In diesem Zusammenhange möchte au ih meine Befriedigung ausfprehen über die Gastfreundschaft, welche die Bürgermeister und Stadtverordneten deutsher Gemeinden in England gefunden haben, und über die Worte, die bei dieser Gelegenheit in London ge- fallen find. (Bravo links.) Solches Sichnähertreten von Mensch zu Mensh, von Volk zu Volk, folher persönlicher Berkehr ist nüßlih und wichtig. (Sehr richtig !)) Au von dem Be- fuch unserer Journalisten in England erwarte ih gute Folgen. Ich glaube, daß sh der verehrte Herr Vorredner hierüber zu \keptisch ausgesprochen hat. (Sehr richtig!) Ich hoffe, daß die Journalisten beider Länder \ich riht nur als Menschen, sondern auch als Gentlemen kennen gelernt haben, und taß sie bei allem Patriotismus und aller Ueberzeugungstreue in ihrer Polemik künftig Gebässigkeit und mala fides vermeiden werden. Auf beiden Seiten des Kanals werden sich die Herren von der Feder hoffentlih vor Augen halten, daß wenn man auch nicmanden zur Liebe zwingen kann, doch jedes der beiden Völker vollen Anspru auf die Achtung des andern hat. (Lebhafte Zustimmung auf allen Bänken.) Und wenn ¡weifellos in der Ver- gangenheit auf publizistishem Gebiet hüben und drüben gesündigt und viel gesündigt worden ift, so möge in Zukunft die deutsche wie die englische Presse beweisen, daß fie der Lanze des Achilles gleicht, welche die Wunden zu heilen vermochte, die fie geschlagen hatte.
Es gibt keinen vernünftigen Menschen in Deutschland, der nit aufrihtig ruhige Beziehungen zu England wünscht auf der Grundlage beiderseitiger Loyalität. In einem Artikel über den Besu unserer Journalisten in England, den in einem deutsh-englishen Blatt ein deutsher Publizist veröffentlicht hat, der vor einigen Jahren in der vordersten Reihe unserer Burenfreunde stand, habe ih die zutreffende Bemerkung gefunden, es sei nit Haß gegen England gewesen welcher seinerzeit in Deutschland die lebhafte Begeisterung für das Burenvolk erweckt habe, denn ein folcher Haß hâtte selbst damals
“in Deutschland niht bestanden. Der deutschen Burenbegeisterung hätte vielmehr deutshe Romantik und germanisher Idealismus zu Grunde gelegen. Das ist richtig, das sage ih, der ih damals diesen Idealismus und diese Romantik, diese tiefgewurzelte Neigung unseres Volkes, politishe Fragen als Gemüts- und Herzensangelegenbeiten zu behandeln, bekämpft habe.
In der fozialistishen Presse lese ich immer wieder, daß unsere Verteidigungsmaßnahmen zur See die Schuld trügen an der in England gegen uns herrshenden Verstimmung. Wie oft habe ih dargelegt, daß der Gedanke, als ob der Ausbau der deutschen Flotte sich gegen England richte, geradezu töriht ift — ich finde keinen anderen Ausdruck, um den Gedanken, als ob wir England gegenüber uns mit offensiven Absi(hten trügen, zu kennzeihnen daß auch die Besorgnis mancher englischen Kreise vor einer gar nit vorhanderen großen deutschen Flotte unfaßbar ift. Hat doch gerade bei dem Londoner Bankett zu Etren unserer städtishen Vertretungen oder wenigstens in jenen Tagen ein englisher Minister mit Recht er- klärt, daß England zur Zeit die \{lagfertigste und streitbarste Flotte besitze, die es je gehabt habe, und daß es diese Flotte auf ihrer jeßigen Höhe erhalten werde. Und noch vor einigen Wochen versiherte der Erste Lord der Admiralität öffentli, die englische Flotte sei nie stärker gewesen als im gegenwärtigen Augenblick. wo fie stärker sei als irgend eine mögliche Kombination, die gegen England aufgebracht werden könnte. Also wozu der Lärm?
Wir denken nicht daran, eine Flotte zu schaffen, welhe so ftark wie die englische wäre, aber wir haben das Ret und die Pflicht, uns eine Flotte zu halten, die der Größe unserer Handelsinteressen entspricht, der Notwendigkeit, unsere übersecishen Interessen zu ch{Güßen und ursere Küsten zu verteidigen. (Sehr richtig!) Warum sollen wir nicht ebenso gut Schiffe bauen und uns eine Flotte halten dürfen, wie andere Länder, wie Frankrei oder Amerika, wie Rußland oder Japan oder Jtalien oder England selbst? Ich habe gerade vor einem Jahr, wenn mih mein Gedähhtnis nit täuscht, an die Argumente erinnert, mit denen der damalige italienische Minifter- präsident Herr Fortis und der Präsident der amerikanischen Republik Herr Roosevelt auf die Notwendigkeit der Verstärkung der Flotten ihrer Länder hinwiesen, und dabei gesagt, wir befänden uns genau in derselben Lage. Das deutshe Volk und der Deutsche Kaiser haben keine friegerishen Gelüste. Das Deutshe Reih is seit seiner Wiedererrihtung bis auf den heutigen Tag mit allen Mächten in ununterbrohenem Frieden geblieben. Das Gleiche läßt sich nur bon wenigen anderen Staaten fagen. Für jeden, der sehen will, ist durch diese unsere Haltung während 35 Jahren der Beweis erbracht worden, daß Deuts{land eine eminent friedliche Politik verfolgt. Auch in Zukunft werden Friedens\törung urd Angriff nicht von uns ausgehen.
