1889 / 279 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Thu, 21 Nov 1889 18:00:01 GMT) scan diff

genossenshafien danach verfahren. n dem Bescheide einer Berufegenossenschaft an einen Verlcßten heißt es wörtlich: Sie baben fih an der Kreissäge die rechte Hand verleßt, in Folge des Unfells drei Firger verloren, während der Daumen und der Zeigefirger stcif Und unbrauchbar ge- worden sind. Das Re:chs-Versiherung2amt bat für folhen Fall eine- Erwerbsfähigkeiteverringerung von 68 Proz. an- enommen; auch wir nehmen diesen Saß an. Die große Ent- ernung der Schiedsgerichte vereitelt die Mündlichkeit und Un- mittelba:keit der Beweisführung vor denselben. Die Ent- scheitung erfolgt im Wesentlichen nah den Akten. Die Schieds- gerichtsbezirke müßten kleiner sein. Wer giebt dem tleinen Mann die Mittel,um nah dem Ort des Schiedsgerichts zu reisen ? (Ruf: Die Berufsgenossenschaft!) Das ist nit rihtig. Mir sind Ent- \cheitungen bekannt, in denen die Berufsgeno} enschaft ausdrüdlih ablehnt, die Reisekosten zu erseßen. Einzelne Arbeiter waren in fo kiägliher Lage, daß sie niht einmal den Brief zur Anmeldung der Berufung bei dem Schiedsgericht frankircn konnten. Wenn aber auch der Arbeiter vor einem Schieds- geriht e2scbeint, so wird erx vor einem Kollegium, das seine Lebensverhältnisse niht kennt, seinen Dialekt vielleiht nicht __ganz verstebt, in ganz fremder Umgebung seine Sache nur unficher und mangelhaft vertreten. Bei kleineren Bezirken würde sich die Sache anders gestalten, namentlih auch die Jndividualität des Beschwerdeführenden mehr berücksihtigt werden können. Das frühere Geseß gab dem unbemittelten Arbeiter wenigstens den Anspruch auf einen ODffizial- anwalt. Die Belehrung, welche die Berufsgenossenschaft dem Arbeiter mit dem abweisenden Bescheide zukommen läßt, ist außerdem für ihn s{wer verständlich und ohne Werth, wenn ihn niht Jemand unterstüßt. Manche Berufsgenofssenschasten haben den Vorshiag gemacht, wan solle die Krankenkassen- vorsiände in Arspruch nehmen, um dem Arbeiter bei Ver- folgung seiner Recht2ansprüche zu Dienst zu sein. Ein anderer Vorschiag ging dahin, die Gemeindebehörden damit zu betrauen. Okbne eine geseßliche Bestimmung, ohne ausdrückliche Ver- pflihtung werden das die Gemeindebehörden in den meisten Fällen nit thun. Mir find wiederholt Fälle vorgekommen, in denen die Gemeindevorstände ihre Beihülfe abgelehnt haben. Von Seiten einzelnec Berufsgenossenschaften wird obenein gegen die Gemeindebehörden zuweilen ein Ton angeschlagen , der sie verlegen muß. So heißt es z. B. in dem Aniwortschreibtn einer Berufsgenofsenshaft an den Vorstand einer ländlihen Ge- meinde, daß derselbe bei genauem und verständigem Durchlesen des Unfallgeseßes die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen selbst gefunden bätte, und es sei ihm das Studium des Ge- seßes nur sehr zu empfehlen. Ein Wunder ist es wahr- haftig uniht, wenn unter solchen Verhältnissen die Ge- meindevorstände keine große Neigung haben, ih mit der Sache mehr als nöthig zu befassen. Die hohen Verwaltungs- kosten der Berufsgenossenschaften treffen besonders hart die kleinen Leute. Unter 32 Hülfsanträgen von Beitrags- restanten, die kürzlich bei mir eingegangen sind, befanden ih solhe von Zimmermeistern, Handwerkern u. deral., denen es wirklih außerordentlich hn&r wird, die Beiträge aufzubringen, welche weit mehr als die Klassen- und Kommunalsteuer zu- sammen ausmachen. Früher muß‘en wir immer hören, daß das Mißverhältniß zwischen den Verwaltungskosten und Ent- s@ädigungssummen nah Eintritt des Behbarrungszustandes shwinden werde. Die Entschädigungen sind nun allerdings gewachsen, aber auch die Verwaltungskosten. Wir hatten 1888 3 277 000 A gegen 2 898 000 / Verwaltungskosten im Jahre 1887; das Plus fällt nur zum kleinen Theil auf die neu hinzugekommenen Secunfalls- und Tiefbau-Berufsgenos}sen- schaft. Auf den Kopf des versicherten Arbeiters kamen 1888: 74 S3, 1886: nur 67 S, und auf 1000 4 anrechnungsfähige Löhne fielen 1886: 1,04 M, 1887: 1/21 M, 1888: 1,22 M Verwaltungéiosten. Dazu kommen auch die Kosten der Unfall- ur.tersuhung, der Entschädigungsberehnung, der Schieds- gerichte, der Unfallvezhütung, der Gemeindebehörden, der Post, des Reichs-Versicherungsamts, und außerdem die große Fülle der ehrenamtlihen Funktionen. Es ist unglaublih, wie theuer die Berufsgenossenschaften wirthshaften. An Beamten- gehältern wurden 1886: 1 118000 M, 1887: 1489000 M, 1888: 1715623 M. aezahit, die Steigerung im Jahre 1888 gegen 1887 um 226 000 Æ muß zum Nachdenken auffordern. ür. Drucksahen und Bureaubedürfnisse wurden 1886: 290 000 M, 1887: 271 000 und 1888: 344500 g braucht. Das Organ der deutschen Eisenindustrie „Stabl und Eisen“ sieht den Hauptschaden in der Organisation der Berufsgenossenschaften, das verbrauhte Papier rene nicht mehr nah Centnern, sondern nah Waggonladungen. Bei der sächsischen Textilberufs-Genossenschaft betragen die Ver- waltungskosten per Kopf der versicherten Personen allerdings nur 23 H, bei der Berufegenossenschaft der Schornsteinfeger dagegen 4 M 1 Z. Diese Berufsgenossenschaft haite nur für 20 Peisonen Entschädigungen zu zahlen, und brauht dafür an Verwaltungskosten 23 299 6, für Gehälter allein 9895 4 Wie denkt der Abg. Meßner darüber? Bei der Müllerei- Berufsgenossenshaft betrugen die Verwaltungskosten 2,35 pro Kopf der Versicherten, _bei der Fuhrwerks-Berufsgenossen- schaft 2,59 # Hierin muß Abhülfe geschaffen werden. Man kann die Unfallversicherung viel, viel billiger einrihten, wir haben das seibst in der Hand. Die gewerblichen Berufs- genossenshaften weisen 3277 000 F Verwaltungskosten auf, die landwirthschastlihen nur 269 387 A für drei Vierteljahre, alfo etwa 360 000 S für das ganze Jahr. Danach kommen bei den landwirthschaftlihen Berufegenossenschasten auf den Kopf der Versicherten nur 7 Z, bei den gewerblichen dagegen 74 Ÿ. Jst da noch die beru{sgenossenshaftlihe Organisation über-- baupt aufrecht zu erhalten? Es liegt mir völlig fern, den in den Berufêgenossenschaften thötigen Männern einen Vorwurf zu machen, au niht dem Reicts-Versiherungsamt. Dieses fungirt im Gegentheil in durdaus anerkennenswerther Weise unD hat diese shwierige neue Materie in vorzügliher Weise bearbeitet. Es ist auch ein populäres Am:, es erfreut si cines außerordentl’hen Ansehens, namentlich bei den Arbeitern. Das ändert aber an dem Mißgriff in der O1ganisation selbst nihtê. Unsere ganze soziale Geseßgebung is ja nichts Anderes als ein Experiment, das auch vezunglücken kann. Darn ist es fie höchste Zeit, den Mißgriff wieder gut zu machen, je eher defio besser.

