittlichkeit gerihtet wären, nihts bekannt. Auch dürften in der nächsten Zeit, wenigstens soweit ih das übersehen kann, derartige Vorarbeiten nicht eingeleitet werden. Ich bedaure mit den Herren, die im preußishen Abgeordnetenhaus zu der Frage gesprochen haben, auf das lebhafteste, daß die vor einigèn Jahren hier beshlofsenen Abänderungen des Strafgeseßbuchs nicht die Wirkung gehabt haben, die wir von ihnen zum Teil wenigstens erhofften. (Hört, hört! links.) Das liegt daran, daß ein großer Teil derjenigen Veröffentlichungen, die hierbei in Frage kommen, auf der Grenze dessen si befinden, was strafbar ist oder nah der Absicht des Gesetzes strafbar sein sol, und was auf dem Gebiet der Verleßung des sittlichen Taktgefühls liegt. Wie es in den 909er Jahren für uns {wer war, eine Formel zu finden, welhe hier die Grenze der Strafbarkeit für den Richter unzweideutig und in richtiger Berücksichtigung aller Vúnteressen bestimmt, so wird es immer {wer bleiben, eine solche Formel zu finden; und hier wird immer der Gegenstand des Kampfes zwischen denen liegen, die auf diesem Gebiet die publizistishe Freiheit, und denen, die niht diese Freiheit, sondern das moralische Interesse an die erste Stelle segen. Legislatorish läßt sih die Frage zu voller Befriedigung einmal nicht lösen. Ich glaube, diejenigen, die immer wieder auf die Reformbedürftigkeit unseres Geseßes zurückommen, täten gut, in den parlamentarischen Körperschaften, wo die öffentliche Meinung mit ihr doch \{chließlich auch das gesunde Volksgefühl zur Geltung kommen, nicht an die Geseßgebung, nicht an die Re- gierung, sondern an die Presse zu appellieren. (Sehr rihtig !) Erft wenn die Presse lernt, hier die rihtigen Grenzen zu ziehen und niht immer auf Kosten des guten Geshmacks bis an die äußerste Grenze dessen zu gehen, was das Strafgeseß formell nicht mehr ver- bietet, sondern sich zur Nichtschnur zu machen, auch außerhalb der Grenzen des Strafbaren so vorsihtig zu sein, daß das gesunde Sittlichkeitsgefühl des Volkes nit verleßt wird; erst dann werden wir zu befriedigenden Zuständen kommen. Das if aber nur zu er- reihen, wenn man immer wieder die gesunde Meinung des Volkes aufruft, und das richtige Organ dafür sind die Landtage, vor allem dieses hohe Haus.

Der Herr Abgeordnete hat dann die Frage an mich gerichtet, wie es mit der Reform des Zivilprozesses stehe. Ich habe im vorigen Jahre die Ehre gehabt, hier zu erklären, daß wir mit Reformgedanken auf diesem Gebiet uns trügen. Ih bin heute in der angenehmen Lage, diese Erklärung dahin zu vervollständigen, daß wir uns in der Arbeit für eine solhe Reform befinden. Wir haben aber anerkennen müssen, daß, wenn wir ohne weiteres für das ganze Gebiet des Zivilprozesses uns die Aufgabe vorbinden wollten, eine geseßlihe Revision herbei- zuführen, wir damit wieder eine Aufgabe unternehmen würden, die vermöge ihres großen Umfanges, wie das ja im vorigen Jahr ges{hehen ist, uns lebhafte Kritik in diesem Hause zuziehen würde. Wir sind daher {lüssig geworden, zunächst den amtsgerihtlihen Prozeß der Revision zu unterziehen, den Prozeß, der die unteren Schichten des Volks vorzugsweise berührt, und auf dem nah unserer Meinung eine Umgestaltung des Verfahrens im Sinne einer Beschleunigung und Vereinfahung des Prozesses vor allem wünschenswert is. (Sehr rihtig!) Wir können uns dem Gedanken nicht entziehen, daß die Wünsche nah Sondergerihten, wie wir sie jeßt ih von meinem Standpunkt als Jurist muß sagen : leider in den Kaufmanns- und

