1909 / 292 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 11 Dec 1909 18:00:01 GMT) scan diff

könnten, ehe er Geseßzeskraft erlange. Dementsprechend hat der deutsche Vertreter in Tanger tatkräftig mitgewirkt an dem Zustande- fommen eines am 20. August v. I. einstimmig gefaßten Beschlusses der sämtlichen dortigen diplomatischen Vertreter als Organe ihrer Negierungen, wona dem diplomatishen Korps eine gewisse Kon- trolle hinsichtlich des Inhalts des Geseßentwurfs vor seinem Inkrast- treten zufallen follte.

Auf Grund dieses Beschlusses beteiligt sih Deutschland zurzeit an Vorverhandlungen in Paris über den Geseßentwurf, der alsdann dem diplomatishen Korps in Tanger zur Prüfung zugehen und von leßterem dem Sultan zur Vollziehung vorgelegt werden soll. Dank dem guten Einvernehmen aller an den Beratungen beteiligten Ne- gierungen ist . der Entwurf der Vollendung nahe, der das NBergwesen in Marokko für die Zukunft“ ordnen soll, und der auf den Grundsäßen der Priorität fowie der Schaffung gleiher Rechte und Chancen für die Bewerber aller Nationen beruht. °

Die hauptsächlichsten an der Frage inter ssierten Negiexungen, nit denen Deutschland Fühlung genommen hat, stehen auf dem Stand- punkt, daß vor Erlaß des in Art. 112 der Algeciras-Akte vorgesehenen Berggesetzes dem Geiste dieses Artikels entsprechend. Bergwerksrechte in Marokko niht erworben werden konnten und können, wenn auch der Wortlaut die Erwerbung nicht ausdrücklich verbiete. (Hört, hört! links.) Seit der Unterzeichnung der Algeciras-Akte sei in dieser Frage eine Art Interregnum eingetreten, während dessen etwaige Be- fugnisse des Sultans zur Erteilung solcher Rechte ruhen müßten. Andernfalls könnte ja der Sultan in der Zwischenzeit zu Gunsten einzelner Interessenten und Nationen über die gesamten Mineralien häße des Landes verfügen und auf diese Weise das kommende Geseß und den Art. 112 illuforisch machen. Es würde dann gerade das Gegenteil von dem erreiht werden, was der Art. 112 anstrebe.

Dem gekennzeichneten Standpunkte haben sich, soweit der Negiernug bekannt geworden, auch alle Interessenten der verschiedenen Nationalitäten mit Ausnahme der Herren Mannesmann anbequemt. Insbesondere beugte sich vor dieser Ueberzeugung auch die Union des Mines Marocaines, das bekannte internationale Syndikat, dem eine Meike der kapitalkräftigsten industriellen Firmen von Deutschland, Frankreich und anderen Ländern angehören. Auf dentscher Seite seien als Teil- nehmer an der Union genannt die Firmen Krupp, „Deutscher Kaiser“, Gelsenkirchen, sowie die Firma Fuchs-Langenheim in Tanger. Trotzdem viele von diesen Interessenten, wie z.B. die soeben genannteTangerer Firma, in den leßten Jahren bereits auf vershiedene Weise in Marokko auf dem Gebiete des Bergbaues tätig gewesen sind, sind sie doch bereit, fih mit der Erwerbung von Rechten zu gedulden, bis das Berggeseßz zustande gekommen ist.

Gegenüber dieser Auffassung von Negierungen und Privat- interessenten erstreben die Gebrüder Manneëmann eine Borzugs- stellung. Sie vertreten den Standpunkt, daß seit der Algeciras- Konferenz bereits Bergrehte erworben werden konnten, und daß fie solche Rechte erworben haben. Außer auf gewisse Anmeldungen bei dem Sultan Abdul Asis berufen sie sich in erster Linie auf ein unter dem 6. Oktober v. J. vom Sultan Mulay Hafid erlassenes angeb- liches Berggeseß und auf einen auf Grund desselben mit ibnen ab- geschlossenen Vertrag. Sie haben ihre Nechtsauffassung in der Oeffentlichkeit wiederholt begründet und sich dabei auf eine Neihe von Gutachten namhafter Rechtsgelehrter gestützt.

Von diesen Gutachten behauptet jedoch die Gegenseite, sie be- ruhten auf einseitiger und nicht ershöpfender Information, sonst würden sie anders ausgefallen sein. Gegen die Mannesmannsche Auf- fassung werden von fremden Regierungen wie von Interessenten folgende Gegengründe geltend gemacht:

1) Es entsprehe dem Geiste der Algeciras-Afte und besonders des Art. 112, daß vor Erlaß des in diesem Artikel vorgesehenen Berggesetzes Berggerechtsame in Marokko nicht erteilt werden können. Die näbere Begründung dieser Auffassung ist vorhin bereits vor- getragen worden.

9) Das sog. Berggeseß vom 6. Oktober 1908 könne nicht das in der Algeciras-Akte vorgesehene Berggeseß sein und von den Algeciras-Mächten nicht als solches anerkannt werden, da es nicht unter deren Kontrolle zustande gekommen sei. Der Sultan Abdul Asis- habe als damals noch von den Mächten anerkannter Herrscher den durch die Algeciras-Akte geschaffenen Ingenieurdienst der öffent sichen Arbeiten mit Ausarbeitung eines Berggeseßentwurfs beauftragt. Die Vertreter der Mächte im diplomatischen Korps zu Tanger hätten bei diesem Anlaß am 20. August 1908 einstimmig beschlossen, daß fie cine gewisse Kontrolle hinsichtlich des Inhalts dcs Berggesetzes vor dcfsen Inkrafttreten zu beanspruchen hätten. Infolge dieses Beschlusses seien die Mächte gebunden, fein anderes als das unter gemeinsamer Kontrolle zustande gekommene Gesetz anzuerkennen. Sultan Mulay Hafid sei an die Amtshandlungen feines Vorgängers gebunden, weil er bei seiner Anerkennung durch die Mächte ausdrücklich ver- sprochen habe, die von jenem getroffenen Entscheidungen zu respektieren ; übrigens habe Mulay Hafid nicht die Absicht, sich dieser Verpflichtung zu entziehen, wie aus seiner Note an die Mächte vom 14. September 1909, betreffend den Rifkrieg, hervorgehe, in der er auf das n o ch ausstehende Berggeseß hinweist.

