1889 / 282 p. 2 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 25 Nov 1889 18:00:01 GMT) scan diff

erfolgt, so würde es niemals eine Parnell-Untersuhungs-Kom- mission gegeben haben. Das Haus der Gemeinen würde nie- mals seine Zustimmung ertheilt haben zur Bildung eines Sonder- iribunals, um nach geseßlihen Formen zu entscheiden, ob JZrland nicht besser ohne die Landliga gefahren wäre oder nicht, ob Volksagitation zu Gewaltthaten führe u. \. w. Dies sind niht Fragen für die Entscheidung von Richtern, und zwar aus dem guten Grunde, weil Richter sie nit ent- scheiden können.“

__— Die Arbeiterausstände der leßten Heil haben, wie wir dem „Hamb. Corresp.“ entnehmen, in England zur Folge gehabt, daß sie den Politikern aller Parteien die Dringlihk-it ungesäumter geseßliher Jnangriffnahme der sozialen Frage fklargelegt haben. Der konservative „Standard“, der in dem Docssirike so {arf und ein- seitig gegen die Arbeiter Stellung genommen, bezeichnet es jezt als eine unumgänglihe Nothwendigkeit für seine Partei, mit einem einshneidenden sozialen Reform- programm hervorzutreten, wenn sie anders nicht die Herr- schaft über die Massen verlieren wolle. Auch die Liberalen wenden- von den unfruchtbaren Home-Rule-Erörterungen ihre Aufmerksamkeit der sozialen Frage zu. John Morley, der zweite Führer der Liberalen, neben Gladstone, war es, der in einer großen Rede im Achtziger: Klub ein soziales Zukunftspro- gramm der Partei skizzirte. Die e u waren : Abschaffung der Zölle auf Thee, Kaffee, Kakao und getrocknete Früchte, Besteuerung der Grundrenten, Gleichstellung der Erb- \caftss{euern, bessere Wohnungen für die armen Klassen, Kürzung der Dauer der Parlameiite, freier Schulunterricht, unentgeltliche Speisung armer Schulkinder, Ankauf von Land Seitens" der Bézirksräthe zur Verpahtung an Arbeiter, Ruhegehälter für alte Arbeiter, Bezirksräthe nach deutschem Vorbilde. Das \ind die Forderungen der Radikalen, welche die Gladstonianer zu den ihren machen. Jn einem Punkt dagegen zeigte sich Morley mit den Radikalen nicht einverstanden, nämlih in der allgemeinen Einführung des geseßlihen achtstündigen Arbeitstages. Auch der Minister Smith behandelte in Exeter soziale Fragen. Es sei erfreulih, betonte er, wenn die Arbeiter einen größeren Antheil am Geschäftsgewinn bekämen, die Produktionskosten dürften aber niemals eine solhe Höhe erreichen, daß sie die Kauffkraft überstiegen, sodaß kein Markt für die Produkte da wäre. Besäßen die englishen Arbeiter diese Einsicht nicht, so würden sie die Zukunft Großbritanniens zerstören, selbst wenn sie im Augenblick höhere Löhne erzielten. _ E

Aus Indien liegen folgende Nachrichten des „R. B.“ vor:

Bombay, 23. November. In Chota Nagpur sind die Kols, ein Theil der ungefähr 1 Million zählenden, in den Gebirgen der Centralprovinzen zerstreut lebenden Urbewohner in Au fstand gerathen, haben das Besißthum der Zamindars, fowie die ¿ffentlihen Bureaux angezündet und eine Anzahl Perfonen getödtet. Die Kols verlangen Pachtnablaß und Aufhebung der Frohnarbeit.

Kalkutta, 22. Novembert Die Erpedition gegen die Lui a0 wird ihren Vormarsch voraussichtlich in einer Woche antreTen.

Frankreich. Paris, 23. November. (W. T. B.) Die Deputirtenkammer lehnte heute, in Folge einer Erklärung des Minister: Präsidenten Tirard und des Finanz-Ministers Rouvier, welche sih gegen den Antrag Leydet's auf freie Erzeugung von Zündhölzchen richtete, den Artikel 3 dieses Antrages ab, worauf Leydet seinen ganzen Entwurf zu-

r: Dér Finanz-Minister erklärte, die Regierung würde

das Monopol der Zündhölzhen-Erzeugung selbst ausüben. Der Deputirte Hubbard wird Montag an den Minister des Aeußern Spuller über die Ereignisse in Bra-

silien eine Anfrage richten.

Rußland und Polen. St. Petersburg, 24. November. (W. T. B.) Der Großfürst-Thronfolger is} heute in Zarskoje Sselo wieder eingetroffen.

Jtalien. Rom, 24. November. (W. T. B.) Jn der Arena des Flaminius fand heute eine von Radikalen einbe- rufene Versammlung statt, um wirksameren Gesetzes schu b

egen Arbeitsunfälle zu verlangen. Ungefähr 1500 Per- onen waren anwesend, darunter mehrereDeputirteund Munizipal- räthe." Die von dem.Comité, vorgeschlagene Tagesordnung, welche das Verlangen nah einem wirksameren Schuße gegen O SP I p stelli, wurde angenommen. Die von einigen Anarchisten eingebrahte Tagesordnung gelangte nicht zur Abstimmung. Die Anarchisten erhoben ens Wider- spruch und wurden deshalb, von der Polizei aus dem Saale erni. Jm Uebrigen verlief die Versammlung ohne

örung.

Der Papst empfing heute den in außerordentlicher Mission hier anwesenden englischen Gesandten Sir J. Lintern Simmens in Begleitung des Kronanwalts von Malta, Carbone, und des Legations -Sekretärs Roß. Sir Lintern machte sodann dem Kardinal - Staatssekretär Ram- polla éinen Besuch.