Wir erkennen auch ohne Hintergedanken die Stellang an, die sich England seit lange und in weitem Umfang, in der Welt gemacht hat. Daß das keine Redensart ift, beweist unsere Haltung in der ägyptishen Frage, die der Herr Abg. Basser- mann soeben gestreift hat. Fürst Bismarck pflegte zu fagen: Wir find in Serbien österreihisch, in Bulgarien russisch, in Aegypten englisch. Auch seit den Tagen des Fürsten Bismarck haben wir die günstigen Wirkungen der englishen Mitverwaltung für die Eatwicklung des Nillandes immer anerkannt und England in Aegypten keine Steine in den Weg gelegt, selbst dann nicht, als wir ein formales Recht dazu gehabt hätten. Ich meine, bei Erlaß der Khedivialverordnung von 1904, der wir ohne weiteres unsere Zustimmung erteilt haben. Troßdem wurden uns später bei dem Akabastreit in französisGen und englischen Blättern allerlei dunkle Machenshaften angedihtet. Man war aber auf der Hohen Pforte ebenso wie in London genau darüber unter- richtet, daß uns {on unser Interesse an der ruhigen Entwicklung des türfishen Neichs eine friedlihe Beilegung dieses Streites wünschen ließ.
Von dem Verhältnis zwischen Deutshland und England gilt, was Fürst Biêmarck einmal, es war wohl 1868, von der Annäherung ¿wishen Nord- und Süddeutschland fagte, nämli, daß die Früchte niht rascher reifen, wenn man eine Lampe darunter hält. Die Herstellung freundliherer, vertrauensvoller Beziehungen zwishen Deutshland und England erfordert Zeit und Geduld, denn
eine lange Periote der Mißverständnifse liegt hinter uns. Die Nadel des Barometers ift glücklich von Regen und Wind auf veränderlih gegangen. Forcieren läßt sie fich nicht. Soll fie auf S{ön- weiter zeigen, so werden wir vor allem hüben und drüben neue Trübungen und Reizungen zu vermeiden haben. Die Lebentinteressen großer Völker müfsen boch über persönlihen Reibungen und Empfind- lihkeiten stehen. (Sehr gut!) Dies gilt selbstverständlih für beide Lünder, es gilt auch für jede Rangstufe.
Man hat angeblichen persönlihés Vetstimmungen zwis dei | eben vorhanden tvar.
beiden nahe verwandten Fürsten, die an der Spitze des deutshen und des englisWen Volkes stehen, zu großes Gewicht beigelegt. Weder König Eduard noch Kaiser Wilhelm wird persönlihen Empfindlich- keiten Einfluß auf sahlihe Erwägungen, die Wahrnehmung der politishen Interessen ihrer Länder, gestatten. König Eduard ist bei uns mit der Ahtung und Ehrerbietung aufgenommen worden, auf die er nicht nur als Oberhaupt des englishen Volks Anspru hat, sondern die ihm auch wegen seiner staatsmännischen Eigenschaften gebühren. Die Begegnung in Cronberg hat denn auch die guten persönliGen Beziehungen befestigt und in der Hoffnung bestärkt, daß sich das Wort bewahrheiten werde, das der König 1904 in Kiel ausgesprochen hat: daß die Flaggen beider Nationen niemals feindlih gegen einander wehen follten. Der Abg. Baffermann hat gemeint, daß die Haltung Italiens auf der Konferenz von Algeciras unseren Erwartungen nicht entsprochen, daß fie uns Grund zur Un- zufriedenheit gegeben hätte. Die damalige Haltung mancher italienischer Blätter entsprach allerdings niht dem zwishen Ftalien und Deutsch- land bestehenden Bündnisverhältnis. Ueber die Haltung der italienishen Regierung und insbesondere der Herren Sonnino, San Giuliano, Viéconti-Venosta und Guiccardini hatten wir uns nicht zu beschweren. Italien befand sich auf der Konferenz von Algeciras in einer s{chwierigen Lage. Zwischen Frankreich und Italien bestanden hinsichtlich Marokkos gewisse Verabredungen, von denen wir wiffsen, daß fie niht in Widerspru mit dem Dreibundevertrage ftanden. Wir haben den Ftalienern sogar in früheren Fahren vor meiner Zeit ge- legentlih gesagt, daß wir es ihnen überlaffen müßten, wie sie fich im Mittelmeer und speziell in Afrika mit ihren dortigen Nahbarn aus- etnanderseßen wollten.