3) Es wird weiter behauptet, daß das angebliche Oftobergeseß deswegen nicht das im Artikel 112 der Algeciras-Akte vorgesehene Geseß sein könne, weil es geheim gehalten und insbesondere dem diylomatishen Korps in Tanger niemals mitgeteilt worden sei. Es sei aber widersinnig, daß seit Jahr und Tag ein auf Grund der Algeciras-Akte, also auf Grund internationaler Verpflichtungen, und nah dem Prinzip der wirtschaftlichen Gleichberehtigung erlassencs Gesetz bestehen solle, von dessen Bestehen und Inhalt nur de Herren Mannesmann, sonst aber weder Interessenten noch - Negierungen Kenntnis erhalten hätten. Es sei also außer den Herren Meannes- mann, die am Tage der Entstehung des Gesetzes sih auf Grund des- selben weitgehende Zusicherungen hätten geben lassen, bisher niemandem gewesen, auf Grund dieses Geseßes Schritte behufs Erlangung von Bergrechten zu unternehmen; es handle fich um etwas speziell für die Herren Mannesmann Gemachtes, für fie nabezu ein Monopol bedeute und durch die Art seines

möglich

das Zustandekommens dem in der Algeciras-Akte festgelegten Prinzip der wirtschaftlichen Gleichberechtigung widerspreche.

Meine Herren, es wird nach diesen Ausführungen nicht verkannt werden können, daß den Behauptungen der Herren Manneêmann und der. zu ihrer Unterstüßung eingetretenen [

tamhaften Rechtsgelehrten gewichtige Gegengründe gegenüberstehen. Gs sei nochmals darauf

hingewiesen, daß solhe Gegengründe niht nur von fremden Negie- rungen, sondern auch von Privatinteressenten, insbesondere von der- jenigen Gruppe geltend gemaht werden, der die vorhin genannten bedeutenden deutschen Jndustriefirmen angehören. Angesichts dieses Gegensaßes in den Rechtsauffassungen bleibt_nihts anderes übrig, als eine schiedsgerichtlihe Lösung der Schwierigkeiten durch eine zu \chaffende vollkommen unparteiische Instanz. Nach alledem, meine Herren, kann von einer Preisgabe der Herren Mannesmann “und gewihtiger deutscher Nechte und Interessen nicht die Rede sein.

Es sind auch von verschiedenen Seiten Fragen gestellt worden über die Angelegenheiten des Congo. Es handelt sich hier um unsere Bezichungen zu Belgien, dem Besiger- des früheren Congostaates, jeßt Congokolonie. Diese Be- ziehungen zwischen uns und Belgien werden von zwei Streitfragen beherrs{ht, ‘deren Ordnung indessen, wie ih zuversichtlich" hoffe, in gutem Flusse sind. Die eine dieser Streitfragen betrifft die Grenz- regulierung“ im Westen Deutsh-Ostafrikas, wo unser Gebiet mit dem belgischen Congogebiet zusammenstößt. Jm Laufe der Verhandlungen, die bis auf diè 80er Jahre zurückgehen, sind verschiedene Verträge abgeschlossen worden über die Grenzen des Congogebietes. Die Divergenzen sind entstanden infolge des diesen Verträgen beigefügten unvollständigen und unvollkommenen Kartenmaterials, das erst mit der fortschreitenden Erforschung und Erschließung Afrikas auf eine richtige Grundlage gestellt werden konnte. Da die zwischen Deutschland und dem Congostaat bestehenden Differenzen noch dadurch kompliziert wurden, daß England auf Grund des Vertrages vom 1. Juli 1890 an einer definitiven Regelung der deutsh-congolesishen Grenze aus genau den gleichen Gesichtspunkten interessiert ist wie wir, so haben wir uns veranlaßt gesehen, auch mit England in Ver- handlungen wegen Megelung unserer Grenzverhältnisse im Nordwesten unseres deutsch-ostafrikanishen Schußtzgebietes ein- zutreten. Es fommt dabei in erster Linie in Betracht die Auslegung des Begriffes Mfumbiroberg, wie er in dem er- wähnten Abkommen von 1890 enthalten ist. Diese Verhandlungen mit England haben zu einer freundschaftlichen Verständigung über diesen alten Streitpunkt geführt.

Die belgische Negierung, welche, wie erwähnt, den Congostaat als Congokolonie sich angegliedert hat, ist inzwischen gleichfalls mit deim Wunsche an uns herangetreten, die in jener Nordwestecke des Schutzgebietes von altersher bestehenden Grenzshwierigkeiten durch besondere Kenner des Landes im Wege mündlicher Verhandlungen regeln zu lassen. Wir sind diesem Wunsche dadurch eutgegengekommen, daß wir unsere Bereitwilligkeit zur Bestellung von Spezial- fommissaren unter der Vorausfeßung erklärt haben, daß auch England ih bei diesen Besprechungen vertreten läßt. Hierüber ist Ein verständnis zwiscl(en den drei beteiligten Staaten erzielt, und die be- z'iglichen Verhandlungen werden binnen kurzem in Brüssel beginnen.

Bei Erledigung dieser Frage” meine Herren, wird für uns leitend sein, daß die Grenzführung \sich möglichst an die natürlichen Terrainverhältnisse anschließt, und daß politische und wirtschaftliche Einheiten der dort ansäffigen Bevölkerung nicht unnötig zerrissen werden. Es wird dementsprechend erforderlich sein, daß die Interessen des großen Sultanats Nuanda bei diesen Verhandlungen von uns ganz besonders im Auge behalten werden. Da die Verhandlungen noch in der Schwebe sind, fo muß ih es mir versagen, meine Herren, Ihnen zurzeit nähere Aufklärungen zu geben. Ich hoffe aber, bald in der Lage zu sein, Ihnen über die Ergebnisse der Verhandlungen Mitteilung machen zu dürfen, und ebenso wird der Herr Kollege vom Kolonialamt Jhnen aksdann über die geographischen Einzelheiten nähere Angaben machen.