25. November. (W. T. B.) Die Thronrede, mit welcher heute die neue Session der Kammern A wurde, sagt: Jn dem Wetteifer allgemeiner Thätigkeit haben Sie die italienishe ‘Produktion begünstigt; aber deren Schüß darf nicht von Mißtrauen und Argwohn ein-

eflößt'werden, welche die Völker nußlos trennen, und darf

eformen nicht hindern, welche die trennenden Grenzen möglichst hinwegräumen, den Austausch der Erzeugnisse erleichtern und die internationalen Beziehungen freund- \chaftliher gestalten. Gegenwärtig haben Sie der industriéllen Entwickelung feste Grundlagen gegeben. Der I {eint in diesem Augénblicke mehr als je gesichert,

ank den Rathschlägen der größen Mächte, meinen eigenen Bestrebungen, ‘sowie den meiner Verbündeten. Die Fragen, welche dén ‘Frieden etwa stören könnten, sind niht jämmt- li beseitigt; wir werdén daher fortfahren, sorgfältig darüber u wachen, ohne sedoh unser Budget zu sehr zu ‘belasten, den nsordérungen der Armee und der Marine zu genügen, welche die Vertheidiger Unserer Einigkeit und Unabhängigkeit Und welche mit E guten Recht der beredte Ausdrück unserer Jntéressen' in ‘der Welt sind. :

Belgien. Brüssel, 24. November. (W. T. B) Fn der gestrigen Sizung des Antisklaverei-Kongresses wurde einstimmig beschlossen, daß die Territorial-Frágen außerhalb der Kompetenz des Kongresses lägen. Es wurde eine aus den Delegirten Deutschlands, Belgiens,

rankreihs, Englands, Jtaliens, Persiens, Portugals, Ruß- ands und der Türkei bestehende Kommission zur Prüfung

Türkei. Konstantinopel, 24. November. (W. T. B.) Der Sultan hat eine Amnestie für alle in den legten Wirren auf Kreta kompromittirten Personen erlassen; aus- genommen sind nur die Verbrechen gegen das gemeine Recht.

Die Regierung ersuchte die Botschafter, der neuen Stempeltaxe zuzustimmen. Der italienishe Bot- schafter willigte unter der Bedingung der Aufhebung der Stempelfreiheit der Ottomanischen Bank ein, und man laubt, daß die Pforte mit der Ottomanishen Bank dies- ezüglich E wt y werde. s

29. vember. (W. T. a Der italienische Botschafier, Baron von Blanc, ist wegen Ablebens seiner Mutter von hier abgereist.

Serbien. Belgrad, 23. November. (W. T. B.) Authentischen Berichten zufolge wurde das Kloster Detschiani von Arnauten umzingelt. Der Jgumen {loß sich im Kloster ein, welhes von Mauern umgeben ist und Widerstand leistet. Zaptiehs sind aus Jpek an Ort und Stelle abge- gangen, um Ordnung zu schaffen.

Amerika. Washington, 22. November. (R. B.) Der brasilianische Delegirte auf dem pan-amevika- nishen Kongreß, Senhor Valenta, hat von der pro- visorishen Regierung FJnstruktionen erhalten, wo- nah ihm und seinem Kollegen neue Beglaubigungs- schreiben übermittelt werden und sein E pi zux provisorishen Regierung geregelt wird. Zugläih wird er angewiesen, auch Meener Brasilien als Gesandter bei den Vereinigten Staaten zu vertreten. Der pan-amerikanische Kongreß hat sich bis zum Montag vertagt,

Brasilien. Nach den dem „Reutex'’shen Bureau“ über New-York zugegangenen Nachrichten aus Rio de Janeiro herrscht fortdauernd Ruhe in Brasilien. Die neue Regierung hat si verpflichtet, die Ehedotationen der brasilianischen Prin - zessinnen aufrecht zu erhalten und die vom Kaiser bedürf- ligen Personen verliehenen Pensionen weiter zu zahlen. An das proklamirte allgemeine Wahlrecht ijt nur die eine Bedingung geknüpst, daß jeder Wähler zu lesen und zu schreiben im Stande ist. Vicomte Ouro Preto, der bis- herige Premier-Minister, welcher auf Befehl der provisorischen Regie:ung verhaftet wurde, hat mit seiner Familie Brasilien verlassen. Der Oberbefehl über die Marine ist dem bisherigen Geshwader-Chef, Baron de Corumbu, über- tragen worden. Vicomte de Maracaju hat sich als An- hänger des Ministeriums bekannt. Brigade-General Coelho ist zum Gouverneur der Provinz Matto Grosso und Oberst-Lieutenant Jaques zum Sekretär des Generals da Fonseca ernannt worden. Die brasilianische Flagge bleibt dieselbe, nur daß 21 die verschiedenen Staaten des Reichs darstiellende Sterne hineinkommen. Die Flagge wird auch die Jnschrift tragen „Ordnung und Fortschritt.“ Die neuen Briefmarken sind auch schon fertig. Es be- Bus sih auf denselben eine blaue Erdkugel, um welche die

nshrift angebracht ist: „Republik der Vereinigten Staaten von Brasilien.“

Eine in London eingetroffene Depesche der National- bank von Brasilien aus Rio de Janeiro vom Freitag Abend besagt, daß sich alle Provinzen ohne Wider- stand und ohne Protest der republikanischen Regie- rung unterworfen hätten; provisorishe Regierungen in den Provinzen seien s\{chnell organisirt worden. Der Erzbischof habe der republikanishen Regierung seinen Segen gegebên. Die neuen Kammern würden ein- A über die. hauptsächlihsten Reformen Bes@hluß gefaßt sei.