gesunde Funktionieren unseres jeßigen Zivilprozesses. (Lebhafte Zu- stimmung.) Wir wollen uns bemühen, auf dem Gebiet des amtsgerit- lihen Prozesses die Uebelstände so bald wie möglich ju beseitigen, welche den immer wiederholten Grund und Anlaß geben, um Wünsche nah einer Sondergesezgebung zu erheben. Ih bin mit dem Herrn Vorredner darin einverstanden, daß eine Weiterführung der Sonder, gesegebung, wie z. B. auf dem Gebiete des Handwerkerrechts ein Unglück für unsere ganze Rechtsprechung sein würde. (Sehr richtig!) Denn wir würden vor allen Dingen unsere Richter, die mit dem gesamten Leben des Volks zu tun haben, mehr und mehr gewissen

wichtigen Seiten dieses Lebens entfremden (schr richtig!) und ihnen

damit eine richtige Beurteilung der zu ihrer Entschei- dung kommenden Rechtsfragen ershweren. Wir sind hbe- reits mit dem Herrn preußishen Justizminister in Ver- bindung getreten und auch mit ibm im wesentlihen einig geworden. Es spielt aber eine andere Frage, die Finanzfrage ?bei der Sache eine wichtige Rolle, sie ist noch in der Prüfung, und die Rücksicht auf die Lage der Verhandlungen verbietet es mir, hier in diesem Hause zur Zeit weiteres zu erklären. Ich bitte aber das hohe Haus, sih überzeugt halten zu wollen, daß wir alles daran seßen werden, um diese legislatorishe Frage weiter zu führen.

Der Herr Abg. Bassermann hat dann im Anschluß an diese Frage von mir eine Auskunft gewünscht über die Rechtsprehung in Handwerker- sachen, indem er auf eine Erörterung Bezug nahm, die vor einigen Jahren hier stattgefunden hatte und die darauf hinzielte, eine regelmäßige Vere tretung der Handwerker in den Kammern für Handelsfachen herbeizuführen. Diese damaligen Erörterungen, bei denen die Worte des Herrn Bassermann leitend waren, haben uns nun Veranlassung gegeben, Erhebungen darüber anzustellen, in welchem Umfange denn die Hand- werker mit ihren Interessen an den Entscheidungen der Kammern für Handels\achen beteiligt sind; denn die Anregung, handwerksverständige Richter in diese Kammern aufzunehmen, würde nur dann eine Be * rechtigung haben und auch nur dann praktisch durGgeführt werden können, wenn die Zahl der Sachen, die aus dem Handwerk an die Kammern kommen, von einer gewissen Erheblichkeit ‘wäre. Unsere Ermittelungen erstreckten sch auf die Zeit von DOktober 1902 bis Oktober 1903. Da hat \fich nun ergeben, daß bei den Kammern für Handelssahen während dieser Zeit an Prozessen, mit Aus\s{luß der Wechsel- und der sonstigen Urkundenprozefse, im ganzen 44887 zur Verhandlung ge- fommen find. Es fragt si, in weldem Umfange Handwerker an diesen Prozessen als Kläger oder als Verklagte oder in der doppelten Funktion beteiligt gewesen sind. Als Kläger find an diesen 44 800 Prozessen ich lasse die kleinen Ziffern weg beteiligt gewesen 499, d. h. etwas über 1 9/9. Als Verklagte find in diesen 44 800 Prozefsen beteiligt gewesen 3200 oder etwas über 7 9/6. Es ift vielleiht auf- fallend, daß die Zahl der vor den Kammern als Verklagte auf- getretenen Handwerker eine besonders große ist. Das erklärt si aber nach unserer Meinung leiht daraus, daß es fih wesentlich um Klagen über geliefertes und nicht bezahltes Material handelt, also nicht um Prozesse, bei denen regelmäßig eine besondere handwerks« mäßige Sachkunde die Voraussezung für eine zutreffende rechtliche Beurteilung bildet. Würde man alle die Prozesse, die ih auf solhe Forderungen erstrecken, aus\cheiden, so würde, wie ih wenigstens annehmen möchte, die Zahl der Prozesse, bei denen Hands werker als Verklagte beteiligt find, ebenfalls als außerordentli gering ih erweisen. Endlich sind an diesen Prozessen beteiligt gewesen Hand- werker gegen Handwerker, also in vollkommenen Handwerkerprozessen 282, d. h. noch nit F 9/9. Nun wird mir jeder, der in der praktischen Justiz steht, darin Recht geben, daß, wenn Vertreter der Handwerker zu den Kammern für Handelssachen regelmäßig zugezogen werden sollen, bei einer so minimalen Beteiligung der Handwerksftreitigkeiten an den Prozefsen, die an diesen Kammern {weben, eine praktisch brauchbare Unterlage für ihre Heranziehung kaum zu finden sein würde. Ent- weder müßten wir die Handwerker zuziehen zu Sitzungen, bei denen ganz überwiegend Handelsprozesse verhandelt werden das würden natürliGß die beteiligten Handelsinteressenten nicht wünschen —, oder aber wir müßten, um ein einigermaßen aus: reihendes Material aus dem Handwerksbetriebe für die einzelne Sizung zu gewinnen, die Sachen so lange liegen lassen, bis die entsprechende Zahl von Klagen angesammelt ist, und das würde