Die zweite Streitfrage, welche ja auh hier im hohen Hause wiederbolt berührt worden ift, bezieht sih auf die Durchführung der in der Congo-Akte gewährleisteten Handelsfreiheit im Congobecken im allgemeinen und auf eine Reihe von Reklamationen, die wir im Zu- sammenhang damit bei der belgischen Regierung vorgebracht haben und weiter verfolgen. Inzwischen ist, wie bekannt, die belgische Re- gierung selbständig mit einem Reformprogramm hervorgetreten. Darin ist ausdrülih die Erschließung eines Teiles des Congogebietes durch die private Initiative und die unbeschränkte Zulassung fremder Kaufleute vorgesehen. Allerdings soll die Eröffnung des Landes nicht auf einmal, sondern zonenweise erfolgen und auf drei aufeinanderfolgende Fahre vom 1. Juli 1910 ab verteilt werden. Die volle Tragweite dieser Vorschläge läßt sich zurzeit nicht übersehen, und ih kann daher meine Ansicht dazu in endgültiger Form noch niht aussprechen. Immerhin ergreife ih gern die Gelegenheit, um das Neformyprojekt des belgischen Kolonialministers Renkin willkommen zu heißen, da es den Blick in eine hoffnungsvollere Zukunft eröffnet. Das Pro- gramm sichert die Erfüllung der vertraglichen Rechte und Pflichten; es wird in loyaler Durchführung gewiß zur Wohlfahrt der Congo- bewohner beitragen und die Handelsfreiheit im Congobecken für alle Nationen zur Tat werden lassen. (Bravo! in der Mitte.)

Noch ganz kurz, meine Herren, eine persönliche Angelegenheit. Der Herr Abg. Bassermann hat die Rede berührt, welche der Kaifer- lihe Botschafter Graf Bernstorff vor nicht langer Zeit in Philadelphia gehalten hat. Dieses Vorkommnis hat zu ziemlich erregten Aus- einandersetzungen in einem Teile unserer Presse geführt. Ich möchte darüber das Folgende sagen. Zu den Aufgaben unserer Vertreter im Auslande gehört es, Eutstellungen der Absichten unserer Politik entgegenzutreten, wo immer sich folhe zum Schaden unserer Inter- essen bemerkbar machen. Unsere Vertreter entsprehen nur den allgemeinen Weisungen der heimischen Behörde, wenn sie bedenklichen Verdächtigungen unserer Politik mit der Autorität ihrer Person und je nah der Lage der RYerbältnisse, wenn es den Erfolg verspricht, in öffentliher Mede entgegentreten. Ein solcher Fall liegt hier vor. Es wird Ihrer Aufmerksamkeit gewiß nicht entgangen sein, meine Herren, mit welchem Nachdruck seit Jahr und Tag und gerade in den lezten Zeiten die öffentlihe Meinung îtn Amerika in deutsch- Immer wieder suchte man

feindlichem Sinne bearbeitet worden ist. Mißtrauen gegen Deutschland zu erwecken mit der Darstellung, daß unsere Politik zunächst auf einen Kamyf gegen England hinaus- gehe, um \ich daun gegen Amerika zu „wenden, mit dem Ziel der Gründung eines großen Kolonialreihes im Süden Brasiliens. Um den Amerikanern diesen Gedankengang plausibel zu machen, greift man - mil auf Aeußerungen der Publizistik alldeutscher Nichtung oder, um genauer zu sein, solcher, welche im Ausland dafür gehalten werden, zurü. Alles, was in dieser Publizistik an kühnen Kombinationen aufgetreten ift oder auf-

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tritt, wird für unsere Gegner ein Argument und dient zur Ver-

S2 1 ol Vorliebe

dächtigung Deutschlands. Dabei möchte ih aber doch einschieben, daß ich wohlverstanden scheide zwischen der Tätigkeit des Alldeutschen Ver- bandes als folchen und pangermanistischen Aeußerungen, für welche dieser Verband nicht verantwortlih ist. Es liegt mir fern, den All- deutschen Verband mit allem, was unter alldeutsher Flagge erschienen ist, zu identifizieren, und ih mache darauf aufmerksam, daß Graf Bernstorff den Alldeutschen Verband nicht genannt hat. Ich nehme nun zur-Ehre der alldeutshen Schriftsteller an, daß ihnen nichts ferner liegt, als durch ihre Veröffentlichungen unsere Interessen in Auslande zu schädigen und deu diplomatischen Vertretern des Reichs ihre gewiß nicht leihte Aufgabe zu erschweren. Die alldeutschen Politiker können auch nicht verantwortlih gemacht werden für die Entstellungen, * die ausländishe Gegner an ihren Gedanken vornehmen. Tatsache t aber, daß die deutschfeindliche Presse einen großen Teil ihres Nüstzeugs der fogenannten yangermanistischen Literatur entlehnt, und daß die îin- der- artigen Schriften vorgetragenen Pläne mit den Absichten der amt- lichen "Politik des Reichs gleichgestellt worden sind. Treten solche Be- strebungen hervor, und werden die Kaiserliche Regierung oder ihre Nertreter im Auslande als offene oder heimliche Anhänger und Förderer aus\hweifender Ideen hingestellt, so muß die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit wieder zurecht gerückt werden. (Sehr richtig! in der Mitte.) Von solchen pflihtmäßigen Erwägungen hat sich der Kaiserlihe Botschafter in Washington bestimmen lassen, wcnt er für die öffentlihe Meinung Amerikas das Schreckgespenst eincs deutschen Kolonialreihs in Südamerika in seiner Wesenlosigkeit ent- hüllt hat. (Bravo! in der Mitte.) Ich kann in seinem Auftreten nichts Ungehöriges finden und muß den Herrn Grafen Bernstorff gegen solche Angriffe in Schuß nehmen. (Bravo! in der Mitte.) Uebrigens weiß jeder, der den Herrn Grafen Bernstorff kennt, daß man ihm Feindseligkeit gegen gute deutsche Patrioten nicht unter-