Telegramme der „A. C.“ aus Washington melden, daß, während der amerikanische Gesandte in Rio de Janeiro freundschaftlihe Beziehungen mit der neuen provi- sorishèn Regierung Brasiliens ausrechterhalte, eine förmliche Anerkennung der neuen giegierung Seitens der Vereinigten Staaten noch ein Ding dek Zukunft sei. Argentinien und Uruguay hätten die Republik amtlih anerkannt.

Nach einer der „Polit. Corresp.“ aus Paris zugehenden Meldung hat Papst Leo XIII. sofort, nahdem dié Nach- rihten über den Umsturz in Brasilien in glaubwürdiger Weise bekräftigt worden waren, dem apostolishen Jnternuntius in Rio de Janeiro, Msgr. Spolverini " telegraphische Weisungen zugehen lassen, durch welhe dem fkatho- lischen Episkopate und Klerus in Brasilien anempfohlen wird, ih aller politischen Kundgebungen und der Bethei- ligung an der Neugestaltung dér politischen Zustände zu ent: halten. Episkopat und Klerus möchten ih darauf beschränken, an die neue Regierung die Forderung zu richten, daß der Geistlichkeit volle Freiheit in dex Ausübung ihres kirchlichen Amtes gewährt werde.

Eine Depesche des „New-York Herald“ aus Rio de Janeiro stellt die unmittelbare Ursache der Revolution, wie folgt, dar: Zwei in Rio stationirte Bataillone seien nach einer ent- fernten Provinz beordert worden, und die Offiziere hätten in einer geheimen Versammluna beschlossen, dem E, den Gehocsam u verweigern. Die Regierung sei in dem Versuche, den Be- fbl in ‘Kraft zu seßen, von der Garnison in Stich gelassen worden, worauf die Armee die Revolution zum triumphirén- den Austrag gebracht habe.

Parlamentarische Nachrichten.

In der heutigen (22.) Sigung des Reichstages, welcher der Staatssekretär Dr. von Boetticher sowie andère Bevollmächtigte zum Bundesrath nebst Kommissarien beiwohnten, stand auf der Tagesordnung die erste Berathung der von den Abgg. Aichbichler und Lohren eingebrahten Gesetzentwürfe betr. Abänderungen und Ergänzungen der Gewerb e- ordnung vom 1. Juli 188 (Sonuntags-, Kinder- und Frauenarbeit).

_ Auf Antrag des Abg. Hiße wurde die Diskussion über diese Gegenstände verbunden.

Abg. Hitze wies darauf hin, daß der von der Centrums- partei eingebrachte Gesezentwurf wiederholt von dem Hause angenommen worden sei, und bat, dur einheitliche Zustim- mung der Sache das möglichste Gewicht zu geben, sowohl gegén- über dem Lande wie dem Bundesrath. Mit einer bloßen Resolution dürfe E ‘der Reichstag nicht zusfrieden- hen nachdem der Reichskanzler und die verbündeten Regierungen sich gegen die Beschlüsse des Reichstages in * der Frage des Arbeitershußes ‘bisher ablehnend verhalten hätten. Der Einwand, daß die Regelung

des Sklavenhandels auf dem Meere ernannt.

sei, sei niht durchs{chlagend. - Von Reichswegen solle ja nu bestimmt werden, daß die Arbeit an Sonn- und Feiertagen u ruhen habe; welhe Fei:rtage das im Einzelnen fein sollten, werde der Festseßung durch die Einzelstaaten überlassen. Der As, daß in manchen Jndustrieen B. in der Eisenindustrie die Sonntagsarbeit nit ganz zu entbehren sei, sei ebenfalls ohne Bedeutung, da ja der Bundesrath berehtigt werde, Ausnahmen zu gestatten. S habe der Reichskanzler die Einführung der in Rede tehenden Arbeitershußbestimmungen von dem Ergebniß der Enquête abhängig gemaht; nachdem aber durh diest% der Arbeitershuß als Bedürfniß und Wunsch der BevölkeKing erwiesen sei, werde auf sie kein Gewicht mehr gelegt. Daz Beispiel Englands, Frankreihs und der Schweiz zeige, daß die Jndustrie auch bei diesen Arbeitseinschränkunget lebens- und fkonkurrenzfähig bleibe. Die Einführung der Sonntagsruhe und die esränkung der Fabrikbe\häftigung der Frauen würde das Familienleben, das durch die jeßigen Arbeitsvérhältnisse shwer geshädigt werde, wieder fördern, und damit dié Sozialdemokratie wirksamer bekämpft werden, als mit allen Ausnahmegeseßen geschehen könne. Bei Schluß dés Blattes sprah der Abg. Schrader.

Die Geschäftsordnungs-Kommission des Reichstages hat den Antrag gesteUt: „Der Reichstag wolle beschließen: zu erklären, daß das Mandat des Abg. Dr. von Cuny dur seine Ernennung zum ordentlichen Honorar-Professur an der juristischen Fakultät der

1 Königlichen“ Friedrih-Wikheims-Universität“ zu “Berlin niht er-

loschen sei".

Zeitungsstimmen.