Staätssekretär Dr. von Boetticher: Eine Novelle zum Krankenkassengescß war allerdings bereits in der vorjährigen Teéronrede in Aussicht gestellt; weshalb diese!be in der leßten Session nicht vorgelegt ist, bedarf hier keiner weiteren Er- lärung. Wir haben bis Ende Mai mit der Altere- und «Jt validenversiherung zu thun gehabt, und ih glaube kaum, daß auf irgend “einer Seite dieses Hauses die

| Vorwurf, daß shablonenmäßig nach einem Tarif die Ent-

monate mit der Berathung der Krankenkassennovelle auszufüllen. Es hängt das damit zusammen, daß die wichtigen Aufgaben, die diese Session beschäftigen, vollauf ausreichen, um die kurzen Lebenstage, die der Reichstag noh hat, auszu- füllen. Die verbündeten Regierungen verdienen also keinen Vorwurf, wenn sie biêher mit der Vorlage gezögert haben. Die Novelle ist aber ausgearbeitet und wird rähstens an den Bundesrath und zur öffentlichen Kennträiß gebiacht werden. Der Abg. Baumbah kann dann ja mit der Kritik vorangehen. Wenn der Abg. Baumbach meint, die Berufsgenossenschaften hätten si gar nicht bewährt, so bin ich heute wiederum in der günstigen Lage, mich diesem Urtheil gegenüber auf das Urtheil eiuer seiner Ae berufen zu können, welher im vorigen

ahre gesagt hat: Die Berufsgenossenshaften leisten das will ich anerkennen ganz Gutes. So un- getheilt wird also das verwerfende Urtheil des Abg. Baumbach über die Berufsgenossenschaften niht bleiben. Nah meiner Meinung hat sih die beru}sgenossenschaftlihe Organi- jation niht nur durchaus bewährt, sondern sie ist auch so billig, daß keine Privatgesellshaft sih bezüglih der Kosten an die Seite der Berufsgenossenschaften stellen kann. Jh übergehe die Einzelheiten, mit denen der Vorredner nach- zuweisen sucht, daß nickcht Alles bei unserer berufsgenossen- schaftlichen Organisation und bei der Handhabung der Geschäfte in Ordnuug sei. Es verstehe sich ganz von selbst, daß ein neues Jnstitut sich erst einleben und einarbeiten muß. Unregelmäßigkeiten und Widersprüche, die der Hr. Abg. Baumbach anführte, brauht er nicht nur im Kreise der berufsgenossenschastliten Verwaltung zu juchen, er kann sie bei aflen möglihen Behörden auch in seinem engeren Vaterlande finden. Glaubt der Abg. Baum- bah wirklich, daß, wenn in den Kreisen der Berufs- genossenschaften es grobe Menschen giebt, daraus irgend ein Grund abgeleitet werden kann, um die einmal gewählten und bewährten Organe zu ändern? Auf einen groben Kloß gehört ein grober Keil. Wenn der Beamte, dem Seitens des Berufsgenossenschaftsvorstandes eine Grobheit zu Theil geworden ist, Haare auf den Zähnen gehabt hätte, so bätte er darauf geantwortet, wie €s si darauf gehört ; aber nun zu sagen, weil die Berufegenossenschaftsvcrstände grob schreiben, müssen wir die Berufsgenossenshaften abschaffen, das geht über mein Verständniß. Nun soll ein Tarif s{hablonenmäßig bei der Festseßung der Renten angewendet werden, wona der Verlust bestimmter Glieder einen bestimniten Prozentsaß der Erwerbs- fähigkeit ausschließt. Ein solher Tarif besteht offiziell nicht, und «wenn eine Berufsgenossenshaft oder ein Schieds- gericht sih auf cinen solhen Tarif berufen hat, so ist das ledigliÞ eine mißverständlihe Generalisirung einer ein- zelnen Entscheidung des Reichs - Versiherungsamts, die von diesem niemals beabsichtigt ist. Jch untershreibe Wort für Wort die Anerkennung, die der Vorredner dem Reichz-Ver- siherungsamt gezollt hat, damit ist ganz unvereinbar der