tellen kann. Abg. Sheidemann (Soz.): Ih möchte zuerst Protest gegen die Art erheben, wie im Frühjahr der Reichstag nah Hause geschickt und dann der neue Reichskanzler ernannt worden ist. In wirklich fonstitutionellen Ländern beeilt sich jede neue Regierung, fich der Volksvertretung vorzustellen. Das Meich befand sich in einer politischen Krise allerersten Nanges; Fürst Bülow hatte seine Ent- lassung erbeten. Der Neichstag hatte alle Hände voll zu tun, den neuen Steuersegen auf das deutsche Volk auszuschütten. Da war es nur natürlich, daß bei den Volksvertretern die Veinung vorherrschen mußte, daß der Neichstag zusammen bleiben müßte; und auch der Seniorenkonvent unterstrih einstimmig diesen Wunsch. Aber wie kam es in Wirklichkeit? Fürst Bülow amtierte noch als eine Art galvani sierte Ministerleiche fort, und als die Steuern bewilligt waren, wurden wir wie Schulbuben nach Hause geschickt, und dann wurde der neue Reichskanzler ernannt, wobei sich die bekannte Szene- unter deu „Grünen Hut“ abspielte, wo der neue Neichskanzler gemacht wurde. Seit fünf Monaten führt \{chon der neue Kanzler die Geschäfte: erst in der allerleßten Minute hat man den Neichstag berufen. Das stellt \ih als ein ganz ungeheuer- lier Aft der Mißachtung der deutschen Volksvertretung dar. Aber ein Wunder is das niht. Welche Behandlung hat denn der Neichstag erfahren nach jenen November- verbandlungen, welche Antwort hat denn da das persönliche Regiment und die Bureaukratie gegeben? Wo waren denn am 13. Juli die Garantien dafür, daß nicht irgend ein General, der seine Befähigung auf irgend einer Kabarettbühne erworben hatte, zum Kanzler gemacht wurde, zur Erfüllung gewisser persönlicher Wünsche benußt wurde, und inzwischen bis zur Eröffnung schon einem anderen Kanzler Plaß gemacht hatte ? Von der Majorsuniform bei der Eröffnung des Neichstags will ich nit weiter sprechen. Es macht den Eindruck, als ob der neue Neichskanzler die Absicht hätte, eine Aera der Nuhe einzuleiten; die offizióse Presse hat eine Neihe von Schlummerliedern gesungen, die an die Krankenstube erinnern. Nach der gestrigen sogenannten Nede des Neichskanzlers scheint das seine Absicht tatsächlich zu sein; aber dann scheint der Kanzler doch die Interessen des \chwarz-blauen Bloks zu verwechseln mit den Interessen des deutschen Volkes. Das deutshe Volk will keinen faulen Frieden mit diesen Herren, sondern den frischen fröhlichen Krieg mit thnen. Wo sind die Auf- gaben der Zukunft, von denen die Rede war, wo ist da Programm? Im Etat ist nihts davon zu entdecken. ! Die ungeheuren Summen für Marine, Heer und Kolonien findet man dort wieder; in diesem wie in den anderen Gebieten bietet der Etat ganz das alte Bild. Einen „guten CEindruck“ macht er, indem er mit einem gewissen Geschick aufgemacht worden ist um diejenigen, die si gern täuschen lassen, über das Böse, was darin steckt, hinwegzutäushen. Es ist gespart worden, aber nur auf dem Papier, die Etatsüberschreitungen werden nicht auf sich warten lassen. Man mußte den “Etat so aufstellen, um das Fiasko der Neichsfinanzreform nicht zu kraß in die Erscheinung treten zu lassen. An dem Heeres-, Marine- und Kolonialetat hatten Hunderte von Millionen gespart werden können; aber daran denkt man nicht. Herr vom Nath hat in der „Deutschen Revue“ über Herrn von Holstein Neröffentlichungen gemacht, die so recht zeigen, wie bei uns iber das Maß des Notwendigen hinaus mit dem Gelde des deutschen Volkes gewirtschaftet wird; die Ausführungen Holsteins über das Flottenfieber, über die Treibereien des Flottenvereins, über die Treibereien gegen England klingen schon beinahe fozialdemokratisch. Bielleicht findet sich etwas von dem vermißten Programm, wenn man die Aeußerung der „Post“ beachtet, daß der Kanzler auch auf sozial- volitishem Gebiet eine weise Zurückhaltung üben wird; diese Zeitung deutet auch einen Zentrumsantrag, der durchgreifende Sparsamkeitsmaß- nahmen fordert, in gleichem Sinne. Also im Etat nichts von Fort- \chritten, von Zukunftsprogramm. Dagegen hat man uns durch den plötlihen Schluß des Meichs8tages eine Menge wert- voller gesetzgeberischer Arbeit einfach zerschlagen. Die neue Aa wurde 40 auß mit der - höchst charakteristischen Aktion der Vertagung der Witwen- und Waisenversiche- rung eingeleitet, wie dem Kanzler bereits auch der Beifall der Scharfmacher zu teil geworden ist. Die erwartete „mindestens halbstündige“ Einleitungsrede des Kanzlers war tatsächlih nur eine Niertelstunde lang und hat auf allen Seiten eine starke Grnüchterung hervorgerufen; aus ihr einige Nosinen herauszufischen, ift ein vergeb- liches Beginnen gewesen, ebensowenig will es gelingen, irgend welche bedeutenden Dinge hineinzugeheimnijjen. Mir ist gesagt worden, der frühere Reichskanzler Fürst Hohenlohe fei ein unbeholfener Nedner gewesen; nah der gestrigen Rede des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg wird mir von derselben Seite erklärt, im Vergleich zu diesem sei Hohenlohe ein wahrer Demosthenes gewesen. Der Yeichs- kanzler lehnt es ab, eine Parteiregierung zu führen; er sollte es bloß einmal wagen, nicht konservativer Parteiminister zu sein! Der Meichskanzler hat von einer Politik der Stetigkeit gesprochen, als ob nicht alle Welt seit 20 und mehr Jahren sich geradezu über die deutsche Zickzackpolitik lustig machte. In einem Veoment, wo das Wort Marokko bier gefallen ist, sollte man do nicht von dieser „Stetigkeit" sprechen. Zum Leben der Nation soll der politische Kamyf gehören, aber was versteht der BMeichskanzler unter politischem Kampf? Politisher Kampf |

regelungen derer, die anderer Ansicht sind als die Regierung. Po

litischer Kampf ist auch das Sammeln von Geldern, die gegen die E Nirgends iyt etwas

Arbeiterschaft gebraucht werden sollen von cinem großen Zug zu sehen. Wir hatten etwas Be fonderes zu hören erwartet. Präsident schafft sich_ mit M hex

der Glocke Muhe.)

Behandlung der deutschen Beamten liegt in der Tat ein großer Zug |

(Schluß in der Zweiten Beilage.)

sind au die Maß- |

(Langandauernde Heiterkeit, der |

Zweite Beilage

zum Deutschen Reichsanzeiger und Königlih Preußishen Staatsanzeiger.

¿ 292.

Berlin, Sonnabend, den 11. Dezember

1909.

(Schluß aus der Ersten Beilage.)