Die Kommission für das Sozialistengeseß hat bekanntlich der Regierung die Ausweisungsbefugniß in dem Geseg nit einräumen zu sollen geglaubt. Hieran knüpft die „Wei- marische Zeitung“ folgende Betrachtung:

„Von dieser Frace bängt das fernere Schicksal des Gesetzes ab. Es fragt ih, in wie weit die Vertreter der nationalliberalen Fraktion in ‘dieser Frage die Fraktion selbft“ hinter sih haben. Ist diés der

all, dann kommt vorausfihtlich eine Verständigung im Plenum nit zu Stande, da Minister Herrfurth wiederholt für die Unerläßlichkeit des fieinenBelagerungszustandes in der modifizirten Form derVorlage, also für die Aufrechterhaltung: der Ausweisungsbefugniß eingetreten ist. Macht aus dieser Frage die Regierung eine unerläßliche Bedingung für ihre Zustimmung zu dem Geseg Überhaupt, so würde es“ unseres Er- achténs ein \chwerer Fehler der Nationalliberalen sein, auf Aufhebung der Auéëweisung zu bestéhen, au) wenn sie dafür eine Verlängerüng des bestehenden Geseyes auf kurze Frist bieten. Daß das bisherige System mancherlei erhebliche Uebelstände bewirkt hat, ift gerade von national- liberaler Seite am lebhaftesten anerkannt worden. Diese Uekel- stände würden noch empfindlicher werden, nachdem festgestellt ist, daß in einzelnen wesentlichen Punkten eine erheblihe Abschwächung des Geseßes für zulässig erahtet wird. Soll nun auf diese Ab- \{chwäcung verzihtet werden, weil die Regierung erklärt, in einem Punkt auf Gewährung besonderer Befugnisse bestehen zu müssen? Es, "wäre dies gerehtsertigt, wenn diese besondere Be- fugniß bisher sehr mißbräuchlich betrieben worden wäre. Aber dies ist thatsä{lich durtaus nicht der Fall. ‘An si betrachtet. ist die Auswéeifung eine tiefeinshneidende und unerfreulihe Vaßnahme, mit der sith Niemand gern befreundet. Aber wenn die Regierung, die für die wirksame Bekämpfung der Umffürzparteien ‘in erster Linie einzustehen hat, sie für unentbehrlidh erklärt, so wird man einer solchen Forderung um so mehr Rücksicht zuwenden müssen, als festsitht, daß die Behörde von dem ihr zustehenden Recht in maßvoller Weise Gebrauch macht: die Zahi der in den beiden letzten Jahren ausgewiesenen Personen beträgt im Ganzen 28.

_So schwer die Ausweisung im einzelnen Falle den Betreffenden berühren mag, so ist doch niht in Abrede zu stellen, daß die Re- gierung sorgfältig vermieden hat, Mißbrauch mit dieser Befugniß zu treiben. Daß dies künftig in noch höherem Maße, weni das Gefeß auf die Dauer Geltung erlangt, vermieden werden wird, dafür ist eine Eürgshaft in dem Umstand gegeben, daß nach der Vorlage künftig sowobl gegen die Ausweisung als auch gegen die Ablehnung des Gejuckes um Gestattung der Rückkéhr das Ver- waltungèstreitverfahren stattfinden sol. Gewiß läßt si viel in der Theorie gegen die Ausweisung sagen, aber es wäre doch sehr be- denklih, das Schiksal des Sozialistengeseßes von dem Verzicht auf diese Befugniß abhängig zu machen, die in der thatsächlichen Anwendung nit die befürhtete empfindlihe Bedeutung erlangt bat, von den zuständigen Organen des Staats aber als unerläßlich be- zeihnet wird. Darüber, daß bas Sozialistengeseß unentbehrlich und daß eine dauernde Gesehgebung in diéser Beziehung zweck- mäßig ist, besteht auch innerhalb der nationalliberalen Partei keine Meinungsverschiedenheit. Jeßt steht dieselbe vor der Entscheidung, ob sie eine Vórlage, die ‘selbst nad dem Eingeständniß demokratischer Blätter in ihrer gegenwärtigen . Fassung sehr erheb- lie Milderungen aufweist, scheitern lassen will, weil sie einen von der Cxekutive als unerläßliÞch bezeihneten Punkt, gegen bessen mißbräuchlihe Auënußung Bürgschaften gegeben sind, verwirft und dadurch aufs Neue ganz unsihere Zustände schaffen hilft, oder ob sie durch Verziht auf “doktrinäre Bedenken eine Verständigung ermögliht und damit den Staat in den Stand sett, die Umsturzparteien nachdrüklih zu ' bekämpfen." Die Entscheidung, die die Fraktion treffen wird, dürfte von Bedeutung sein au über die vorliegende’ Frage hinaus, denn s{werlich wird die Wöählerschaft ein Verständniß dafür haben, wenn die Fraktion sich im ersteren Sinne entscheidet.“

Anknüpfend an die Debatten über kolonialpolitische Fragen in der Freitagssigung des Reichstages schreibt die „Magdeburgische Zeitun g“:

„Die Forderungen, die für die Bearbeitung der kolonialen An- gelegenheiten in den Reichshaushalt eingetragen sind, haben dem Reichstage Gelegenheit geboten, die koloniale Frage wieder einmal zu streifen: Man wird zugestehen müsjen, daß die Erörterungen über diese Angelegenheit allmählich den aufregenden Charakter abstreifen, den sie zu Beginn der kolonialen Bewegung getragen, und in ein ruhigeres ahrwasser einlenken. Allseitig hat man sich mit den geschehenen hatsacen abgefunden, allseitig erkennt man an, daß der einmal gethane Schritt nicht: wieder zurückgethan werden kann." Der Sahe seibst, die einen politischen Charakter nit trägt und der nur deutsche Art oder Unart einen politischen Anstrich geben konnte, wird nur gedient sein, wenn an die Stelle der leidenschaftlich erreaten Debatte die ruhige kühle Prüfung tritt. Die Fragen, die’ jeßt in Anregung gebracht sind, haben mehr Verwaltung und Einrichtung der Kolonien als Wesen und Bedeutung derselben berührt. Wenn Angesichts der G der Regierung für die Errichturg einer ‘besonderen Abtheilung -der fkolonialén Ie mit Nachdruck von der Seite, die bisher der Kolonialpolitik lau oder sogár geradezu ablehnend geaendeeraelarden, betont ist, daß die Abtheilung nun und nimmer in ein selbftändiges, vom Auswärtigen Amt gänzlich losgelöstes Amt verwandelt werden dürte, so heißt das in der That nur gegen Wind- mühlen fechten. Es liegt auf der Hand, und es ift unsercs Wissens bon dem gegenwärtigen verantwortlißen Leiter unserer Politik wiederholt klar und bestimmt hervorgehoben worden, daß die leßten Entscheidungen auc auf kolonial-politishem Gebiete selbstver- ständlih in der Hand dessen liegen müßten, dem die Leitung unserer Politik’ überhaupt zusteht. Genau so liegt übrigens die Sache auch in Ländern,''wo wirklih für die kolonialen Sachen besondere Mini-