Als nun die Art und Weise, wie unsere vertragêmäßigen Rechte in Marokko fignoriert wurden, uns zum Vorgehen zwang und sich daraus \chließ;lich die Konferenz von Algeciras ent- widckelte, kam Jtalien in eine niht leihte Situation. Die italienishe Regierung hat in dieser Lage uns gegenüber korrekt ge- handelt, nicht nur indem fie uns rehtzeitig informierte hinfichtlich der Srenzen der ihr in Algeciras möglichen Unterstüßung, fondern auch indem sie innerhalb dieser Grenzen die ven uns vertretenen Grundsäße und angestrebten Ziele nah Mögli(hkeit förderte. Als Be- weis hierfür will ih ein Telegramm verlefen, das ih in einem fkriti- schen Augenblick der Konferenz von unserm ersten ‘Delegierten Harn von Nadowigt erhielt :
„Marquis Visconti-Venosta,* telegraphierte er mir am 11. März, „hat fich in leßter Zeit besonders bemüht, außerhalb der Konferenz- sißungen in Bank- und Polizeifrage im Sinne unseres Verlangens auf die Franzosen einzuwirken, was siher voz Nutzen gewesen ift und weiter fein kann. Es ist mehr darin von ihm Vorteil zu ziehen als von seinem direkten Eingreifen in die Konferenzverhandlung, das er möglichft vermeidet.“
Bei diesem Anlaß will ich übrigens noch; hervorheben, daß alles, was erzählt wird über Umtriebe deutsher Agenten in Tripolis oder über eine deutshe Expedition, die in das Hinterland von Trivolis vorbereitet würde, Erfiadungen sind, die ledigli bezwecken, Mißtrauen ¡wishen uns und Italien zu säen. Um gleichzeitig au in Wien gegen uns Stimmung zu machen, wurde diese Erfindung hier und da mit dem Zufayz verbrämt, daß wir eine direkte Ver- bindung zwishen Kamerun, Tripolis und — Triest herstellen wollten (große Heiterkeit), das bei diesem Anlaß von Deutschland añnektiert werden würde. So {lug man nämli zwei Fliegen mit einer Klappe. Die Lüge mit Tripolis war auf Italien berechnet und sollte Italien
gegen uns mißtrauisch machen. Der Unsinn mit Triest war auf die ? Natürlih ist von einer solchen deutschen |
Desterreiher gemünzt. Expedition in Tripolis nicht die Rede geræesen. Wir haben weder den Wunsch, noh eine Veranlaffung, uns im Hinterlande von Tripolis oder auch von Tunis politis zu betätigen.
Was dieser oder jener unverantwortliche italienische Politiker gegen den Dreibund sagt, möchte ih nicht übershäßen. Fn unverantwort- liher Stellung sagt auh anderswo mancher manches, was er als Minister niht gleich in Taten umseßt, (Sehr wahr! Heiterkeit.) Während der sechs Jahre, als ih die Ehre hatte, das Reich als: Ge- sandter in Numänien zu vevtreten, einem: Lande und einem Balk, die mir lebhafte Sympathien und aufrihtige Anhänglichkeit eingeflößt haben unter der weisen Regiexung des Königs Karol, eines der »flicht- treuesten und tüchtigsten Fürsten, die mir vorgekommen find; alfo ih sage, in jenen Jahren meiner Tätigkeit in Bukarest pflog ¿ch Freundschaft mit einem hervorragenden Mitgliede der rumänischen Kammer, der mir für die Zeit, wo er erst Minister sein würde, allerlei \{chône Versprehungen machte. Als er nun endli Minister wurde und gar feine Anstalten machte, seine Zusagen ein- zulösen, erinnerte ih ihn s\chließlid, natürli in zart- fühlender Weife, Sie kennen ja meine Art (große Heiterkeit), an seine Zufagen. Da antwortete miz der trefliße Mann mit dem Brustton wahrer Ueberzeugung: „Sie glauben nicht, mein werter Herx, wie man seine Anfithten ändert, fobald man Minister wird.“ (Anhaltende Heiterkeit.) Auf französis klang das noh hübscher: „Vous ne sauriez croire, mon cher monsieur, ò. quel point le Gouvernement. change les idées dun homme. Sie können fich gar nicht vorstellen, lieber Herr, wie von Grund aus das Negieren die Ideen eines Maunes ändert.“ Das. machte mir da- mals einen gewissen Eindruck, ih war selbst noch nicht Minister ge- wesen. Das habe ich mir gemerkt, denn das kommt au anderswo vor. (Erneute Heiterkeit.)
Was die italienischen Politiker angeht, so braucht die große Mehrzahl derselben gar nicht ihre Ansihten zu ändern, denn alle verständigen italienishen Politiker, mögen sie Minister sein oder Minister werden können, find zu patriotisch und zu klug, als daß sie das italienishe Staats{chif aus dem rubigen Hafen des Dreibunds mit seinem sihern Ankergrund hinaus- führen möchten in die stürmishe See neuer Gruppierungen zu fompaßloser und abenteuerliher Fahrt. Die italienischen Politiker in allen Lagern wünschen die Erhaltung des Friedens. Solange Italien fest und loyal zum Dreibund hält, trägt es {on dadurch zur Aufrechterhaltung des Friedens bei, für \sich und für die Anderen. Wenn fih Italien vom Dreibund ablöfte, oder eine {chwankende und zweideutige Politik verfolgte, so würde das die Chancen einer großen und allgemeinen Konfla „ration erhöhen.
Der Dreibund hat noch niht Gelegenheit gehabt, si praktisch zu erproben. Diese Möglichkeit ist ihm aber hauptsächlih deshalb er- spart geblieben, weil er bestand, weil das mitteleuropäishe Bündnis
Das hat wesentli dazu beigetragen, Gefahren für die Integrität und die Unabhängigkeit der verbündeten Reiche und damit eine Hauptgefahr für den europäischen Frieden fern zu halten, Wenn es gelungen ist, diese Gefahren ohne blutige Zusammenstöße oder beständige, für Handel und Wandel verderbliche Kriegs- drohungen und Befäürchtungen abzuwehren, so beweist das den Wert des Dreibunds, der auch heute noch vor anderen fonst denk, baren Kombinationen gewichtige Vorzüge hat. Der ODreibund bat unter anderen auÿ den Nugzen, daß er zwischen der drei verbündeten Reichen Konflikte auss{ließt. Wären Italien und Oesterreih-Ungarn niht Verbündete, fo könnten die Beziehungen zwischen beiden gespannte werden. So bedeutet der Dreibund, an welhem die drei Verbündeten gleihmäßig interessiert find (sehr wahr !), wir nit weniger aber auch êeines- wegs mehr als die Anderen, niht nur eine politische Entlaftung Europas, sondern au eine Hauptquelle der gegenwärtigen allgemeinen wirtshaftlihea Prosperität, die eng mit der Erhaltung tes Friedens verknüpft ift. Und \o können wir ohne Uebertreibung und ohne Veber- hebung fagen, daß die Fortdauer des Dreibunds auch dem europäischen Interesse entspriht, weil dem Interesse des Friedens. S i Meine Herren, es if auch mir ein Bedürfnis, auszusprechen, wie- verläßlih die Unterstühung war, die uns Oesterreih-Ungarn auf der Konferenz _von Algeciras gewährt hat. Jch brauche nicht hinzuzu- fügen, daß wir eintretenden Falls OesterreiGß-Ungarn dieselbe Treue halten werden, getragen von der Zustimmung dieses hohen Hauses und der ganzen Nation. (Lebhaftes Bravo!)