Sie werden gedrückt, diszipliniert und schikaniert, wenn fie eine andere Meinung haben. Eine Art Gesinnungsschnüffelei ist großgezogen worden, die zur Gesinnungslumperei führt. Das daraus resultierende Duckmäuser- tum ist vielleiht der größte leitende Sktaatsgedanke, den wir haben. Zur Zeit des Bülow-Blocks, zu dem auch die Freisinnigen gehörten, wurden auch freisinnige Lehrer gemaßregelt; jeßt unter dem Kurse des \{warz-blauen Blocks werden die Zentrumslehrer ge- maßregelt. Es besteht nur ein gewisser Trost für die Klasse der Unterbeamten, daß es dem obersten Beamten, dem MNeichskanzler, nicht einmal besser geht. Herr Reichskanzler, wenn Sie etwas anderes tun, als Ihnen vorgeschrieben wird, dann sind Sie ein toter Mann. Dem Vorgänger des Reichskanzlers ist ja auch der Dolch in den Nücken gestoßen worden, der doch zweifellos ein größeres Geschick im Umgang mit Menschen hatte, als es sein Nachfolger mir zu haben scheint. Selbst er, der so die Sozialdemokratie bekämpft hat, hat die De- nunziationen verspüren müssen und sich z. B. von der „Conservativen Correspondenz“ sagen lassen müssen, daß er in wesentlichen Dingen mit der Sozialdemokratie geliebäugelt hat. Ein derartiger Kampf muß von allen Menschen, ganz gleich, welcher - Partei sie angehören, mit einem kräftigen Pfui Teufel! abgetan werden. Die Herren, die Vülow zur Strecke gebracht haben, sind es, die-den Feichskanzler von Bethmann Hollweg in den Fingern haben. Er soll sih ja nicht täuschen, wer diese Herren sind. Als vor einigen Monaten ein lauter Schrei der Entrüstung durch die ganze Welt ging (Lebhaftes Oho! im Zentrum) ich glaube, es tut Ihnen bloß leid, daß Sie thn nicht brafen und \{chmoren konnten (Lachen im Zentrum) ih bitte, tun Sie Ihren Gefühlen keinen Zwang an D Mat 4 2. Dag „Regensburger Morgenblatt" von Ferrer geschrieben, daß da mit einer der größten Verbrecher der Menschheit abgeurteilt worden wäre. ÚÜnd löblicherweise habe sich die spanische MNegierung dur die Angriffe der Pariser Loge nicht beirren lassen. Ferrer habe den Tod verdient, er sei s{limmer als ein Mörder, der etwa ein Dußend Menschenleben auf dem Herzen hat. - Alfo ein gottesfürchtiger Raubmörder ist nah Ihrer Ansicht einem Menschen vorzuziehen, dessen ganzes Verbrechen darin bestanden hat, Freimaurer gewesen zu sein. Auch die Herren, die in Friedeburg-Arnswalde die Mehr heit der Wähler für ih haben, sind die Herren des Reichskanzlers. In England hat die Negierung mit erfreulicher Energie den Kampf gegen die Junker aufgenommen. Die englischen Junker bereiten thren MWablkamvf vor, indem sie gegen Deutschland heßen und damit zu- gleich die Geschäfte der deutschen Chauvinisten fördern, gerade wie es umgekehrt bei unseren leßten Wahlen, den Hottentottenwahlen war. Schwindel hüben und drüben! Die englishen Arbeiter und die deutschen Arbeiter werden aber alles tun, um zu verhüten, daß fich die beiden großen Kulturnationen in die Haare fahren. Ver gleiche man einmal unseren früheren Schaßsekretär Sydow mit dem englischen Schatminister Lloyd George. Der leßtere hat in einer Nolksversammlung sih dagegen gewehrt, daß die Handvoll Junker in England den Boden besitzen, und alle anderen retlose Landstreicher sein sollen. Was würde der Reichskanzler für ein Gesicht machen, wenn er eines Morgens in einem national gesinnten Blatt, etwa der „Staatsbürger-Zeitung" oder der „Wahrheit“, lesen würde, daß sein Schabsekretär in einer Volksversammlung eine folche Rede gehalten hätte! Konservativ oder fonservativ-klerifal is Deutsch- and immer regiert worden, auch zur Zeit, als die ganze Geschichte eine gewisse liberale Schminke bekam. In den leßten Monaten ift ein ganzer Katechismus aufgestellt worden, wie man Deutschland am besten rückwärts regiert. So hieß es, daß ein König sein Wort nicht zu halten braucht. Jn der preußischen Thronrede wurde die Wahl reform als wichtigste Aufgabe bezeichnet, und es hieß: „Es ist Pein Wille." In den Organen der \taatserhaltenden Partei lesen wir aber, es set nit sein Wille, kein Minister brauche zu halten, was er versprochen. Das konservative Kirchenblatt schrieb, ein König brauche niht zu halten, was er versvrochen hat, solange ein nicht mehr amtierender Minister im Amte gewesenist. Ein nettes Christentum! Gegen solche Schurkerei hätte sih der Ministerpräsident öffentlich ver wabren follen. Nicht als ob ih besonderes Vertrauen in ein Königswork seßte. Gehört doch der Wortbruch zu den erhabensten Traditionen des preußishen Königreiches. (Große Unruhe und Unterbrechungen. Vizepräsident Erbprinz zu Hohenlohe: Ih muß diefen Aus druck entschieden rügen, ich rufe Sie zur Ordnung!) Als Napoleon die deutshe Landkarte sehr wesentlich verändert hatte, wandte Friedri Wilhelm 111. sich an das preußishe Volk um Hilfe und versprach ihm eine Verfassung. Später aber vergaß er fein Ver sprechen, und au Friedrich Wilhelm 1V. regierte 8 Jahre, obne dar- auf zurücfzukommen. (Große Unruhe rechts. Rufe: Das gehört gar nicht hier ber!) Darüber haben Sie nicht zu entscheiden; Ihnen sind diese Dinge nur unangenehm. Hinsichtlih des Wahlrechts hat sich der Neichskanzler auch jeßt wieder hinter seine Kollegen im preußischen Landtag verschanzt. Das Verhalten der konser vativen Partei ist geradezu brutal. (Vizepräsident Erbprinz zu Hohenlohe: Ih nehme an, daß Sie niht von Anwesenden sprechen.) Aber selbstverständlih micht. Leider ist , auch das bisherige Verhalten der Parteien, die zwischen dem neucn shwarz- blauen Block und den Sozialdemokraten sitzen, zu verurteilen. Sie fämpfen jetzt gegen eine Mehrheit, die sie selbst geschaffen haben. Waren sie denn nicht selbst bereit, alle diese s{limmen Steuern ebenfalls zu béwilligen ? Der Reichstag ist nichts als ein Hohlspiegel, in dem das Antliß des Volkes als Fraße erscheint. Wenn wir ein gerehtes Wahlrecht hätten, dann würden rechts nur 75 und bei den Sozial demokraten 130 Abgeordnete sißen. Der Bund der Landwirte kämpft in brutaler, aber doch wenigstens offener Weise, sodaß man ihn am Kragen packen kann. Aber geradezu wie eine moralische Pest wirken die Interessenverbände, die geheime Komitecs bilden und Gelder sammeln, um die Parteien zu korrumpieren. Der Zentralverband Deutscher Industrieller hat versprochen, die Kandidaten zu unterstützen, - die sich heimlich bereit erklären, in ibren Fraktionen als seine Agenten aufzutreten. Das CharakteristisGe ist, daß man alle Parteien für geeignet hält, von diesen Mitteln zu profitieren. Nichts ist kennzeichnender für die Art, wie weit diese politishe Krawattenmacherei bereits gediehen ist, als die Devise: Hier ist das Geld, wo ist die Ware? Wenn die Leistungen nicht der Bezahlung entsprechen, so wird natürlich Skandal gemacht. In der Volkswirtschaftlichen Korrespondenz wurde ge- schrieben: „Leuten wie Bassermann und Stresemann keinen Pfennig.“ Jst es vielleiht mit dem neubegründeten Hansabund anders ? Wer bezahlt, will gut bedient sein. Sie sind schwach weil Sie die Klassen- partei der besitßenden Minderheit sind, Sie sind zu ewigem Kom- promisseln zwischen den verschiedenen Interessenten verurteilt. Auch wir sind eine Klasse, es ist uns zum Vorwurf gemacht worden, daß wir von den Arbeitergroshen leben. Wir sind stolz darauf, und wir können mit Necht darauf hinweisen, daß wir mindestens die Interessen von ®/10 unserer gesamten Bevölkerung vertreten. . . . Es wäre ganz falsch, die leßten Wahlerfolge der Sozialdemokratie lediglich unter dem Gesichtswinkel der Finanzreform zu betrachten. Der Bülow Block hat es fertig gebracht, die Wahlen, wenn ih fo sagen darf, zu fälfchen. Ein Kunststük war das nicht, ein Heldenstück auf keinen Fall. Zweifellos haben die letzten Ereignisse aufgepeitsht und die Wähler zum Nachdenken gebracht. Aber der eigentliche Grund für unfer weiteres Fortschreiten bei den leßten Wahlen liegt doch in der kapitalistischen Entwicklung. Die Niesenkonzerne, die Syndikate, die das Bankkreditwesen und die