der Sonn- und Feiertagsarbeit Sache der Einzelstaaten

terien “und Aemter“ eingerichtet sind, Was ‘die Verwaltung der

Kolonien selbst betrifft, so scheint allerdings die Erfahrung, die wir bis jeßt haben machen können, dafür zu sprechen, daß die in Kamerun und im Togogebiet getroffene Ordnung der Dinge am meisten zweckentsprecheid is. In Südwestafrika ist man bereits zu einer ähnlihen Ordnung- über- gegangen, für die Südseegebiete stebt sie gleichfalls bevor. Ja es scheint, als ob auch für das größte und bedeutendste der für Deutsch- land erworbenen Gebiete, für die deutsh-ostafrikanishen Kolonien die leihe Einrichtung nur eine Frage der Zeit sein könne. jür die Dämpfung der ausgebrochenen Unruhen haben die

achtmittel und das Anschen der dort thätigen Privatgesellshaft fch niht aus-:eihend erwiesen. Das Reich bat mit starker Hand eingreifen müssen. Von den Gegnern der kolonialen Bewegung ist wieder ein- mal auf die geringfügige Bedeutung unserer Kolonien hingewiesen und dabei sind Andeutungen gemacht, als ob auch für die Zukunft nihts von denselben zu erboffen si. Es is richtig, Kolonien wie sie England in Indien, Holland in Java be- sigt, haben wir nicht mehr erwerben können. Die Welt war fast vertheilt, als auch Deutshland in der Lage war, als Mit- bewerberin um den Besiß noch berrenloser überseeisher Gebiete auf- zutreten. Aber so ganz ohne Werth können die Besißungen doch nit sein, die wir jeßt in Besiy genommen haben. Es giebt kein Fleckchen Land, über dem jeßt die deutsche Flagge weht, nicht einmal in der „Sandbüchse“ von Angra Pequena, das nicht in dem Augenblick, wo wir unsere Fahne wieder einziehen würden, von anderen Mächten beseßt werden würde. Und was die Zukunft betrifft, so vertrauen wir der treuen, redlichen, unermüdlichen deutschen Arbeit, die noch überall und oît unter, schwierigeren Verhältnissen gute Erfolge davon getragen hat. Au kann es nicht gerade entmuthigend einwirken, wenn man wahr- nimmt, daß die trübsten Prophezeiungen immer aus dem Munde von Leuten kommen, die \sich über die thatsähliden Verhältnisse am \hlechtesten unterrihtet zeigen.“

Stanley und Emin Pascha.

Von Emin Pasha ist am Sonnabend ein Brief an Professor Schweinfurth in Berlin eingetroffen, welcher der Gesellschaft für Erdkunde in der Sonnabend-Sißung von Professor P. Ascherson übergeben worden is. Das Schreiben ist vom 28. August 1889 datirt und hat, wie der „Post“ mitgetheilt wird, folgenden Wortlaut:

„Englishe Missions-Station „Ussambiro“ am Victoria-See.

Soeben ist Mr. Stanley mit seinen Leuten, sowie die wenigen Leute, die mit mir gekommen, hier eingetroffen, und ih beeile mi, Jhnen, der mir stets so viel Wohlwollen und Interesse bewiesen, zu- nähst diese zwci Zeilen als einfa@es Lebenszeihen zuzusenden, Halten wir, wie ih hoffe, bier für einige Tage, so bin ih wohl im Stande, Ihnen auéführliher zu schreiben, obgleich ih halb blind bin. Militär - Revolutionen in meiner eigenen Provinz; Gefangenhaltung Mr. JIephson's und meiner in Dufilé; Ankunft der Mahdisten in Ladó und Eroberung und Zer- stôrung Redjafs; Massacre der gegen sie gesandten Soldaten und Offiziere; unsere Abreise nah Wadelai und Fluht nah Tunguru; Angriff der Mahdisten auf Dufilé und ihre gründliche Niederlage; unsere shließlihe Vereinigung mit Mr. Stanley und der geographisch und anderer Weise so hochinteressante Marsch vom Albert-See hier- her davon hoffe! ich Ihnen in einer müßigen Abendstunde erzählen zu können, auch habe ih einiges Gute an Pflanzen für Sie : darf ih Sie bitten, die Hrrn. Junker, Ragel, Supan und Hassen- stein, sowie Perthes, freundlihst zu grüßen. Jch werde versuchen zu \hreiben aber meine Augen! : :

Genehmigen Sie meine besten Grüße und glauben mi

Ihren raa ergebenen min.“

In dem bereits erwähnten, an den englishen Konsul Smith in Zanzibar gerihteten Brief Stanley's, d. d. Mpwapwa, 11. No- vember, heißt es bezüglich der neuen geographischen Entdeckungen wörtlich: S