wieder zu einer bedenklihen Vershleppung gegen das Interesse der

Handwerker führen. Die Dinge liegen hier so, daß nach Maßgabe unserer ohne jedes Vorurteil angestellten Erhebungen kein praktishes Bedürfnis anerkannt werden kann, in den Kammern für Handelssachen Handwerks\achverständige als rihterlihe Organe in größerem Umfange mitwirken zu laffen.

Dann, meine Herren, is der Herr Abgeordnete auf die Frage der Einführung eines Vergleihsvorverfahrens im Konkursrecht gekommen. Wenn ih mi recht erinnere, haben wir diese Frage hon im vorigen Jahre behandelt, und ih habe mi gegenüber den Anregungen, die nach dieser Nichtung hin gestellt worden find, sehr vorsihtig aus- gesprochen. Es klingt ja alles sehr \{chön, was der Herr Abg. Basser- mann Jhnen hier dargelegt hat; es ist aber nur die eine Seite in der Frage zu Gehör gebracht worden, und wenn wir die Muße hätten, uns hier mit der Frage eingehend zu beshäftigen und dabei dann au die andere Seite der Sahe zur Geltung gelangte, dann würde das Bild wohl etwas anders werden. Ih kann nur dringend bitten, sh den Bestrebungen gegenüber, die nach der von dem Herrn Vorredner erörterten Richtung jeßt in vielen kaufmänni- \ch(en Kreisen hervortreten, recht vorsichtig zu verhalten, sie niht dur ein Votum dieses Hauses zu ermutigen; Sie würden damit die Auf- gabe der Regierung, die die Frage doch auch vorurteiléfrei zu prüfen geneigt ift, nur erschweren, und das würde nicht zum Vorteil der Solidität unseres Handelsstandes gereihen, die zu wahren doch ein Hauptgesihtspunkt in der Gestaltung des Konkursprozesses sein muß

Ih möhte mich in dieser vorgerückten Stunde nicht aut- führliher dazu äußern; ich will aber gern dem Wunsche des Herrn Bassermann entsprechen und dem hohen Hause zusagen, eint Denkschrift über diese Frage vorzulegen, die ausgiebiger, als" es die mündlihe Erörterung tun kann, die Verhältnisse entwickelt.

(S@luß in der Dritten Beilage.)

Gewerbegerihten besizen, zum Teil zurückzuführen find auf das un-

" zu dem Konkursvergleih über eine

anzusehen, welches am dringendsten einer Revision bedarf.

Dritte Beilage

zum Deutschen Reichsanzeiger und Königlich Preußischen Staatsanzeiger.

M 45.

Berlin, Mittwoch, den 21. Februar

1906.

(Schluß aus der Zweiten Beilage.)

Nur einen Punkt muß ih noch berühren, weil ihn der Herr Abgeordnete besonders {arf hervorhob, und weil er vielleicht