Es ist mir unbegreiflich, wie man hat annehmen können, und ¿war namentli bei dem Besuch unseres Kaifers in Wien, wir wollten uns in die inneren Verhältnisse der habsburgiscen Monarchie -in- mischen. Wir wmishen uns nicht in fremde Verhältnisse ein und geben au keinen Rat, wenn er nit erbeten wird. (Zustimmung.) So was zu tun, ist taktlos, wie jede Aufdrirglihkeit. Insbesondere hedarf der Monarch keines Rats, der nun {hon feit so vielen Jahren und Jahrzehnten niht ohne ernste Prüfungen und {were Schicksals, schläge, aber immer pflihttreu, immer gerecht, die Völker und Länder am Donauftrom regiert.
Auch in den Konflikt zwischen Cisleithanten und Trans[eithanien haben wir uns nie eingemischt. Das wäre eine Torheit gewesen, ungefähr ebeafo töriht, als wenn si einer in einen Streit zwischen Eheleuten einmengt, was nämlich das sicherste Mittel ist, es mit beiden zu verderben. (Heiterkeit.) Das würde in Widerspruch ge- standen baben mit den dauernden Traditionen der deutschen Politik, von denen ich niemals abgewichen bin.
Allerdings kann ich nicht mit dem Ausdruck meines Erstaunens darüber zurückhalten, was ja au der Herr Abg. Bassermann bervor- gehoben hat, daß eine politisch ss geschulte und politis fo intelligente Nation wie die ungarishe uns \o etwas überhaupt Hat zutrauen können. Wie- war das möglich nah allem, was man in Budapest weiß über Au8gangspunkt, Ziele und Charakter des Dreibundvertrags, den ein Ungar, Graf Giula Andráfsy, abgef{lo}en hat, nah dem Kaiserbesuch in Pest vom September 1897, bei dem ih zugegen war, nach allem, was ih hier so oft in der Abwehr wie fpontan und motu proprio über unser Verhältnis zu Ungarn ausgeführt habe! Denn eine Einmischung in die Differenz-zwischen Cisl[eithanien und Trans[eithanien zu Gunsten von Trans[leithanien, das kann man unmöclih von uns erwartet. haben. Gegenüber diesem Konflikt war für uns nur Reserve mögli, und die haben wir eingehalten. Wir werden fle weir einhalten, denn gute Beziehungen zu Oesterreih-Ungarn entsyrechen dem deutschen Intereffe heute wie in den Tagen des Fürsten Bismarck. Die Erhaltung. der vollen Unabbängigkeit, der ganzen Machtstellung der Donau-Monarchie ist für Deutshland ebenso nüglih und ebenso notwendig, wie es die Erhaltung der deutschen Machtstellung für das Donaureich ist; für Oesterreih wie für Ungarn, au für Ungarn, auch für die Magyaren und das Magyarentum. Ich bin über- zeugt, daß wenn Deák und Andráfssy noch lebten, beide mir recht geben würden. Was wir wünschen, ist das Blübhen und Gedeihen der öfterreihisch-ungarishen Monarchie und: die Entwicklung ihrer beiden Teile, je nah Bedürfnis und Charakter.
Bevor { auf unsere Beziehungen zu Rußland eingebe, muß ich meinem Bedauera darüber Ausdzuck geben, daß immer wieder versuGt wird, uns die Absicht unterzushiében, uns in die inneren russishez Verhältnisse einzumishen. Davon ist keine Rede. Wir interrenieren auch in RNusfish-Polen nicht. Sollte der Brand über unsere Grenzen greifen, so werden wir bei uns das Feuer zu löschen. verstehen, baran wizd uns niemand ver- hindern. An fremder Löscharbeit beteiligen wir uns nicht. Die Be- hauptung, als ob Deutschland an einem Abkommen beteilgt wäre, wodur die bei dem Verlauf der Dinge in Rußland angebli zu er- wartende Gntftehung eines autonomen Volens verhindert werden solle, ist falsch. Gin solches Abkommen, sei es zwischen uns einerseits und Rußland andererseits odex ¡wishen uns und Defterreih-Ungarn einer- seits und Rußland andererseits, existiert nicht. Alle Angaben über irgend welche deutsche Ginmishung im eigentlichen Rußland over: in Nussish-Polen oder au in den Ostseeprovinzen, auf Exund von Ab= machungen mit fremden Regierungen oder mit fremden Höfen, von Minifter zu Ministez oder von Monarch zu Monar sind. ohne Ausnahme unwahre und tendeuziöse Erfindungen. Wir füblen gar nicht das Bedürfnis, irgendwo den Gendarm zu spielen. Das. ifi ein undankbares Geschäft, wie das Rußland felbst nach iner Fatervention in Ungarn 1849 empfunden hat. Das ist unter Umständen ein gefährliches und folgenshweres Unternehmen, wiedas Oefterreih und Preußen bei ihrer Intervention in Frankreich 1792 erfahren haben (sehr wahr! links), welche die franzèfishe Revolution elektrisierte und in ihrer Folge das erste franzôsische Kaiserreich mit seinen Eroberungszügen herbeiführte. “ Wir wünschen, daf; es der russischen Regierung und dem russischen Volk gelingen möge, einen Ausweg aus ihren gegenwärtigen innerae Schwierigkeiten zu finden. Wir wünschen eine Entwicklung der rusfiscgen Verhältnisse, dur welhe Rußland in gemeinsamer Arbeit von Regiexung und Volk als Greßmacht und als einheitlihes Neich erbalten bleiht. Denn eia innextih fräftiges und gesundes Rußland ist werwwoll als Faktor zur Wahrung des Gleichgewichts in Europa und in der Welt.