„Wir haben eine unerwartete Entdeckung von wirklichem Werth in Asnika gemacht, nämlich, doß sih der Victoria Nyanza beträchtlid nach Südwesten ausdehnt. Die äußerste Spiye ist 200 48 f. B. und ist nur 155 Meilen vom See Tanganyika entfernt. Ich war so gewiß, daß diese Thatsahe durch die vielen Reisen der Missionare bekannt scin mußte, daß sie mich nicht besonders aufregte Herr Mackay zeigte mir jedoch die neuesten von der Gesellschaft veröffentlichten Karten, und ih sah, daß Niemand eine Ahnung davon hatte. Ih habé unterwegs eine rohe Skizze entworfen, und finde, daß das Areal des großen Sees in Folge dieser Ent- deckung jeßt um 26 900 Quadratmeilen größer anzunehmen ist, _d. h ungefähr um 1900 Quadratmeilen mebr als Kapitän Speke es, wie man glaubte übertrieben, feststellte, Wenn Sie einen Blick auf die Landkarte werfen gegen Südwesten, werden Sie finden, daß die Uferlinie fast Welst-Nord- West und Ost-Süd-Ost läuft. Diese so gezogene UVferlinie besteht aber zumeist aus einer Reihe großer getirgiger Inseln, von dene viele stark bevölkert sind. Südlich von diesen Inseln ist das große jeßt entdeckte Wasserbecken. Der Urigisee, welchen Kapitän Speke gleichfalls roh skizzirte, ist, wie sih herausstellt, gleihfalls ein ansehnliher See mit bevölkerten Inseln,“

Na in London weiter eingegangenen ausführlihen Briefen Stanley's, datirt vom 5. August und 3. September, welche über den Verlauf seiner Expedition, die Revolution in Wadelai, die Er- rettung Emin Pascha's aus der Gewalt seiner meuterishen Truppen und die späteren Ereignisse vollen Aufschluß geben, entschloß sid Emin Pascha erst nah längerem Zaudern, die Aeguatorialprovinz zu verlassen. Stanley war vor tem Rückmarsch nach der Küste einen Monat {wer krank.

Statistik und Volkswirthschaft.

Zur Lage der Landwirthschaft.

Wie aus Koblenz berihtet wird, läßt der Wohlstand unter der Landbevölkerung noch manches zu wünschen übrig. Die diesjährige ute Ernte im Regierungébezirk in Verbindung mit den höheren orn- und Viehpreisen kann die Schäden und wirthschaftlichen ah- theile, welche die lange Reihe vorhergehender s{lechter Ernten im Ge- folge haite, wohl mildern, aber niht ausgleichen. Dazu kommt, daß, wenn auch im Allgemeinen das Interesse für landwirthschaftlihe Fragen und damit au das Mani dafür im Steigen begriffen ist, doch in manchen Kreisen Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit den Landmann von der Vornahme nüßliher und fruchtbringender Ver- besserungen abhalten. Die wenig rosige Lage der Landwirthschaft wirkt naturgemäß zurück auf den Kleinhandel und den Hand- werkerstand in den kleineren Orten; die häufigen in dieser Rich- tung vernommenen Klagen sind zwar sehr übertrieben, aber nit ganz unbegründet s A L

Die Viebzucht erfreut si zur Zeit schr günstiger Verhältnisse. In Folge des großen Futterreihthums sind die Landleute zu Ver- äußerungen nicht geneigt und die Viehpreise daher sehr hohe. Fette Owsen werden bis zu 78 F, Kühe und Rinder bis zu 63 #, Schweine bis zu 68 H für 50 kg bezahlt. i

Sind diese Thatsachen nun auch für den Züchter sehr erfreulih, so ist es do den kleineren Landleuten, welhe im vorigen Jahre wegen Futtermangel genöthigt waren, viel Vieh zu verkaufen, ganz außerordentlich erschwert, ihre Viehbestände wieder zu ergänzen. In

leßterer Beziehung is daher augenblicklich die Wirksamkeit der sodennaten Vieh»Leihkassen von großem Werthe, welhe es si zur Aufgabe machen, unbemittelten Landleuken auf billige Weise Vieh zu verschaffen und dem Viehwucher entgegenzutreten. Eine derartige im Kreise Kochem ins Leben gerufene Kasse hat sich in kurzer Zeit das Vertrauen der betheiligten Bevölkerungsklassen erworben, vermag jedo, obwohl der Kreistag einen Zuschuß von 3000 4 bewilligt hat, niht allen an sie gerihteten Anträgen um Brihülfe zu ent- rechen.

A fe: Allgemeinen läßt si feststellen, daß das Juteresse an land- wiribs@aftlihen Fragen auch bei den Kleinbauern im Zunehmen be- griffen is. Die Bildung von zahlreiven landwirthschaftlichen Ortsvereinen kann als erfreulihes Zeichen dafür gelten Der erst vor Kurzem zusammengetretene Hunsrücker Bienenzuchtverein zählt bereits über 60 Mitglieder.