deshalb einen tieferen Eindruck auf das Haus machen könnte. Der

Herr Abgeordnete hat gesagt: wenn wir ein Vergleiclhsverfahren vor vem eigentlichen Konkursprozeß hätten, dann würde sih ohne weiteres den Unannehmlichkeiten vorbeugen lassen, die sich jeßt für viele Geschäftsleute, die vor dem Konkurse stehen, dadurch ergeben, daß einzelne Interessenten behufs ihrer Zustimmung besondere präzipuale Ab- findung zu verhandeln si bemühen, derartig, day häufig Ver- wandte des Schuldners, um diesen dem Konkurs zu entziehen, si ge- drängt fühlen, für den Schuldner einzuspringen, einem widerspenstigen Gläubiger eine besondere Zahlung zu versprehen über das hinaus, was er beim Vergleiche, geschweige tenn im Konkursverfahren be- fommen würde. Natürlih kann dadurch die Lage der unvershuldet in das Unglück geratenen Geschäftsleute än empfindlichßer Weise er- ichwert werden. Indessen die Ausficht, die in vielen Kreisen des Handelsstandes Boden gefunden hat, als wenn mit der Einführung cines Vergleichsverfahrens vor dem Konkurse die Operationen, auf die der Herr Abg. Bassermann hier anfspielte, ausgeschlossen sein würden, ist eine trügerishe. Die Verfuche, die jeßt gemacht werden, vor dem Konkursverfahren als Bedingung der Zustimmung zu einem Vergleich für einzelne Gläubiger mehr herauszushlagen, würden später geradeso gemacht werden vor der Eröffnung des Vergleihsverfahrens, und das Pressionsmittel bestände hier in dem Wunsche, au dieses Vergleihs- verfahren zu vermeiden. Denn darüber, meine Herren, kann gar kein Zweifel sein: in einem solchen Vergleihsverfahren wird dasjenige,

was die Schuldner jeßt so sehr fürhten, die Publizität der geriht- 4

lihen Akte und die Verfügungsbeshränkung über die Masse, gleih- falls eintreten müssen, und deskalb wird der Schuldner immer wünshen müssen, diesem gerichtlißen Vergleihsverfahren ver- mittels eines privaten Vergleihs zu entgehen. Dieser Wunsh kann aber stets als Pression benußt w:rden, um zu Gunsten einiger Gläubiger, welche ih gegen eine private Erledigung sperren, mehr herauszushlagen als zu Gunsten anderer herauskommen würde, die solhe verwerflihe Mittel niht benußen. Meine Herren, das ist keine Prophezeiung, die ih aus den Akten des grünen Tsches entnehme; das ist eine. Ecfahrung, die England mit seinem Kon- kursrecht gemacht hat. Die Erfahrungen, die dort gemacht find, würden wahrsheinlich bei uns auch gemacht werden. - Die Lage der Schuldner würde keine befsere werden, die Solidität des faufmännishen Geschäfts im ganzen aber würde unter dem Verfahren mit seinen zarten Rücksichten gegen die S{huldner leiden. Ih glaube, meine Herren, die Mehrheit unseres Handels8- standes wird unter allen Umständen darauf Wert legen, daß der Nuf der Solidität des deutshen Handels im Innlande wie im Auslande unberührt aufrecht erhalten wird. Aber, wie gesagt, die Denkschrift will ih gern zusagen.

Nun, meine Herren, ist der Herr Abgeordnete auf das Strafrecht gekommen und hat darauf hingewiesen, was ja auch {hon im vorigen Jahre geschehen ift, daß die Reform des materiellen Strafrechts noch sehr viel Zeit kosten würde, daß sie außerordentlich {chwierig sei, daß sie namentlich auh hier im Hause große Schwierigkeiten bereiten würde. Mit vollem Ret! Er hat daraus die Folgerung gezogen, daß es richtig sei, einzelne Materien aus dem Strafgeseßbuch vorweg zu erledigen, und daß man die wichtigsten Materien, die da in Betracht kämen, ja sehr leiht aus®- fondern und dann durch besondere Geseße erledigen könne. Meine Herren, ih habe im vorigen Jahre oder vor zwei Jahren die Ehre gehabt, dem Hause eine ganze Reihe von geseßgeberischen Fragen aus dem Gebiete des materiellen Strafrechts vorzuhalten, immer mit dem Hinwel!s darauf, wie die eine Frage der eine, die andere Frage der andere der geehrten Herren für die wihtigste erahtet. Wenn wir den Wünschen aller Herren entsprähen, hätten wir sofort ein Bündel von Novellen zu dem Strafgeseßbuch. Wohin sollte das führen ? Ob sich nun, um dies Ergebnis zu vermeiden, alle Herren gleich darauf einigen würden, den Vorschlag des Herrn Abg. Bassermann anzu- nehmen, dasjenige Kapitel, das er berührt hat, als das wichtigste, tas dringendste, anzusehen und dieses zunächst einer legislatorishen Be- handlung zu unterbreiten, das is mir zweifelhaft.