Industrien in wenigen Händen fkonzentrieren, haben uns die Massen zugeführt. Sie verstehen es, die Arbeiter in. der brutalsten Weise niederzuknüppeln, die Beamten und Ar- beiter um ihre \taatsbürgerlichen MNechte zu betrügen. Vater Staat steht mit den fapitalistishen Mächten im Bunde. Er treibt einen förmlichen Althandel mit Geheimräten und Ministern. Cin typisches Beispiel ist der frühere Minister von Podbielski, der jeßt in der A.E.G. ist. Wenn die Arbeiter sich zusammentun, z. B. gegen den s{ändlich ausgedachten Zwangsarbeitsnachweis, wenn die Arbeiter im Mansfelder Bergrevier zum Streik greifen und die Hülfe des Staates anrufen, . dann läßt der soziale Staat, das soziale Königtum die Maschinengewehre auffahren, ein Instrument, mit dem man zahlreiche Brüder, Väter und Mütter totschießen kann. Das wirkt ungemein qaufflärend auf die Arbeitermassen. Wir sind im Bunde mit der Volkskraft, kämpfen für das Necht der Menschen, wir wissen, daß unser Ziel nur zu erreichen ist durch Beseitigung des fapitalistischen Systems. Darauf beruht unsere Kraft in der Gegen- wart und unsere unerschütterliche Zuversicht für die Zukunft.

Reichskanzler Dr. von Bethmann Hollweg:

Der Herr Abg. Scheidemann hat es für gut befunden, seine Aus- führungen zum Etat zu verquicken mit einem Exkurs über preußische Geschichte und mit den heftigsten Schmähungen gegen Preußens Könige. (Zuruf von den Sozialdemokraten: Tatsachen! Er hat nur die Wahrheit gesagt!) Er ist dafür von dem Herrn Präsidenten bereits zur Ord- nung gerufen worden. Aber auch ich muß Verwahrung einlegen gegen eine solche Verunglimpfung von Preußens Königen. (Lebhasftes Bravo! rechts.) JIch kann mih aber mit dieser Verwahrung be- gnügen, denn im preußischen Volk ist das Bewußtsein von dem, wäs seine Könige geleistet haben, viel zu fest gegründet (Sehr richtig !), als daß Ausführungen wie die des Herrn . Abg. Scheidemann geeignet wären, an dieser Ueberzeugung irgend wie zu rütteln. (Lebhaftes Bravo! Zuruf von den Sozialdemokraten: Die Wahrheit auch über die Könige !)

a, Sreiberr von Gamp (Np.): In keiner Partei wird die Freiheit und die Selbständigkeit so fehr unterdrückt, wie in der sozialdemokratischen Partei. Die Sozialdemokratie duldet auf der Arbeitss\tätte keine Arbeiter, die nicht der Partei angehören, die nicht organisiert sind. Wo kommt solche Unduld]amkeit bei anderen Parteien vor? Sie suchen in der Aufheßung ihre Forderung und sind jeßt unglülich darüber, daß sie vor ein paar Jahren eine gröbliche Schlapye erlitten haben. Was follen denn Ihre Angriffe gegen den Zentralverband Deutscher Industrieller oder gegen den Hansa- bund? Geben Sie etwa Ihre Wahlgelder zur Unterstüßung von Abgeordneten, die nicht Jhrer Meinung sind ? Jch habe noch nie da von gehört. Ist es nicht geradezu unerhört, daß hier im Neichstage kaum einer ist, der der Großindustrie angehört, ist es nit ein be rechtigter Wunsch, daß folche Vertreter in den Reichstag kommen, und vertreten diese nicht auch gleichzeitig die Interessen der Arbeiter ? Der Abg. Scheidemann hat auf die englische Wahlkampagne hin- gewiesen. Auch ih möchte einmal den deutschen Schaßsekretär sehen, der solche Reden hielte wie sein englischer Kollege! Wenden Sie sih doh einmal an die Arbeiter in England, lassen Sie die doch dafür sorgen, daß sie die ‘Alters- und Invalidenversiche- rung bekommen; dann hätten hie eiwas zu Ul Wenn wir heute niht in dem Umfange für “die Arbeiter sorgen können, wie viele“ es wünschen, so find es die internationalen Kon furrenzrüsichten, die es verhindern. Dieselbe Nede, wie der Abg. Scheidemann heute, kann ein anderer Sozialdemokrat demnächst bei der Interpellation über den Arbeitsnachweis oder bei jeder andern Gelegenheit halten. Wenn Sie (zu den Sozialdemokraten) Arbeitsnachweise für sich errihten wollen, so müssen Sie dasselbe Recht auch den Arbeitgebern zugestehen; davon reden Sie aber niht. Der Etat macht enolih ernsthaft den Anfang damit, daß laufende Ausgaben nicht mehr auf Anlethe: übernommen werden; mit der bisherigen eiwas gewti|jenlo]en Wirt haft der leßten Iahr@ in diejer Hinficht muß jeßt ausgeraumî werden. An dem Etat wird sich, so wie er aufgestellt ist, nicht viel