schädigungen festgeseßt werden. Die Sache liegt anders, die Entschädigungen werden nach der Jndividualität des Falles und der Lage der Verhältnisse des zu Entshädigenden abgemessen. Das Reichs-Versicherungsamt is weit davon entfernt, z B. zwei Leute, die beide den Arm verloren haben, gleihmäßig zu behandeln, wenn der Eine ein junger Mann ist, der nebenher mit dem einen Arm noch ‘etwas verdienen kann, und der Andere ein alter Mann, der vollständig verdienstlos dasteht. D habe das Bedürfniß, zu verhindern, daß diese irrigen An- shauungen über die Rehtsprehung des Reichs-Versicherungs- amtes sih im Lande festsezen. Nun sollen die Verwaltungs- kosten fortgesczt steigen und außer Verhältniß stehen mit dem Nugzen der ganzen berufsgenossenshaftlihen Organisation. Jh bestreite diese Behauptung und die Berehnungen des Vorredners positiv. Allerdings ergiebt sich aus den vor- liegenden Nachweisungen über die Verwaltungskosten der Be- rufêgenossenshaften während des Jahres 1888, daß im Ge- sammtresultat sich diese Kosten nur um 1 § pro Kopf der Versicherten ermäßigt haben. Sie sind von 75 Z in 1887 auf 74 Z in 1888 herabgestiegen: diese Herabminderung ist gewiß außerordentlih klein. Rechnet man auf Grund von je 1000 M anrechnungsfähigen Löhnen, so hat sogar für 1888 die Verwaltung einen Mehraufwand erfordert, Denn während die Verwaltung 1887 nach dieser Rehnungsmethode pro Kopf 1,21 M erfordert hat, ist der Bedarf in 1888 auf 1,22 M ge- stiegen. Aber Sie erfehen aus den Nachweisungen, daß viele Berufsgenossenschasten ihr eigenes Jnteresse darin gefunden haben, daß sie auf eine Herabminderung der Verwaltungs- kosten bedaht gewesen sind. Allein 32 Berufsgenossenschaften haben 1888 eine billigere Verwaltung als 1887 gehabt, und ih zweifle nicht, daß, nachdem selbst die Schornstein- feger, die so hohe Verwaltungskosten haben, auch {hon dazu übergegangen sind, eine recht ansehnlihe Ermäßigung der Kosten herbeizuführen, auch die sämmtlichen Berufsgenossen- schaften mit der Zeit zu einer Ermäßigung kommen. Die Selbstverwaltung bringt cs mit si, daß den Behörden, welche die Leitung der Unfallversiherung haben, eine Einwirkung auf die spezielle Verwaltung der einzelnen Berufs- genossenschajten nicht zusteht. Wir können den Vor- ständen derselben nicht verbieten, mehr Beamte zu halten, as erforderlich ist, oder Zeitschriften und Publikationsorgane herauszugeben, die Berufsgenossen- schaften müssen selbst den Vorständen anheimgeben, billiger zu wirthschaften. Aber selbst wenn Sie die Resultate von 1888 noch nicht für günstig anschen , so stellen Sie doch einen Ver- glei zroischen diesen Resultaten und denjenigen bei den Privat- Unfallversicherungsgesellshaften an, die uns feiner Zeit immer als Eldorado empjohlen wurden. Bei uns kostet die Ver- waltung pro Kopf 74 Z. Wenn Sie diese Verwaltungskosten in das Verhältniß zu der Prämie segen, die erfordert wird, wenn Sie die gewährten Entschädigungen aufbringen wollen, so ergiebt sih, daß die Verwaltungskosten in Prozenten der Bruttoprämie betragen haben 1886 7,96 Proz., 1887 8,83 Proz., 1888 8,75 Proz. Die Steigerung in 1887 und die verhältnißmäßig no niht sehr günstige Herab- minderung in 1888 hängt damit zusammen, daß die Revision der Gefahrentarife in diesem Jahre einen besonderen Aufwand an Verwaltungskosten erforderlih gemacht hat. Nun vergleihen Sie mit diesen Zahlen die Ver- waltungstosien der Privatgesellshaften, welhe die Unfall- versiherung betreiben. Beispielsweije hat die Aktiengesellschaft „Rhenania“ einen Prozentsaß von 17,79, die Magdeburger Allgemeine. Versicherungs-Aktiengesellschaft einen von 22,62, die S lesische Le pntversiherungäggjellsGast mitUnfallbranche einen von 25,70, die Schweizer Versicherungs zesellschaft in Winter-

Geneigtheit bestanden haben würde, die \{önen Sommer-

in Zürich einen von 32,80, und eine junge Gesells die Kölnishe Unfallversiherungsgesellshaft einen Prozentsaz von 44 gehabt. Wir können iso nit entfernt zugest daß unsere Organisation Fiasko gemaht hat, im Gegenthe; wir sind zu der Behauptung berechtigt, daß unsere Or sation die billigste ist, die es überhaupt giebt. Damit willi keir.eswcgs verkennen, daß das Unfallversiherungsgeseß auch n manchen Richtungen hin einer Korrektur bedarf. Wir sind von H aus gar nit darüber zweifelhaft gewesen, daß wir nicht daz absolut Beste geschaffen haben. Befanden wir uns do auf

Korrektur uns offen halten mußten. Wir sind nah wie vor zu dieser Korrektur bereit. Die Klagen, die bis jeßt über daz Unfallgesez erhoben worden sind, sind bei uns sorgfältig ge prüft worden. Jh kann aber nicht zugeben, daß in diesen Vioment schon eine genügende Veranlassung vorläge, mit dieser Korrektur vorzugehen. Jch halte es vielmehr für besser, daß wir noch cinige Jahre warten, um eine ausgiebigere Erfah: rung über den Werth oder Unwerth der von uns getroffenen Bestimmungen zu erlangen. Es könnte dann eine umfassend: Revision eintreten. Nun komme ich noch einmal auf daz gestern besprohene Thema zurück. Wir können unz jeßt unmöglih eingehend über die Gestaltung unserer Unfallversicherungs - Gesezgebung unterhalten bei dieser Etatsberathung. Es wird ja Zeit und Gelegenheit sein alle Jhre Klagen los zu werden, und wir werden ste eingehen) prüfen. Was soll es helfen, jeßt beim Etat des Reichsamtz des Znnern ex professo0 diese Materie zu behandeln? Jg möchte deshalb dringend davon abrathen, diesen Gegenstand noch eingehender zu erörtern. :