(Schluß in der Zweiten Beilage.)
Zweite Beilage
zum Deutschen Reichsanzeiger und Königlich Preußischen Staatsanzeiger.
M 291.
(S{luß aus der Ersten Beilage.)
Dabei mischen wir uns aber in keiner Weise in die inneren russischen Verhältnisse ein. Dadurh unterscheidet sich ja gerade unsere Politik von der uns von man@Wer anderen Seite empfohlenen Politik, daß wir bei inneren Wirren, Streitigkeiten und Gegensäßzzn benahh- barter und befreundeter Länder niht fanatisch Partei ergreifen (Z1stimmung), fondern unsere Politik zushneiden im Hinblick auf die allgemeine Weltlage und mit Nüksicht auf die Sicherheit des eigenen Landes. Solche doktrinäre Parteinahme ers{heint uns landes- verderblih. (Bravo! in der Mitte und rechts.) So einfach und leiht ist unsere Stellung in Europa denn doch niht, daß wir uns den Luxus gestatten könnten, uns unpolitischen Gefühlswallungen leicht- sinnig hinzugeben.
Die Haltung der Sozialdemokratie in allen diesen Fragen ist vom nationalen Gesichtspunkte aus gerade so falsch wie es die Haltung ter französishen Emigrés während der 9er Jahre des 18. Jahr- hunderts war, oder die Politik der-heiligen Allianz und ihrer Anhänger vom Wiener Kongreß bis zum Kiuimkrieg, oder, wenn ich an unsere preußi- {2 Geschichte denke, wie es das Treiben des \. g. Eidechsenbundes war het dem Kampf zwischen dem Ordenslande und den Polen. Dieselben Ursachen, dieselben Leidenshaften und Shwächen, dieselbe Unfähigkeit, dic eigene Parteidoktrin und das eigene Parteiinterefsse dem Wohl des Ganzen unterzuordnen, rufen bei den Menschen eben immer wieder die gleihen Erscheinungen hervor, ob es sich nun um einen Marquis des Ancien régime, einen Strauritter des Mittelalters oder einen orthodoxen Marxisten der Jegtzeit, wie Herr Ledebour, handelt. (Stürmische Heiterkeit.)
Ich freue mich meinerseits konstatieren zu können, daß unsere Be- ziehungen zu Nußland gute und freundlihe sind. Jh muß weit zurück- gehen in meinen diplomatishen Erinnerungen, um auf eine Periode zu stoßen, wo die Beziehungen zwischen Deutshland und Nußland fo normale, so ruhige und so fkorrekte waren wie heute. Ich möchte hierbei betonen, daß die wiederholten Begegnungen zwishem unserm Kaiser und dem Kaiser von Rußland dazu beigetragen haben, jenes gegenseitige Vertrauen aufrechtzuerhalten, das eine der besten Bürgschaften des europäischen Friedens if und das boffentlih zwischen den beiden großen Völkern immer aufrechterhalten bleiben wird zum Wohle beider Neiche und des allgemeinen Friedens,
Bei den Begegnungen zwischen den beiden Kaisern ist also von innerer russisher Politik niht die Rede gewesen, und namentlih nit im Sinne reaktionärer deutscher Ratschläge, sie haben aber dazu bei- getragen, von dem Verhältnis zwischen Deutshland und Rußland früher vorhandene Schatten von Mißtrauen und Verstimmung abzu- streifen. Die beiden Monarchen, der Deutshe und der Russische Kaiser, haben heute Einer vom Anderen die Ueberzeugung friedlicher freundliher und [oyaler Absichten.
Rußland braucht gegenwärtig alle seine guten Kräfte für die Neus- ordnung seiner inneren Verhältnisse. Nah dem Krimkriege schrieb Kürst Gortshakow in einer berühmten Note: „La Russie ne boude pas, elle se recueille. Rußland \chmollt nit, es sammelt fi.“ Auch jeyt hält Rußland es offenbar für nüßlih, fch in seinen aus- wärtigen Unternehmungen für einige Zeit eine gewisse Be- s{ränkung aufzuerlegen. Seit Monaten {weben zwishen der russischen und der englischen Regierung Verhandlungen, die den Erfolg versprechen, daß für die zentralasiatishen Gebiete, wo alte russis{- englische Rivalitäten bestehen, namentlich über Tibet, Persien und Afghanistan, ein Ausgleih erzielt wird. In Tibet und Afghanistan haben wir überhaupt keine, in Persien nur wirts{haftliße Inter- essen. Die deutsche Politik hat keinen Grund, jene Verhandlungen zu ftôren oder ihr mutmaßliches Ergebnis \ch{eel anzusehen. Sollten im weiteren Verlauf der Unterhandlungen deutsche Rechte und wohlerworbene Interessen in Frage kommen, so lassen loyale Erklärungen von beiden Seiten keinen Zweifel darüber, daß man unsere Nehte und Interessen ahten wird.