Der Herr Abg. Bassermann machte auf die Behandlung des feinen Diebstahls und ähnliher kleiner Vergehen aufmerksam, die gegenüber unserm Strafgeseßbuch eine Milderung dringend bedürfe. Vielleicht hat der Herr Abgeordnete in einigen Punkten nicht unrecht. Aber nach dieser Richtung hin, meine Herren, ist bereits vor einigen Jahren aus der Mitte dieses Hauses heraus von dem Herrn “Abg. am Zehnhoff ein Antrag eingebraht worden, der eine Anzahl kleiner Delikte der Art, wie sie der Herr Abg. Bassermann hier berührte, bezeihnete, in denen eine Revision des EStrafgeseßbuchs vorweg zu nehmen sei. Meine Herren, wir haben diesen Antrag einer sehr sorgfältigen Prüfung unterworfen, wir sind mit den sämtlihen Bundesregierungen in Verbindung getreten, und die größeren Regierungen haben ihre sämtlihen Ober- landesgerihte und Oberstaatsanwaltschaften veranlaßt, sich zu der Frage zu äußern. Aus Gründen, die ih hier freilih niht darlegen kann dazu reicht die Zeit nicht haben diese Organe der Rechtspflege sich übereinstimmend und dr:ngend gegen eine Vorwegnahme dieses Kapitels des Strafgesezbuhs zwecks einer legislatorishen Reform ausgesprochen. Meine Herren, ih glaube, unter diesen Umständen wird der Herr Ab- geordnete doch geneigt sein, gerade diese Matcrie niht als datjenige Wenn es aber diese Materie nit ist, welche soll es dann sein? Dann bitte ih diejenigen Herren, die ähnlihe Reformanträge gestellt haben, auf- zutreten und ihre Wünsche anzugeben ; wir werden dann bald finden, daß die Sache doch nicht so einfach liegt. Meine Herren, dann hat der Abgeordnete im Anschluß an diese Frage die Behandlung * der

Vorstrafen in den Verhandlungen vor Gericht berührt. Das ist ja eine wichtige Erwägung, die aber au bei uns {hon der Prüfung unterliegt; sie wird ihre Erledigung finden im Rahmen des Straf- prozesses; ih brauche deshalb hier wohl niht näher darauf einzugehen.

Der Herr Abgeordnete hat endlih noch die Frage der Behandlung der Jugendlichen im Strafrecht angeschnitten. Diese Frage, die ih nehme es wenigstens an hier im Hause noch wohl aufgenommen wird, dürfte mir später noch Gelegenheit zu Erklärungen geben; in diesem Augenblick möchte ih nicht darauf eingehen; ih glaube nit, daß ih da noch auf große Aufmerksamkeit zu rechnen hätte. Ich bitte aber das hohe Haus, davon überzeugt zu sein und ih hoffe, meine Ausführungen haben das auch bewiesen —, daß wir auf allen Ge- bieten, die für eine geseßgeberishe Reform in Frage sind, den ernsten Willen haben, zu bessern, und unserseits an nichts fehlen lassen, um die legislatorisen Arbeiten zu bes{leunigen.

Abg. Bargmann (fr. Be Ich bin mit dem Abg. Basser- mann über Wiedereinführung der Berufung gegen die Urteile der Strafkammern einverstanden, nicht aber mit seiner Stellungnahme be- züglih der Schwurgerihte. Der betreffende Entshluß der vor- bereitenden Kommission hat in ganz Deutschland eine große Auf- regung hervorgerufen, eine Aufregung, die si erst legte, als bekannt wurde, daß die verbündeten Regierungen \sich darüber verständigt hätten, an der Kompetenz der Schwurgerihte nichts zu ändern: Wir find unserseits der Meinung, daß die Zuständigkeit der Shwurgerichte für Preßvergehen auf ganz Deutschland auszudehnen sei, ‘und haben des- halb den bezüglichen Initiativantrag Ablaß eingebraht. Im Vordergrund der Erörterung in den leßten Jahren hat die Strafvollstrekung gestanden. Die Nesolution Gröber, die wir vor einigen Jahren in dieser Richtung annahmen, soll nach Zeitungsnahrihten vom Bundesrat abgelehnt sein. Wir hatten, in dieser Resolution die Unterscheidung in dem Strafvollzug gegenüber solchen Urteilen, die auf Grund einer nicht ehrenrührigen Handlung bestraft werden, und eine mildere Behandlung dieser Kategorie verlangt. Ich möchte um Auskunft bitten, wie es mit dieser Ablehnung steht. Die Bestrafung Minderjähriger bedarf unzweifelhaft einer At ändern Sinne einer weiteren Ausdehnung der Zwangserziéhung, und es wird da im Interesse der Cesamtheit auch in das Grziehungsrecht der Eltern unter Umständen über das jeßige Maß hinaus eingegriffen werden müssen. Es ist weiter zu verlangen, daß die Strafvollstrefung der Minderjährigen getrennt von derjenigen der erwachsenen Verbrecher erfolgt. Es sind in den Gefängnis- verwaltungen bier manche bedauerlihen Mißgriffe gemacht worden. Hoffertlich wird in dem neuen Gesey über den Strafvollzug dafür Sorge getragen, daß eine Trennung der jugendlihen Gefangenen von den erwachsenen stattfindet, Das Gesey über unschuldig erlittene Untersuhungsbaft ersheint uns in mancher Beziehung revisions- bedürftig. Ein sehr bedrohlihes Kapitel ist das der unshuldigen Ver- urteilung. Ein Lehrer Thormeyer wurde vor Jahren verurteilt und 1904 im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen, dabei wurde fest- gestellt, daß der Exekutor in dem eritén Verfahren einen Meineid geleistet hatte. Inzwischen hatte aber der Lehrer gedarbt und erhielt nur eine geringe Entschädigung.