Abg. Singer: Diesem Wunsche kann ih leider nit eçolge geben. Einmal entspriht es dem parlamentarishen Usus, bei der Etatsberathung die. Wünsche und Beschwerden weiter Volkskreise hier zum Ausdruck zu bringen, und dann geben mir gerade die Ausführungen des Herrn Staats: sekretärs Anlaß zur Replik. Die verbündeten Regierungen haben in der vorigen Session die Krankenkassennovelle nit vorgelegt, um uns nit die schönen Sommermonate zu rauben. Zch hakte niht nöthig, für meine Partei das auf das Ent: schiedenste zurückzuweisen. Bei so weit tragenden Interessen darf das Volk von scinen Vertretern verlangen, auch ein paar Sommer: monate sih mit diesen Dingen zu beschäftigen, und wenn man uns auch in dieser Session damit nicht belasten will, weil der Reichstag mit den vorliegenden Gesetzen vollauf beschäftigt sei, so entnehme ih daraus die interessante Thatsache, daß di: verbündeten Regierungen nah der Auffassung des Hrn. von Boetticher das Maß ihrer Arbeiterfreundlihkeit und der Fort: entwidelung der Arbeitershußgesezgebung mit der Vorlage des S erfüllt glauben. Jh habe mich aber doch gefreut, daß der Staatssekretär prinzipiell einer Revision des Unfallgeseßes nicht entgegen ist. Vielleicht dienen meine Aus: führungen dazu, diese Revision zu beschleunigen. Auch ih möchte den Arbeitern die Vortheile der Uebergangsbestimmungen des Alters- und Jnvalidengeseßes zuwenden. Jch glaube, die Arbeiter sind bisher deswegen so lau gewesen, weil sie erst die Aus- führungsbestimmungen des Bundesraißs und damit das eigentliche Jnkrafttreten des Geseßes abwarten wollten. J und mein Freund Bebel haben darauf hingewiesen, daß e die Pflicht jedes demnähst zu Versichernden sein wird, si die Vortheile der Uebergangsbestimmungen zeitig zu sichern, und wenn Hr. Klemm in dankenswerther Weise auf das lebendige Wort hingewiesen hat, so möchte ih ihn nur bitten, seinen Einfluß geltend zu machen, daß die Versamm- [lungen der sozialdemokratishen Partei, welhe zur Jnstruktion über dieses Gese einberufen werden, nicht verboten werden. Jn Sachsen hat man mehrfach solche Ver- sammlungen als unter das Sozialistengesey fallend be handelt. Ueber die Entscheidungen der Berufsgenossenschaften, soweit sie sih in den Sektionevorständen und Schiedsgerichten E machen, wird in Arbeiterkreisen lebhafte Klage geführt.

elbst das Reichs-Versicherungsamt, das in den ersten Jahren mehr zu Gunsten der Arbeiter entschied, ist jeßt den Bestre bungen der Arbeitgeber zugänglicher. Es ist auch nit zu- fällig, daß man beim Alters- und Jnvalidengeseß die Wirk: jamfeit des Reihs-Versiherungsamts gegenüber der Unfall versicherung erhebli& eingeshränkt hat. Man klagt, daß die Urtheile der Sektionsvorstände und Schiedsgerichte über das Maß der Erwerbsunfähigkeit außerordentlich rigoros zu Gunsten der Unternehmer ausfallen. Ob von oben her bestimmt oder niht, thatsählich hat sich in den Entscheidungen der unteren Organe eine, wie s{chon der Abg. Dr. Baumba sagte, shablonenmäßige Rechtsprehung eingebürgert, wele die Rente festsest nah dem Maß von Erwerbs- unfähigkeit, welhe man für den Verlust ganzer Glied: maßen für rihtig hält. Jn den leßten Jahren hat man auh den Versuch gemaht, nachzuweisen, daß der Tod eines durch Unfall Verletßten, wenn er später erfolgt, in keinem Zusammenhang mit dem Unfall steht , sondern die Folge einer früheren Krankheit ist. Dieser Versuch ist in sehr vielen Fällen zu Gunsten der Anschauung der betreffenden Behörde ausgefallen. Diese Anshauung widerspriht dem Sinne und Geiste des Geseßes. Sehr wünschenswerth wäre eine getrennte Buhung der Unfälle der Lohn- arbeiter und Akkordarbeiter. Die Frage der Zulässig- keit der Afkordarbeit ist noch nicht abgeschlossen. Viele Arbeiter bezeihnen die Akkordarbeit drastisch als Mord- arbeii. Jedenfalls giebt die übermäßige Ausbeutung der Akkordarbeit die Veranlassung zu einer S§ädiaung der Ge- sundheit der Akfordarbeiter und zu einer Vernachlässigung der Vorschriften bezüglich der Versiherung der Arbeiter. Es wären Anordnungen des Reichs-Versiherungsamts sehr er- wünscht, welhe die Möglichkeit der Ermittelung gewährten, wie viel Unglüdsfälle bei Afkordarbeit, wie viel bei Stunden- arbeit vorgekommen sind. Die ganze Schädlichkeit der Akkord- arbeit würde dabei hervortreten. Es wäre serner erwünscht, die Auffassung der Regierung zu hören, wie diejenigen Sol- daten, die zur Zeit der Strikes von ihren Vorgeseßten u Arbeiten kommandirt werden und dabei einen Un- sal erleiden, behandelt werden. Die Berufsgenossen- haften brauchen ihnen keine Entschädigung zu zahlen, und Militärarbeiter im Sinne des Gesezes sind sie auch niht. Für eine shleunige Revision des Krankenkassen- gesebes spricht auh die Thatsache, daß gegenwärtig, wo die rankenkassen während der ersten 13 Wochen die Entschädigung zahlen sollen, oft, da das Heilverfahren früher beendet ist, weder diese noch die E Een Ee eine wirkliche Ver- pflichtung haben und die etroffenen in der Zwischenzeit keine Entschädigung erhalten. Eine Entscheidung Reichs- Versicherungsamts besagt ferner, daß es weder dem Wortlaut