Leider kann ih mit dieser ruhigen Auffaffung über ein russis{s englisches Abkommen nit auf allgémeine Zustimmung rechnen. Erst neulih las id, wie falsch es sei, eine Verminderung der Reibungs- flächen zweier Großmächte in Zentralasien niht mit der größten Un- zufriedenheit zu verfolgen, da es im deutschen Interesse liege, daß Nußland und England sich wie Hund und Kate gegenüber \tänden. Und in demselben Artikel, der von dem Reichskanzler verlangte, daß er jenes russisch-englishe Abkommen mit allen Kräften zu vereiteln suche, wurde, fast in demselben Atemzug, der deutschen Diplomatie der Vorwurf gemacht, daß sie eine Macht gegen die andere aus- spiele und dadurch alle Mächte gegen uns mißtrauisch mate. Also auf der einen Seite soll es die Aufgabe der deutschen Politik sein, gegen eine Verständigung zweier Mächte in Asien zu intri- gieren; auf der anderen Seite wird uns der Vorwurf ge- mat, dem Auslande durch unruhige Geschäftigkeit Anlaß zur Verdächtigung der deutshen Politik zu geben. Wenn wir nah diesem Nezept verfahren und uns ohne genügenden deutschen Interessenanteil in fremde Angelegenheiten einmishen wollten, fo würden wir wirklich das Uebelwollen verdienen, das vielfa in der Fremde aus anderen Ursachen gegen Deutschland besteht. Das gehört jedo in das Kapitel von der Verkennung der Grenzen einer ver- ständigen deutschen Weltpolitik und gedankenloser Kritiksuht, auf das ih nachher noch eingehen will.
Unsere Beziehungen zu Japan werden wir auch fernerhin sorgsam pflegen. Japan hat stch durch die hervorragenden Leistungen seiner brillanten Armee und seiner tapferen Flotte seinen Plat unter den Großmätten errungen. Damit ist es nur dem Bei- spiel anderer großer Völker gefolgt und insbesondere unserem preußishen Beispiel. Denn auf dem Schwert beruht in erster Linie die Großmachtstellung eines Volks. Mit Eroberungs- gelüsten und Expansionsplänen haben wir uns nie in Ostasien ge- tragen. Jch habe {on am 11. Juli 1900 als Staatssekretär des Aeußern in meinem damaligen Rundschreiben an die deutschen Bundesregierungen erklärt , daß wir keine Aufteilung Chinas
1906.
Dan
Berlin, Donnerstag, den 15. November
wünschten und keine Sondervorteile anstrebten. Daß wir in Ostasien nicht auf territoriale Eroberungen ausgehen, haben wir son in dem deutsh-englishen Notenauêtaush vom Oktober 1900 ausgesprochen, vor dem english-japanishen Bündnis. Wir hatten und wir haben in Ostasien nur wirts{haftliße Ziele, Ziele, deren Erreihung wesentlich abhängig ist von der Erhaltung des Friedens, der Integrität Chinas und des Prinzips der offenen Tür. Diese Ziele, die zu verfolgen wir geradeso bereh:igt sind wie alle anderen in Ostasien interessierten Völker, werden wir auch weiter im Auge behalten. Jh freue mi, sagen zu können, daß die Haltung der cinesishen Regierung uns gegenwärtig keinen Anlaß zur Klage gibt, daß unser Handel in China seine Stellung neben dem Handel der übrigen dort interessierten Völker behauptet und daß wir an eine weitere zuhige Entwicklung des chinesishen Reichs glauben, zum Besten von China felbst wie zum Besten des internationalen Handels und friedlicher Beziehungen zwishen allen handeltreibenden Völkern.
Was unser Verhältnis zu Amerika angeht, so wird die große Mehrheit dieses hohen Hauses mir ret g-ben, wenn i sage, daß Deutshland und die Vereinigten Staaten aus natürlihen wie aus hiftorisen Gründen auf ein freundshaft- lies Verhältnis hingewiesen werden. Die Grenzen beider Länder berühren sch niht, ihre politisGen Interessen stoßen nirgends feindlich aufeinander. Um die wirtshaftlißen Interessen auszugleichen ift natürli beiderseitiges Entgegenkommen und beider- seitiger guter Wille erforderlih; wo diese beiden Voraussetzungen ein- treffen, erscheint ein solher Ausgleih niht unmögli.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit — last not least, denn man muß es nicht vergessen, wenn in einem kritiswen Augenblick Einer für einen gut war, weder im Privatleben noch im politischen Leben muß man das vergessen, das étonner le monde par son ingratitude des Fürsten Felix Schwarzenberg war ein politisher Fehler — also ih möchte noch erwähnen, daß wir für die Haltung dankbar sind, wel&e Amerika auf der Konferenz von Algeciras ein- genommen hat. Amerika hat nach dem geringeren Maß seines Interesses sch in Algeciras mehr zurückgehalten, es hat sich durchaus unparteiisch gehalien, aber sein ausgezeihneter und von allen geahteter Vertreter, Mr. White, hat jede Gelegenheit benußt, um zu einem Ausgleih der Gegensätze beizutragen und einen für alle Ve- teiligten ehrenvollen Ausgleich herbeizuführen. Das ist boch anzu- shlagen. Denn ein Scheitern der Konferenz würde nit nur in die Beziehungen zwischen Deutschland und Frank- reih, sondern in die allgemeine Weltlage und Politik ein irritierendes und keunrubigendes Element hineingetragen haben. Das war der zweite Dienst, den Amerika dem Weltfrieden und der Welt geleistet hat. Der erste große Dienst war die Wieder- herstellung des Friedens zwishen Rußland und Japan.