Staatssekretär des Reichsjustizamts Dr. Nieberbing:

Was den leßteren Fall mit dem Lehrer aus Pommern betrifft fo erlaube ich mir darauf aufmerksam zu maYen, daß es sich hier um ein Disziplinargeseß Preußens handelt, also niht um ein Reichsgeseß, daß der Mann,. der das Unglück gehabt hat, aber nahträglich von der Regierung eine Pension bekommen hat, und daß so alles geschehen ist, was von seiten der Regierung geschehen konnte, um die Lage des unglücklihen Mannes zu erleichtern. Im übrigen is nah einem neuerlich ergangenen Erkenntnis des Reich8gerihts auch für Fälle der fraglichen Art in befriedigender Weise Vorsorge getroffen; denn das Neichsgericht hat \sihch für den Grundsaß ausgesprochen, daß die Folgen des Wiederaufnahmeverfahrens \sich auch auf die Folgen einer Ent- s{heidung im Disziplinarverfahren erstrecken, die auf Grund des auf- gehobenen Strafurteils ergangen is. Es werden also für die Zukunft solhe bedauernswerten Ergebnisse voraussichtlichß niht wieder eintreten.

Was das Scicksal der Resolution betrifft über die Behandlnng der Untersuhungsgefangenen und der Strafgefangenen, so habe ih folgendes zu bemerken: Der Herr Abgeordnete s{heint übersehen zu haben, daß in dem Verzeichnis der Entschließungen des Bundesrats auf die Beschlüsse des Reichstags auf Seite 14 unten diese Resolution aufgeführt ist, durch welche der Herr Reichskanzler ersucht wurde, dem Reichstag einen Gesezesentwurf vorzulegen, durch welchen einmal den Untersuhungs8gefangenen allgemein und zweitens den Strafgefangenen, soweit das Urteil. ihre Tat nicht als ehrlos bezeihnet, Beköstigung und Beschäftigung nach ihrer Wahl überlassen werden möge. Der Bundesrat hat die Resolution in beiden Teilen ab- gelehnt. Die Resolution iff von mir in beiden Teilen zunächst der Kommission für die Revision des Strafprozesses vorgelegt, um die Meinung der ihr angehörenden sahverständigen Männer zu hören. Die Kommission hat sich dahin ausgesprochen, daß im wesentlichen die Forderungen des Reichstags, soweit es sich um die Untersuhungs- gefangenen handelt, bereits jeßt gedeckt sei, durch § 116 Absaß 3 der Strafprozeßordnung, daß es also nah dieser Nichtung hin eines neuen geseßlihen Vorgehens niht mehr bedürfe, daß aber dem zweiten Teil der Resolution keine Folge gegeben werden könne, fo lange nicht im Wege der Abänderung des Strafgeseßbuhs dem Richter die Möglich- keit gegeben ist, in dem Erkenntnis auszusprechen, daß der betreffenden Straftat eine ehrlose Gesinnung des Täters niht zu Grunde gelegen habe. In dieser Beziehung is nun in der Kommission darauf hingewiesen worden, daß es im Interesse der zur Unter- suchung gezogenen Personen sich keineswegs immer empfehlen werde, den Richter zu nötigen, gleichzeitig mit der Ver- hängung der Strafe über den ehrlosen Charakter der Tat ih auszusprechen; denn , auf diese Weise würden viele Leute, die verurteilt werden, zur Strafe auch noch den Makel der Ehrlosig- keit ausdrüdlich aufgehängt bekommen, und das habe doch {hon wegen der Zukunst der Bestraften seine Bedenken. Der Bundesrat hat fich in den beiden Punkten der Erwägung der Kommission angeschlossen, außerdem aber auch in Betracht gezogen, daß jeßt in diesem Augen- blick kurz vor der d s des Strafprozesses zu Gunsten der Unter- suhungsgefangenen Foh nicht noch ein besonderes Geseß vorgelegt und damit der Strafprozeßordnung vorgegriffen werden könne und daß das bestehende Strafgeseßbuch im Interesse einer so zweifelhaften und so