thur einen von 3052 die Schweizer Versicherungsgesellshaft

noch dem Sinne des Unfallversiherungsgesezes entspricht,

einer terra incognita, wo wir versuhsweise vorgehen und ein: F

daß die Unfallrente als ein Theil des Arbeitsverdienstes zu betrachten sei. Der Sinn des Gesezes if aber ein anderer. Jemand erhielt nah einem Unfall eine Rente von 60 Proz., konnte er troßdem noch in einem anderen Berufe 300—400 erwerben. diesem wurde er bald darauf durch einen wiederholten Unfall getödtet und es entstand die Frage über die Höhe der an die Wittwe und die Kinder zu zahlenden Rente. Es wurde entschieden, daß der Anspru nur nah dem lctten Arbeitsverdienst zu be- rehnen sei, niht auch nah der daneben bezogenen Rente. Dadurch bekam aber die Wittwe jeßt weniger, als wenn ihr Maun bei dem ersten Unfall getödtet worden wäre. Solche Entscheidungen können nur Erbitterung hervorrufen. Jn Chemniy sollen nah den Fabrikinspektor-n-Berichten Unter- nehmer einzelne Maschinen an Arbeiter vermiethet haben, um den Lasten der Unfallverfiherung zu entgehen. Der Bericht weist darauf hin, daß diese Arbeiter zur Selbstversiherung getrieben würden, die aber in dem Unfallversicherungs- geses noch niht vorgesehen sei. Man weiß nit, ob man fih über den fkleinlihen Egoismus der Arbeitgeber oder über die Naiveiät der Arbeiter mehr wundern soll. Hier sollten doch Strafbestimmungen die Wiederkeßr solcher Manipulationen verhindern. Jn ‘dem Bericht eines bayerischen abrifinspektors findet sich ein Fall, der in dem zu- T nensassenden Generalberiht nicht steht. Es wird elegentlich einer Besprehung über die Lohnform und Lohnfrist mitgetheilt, daß in einer Fabrik die Aus- zahlung der Löhne so erfolgt, daß das Geld in einer Büchse oder in Papier eingewickelt zugleich mit einer Abrechnung verabfolgt wird, in welcher den Arbeitern die durch die Kranken- und Unfallversiherung für den Arbeitgeber ent- andenen Beiträge abgezogen werden. Der Fabritinsp-ktor cheint merfwürdigerweise die Sache für rihtig zu halten, denn er hat kein Wort des Tadels für dieses ganz geseßwidrige Verfahren. So lange Strafbestimmungen fehlen, werden ih solche. Fälle wiederholen. Eine Revision des Krankenkassen- geseßes ist also in kürzester Frist nothwendig. |

Vom Abg. von Kessel wird ein Antrag auf Schluß der Diskussion gestellt, worauf Abg. Shmidt (Elberfeld) die Beschlußfähigkeit des Hauses bezweifeit. Da der Antrag die genügende Unterstüßung nicht findet, wird die Diskussion fortgeseßt. N .

Abg. Gebhard: Jh möchte es niht so apodiktisch aus- gesprochen sehen, daß die Beglaubigung der Unterschrift der Arbeitgeber allein genügen foll, um die Vortheile der abge- fürzten Wartezeit bei dem Jnvaliditätsgeseß möglih zu maten. Bis zu einem gewissen Grade müßlen die Behörden auch von dem Jnhalt der Bescheinigung Keantniß nehmen. Das münd- lie Wort wird immerhin zur Aufklärung der Arbeiter viel thun können, und alle Parteien follten sich das angelegen sein lasen. Bei meinem absprehenden Urtheil über das ABC-Buch habe ih niht an die von den Abgg. Singer und Bebel verfaßte Schrift gedacht, obwohl diese auch einige Unrichtigkeiten, wenn auch nicht ab- sihtliche, enthält. ‘eine Abneigung richtet sich gegen das AAC-Buch für freisinnige Wähler, dessen lügenhafte Dar- stellung des Jnhalts des Jnvaliditätsgesezes s{hädlich auf Diejenigen wirken muß, deren Jnteressen wahrzunehmen wir berufen sind. Es sind geradezu Fälshungen in dem Buch vorhanden. So enthält dies edle Druäwerik auf S. 117 die Bemerkurg, daß das Geseß si darauf beschränke, den Wittwen und Waisen die Hälfte der von ihrem Ernährer früßer ge- zahlten Beiträge zurückzuerstatten. Das nennt man auf Deutsch eine Lüge! Nicht die Hälfte, sondern die Ge- sammtheit der Beiträge wird zurückerstatte. Nuf S. 116 wird erzählt, daß der Geselle, der später Meister wird, jeden Anspruch auf die gezahlten Beiträge verliere, wenn er fortan nicht das Dreifache der bis- herigen Beiträge weiter zahle. Auch das ist unrichtig. Nach 8. 117—132 des Geseßes genügt es, die Ansprüche sich zu er- halten, wenn der Betreffende in einem Jahre 12 Wochen, in 4 Jahren 47 Wogen Beiträge zahlt und diese Beiträge steigern sogar die Rente. Solcer Unrichtigkeiten giebt es eine anze Reihe in dem Druckwerk. Jch acceptire das Uttheil des

bg. Dr, Baumbagh von der Vortrefflichkeit der Kartellpresse, aber die Berichtigung dieser falshen Angaben sollte die Art von Presse übernehmen, die für ihre Verbreitung sorgt. Alle, die sh für die Sache interessiren, mögen sich deshalb angelegen sein lassen, durch mündlichen Vortrag und sonst diese irrigen Anschauungen zu beseitigen und dadurch beizutragen, die wohl- thätigen Wirkungen des Gesetzes voll und ganz zur Geltung zu bringen. E + :

Abg. Richter (zur Geschäftsordnung): Jh möchte den Antrag stellen, das ganze A-B-C einmal auf dee Tages: ordnung zu sezen, um nachzuweisen, daß Hr. Gebhard das ganze Buch nit kennt. E