Zur Lage der Eisenindustrie,

Die während des Koblenarbeiterausstandes angesammelten Vor- räthe an Eisenerz drückten in den leßten Monaten, wie vom Rhein geschrieben wird, noch fortwährend auf den Markt. Troß der sebr lebhaften Hochofenthätigkeit hatten die Erzpreise nur geringe Aufbesserungen zu verzeihnen. Ist dies Verhältniß bei den durch die exorbitanten Kohlen- und Cokespreise_ erheblich gestiegenen Po an sich auch fein günstiges, so haben die etheiligten Kreise. doch allen Grund zufrieden zu sein, da es nur dem Umstande, daß auch im Auslande, namentlich in England aus ver- schiedenen Veranlafssungen die Erzeugungskosten und Verkaufspreise des Eisens eine Steigerung erfahren haben, zu verdanken ist, daß die deutsche Eisenindustrie zur Zeit auf dem Weltmarkt noh wettbewerbsfähig ist und bisher diejenigen Absaßzgebiete, welche sie mit beträchtlichen Opfern den Engländern abgenommen hatte, noch nicht wieder ver- loren hat. Arbeitér blieben gesucht ; die Löh ne sind auf dem Wester- wald \{on seit Inbetriebseßung der Bahn langsam aber stetig steigend. Der Durchschnittsverdienst der Krupp'sc{en Arbeiter betrug : 1884/85 2,01 A, 1885/86 2,05 M, 1886/87 2,06 M 1887/88 2,14 4, 1888/89 2,30 6 In der Nähe des Rheines stellen sich die Löhne noch um einige Prozent höher. Während der Wintermonate stehen übrigens dem Bergbau viele Leute zur Verfügung, die im Sommer im Baugewerbe oder anderweitig thätig sind. Im Kreise Altenkirhen giebt es im Ganzen 64 Eisensteingruben, die zur Zeit 6964 Arbeiter beschäftigen. Auf den Gruben und Hütten der Krupp'swen Hüttenverwaltung zu Sayn wurten insgesammt 3474 Arbeiter bescäftigt, An Eisenerzen wurden durchshnittlich im Monat 31687 009 kg gefördert; die monatlihe Dur({schnittsproduktion auf den Hütten betrug 13 443716 kg

Sächsische Einkommensteuer

In dem Novemberheft der Zeitscbrift des Königlich Sächsischen Statistishen Bureaus behandelt Dr. Victor Böhmert die Ergebnisse der sächsischen Einkommensteuer von 1879—1888. Hiernach hat wie- derum eine Zunahme des Einkommens stattgefunden. Die Zahl der eingeshäßten Personen betrug im Jahre 1888: 1327 771, dieselbe hat seit der leßten Erhebung im Jahre 1886 um 59 905 Köpfe zu- genommen. Das Einkommen mit Abzug der Sculdzinfen betrug rund E a im Jahre 1888 gegen 1237 Millionen Mark im Jahre 1886, s

Nach den Einkommensquellen entfielen (mit Schulbvzinsen) rund 9247 Millionen Mark oder 17 9/0 auf Einkommen aus Grundbesitz, 168 Millionen oder 12 °%% auf Renten, 584 Millionen oder 40 %/ auf Gehalte und hne und 444 Millionen oder 31 % auf Handel und Gewerbe. Die Zunahme des Einkommens seit 1886 entfällt besonders auf Gehalte und Löhne und auf Handel und Gewerbe, wogegen das Einkommen aus Grundbesiy und Renten in geringerem Maße ge- stiegen ist. Von den Beitragspflichtigen kommen 1888: 943 930 Per- sonen oder 71,69 9% der Bevölkerung auf die unbemittelte Klasse, welche nur ein Einkommen bis zu. 800 4 hat. Das einge\äßte Einkommen dieser Klasse betrug rund 467 Millionen Mark odcr 34,95 9% des Gesammteinkommens, Auf die mittlere Klasse mit einem Einkommen von über 800 bis 3300 famen 341 660 Men oder 25,73 °%/ der Bevölkerung mit einem Einkommen von 466 Millionen Mark oder 34,82 °/9 des Gesammteinkommens. Die wohlhabende Klasse mit einem Ein- fommen von 33009 bis 9600 A zählte 33 328 Personen oder 2,92 %/o der Bevölkerung mit einem Einkommen von 171 Millionen Mark oder 12,80 % des Gesammteinfommens, und zur reihen Klasse mit einem Einkommen von über 9600 46 gehörten 8853 Personen oder 0,66 9/6 der Bevölkerung mit einem Einkommen von 233 Millionen Mark oder 17,43 %/% des Gesammteiniommens. Der Gesammt- eindruck der Einkommensteuer- “Statistik is ein günstiger. Während die Bevölkerung von 1880—88 um etwa 10 °/6 gestiegen ist, vermehrte ih die Zahl der eingeshägten Personen um 18 9% und das Ein- kommen mit Abzug der Schuldzinsen um 36 9/0.

Zur Arbeiterbewegung i

Ueber den Zweck, welcher sozialdemokratischerseits mit dem Projekt, den 1. Mai 1890 für einen internationalen Feiertag zu erklären, ver- folgt wird, shreibt das „Sächsishe Wocenblatt*; Es macht sih in weiteren Kreisen der deutshen Arbeitershaft eine Bewegung be- merkli, die anschließend an die Beschlüsse des Pariser internationalen Kongresses dafür eintritt, daß der 1. Mai 1890 als interaationaler Festtag gefeiert werde. Mit dieser Feier wird bezweckt, eine allge- meine Kundgebung sämmtliher Arbeiter zu veranstalten für den ahtstündigen Arbeitstag. Es muß vor allem dahin gestrebt werden, daß dieser internationale Festtag, der 1. Mai 1890, möglichst allgemein und je nah den örtlichen Verhältnissen und den ge’eßlichen Bestimmungen möglichst sihtbar gefeiert wird. In den leßten Tagen haben in Berlin neben einigen anderen Gewerben auch die Möbel- polirer beschlossen, den 1. Mai 1890 als internationalen Festtag zu feiern. Sie traten dabei für einen neunstündigen Arbeitstag ein, der wobl für uns in erster Linie zu erstreben sein möchte, Der 1. Mai 1890 ist ein Donnerstag. : L

In einer am Montag der vorigen Woche im hiesigen Concert- haus Sanésouci“ abgehaltenen Versammlung Berliner Buchdgucker wurde über „die Verkürzung der Arbeitszeit* ver- bandelt. Die Versammlung trat den Beschlüssen des internationalen Arbeiterkongresses bei und proklamirte den 1, Mai 1890 als Feiertag. :