Bei diesem Anlaß möchte ich mir eine Bemerkung pro domo mea gestatten. Jch babe oft gehört und noch öfter gelesen, ich wäre durch den Ausbruch des russis{-japanischen Krieges überrasht worden. Wenn einmal die Archive unserer Zeit ch öffnen werden — ih werde keine Denkwürdigkeiten hinierlafsen — (Bravo und Heiterkeit), so wird diese Behauptung bei den Historikern Heiterkeit erregen Ich wußte natürli, wie die SaHen standen. Ich habe, soweit dies in unserer Macht ftand, und für einen unkbeteiligten Zuschauer zulässig war, in Japan zum Frieden geraten. Ich habe der russischen Regierung keinen Zweifel darüber gelassen, daß die japanishe Regierung unter gewissen Vorausfetßungen, d. h. wenn ihr nicht Zusagen gemacht und Garantien geboten würden, zum Kriege ents{hlcssen und daß das japanische Volk für den Krieg vorkereitet und gerüstet sei. Weiter konnte ih nit ceben. Und das, was ich auf vertraulihstem Wege erfahren hatte, jedem aufzubinden, jcdem Herrn von der Börse und jedem Herrn von der Presse, ih tue den Herren von der Presse gern einen Gefallen, aber das ging wirklih nit.
Da ich nun einmal auf einen mir perfönlih aemachten Vorwurf eingegangen bin, möchte ich noch eiwas anderes sagen. Man hat mir weiter vorgeworfen, ich sei dem Auslande gegenüber zu liebenéwürdig. Von der anderen Seite heißt es freilich im Auslande und sogar im Inlande, daß ich durch meine Politik das Ausland provoziere. Da ist wieder einmal ein Terrain, wo ich die mittlere Linie einhalte, welhe die vernünftige zu sein pflegt. Wenn man mir übertriebene Liebens8würdigkeiten vor- wirft, so muß ich annehmen, daß man die Urbanität, deren ih mich als Mensch und im persönliten Verkehr gern befleißige, ohne weiteres auch meiner politishen Tätigkeit als einzice Richtschnur unterstellt. Das i ein FJIrrtum. Und ih muß ferner annehmen, daß man sich nicht gegenwärtig hält, wie in der auswärtigen Politik Höflichkeit und Festigkeit sich nicht auss{chließen. Es kommt nur darauf an, die eine wie die andere Eigenschaft im rihchtigen Moment zur Anwendung zu bringen. (Heiterkeit.) Als ein ausgezeichneter russisWer Diplomat, Fürst Orloff, nach dem für Rußland ehrenvoll, aber unglücklich ver- laufenen Krimkriege nach Paris geshickt wurde, um die Friedens- verhandlungen einzuleiten, die zum Pariser Kongreß führten, apostrophierte er den Kaiser Napoleon 111. mit den Worten: „Die Hauptkunst eines Diplomaten, Sire, besteht darin, daß er im richtigen Moment zu \{meicheln und im rihtigen Moment einen Fußtritt zu geben versteht. Unser seliger Kaiser Nikolaus war ein großer Monar, aber als er den Krimkrieg anfing, hat er diesen weisen Grundsaß einen Augenblick aus den Augen verloren, deshalb bin ih hier.“
Es kommt also darauf an, das eine und das andere im richtigen Moment zu tun. Ein konsequent überhebender Ton, ungefüge An- remplungen des Auslandes, knotige Manieren, wirken {on in der Prefse {chädlich, {chädliher, als sich viele Leute einbilden. Sie würden unberechenbare Konsequenzen haben, wenn ich in meiner verantwort- lien Stellung einen solchen Ton anschlüge. Wenn man \sich auf den Fürsten Bismarck berufen hat, so wird ein eingehendes Studium der Reden wie der Handlungen dieses unvergleihli&en Staatsmannes
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R E P T E L G 6e
jeden davon überzeugen, daß dessen Größe nicht in sporenklirrenden Kürassierstiefeln oder im rafselnden Pallasch bestand, sondern im reten Augenmaß für Menschen und Dinge. (Sehr wahr!)
Das Dogmatisieren des Fürsten Bismarck ist übrigens niht nur zu einer Manie, sondern beinahe zu einer Kalamität geworden. Das mödte ich einmal ofen aussprechen. Wir laborieren an dem miß- verstandenen Fürsten Bismark. Da zeigt {ih wieder unsere Neigung, alles zu einem System zu machen. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts und namentli in der Konfliktszeit, war das Ideal des politisierenden Deutschen der Gelehrte, der Professor; der \chwebte uns seit der Frankfurter Paulskirche als Lichtbild vor. Das burshikose Wesen, das Junkerliße und Mis litärishe in Bismarck erregte zunähst Entrüstung — wir Deutsche entrüsten uns ja gern und leiht —, man muß das in aufrihtig ge- schriebenen Memoiren aus jener Zeit nahlesen, wenn man e8 nit selbst erlebt hat. Seit den ungeheuren Erfolgen des Fürsten Bismarck it der Professor etwas in Mißkredit gekommen. Dagegen denkt mancher Deutsche heutzutage, ein leitender Staatsmann müsse immer forsch und burshikos auftreten, immer und unausgeseßt kalte Wasserstrahlen versenden, immer und aus\chließlich Kürassierstiefeln anhaben. Mit anderen Worten, jeßt wird Fürst Bismarck ¿zum System erhoben, dabet aber vergessen, daß jede Zeit andere Mittel erfordert. (Sehr rihtig! in der Mitte.)