Abg. Schmidt (Elberfeld): Der Abg. Gebhard hat nur zwei Punkte aus dem ABC-Buth als unrichtig angeführt, der erste betrifft lediglih einen Druckfehler. Wer den Artikel durgelesen, weiß, daß an der Stelle rihtig gesagt ist, daß die Hälfle der gesammten Beiträge zurück- gezahlt werden muß. Dann hat der Abg. Gebhard gemeint, es si falsch, wenn an einer _ Stelle gesagt ist, daß der selbständig werdende Geselle das Dreifache seiner bisherigen Beiträge zu zahlen hätte, wenn er bei der Versicherung bleiben wolle. Dies bezieht sih niht auf dauernde, sondern auf vorübergehende Verhältnisse. Der Abg. Gebhard verschweigt dabei, daß diese Bestimmung zwei Seiten weiter aufgeführt ist. Der Ausdruck „lügenhafte Darstellungen scheint darauf berechnet, die Hörer hier und außerhalb zu beeinflussen. Uebrigens versichere ich Hrn. Gebhard und auch Hrn. Geibel ausdrücklich, daß das ABC-Buch der Schrift dieser Herren keine Konkuirenz macht. Der Verband der deutshen Berufsgenossenschafsten ist ohne jede_ Bedeutung und nur von einigen strebsamen Leuten ins Werk geseßt, um dem: Centralverband deutsher Jndufrieller Konkurrenz zu machen. Dieser Versuh isst allerdings auf das Kläglichste gescheitert. Die Organisation unseres Versicherungs- wesens wird auf die Dauer nicht aufrecht erhalten werden können wegen der Mängel, die ihm an sih anhaften, wegen der verschiedenartigen Gliederung desfelben, wegen der hohen Kosten und der großen Lücken zwischen den einzelzen Versiche- rungegesezen. Es wird eine einheitliche Organisation ge- schaffen werden müssen, und ih fürchte allerdings, daß die Junvalidenversiherung mit ihrer bureaukratischen Organisation alles Andere vershlingen wird. Der Abg. Dr. Baumbach hat nit bestritten, daß die Berufsgenossenshaften Gutes leisten, er hat nur die Organisation bekämpft. Was den Unfall- tarif betrifft, so kann ih versichern, daß, wo die Sektions- vorstände über die Sache entscheiden, die Anwendung solcher

Tarife mißbräuchlich ist. Jh bedauere das lebhaft. Wenn der Staatssekretär von Boetticher die bekannten 74 Z Ver- waltungskosten pro mit den Kosten der Privat- versicherungen verglichen hat, so hat er damit die unbekannten Kosten, welhe den Gemeindebehörden, der Reichspost. u. \. w. entstehen, außer Acht gelassen. Sonst würde ein viel größerer Prozentsaß herauskommen als bei den Privatgesellshaften. Alle diese Erörterungen gelegentlich des Etats find nicht bloß berechtigt, sondern nothwendig und nügßlih für die Korréktur des Gesetzes, die ja auch nah der Meinung des Herrn von Boetticher niht ausbleiben könne. Á

Hierauf wurde die Debatte ges{lossen.

Abg. Kröber (zur Geschäftsordnung): Jh konstatire ausdrüdcklich, daß, obwohl die Vorstände der Berufsgenossen- schaften hier so hart angegriffen worden sind, mir als Vorstand einer Berufsgenossenschaft niht Gelegenheit gegeben worden ist, auf diese Ausführungen zu antworten. _

Die Ausgaben für das Neichs-:Versicherungsamt werden bewilligt, ebenso der Rest der ordentlihen Ausgaben (physikalisch- technische Reichsanstalt).

Bei decn „Einmaligen Ausgaben“, und zwar bei dem Kapitel „Ausgaben für den Nord-Dfstseekanal“ be- merkt Abg. Dr. Lingens, daß er selbst an Ort und Stelle \sich von der Vortrefflihkeit der für die Kanalarbeiter getroffenen Einrichtungen überzeugt habe. Die Verpflegung in den Baracken geschehe zur vollsten Zufriedenheit der Arbeiter, wenn au mit einem nicht unbedeutenden Defizit der Verwaltung. Es sei den Maßnahmen der Verwaltung zu danken, daß regel- mäßig gearbeitet wird, daß ein Verbleiben der Arbeiter erzielt worden ist und die Arbeiter jeßt auch zu sparen angefangen ; in vierzehn Tagen seien in einem Bezirk von zwei Bau- ämtern 17000 # erspart worden. Auch den religiösen Be- dürfnissen sei Seitens der Verwaltung entsprochen worden. Allerdings seien die 12000 F, die zur - Hälfte für Katholiken, zur Hälfte für Evangelische * durch den Staatssekretär von Boetticher bewilligt worden seien, etwas langsam zur Auszahlung gelangt. Von Seiten der Reichs- verwaltung sei das Entgegenkommen nicht versagt worden ; weniger könne das von der Vertretung der katholishen FJnter- essen in Preußen gesagt werden. Redner wünscht, daß für cinen würdigen Gottesdienst gesorgt werde dur Beschaffung geeigneter Räumlichkeiten. Das Bischen, was bereits hierin geschehen sei, habe bewirkt, daß die katholischen Arbeiter gern da bleiben. Geeignete Räume für leichte Kranke seien die Baracken ; für Schwerkranke feien zwei Lazarethe da. Er müsse aber den in der vorigen Session geäußerten Wunsch wiederholen, daß zur Tröstung wenigstens der Schwer- kranken graue Schwestern zugelassen würden. Es müßten au solche Einrichtungen getroffen werden, daß bei Unfällen, die bei solhen Unternehmen nicht zu vermeiden seien, die zu operirenden Kranken möglichst an Ort und Stelle operirt werden können. , y

Abg. Graf von Holstein entwirft auf Grund der Ein- drüdcke, die er bei einem Besuch des Kanalbaues erhalten habe, ein eingehendes Bild von der tehnisd-en Seite der Arbeiten und kommt außerdem zu dem Schluß, daß keinesfalls, wie man behauptet habe, die Bauloose zu klein seien. Jm Gegen- theil können bei einem so kolossalen Unternehmen die Arbeiten nur gefördert und ein Gewinn für die Unternehmer erzielt werden, wenn die Loose groß seien. Die Einrihtungen für die Arbeiter seien in jeder Beziehung vortrefflich und habe | ih ein gutes Verhältniß zwischen Arbeitgebern und Arbeitern herausgebildet. Nirgends sei für die Arbeiter so vortrefflich gesorgt, wie bei diesem Werk. S :

Abg. Singer: So vortrefflih sind die dortigen Ver- hältnisse denn doch niht. Es wird über das Essen geklagt und über die Preise der Lebensmittel. Ueber das gute Ver- hältniß zwischen Arbeitgebern und Arbeitern freue ih mich, über die Antwort, die der Abg. Dr. Lingens von einem Ober- beamten bekommen, es würden dort lauter Sozialdemokraten be- schäftigt, freue ih mich doppelt ; freilich könnte in solhen Fragen der Hinweis erbliät werden, es möhten Sozialdemokraten nit beschäftigt werden. Daß dem nicht so ist, ist vielleiht dem Einfluß des Staatssekretärs zuzuschreiben, der im vorigen Jahre mitgetheilt hat, daß er den in dem Vertrage | stehenden Ausschluß sozialistisher Arbeiter daraus ent- fernt habe, ein drastisher Beweis dagegen, daß die Sozial- demokraten keine fleißigen Arbeiter find und sich nur durch Agitation gegen ihre Arbeitgeber aufheßen lassen. Auch bei den Wahlen wird sih hoffentlich zeigen, daß dort lauter Sozialdemokraten sind, was mich besonders freut, weil der Staatssekretär dazu beigetragen hat, daß dort Sozialdemokraten beschäftigt sind. E i i