wenig ‘dringlichen Frage, wie sie zu Gunsten der Strafgefangenen an- geregt war, einer partiellen Nevision sich nit unterstellen lasse.

Abg. von Dirksen (Rp.): Der Staatssekretär hat Bedenken getragen, durch ein neues Gese dem Shmuß in Wort und Bild entgegenzutreten. Wenn jeyt eîne Partei, die sich seinerzeit mit Händen und Füßen gegen die lex Heinze gesträubt hat, ganz anderer Meinung ist, wie die Aeußerung des Abg. Bassermann zeigte, so ist das mit Freuden zu begrüßen. Die Schundliteratur, die Abbildungen in den Schaufenstern usw. müssen bekämpft werden. Wenn die Ne- gierung jeßt ein Gesey brächte, das diesen Uebelständen wirklih entgegentritt, so würde sie im Neichstag Glück haben. Notwendig ist au eine Revision des Zivilprozesses. Die Prozesse werden zu langsam und kostspielig geführt. n Oesterreih werden die Prozesse noch einmal so \chnell beendigt wie in Deutschland. Wir sollten uns jedoch darin nicht übertreffen lassen. Es kann nicht dahin kommen, daß wir nur noch Sondergerihte haben. Bei der Strafgerichtsreform wünschte ih, daß die Strafbemessungen bei Chrenkränkungen höher sind wie bisher. Solange so geringe Strafen verbängt werden, fobald die Familien- und Standesehre so wenig ges{üßt werden, kann man es cinem Manne nicht verargen, daß er zur Waffe greift. Nur auf diesem Wege kann dem Duell- unfug wirksam begegnet werden. Auf dem Gebiete des Mädchen- handels sollte man schärfer vorgehen. Ein Wort über die Stellung der Gerichte gegenüber der Sozialdemokratie. In Metz hat, einer Zeitungsnotiz zufolge, ein Staatsanwalt, ih will seinen Namen lieber niht nennen, in einer öffentlihen Versammlung gesagt: „In cinem Kampfe gegen die Reaktion dürfen wir uns niht \ch{euen, Parteien, die weiter links stehen, zu unseren Burdesgenossen zu machen ; die Bekämpfung der Neaktion ist nur mögli, wenn die Sozialdemokratie zu uns kommt.“ Justizbeamten will ich ihr \taats- bürgerlihes Net niht nehmen, si an der Politik zu beteiligen, auch in öffentlihen Versammlungen. Die selbstverständlihe Vorausseßung dieses Rechtes ist aber, daß fie, die den Treueid auf die Ver- fassung geleistet haben, also auch auf die bestehende Staats- ordnung, so viel Takt und Vaterlandsliebe haben, daß sie sih nicht für eine Partei aussprehen, die diese Ordnung umstoßen will. Es ist für das Volksbewußtsein unerträglich, daß ein Staatsanwalt mit der Sozialdemokratie geht. (Abg. Bebel: Schrecklich!) Jawohl, f{reckli! Nun wird man ja auf Bayern und Baden hinweisen, wo wir ja mit Staunen erlebt hazben, daß große Parteien der Sozialdemo- kratie die Hand gereiht haben, wie auch ein Mitglied des Hauses ih noch ganz neuerdings in einem Artikel mit seinem Namen dahin äußerte, daß die Sozialdemokratie die einzige Partei sei, mit der man noch zusammengehen könne. Quod licet bovi, non licet Jovi. Der Staatssekretär sollte sich wegen jenes Falles mit der Landes- verwaltung von Elsaß-Lothringen in Verbindung seßen. Ih möchte dem Staatsanwalt ein altes Verslein zitieren: „Nichts tue wider dein Vaterland, denn folhes ist die größte Schand !“

Präsident Graf von Ballestrem: Der Abg. von Dirksen hat ein bekanntes lateinisches Sprüchlein umgedreht; ih hoffe nit, daß er mit dem „bos“ einen Abgeordneten gemeint hat!