Alle, die mich persönli kennen, wissen, daß id meine unbegrenzte Verehrung und Bewunderung für den großen Kanzler nie und vor niemandem, niemandem gegenüber je verleugnet, daß ih ibm auch nah seinem Sturz die Treue gewahrt habe. (Bravo! rechts.) Aber gerade deéhalb darf ih es aus\sprehen, daß auch der größte Staats- mann ‘ein Sohn seiner Zeit bleibt. Die nah ibm kommenden Ge- shlechter können si nit darauf bes{ränken, seine Auffafsung und seine Urteile, geschweige denn seine Allüren blind nat- zubeten und nachzuahmen, sondern sie müssen mit der Entwickelung der Dinge gehen, die nie ill fleht und die auch das größte Genie nicht vorzeihnen und niht einmal immer vorhersehen kann. Friedrich der Große war der erste Staatsmann seiner Zeit. Wenn aber Fürst Bismarck nur fridericianise, d. h. spezifisch preußische Politik getrieben bätte, würde er die Einheit Deutschlands niht begründet haben. Das trat am deutlihsten zutage bei den be- kannten Differenzen zwishen Fürst Bismarck und unserem alten Kaiser wegen der zu stellenden Friedensbedingungen, im August 1866, in Nikolsburg. Nicht, daß es von den Bahnen Friedrihs des Großen abwih, hat m. E. Preußen vor hundert Jahren nach Jena und Tilsit geführt, sondern daß es im falschen Sinne, zu ängstlih, in zu enger Weise an diesen Bahnen kleben blieb. (Sehr richtig !)
Wenn die Entwicklung es verlangt, daß wir über Bi2marckscche Ziele hinausgehen, müssen wir es tun, wenn auch Fürst Bismarck zu seiner Zeit unter s{heinbar ähnlichßen Verhältuifsen anders geurteilt hat. Die wahre Nachfolge eines Mannes wie Bismarck besteht eben nit in \flavischer Nachahmung, sondern in der Fortbildung, selbst wenn diese hier und da zu einem Gegensaß führt. Und darum richte ih an alle, die es angeht, die Mahnung, es nit zu machen wie Lots Weib, die, weil fie nur nach rückwärts sah, zur Salzsäule wurde. (Heiterkeit.) Als praktishe Politiker, als Männer, welche die Aufgaben des Tages zu [ôsen haben, müssen wir mit der Tatsache uns abfinden, daß wir keinen Fürsten Bitmarck mehr haben. Der Name des Fürsten Bismarck, die Erinnerung an das, was Fürst Bismarck uns war, wird für alle Zeiten als Feuersäule herziehen vor der Nation, wie ih das vor seinem Denkmal gesagt habe, das da draußen stebt. Sein Name bleibt ein dauernder Besitz, ein Stolz, eine Gewähr der Fortdauer, ein Vorbild, ein Wahrzeichen, eine Mahnung, ein Trost für unser Volk gerade in sorgenvollen oter matten Tagen. Aber die Nation muß die Kraft in ih finden, auch obne einen sol@en Titanen auszukommen, wie ihn die Götter nur sehr selten, einmal alle hundert Jahr, einem Volke \ch{chenken. Denn wenn der Einzelne und auch der größte Genius sterblich ist, so ist die Nation unsterbliz. Ihr Dasein hat mit dem Tode des großen Kanzlers niht geendet. Und als Patrioten müssen wir, jeder an seinem Teil und nach seinen Kräften dahin wirken, daß das Werk des großen Kanzlers erhalten bleibe. Das gilt für mich und das gilt für alle, die auf nationalem Boden stehen. (Lebbhaftes Bravo!)
Es ist ja namentlich der alldeutsche Verband, der uns die Bismarckshen Stiefel und den Bismarckshen Pallasch vorrüt. Meine Herren, ih weiß wohl, daß die Bestrebungen des alldcutscken Verbandes das Gute haben, daß sie das Nationalgefühl wach zu erhalten suchen, indem sie dem Hang des deutsGen Philisters zum verschwommenen Kosmopolitismus wie zu beschränkter Kirhturmsépolitik entgegenwirken. Ich bedaure für meire Person, daß der Vorsitzende des Verbandes nit wieder in dieses hohe Haus gekommen ist. Ih weiß au, daß außer ihm manche warmherzige Patrioten diesem Verbande angehören. Aber für die praktische Politik kommt es ncch mehr auf Klarheit des Kopfes als auf die Wärme und Güte des Herzens an. Und das Herz des Patrioten soll sich niht zeigen in untershiedslosem Raisonnieren auf alle Fremden, auf Engländer und Russen, auf Nordamerikaner und Brasilianer, auf Italiener und Ungarn und noch weniger in kühnen Zukunftsträumen, welche die Erfüllung der Aufgaben der Gegenwart ershweren und überall Mißtrauen gegen uns erwecken. (Sehr wahr !) Das aber gebe ich vollkommen zu, daß einseitige Avancen und unerbetene Aufmerksainkeiten kein taugliches Mittel find, um ungerehte Angriffe abzuwehren und die “ Weltftellung der Nation zu wahren. Bei unruhigem Empressement kommt selten was Gutes heraus. (Sehr rihtig!)) Korrekt, aber nicht über- \{chwenglich, höflih, aber nicht sich klein maden oder gar ih weg- werfen. (Zustimmund.) Wer sich grün macht, den frefsen die Ziegen. (Heiterkeit.)
Bevor ich nun auf unsere angeblihe Isolierung komme, will au ih auf eine Erscheinung eingehen, auf die {hon von einer anderen Stelle hingedeutet wurde und die infolge dieses Hinweises neuerdings viel erörtert worden ist. Es ist kegreiflich, wenn die Sozialdemo- kratie mit der Feder und dem Mund bestrebt ist, Reichsverdrossen-