ändern lassen. Die 48 Millionen Matrikularbeiträge müssen von

jeßt ab als dauernde Schuldenlast der Einzelstaaten angesehen werden. Solange wir die Matrikularbeiträge als eine Ausnahmemaßregel an sahen, fonnte der Maßstab nah der Kopfzahl beibehalten werden ; wenn die Einzelstaaten aber diese Summe als dauernde Last über nebmen follen, muß doch Bedacht auf eine Modifikation nach der Leistungsfähigkeit genommen werden. (Der Redner gibt statistisches Zahlenmaterial.) Im einzelnen zeigt u. a. auch der Kolonial etat ein etwas freundlicheres Bild als bisher. Bei der Negelung der Beamtengehälter in den Kolonien scheint man mir doch etwas zu freigebig umgegangen zu sein. Wir werden uns wohl darüber verständigen, denn der Staatssekretär Dernburg gehört zu den Staatssefretären, die immer noch am entgegenkommendsten find. Mit der dc rx Beamten ist immerhin endlich Schicht gemacht worden. h 20 Millionen im Postetat für 5

A x t) : die Vermehrung t

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Dovpelleitungen ausgegeben werden müssen, ist mir zweifelhaft; man sollte lieber die Telephonleitungen auf dem Lande entsprehend vermehren Die Ausprägung von Silber münzen sollte noch stärker betrieben werden. Die Ungetüme, als welche si die Fünfmarkstücke darstellen, sollte man in den Kellern der Reichsbank versenken und dafür die Drei- markstücke, die fich durhaus bewährt haben und sehr_ beliebt find, zahlreicher in den Verkehr bringen. Ueber die Schicksale und Wirkungen der verschiedenen Resolutionen, die der Reichstag bezüglich unserer Beamtenorganisation und der Beschäftigung der Beamten gefaßt hat, haben wir noch nichts Näheres vernommen ; diese Fragen sind doch aber wichtig genug, um baldige Mitteilung seitens der Neichsverwaltung schr erwünscht erscheinen zu lassen. Auch über die Stellung des Auswärtigen Amtes selber zu der Mannesmann schen Angelegenheit haben wir leider nihts vernommen; was die Franzosen darüber denken, wußten wir {hon und brauchten darüber nit nodmals belehrt zu werden. Den Sansibar-Vertrag habe ih früher auch ungünstig beurteilt; nachdem sih aber die Bedeutung von Helgoland für uns herausgestellt hat, kann ih doch nicht umhin, noh nachträglih meinen Dank den Urhebern des Vertrages zu bekunden. In den Worten des Reichskanzlers, daß es nur mit Zustimmung der Negierung zur Finanzreform möglich war, eine Gesundung der Finanzen herbeizuführen, und daß es der Regierung nmcht an Mut fehle, für die Beschlüsse der Parteien einzutreten, die sich über die Bewilligung neuer Steuern in der erforderlihen Höhe verständigt hätten, liegt eine Rechtfertigung der Haltung meiner Partei zur Finanzreform. Wir verfolgten dabei den Grundsaß, die Reform mit Zustimmung aller bürgerliher Parteien zu machen, und Fürst Bülow hat auch das Zentrum zur Mitarbeit heranziehen wollen, ferner hielten wir es für eine patriotishe Pflicht, unter allen Umständen die Reform zustande zu bringen, denn das Ausland durfte weder an unserem Willen noch an unserer Fähig- feit, die 500 Millionen aufzubringen, zweifeln. Wir haben demnach immer zwischen den Parteien rets und links zu vermitteln gesucht, wir waren auch mit den Nationalliberalen in den wichtigsten Fragen einig; deren Führer Weber hat uns in der Kommission mit seiner Sach- fenntnis und seinem Fleiß s{äßenswerte Dienste geleistet. Aber ein

Nahteil war es, daß die Nationalliberalen die Reform nur annehmen wollten, wenn auch die Freisinnigen dafür waren. Den Freisinnigen wurde natürlich die Ablehnung dadurch erleichtert, daß sie sich auf die Nationalliberalen stüßen konnten. Der Vorwurf einer antinationalen Gesinnung ist von meinen Parteigenossen und der mir nahestehenden Presse niemals erhoben worden. Ich erkenne an, daß die Freisinnigen großes Entgegenkommen geübt und fich für die Bewilligung von 400 Millionen indirekter Steuern entschlossen hatten, ih erkenne das mit großem Danke an. Diese Katetoriibe Erklärung trug wesentlich dazu bei, daß die Neform zustande kam, denn, wie 1ch das Zentrum kenne, hätte dieses die 400 Millionen nie bewilligt, wenn ihm nicht die Freisinnigen mit den Nationalliberalen zusammen mit gutem Be1- spiel vorangegangen wären. Hat denn überhaupt eine Meinungs- verschiedenheit darüber bestanden, daß aus der Branntweinsteuer, der Brausteuer, der Tabaksteuer usw. mehr herauskommen müsse, daß Sekt und andere Genußmittel versteuert werden müssen? Die Frei- finnigen können also diese Gesetzgebung nicht so s{hlecht machen, ohne sich selbst zu kompromittieren. Auf dem Gebict der direkten Steuern waren aber sehr wesentlihe Gegensäße vorhanden, die Wehrsteuer wurde einstimmig abgelehnt, dann kam das Erbrecht des Staates. Jch habe persönlih große Sympathien dafür gehabt, ih wurde ¿ allerdings bedenklih, als von /Gerlah die Borlage unterstüßte, und ih habe eingesehen, daß fein verständiger Mensch ihr zustimmen konnte. Die hervorragendsten Juristen, ih nenne nur den Abg. Müller - Meiningen, haben sih die größte Mühe gegeben, die von allen Seiten anerkannten Bedenken zu beseitigen, es gelang aber niht. Die fogenannte Nachlaßsteuer verwarfen auch die Abgg. Müller - Meiningen und Genossen, weil ihnen die Besteuerung der Witwen nicht gefiel. In der Erbanfallsteuervorlage waren die Witwen freigelassen. Die Vorlage hatte auh den Vorzug, daß sie den Interessen der Landwirtschaft Rechnung trug. Es ist fehr zu bedauern, daß diese Vorlage abgelehnt wurde. Es wäre ein Akt politischer Klugheit gewesen, fie anzunehmen, denn wir glauben, daß eine so günstige Erbschafts\steuer für die Landwirtschaft nicht wiederkommen wird. Aber nachdem nun diese Steuer gefallen war, konnte man doch nicht das Verhalten der Gegner verurteilen. Wir hatten sofort die Jnitiative ergriffen, um eine andere allgeineine Besitsteuer an die Stelle dieser Erbschaftssteuer zu seßen. Die Nationalliberalen und Freisinnigen nahmen unseren Gedanken auf, sie nannten ihn zwar eine NReichsvermögenssteuer, aber ihr Antrag lief praktisch genau auf dasselbe hinaus, was wir wollten. Auch danach sollte die Veranlagung nach einheitlichen Grundsäßen erfolgen; die Einzelstaaten sollten die Veranlagung übernehmen und die Fehlbeträge durch Umlagen auf das Vermögen erboben werden. Es ist der dunkle Punkt, daß die Nationalliberalen und Freisinnigen den Antrag fallen ließen und achselzuckend sagten: Ja, die Negierungen wollen niht. Ja, lassen Sie sich etwa dur die Ansichten der Regierung leiten? Wäre der Antrag Geseß geworden, so hätten ihn auch die verbündeten Regierungen annehmen müssen. Niemals hat ein Vertreter der Regierung den An- trag als unannehmbar bezeichnet. Ich glaube auch nicht, daß