Abg. Kalle meint, daß einzelne Unzufriedene überall vorhanden wären. Er selbst habe in der Holtenauer Baracke Bohnen und Rindfleish in vorzüglicher Güte gegessen, und der Abg. Singer möge sih das nur dort ansehen. :

Abg. Graf von Holstein weist nach, daß die Preise der Nahrungsmittel thatsählich fehr niedrige seien. Was die sozialdemokratishe Gesinnung in Schleswig-Holstein betreffe, so sei einmal in einer Versammlung ein sozialistisher Redner mit Aufmerksamkeit gehört worden. Als er aber etwas gegen das Kaiserlihe Haus sprach, sei einer der eifrigsten Zuhörer aufgesprungen und habe gerufen: „Was! Er sagt etwas

egen meinen Kaiser? Jh bin zwar Sozialist von Kopf zu

Fuß, aber zuerst Freund der Hohenzollern !

Nbg. Dr. Baumbach meint, daß es sich niht um Sozialdemokraten handle, die die Aufhebung der Monarchie und des Privateigenthums wollten. Wenn der Abg. Lingens den Kanalbau wieder inspizire, möge er die Gewogenheit haben, solhe Fragen lieber zu unterlassen. Hoffentlih wird die Regierung auch in Zukunft Arbeiter ohne Rücksicht auf die Parteistellung beschäftigen. | /

bg. Dr. Lingens meint, daß die Sozialdemokraten dort wenigstens noch christlihe Gesinnung hätten, solhe seien ihm immer angenehm, denn an ihnen sei noch nit Alles verloren.

Der Titel wird bewilligt, desgleichen die Einnahmen.

Damit ist die Spezialberathung des Etats des Reich3amts des Jnnern erledigt.

Schluß 51/2 Uhr.

Kunft und Wissenschaft.

„Die Umsegelung Afrikas durch phönizishe Schiffer

ums Iahr 690 v. Chr. Geb.*“, wie sie nach der Erzählung des Herodot auf den Befehl des egypti- \chen Königs Necho's 1]. ausgeführt worden sein soll, hat der Vber- [ehrer Dr. phil. Willi Müller aufs Neue zum Gegenstand einer Untersuhung gemacht, welche als Broshüre foeben im Verlage von