Staatssekretär des Reichsjustizamts Dr. Nieberding:

Meine Herren ! Ueber die Pflichten und die Verantwortlichkeit der deutshen Justizbeamten mich hier im allgemeinen auszusprechen, habe ih, glaube i, keinen Anlaß nach den Ausführungen des Herrn Vor- redners, und habe ich nach der Verfassung auch kein Net; denn die Justizbeamten in Deutschland unterstehen. mit ihrer Verantwortlichkeit niht dem Reichsjustizamt, und wo ich kein NReht habe, jemand zur Verantwortung zu ziehen, da \{chweige ich lieber, seße mich auch mit der zuständigen Landesinstanz niht in Verbindung. (Sehr gut! links.) Denn sie hat keine Verpflichtung, mir eine Ant- wort über etwas zu geben, was fie nah ihrem Ermessen im Bereiche ihrer Zuständigkeit zu erledigen befugt und verpflichtet ist. (Sehr richtig! links.)

Was den einzelnen Fall betrifft, den der Herr Abg. von Dirksen hier angeführt hat, so ist er mir aus der Zeitung bekannt. Jh wage aber nicht, nach einer Zeitungsnotiz ein Urteil über einen Beamten zu fällen, der in diese Zeitungsnotiz hineinverflohten ist; denn wir alle, meine Herren, haben zu häufig im Leben die Er- fahrung gemacht, daß Zeitungsmeldungen sehr trügerisch sind. (Sehr rihtig!)) Ich muß mir also mein Urteil nah dieser Richtung hin vorbehalten.

Wenn der Herr Vorredner nun anregt, daß ih diese Zeitungs- notiz wenigstens zum Anlaß nehmen möchte, mit der Landes verwaltung von Elsaß-Lothringen mih in Verbindung zu seßen, um sie darauf aufmerksam zu machen, was dort vorgegangen sei, fo glaube ih, daß die Landesverwaltung von Elsaß-Lothringen diesen ihr viel näher als mir liegenden Vorgang bereits kennt, und daß, wenn sie thn kennt, sie au dasjenige wird veranlaßt haben, was sie glaubt, daß hier zu veranlassen ist. Jch darf auch von anderer Gelegenheit her in der Tat annehmen, daß . die Landesverwaltung von Elsaß - Lothringen über den Fall unterrihtet ist. Jh weiß allerdings niht, was sie darauf veranlaßt hat oder veranlassen wird, und ih bedaure, nach dieser Richtung eine Frage an die Landes-

. verwaltung nicht richten zu können; denn sie würde mich nur auf die

Grenzen meiner Zuständigkeit ihr gegenüber aufmerksam machen. Hierauf vertagt sih das Haus.

Abg. Bassermann (persönli): Der Abg. von Dirksen hat mich mißverstanden. Ih habe keine neuen geseßgeberishen Maß- nahmen im Sinne der lex Heinze verlangt, vielmehr ausgeführt, daß M S Gesetzgebung genügt, wenn fie energisch gehand- abt wird.

y Abg. von Gerlach (fr. Vgg.): Ih nehme an, daß der Abg. von Dirksen den Artikel von mir, den er erwähnte, nit gelesen hat; denn hätte er ihn gelesen und behauptete dann no, daß ih mih in demselben voll und ganz zur Sozialdemokratie bekannt habe, fo hätte er damit nur bewiesen, daß er niht mehr Fähigkeit hat, mih zu verstehen, als ein gewisses Tier zum Lauteschlagen.

Schluß gegen 61/4 Uhr. Nächste Sizung Mittwoch 1 Uhr. (Zweite Beratung des von den Sozialdemokraten eingebrachten Gesehentwurfs auf Schaffung einer Volksvertretung in jedem Bundesstaate und in Elsaß-Lothringen; Antrag Nißler wegen Erleichterung der Bedingungen für die Gewährung der Veteranenbecihilfen ; Anträge Bassermann auf Abänderung der Gewerbeordnung und des Handelsgeseßbuches; Anträge der beiden Volksparteien wegen Gewährung von Diäten an. Schöffen und Geschworene.)

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