Bavern ih dagegen gesträubt hätte. Jch bin der Ansicht, daß die nächste Steuer nicht die Erbschafts\teuer sein wird, sondern die Steuer auf das Vermögen. Das können sich die Vertreter der verbündeten Regierungen nur merken! Ich glaube, Fürst Bülow wäre im Amte geblieben, wenn die Nationalliberalen bis zum Ende mitgearbeitet hätten. Jedenfalls muß die Erbitterung und Verärgerung der bürgerlichen Par- teien bedauert “werden. Um so mehr treue 10 Mh, daß gestern und heute von links die Bereitwilligkeit zu positiver Mitarbeit erklärt wurde. Daß meine politischen Freunde auf diesem Standpunkt stehen, haben sie während der ganzen Berhandlungen gezeigt. Wir leben in einer nicht günstigen inneren politischen, in einer nicht friedlichen Zeit. Sie haben eben gehört, wie sich die Zukunft in- der Phantasie der Sozialdemokraten ausmalt. Ganz fo wird es ja wohl mcht sein, aber daß eine der: artige Vermchrung der Sozialdemokratie hier im Reichstage mit einer großen Gefahr für unsere wirtschaftlihe und politische Ent- wicklung verbunden wäre, ist zweifellos. Wir sollten uns alle zu praktischer Arbeit zusammenfinden mit dem Motto: Nieder die Waffen.

__ Abg. Fürst Radziwill (Pole): Die polnische Fraktion hat die mit der Finanzreform zusammenhängende Krisis auch unter dem Gesichtspunkt der Stellung auffassen müssen, die uns dur die Blockidee bereitet war. Anderseits war unsere Stellungnahme im wesentlichen diktiert von dem Gesichtspunkt des geringeren Uebels, und so hat die Fraktion schließlich der Finanzreform zugestimmt. Ob wir uns getäuscht haben, ob die daran geknüpften Erwartungen in Erfüllung gehen werden, kaun erst die Zukunft lehren. Sehr sympathisch hat uns die Erklärung des Schaht- sekretärs über die Notwendigkeit einer ernsten, durchgreifenden Sparsamkeit im Etat berührt. Wir haben ja von vornherein der Blockidee des früheren Neichskanzlers keine lange Dauer zugesprochen; an ihr Ver {winden knüpften wir eine, wenn auch bescheiden bewertete Hoffnung auf eine Besserung der politischen Zustände in denjenigen östlichen Landesteilen, die eine nationale Minderheit bewohnt. Das Zentrum hat sich gestern der Polen und ihrer Beschwerden an- genommen. Das Zentrum hat lange Jahrzehnte in treuer Brüderschaft Seite an Seite mit den Polen gekämpft. Die Zeiten des Kultur- fampfes liegen hinter uns; aber Vorkommnisse der neuesten Zeit wie die beklagenêwerte Vaßregelung der Lehrer in Kattowitz find ge eignet, unsere Hoffnungen auf ein Minimum herabzudrüden. Unsere Fraktion hat bei der Finanzreform keinerlei Ab- machung mit irgend einer andern Fraktion getroffen; wir baben nah bestem Wissen und Gewissen gestimmt, und wir legen Wert darauf, festzustellen, daß wir uns auch für die Zukunft vor- behalten, unsere Stellung durchaus selbständig zu nehmen. Der frühere oberste Leiter der RNeichsgeschäfte hat in berechtigtem Nationalgefühl das Wort ausgesprochen: „Deutschland in der Welt voran !“, eine Stellung, die wir dem Deutschen Reiche durchaus gönnen; wenn er aber in demselben Augenblick für gut befand, in Staat und Reich Geseße durchzubringen, die als eine Verleßung aller modernen Kulturprinzipien und des modernen Kulturbewußt}eins in der ganzen Welt angesehen werden, dann müssen wir den Wunsch aussprechen, daß solche Zustände uns nit mehr beschieden sein möchten.

Hierauf wird Vertagung beschlossen.

Der erste Nachtragsetat für 1909 (Bewilligung einer Anleihe von 520 Millionen zur Deckung der gestundeten Matrikularbeiträge aus den Jahren 1906 bis 1908 und der Fehlbeträge aus den Jahren 1907 bis 1909) wird der Budget- fommission überwiesen.

Nach der Sißzung wird die Konstituierung der Fach- tfommissionen erfolgen.

Schluß 61/4 Uhr. Nächste Sißung Sonnabend, Vormittags 11 Uhr. (Fortseßung der Generaldiskussion des Etats.)

Parlamentarische Nachrichten.

Der Haushaltsetat für die Schußgebiete auf das Rechnungsjahr 1910 {ließt in Einnahme und Ausgabe mit 109 351 238 16 (gegen das Vorjahr (+4 10358 234 M)

D B A E D E D A vid E Di dciien Tie t n R v5: a G

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