Max Babenzien in Rathenow erschienen ist. Die Stelle bei Herodot,

um waiHe s Handel, fuhrt sh im 42. Kapitel des 4. Buches seines Geschihtswerks und lautet : : : „Es ift klar, daß Libyen vom Meere umflofsen ift mit Ausnahme des Theiles, der an Asien grenzt, und dies hat Necho, der König von Egvpten, soweit wir wissen, zuerst bewiesen. Als dieser nämli die Arbeiten an dem Kanale einstellen ließ, der aus dem Nil in den arabishen Busen führen sollte, sandte er phönizishe Männer zu Schiffe ab mit tem Befehl, auf der Heimreise durch die Säulen des Herakles zu fahren und so über das nördlie Meer nah Egypten zurückzukehren. Die Phönizier segelten demgemäß aus dem Rothen Meere ab und fubren in das Südmeer. So oft die Saatzeit kam, landeten sie, bestellten das Feld, wo sie gerade in Libyen waren und warteten die Ernte ab. Wenn sie aber das Korn eingeheimst batten, fubren sie weiter, bogen nach Verlauf von zwei Jahren im dritten durch die Säuien des Herakles und gelangten nach Egypten. Sie erzählten aber was mir zwar nicht glaublich iît, vielleidt jedoch einem andern daß sie bei ibrer Fahrt um Libyen die Sonne zur RetSten gehabt.“ ie : A Der Verfasser stellt sich auf die Seite derjenigen Gelehrten, welche für die Glaubwürdigkeit des Herodoteishen Berichts eintreten und einen Alexander von Humboldt und Karl Ritter zu den Ihrigen zählen. Er prüft jedoch sorgfältig auch die Begengründe, welhe in der vielumstrittenen Frage beigebrat worden sind, und erörtert in eingehender Weise Abfabrts-Ort und Zeit, die damaligen Ansichten über die Gestalt Afrila’s, die Winde, Meereësströmungen, Konsftel- lation, Brandungen und Klippen, die Art der Fahrzeuge und ihre Schnelligkeit, die Leitung der Expedition, ihre Rastorte und den Auf- enthalt an diefen, die \chwierige, für die Beantwortung den Haupt- frage nit unwihtige Nebenfrage, welche Getreideart die Phönizier gesäet und geerntet baben 2c. Auch die gänzliwe Folgenlosigkeit der Fahrt (fowoël für die geograpbishen Kenntnisse der Alten wie für Handel und Wandel), aus welcher die Gegner sich_ ganz besonders \harfe Waffen ges{chmiedet haben, {eint ihm als Einwurf nit fo triftig, daß dieser niht durch plausible Gründe entkräftet werden könnte. Am meisten Bewiht bat man selbstverständlih von jeher auf die Bemerkung in dem Bericht Herodot's gelegt, welche den auf- fälligen Stand der Sonne betrifft. Der Verf. nimmt, der Mehrzahl der Forscher folgend, die Mittagsftellung der Sonne als gemeint an, und es würde nach ibm aus dieser Bemerkung zu entnehmen sein: die Phönizier hätten, als sie um die Südspize Afrikas fuhren, die Sonne um Mittag im Norden gesehen. Ueber die Beweiskraft dieser Mittheilung für die Wahrheit der ganzen Erzählung ist nun, wie der Verf. weiter ausfübrt, ganz besonders beftig gestritten worden. Einer- seits wurde behauptet, es sei hierdurch unumstößlich dargethan, daß die Reise um das Kap von den Phöniziern wirklih gemacht worden, andererseits wollte man darin nit die Spur eines Beweises erkennen. Nah Willi Müller's Anficht baben beide Parteien Unrecht. Er er- klärt sih die SaWe so: Die Phönizier haben einen Sonnenstand be- obahtet, der Alles, was sie bislang in dieser Hinsiht gesehen oder wovon sie gehört batten, weit binter si ließ. Wenn sie nun au noch so verschwiegen waren in Betreff aller Erfahrungen, die sie be- ¿üglih der Verwirklihung ihrer kolonialen Pläne gemacht hatten : diese interessante Erscheinung zu verbeimli®en, lag kein Grund vor. Worin aber das Wunder bestand, das sie so sehr anstaunten, ist leiht gesagt. Mocten die Pbönizier das südlihe Rothe Meer befahren und selbst Bab-el-Mandeb passirt haben, mehr als etwa 10 Grad entfernte fic die Sonne hier nie vom Zenith. Nun wird zwar für den, der um die Zeit des längsten Tages der nördlihen Halbkugel in diesen Gegenden sich von Osten nah Westen bewegt, der eigene Schatten zur Linken fallen, und man muß annehmen, daß die Phbönizier dies so gut beobachtet haben wie das spätere Alterthum. Aber die Abweihung der Sonne vom Zenith er- scheint so gering, daß ein unbefangener Beurtheiler immer noch mebr den Eindruck haben wird, sie stehe ibm zu Häupten als zur Seite. Wenn fie aber um die Südspite Afrikas fuhren (wobei es si traf, daß sie das zur Zeit des nördlihen Sommers thaten, wo für jene Gegenden die Sonne zur Mittagszeit möglichst tief stand), hatten sie natürlih ein ganz anderes S{hauspiel ; pasfirten sie im Mai das Nadelkap, so erblickten fie die Sonne um Mittag etwa 50 Grad vom Zenith entfernt. Sie sahen das Tagesgestirn also dem nördlichen Horizont etwa eben so nahe, wie cs zur Zeit des egyptishen Winters dem südlihen stand. Aehnliches war ihnen noch nie vorgekommen, und da sie eine Erklärung dafür nicht kannten, wird es ihnen als ein Wunder erschienen sein, das sie, zurückgekehrt, als das seltsamsie Erlebniß ihrer langen Reise den ftaunenden Ezypvtern verkündeten, die ihrerseits das. was die kühnen Sciffer erzählten, bei dem bisherigen Mangel aller Nach- rihten aus südlichen Breiten für interessant genug hielten, um es der NaGwelt zu überliefern. So blieb die Erinnerung an diese seltsame Erscheinung anderthalb Jahrhunderte lang in Egvpten lebendig, und um fo _mehr, weil fie eine der wenigen Einzelheiten war, die man über die Reise erfahren hatte. Es sceint dem Verfasser nah diesen Erwägungen gänzlich aus- geschlofsen, daß die Phönizier zu einer wesentlih anderen Jahreszeit als der angegebenen, etwa gar um den südlihen Sommeranfang, das Kap passirt baben; in leßterem Falle wäre die Abweichung der Sonne vom Zenith kaum größer gewesen, als sie dieselbe bei Bab-el-Mandeb oftmals gesehen, und bâtte {werlich Veranlaffung gegeben, ihrer be- sonders zu gedenken. Je weiter nördlih die Schiffer das Gestirn er- blickten, um so auffallender und bemerkenswerther mußte dies ihnen ersbeinen; wenn sie nun etwa im Mai an der Südspitze des Erd- theils entlang fuhren, um in der Nähe der heutigen Kapstadt zur ersten Saat und Ernte zu landen, so hatte die Sonne ibren nöôrdlicsten Standpunkt für diese Gegenden beinahe erreicht. In der Annahme, daß die Pbönizier um die Zeit, wo dies geschah, das Nadelkap umsegelten, findet der Verf. aber auch den S{blüfsel dafür, daß die ganze Erscheinung nicht als eine zweimalige erwähnt wird, obgleih sie sih doch an der Nord- Guineaküfte des Schiffern zum zweiten Male gezeigt haben muß. Sie werden an dieser Küste zu einer Zeit entlang gefahren sein, als die Sonne in der Nähe des Wendekreises des Kreb}es senkrecht ftand, und werden etwa um den nördlihen Sommeranfang Kap Pal:nas passirt haben. Hier ershien ihnen in dieser Jahreszeit das Gestirn Mittags etwa 20 Grad vom Zenith entfernt. Nah dem, was fie am Kap erlebt hatten, konnte ihnen dies jedo nur geringen Eindruck machen, und so werden sie den Priestern, von denen Herodot die Ueberlieferung erhielt, nah der Rückehr wobl von einer auffällig fih dem nördlichen Horizont nähernden Stellung der Sonne, s{werlich aber auch von derselben im zweiten Iahre mit weit ge- ringerer Intensität auftretenden Erscheinung gesprohen haben. Herodot, sagt W. Müller, mache jedenfalls durch die kurze Be- merkung: die kühnen Seefahrer hätten die Sonne „zur Rechten gehabt“, die Umsegelung, wenn au eis absoluter Wahrheitsbeweis dadurch nit erbracht werde, ohne sein Wissen und vielleiht au gegen seinen Willen in hohem Grade wahrscheinli. E Die kleine Schrift dürfte allen Denjenigen, welche ih für die wissershaftlihe Streitfrage interessiren, willkommen sein, zumal sie einen Ueberblick über alle bedeutenderen Meinungsäußerungen zur Sache in übersihtliher Gruppirung der einzelnen, dabei in Betracht kommenden Fragen zusammenstellt und das Für und Wider gerecht abzuwägen sucht.

Geographisher Monatsberiht über außereuropäishe Forshungsgebiete. (Bearbeitet nach den Pelermann (uen Mittheilungen 35. Band Vorder-Asien. Das Comité der englischen Gesellshaft zur Aas von Palästina hat, nachdem es vor Kurzem die Auf- nahme von Wee t - Palästina besorgt, nun auch die topographische und archäologishe Aufnahme, sowie die Durforshung der Fauna, Flora und Mineralwelt O f - Palästinas vollendet und beginnt bereits die Ausgabe ausführlicher, glänzend ausgestatteter, mit Kartenbildern und zahlreiden Jlluftrationen geschmückter Berihte über ¡die Forschungsergebnifse.

Central-:Asien. Um die Pässe über den Hindukusch und das Karakorumgebirge genauer zu erforschen, ift der dur seine Reisen in