Die Tarifkommission des Deutschen Buchdrucker-Ber- eins veröffentliht den nah eingehenden Berathungen abgeän- derten Tarif, welher mit dem 1. Januar 1890 in Kraft treten wird. Der Vorstand des Vereins bemerkt in seiner hierauf bezüg- lichen Bekanntmachung, daß die Verhandlungen und Beschlüsse der Tarifkommission in durchaus sah- und ordrungsgemäßer Weise ge: führt und gefaßt worden feien. :

Aus London meldet die „Allg. Corr,“ : Der neuerdings ent- standene Streit zwishen den Lichterfirmen und ihren Ar- beitern ist in gütliher Weise beigelegt worden durch gegenseilige Zugeständnisse, die, wenn sie streng inne gehalten werden, weitere Streitigkeiten wirksam verhindern dürften. :

Signalleute der verschiedenen Londoner Eisenbahnen biellen am 22. Abends in der Memorial Hall eine Versammlung ab, um für kürzere Arbeitszeit und bessere Löhne zu agitiren. Es gelangten Sympathieschreiben von John Morley und anderen Abgeordneten zur Verlesung. Die \chließlih angenommenen Resolutionen fordern eine 8 stündige Arbeitszeit und Lohnsäte, die sih auf 6 h. den Tag steigern. Die Süd-Londoner Pferdebahn-Gesellschaft beabsichtigt, ihren Angestellten einige Konzessionen hinsictlid der Länge der Arbeits- zeit zu machen. Die Kutsher und Condukteare follen zwei Mal in der Woche einen Abend und die Pferdewärter und Andere jeden dritten Sonntag frei haben.

Das soeben erschienene Heft I. und IT. des Jahrgangs 1889 der

verbältnifes der Geborenen“ von Medizinal-Rath Dr. med. Arthur R folgt als Abschluß der Ergebnisse der leßten Volks- zählung ein Aufsaß über „Die Altersverhältnisse der sächsischen Be- völkerung nah der Volkszählung 1885“ von Dr. Victor Böhmerkt. In dem folgenden Aufsatze behandelt Polizeiarzt Dr. med. Otto Nippold in Freiberg „Die Bevölkerungsbewegung in der Stadt Frei- berg in der Zeit von 1801—1880°. Der vierte Auffay von Dr. Victor Böhmert behandelt die Ergebnisse der sächsischen Finkommen- steuer von 1879—1888.

Berichtigung. Der Verfasser der an dieser Stelle in Nr. 279 des „Reichs- und Staats-Anzeigers“ besprochenen Abhandlung über die Wirkung des Krankenkassengeseßzes heißt nicht, wie dort irrthümlih gedruckt war, Nagoczy, fondern Rágóczy, Syndikus der Handelskammer von Minden.

Verkehrs - Anstalten.

Hamburg, 25. November. (W. T. B.) Der Postdampfer „Suevia“ der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt- Aktiengesell\chaft ist, von New-York kommend, gestern Abend 9 Uhr auf der Elbe eingetroffen.

Triest, 24. November. (W. T. B.) Der Lloyddampfer „Euterpe*" is gestern Nachmittag, aus Konstantinopel fommend, hier eingetroffen.

%., November. (W. T. B.) Der Lloyddampfer

„Venus * ist, von Konstantinopel kommend, heute früh hier ein- getroffen. : London, 23. November. (W. T. B.) Der Union-Dampfer „Nubian“ i} heute auf der Heimreise in Southhampton angekommen. Der Castie-Dampfer „Methven-Castle hat am Freitag die Canarishen Inseln auf der Ausreise passirt. Der Castle-Dampfer „Drummond-Castle*“ hat heute Lissabon auf der Heimreise passirt. Der Castle-Damvfer „Hawarden- Castle“ ist gestern von Darthmouth auf der Ausreise ab- gegangen.

Theater und Musik.

Königlihes Schauspielhaus.

Am Sonnabend ginge1 auf der Kö: iglichen Bühne Stiller's „Räuber neu einstudirt und in der ursprünglichen, von dem Dichter bealsihtigten Gestalt in Scene. Bis jeyt war bekauntlih auf dén deutshen Bühnen zumeist jener Text maßgebend, welcher der ersten Aufführung des CTrauerspiels auf dem Mannheimer Theater zu Grunde lag und von dem ersten Entwurf Shiller's, wie er 1781 im Buchhandel erschien, wesentlich abweicht. Der Dichter hatte damals, um die Aufführung seines Stückes überhaupt möglich zu maden, sich zur Aenderung und Milderung vieler Scenen entshließen und cinwilligen müssen, daß die Handlung als cinige Jahrhunderte früher \pielend gedacht werde. Die wilde Gährung, welde damals alle Geister auf politishem und \{öngeistigem Gebiete ergriffen hatte, und aus welcher das Diht- werk erwachsen ist, läßt diese Maßnahme wohl gere{tfertigt er- cheinen. Heute darf die Scaffungszeit der „Räuber“ eber als ein geeigneter Hintergrund für das fesselios hinstürmende Trauer- spiel und den darin waltenden übershäumenden und leidenschaftlichen Fugendmuth gelten. Hierdurch wird dem prunklosen einfachèn Musenhaus in Mannheim, von welchem aus die „Räuber“ ihren Siegetlauf begannen, seine Bedeutung für die gesammte weitere Ent- widcklung der dramatischen Kunst nicht geschmälert werden. Der Ber- such, zur ersten Auffassung des Dichters zurückzukehren und das Trauerspiel als das zu geben, was es ist, ein literarishes und fulturelles Monument, hat sh vorgestern wieder vor- treffflich bewährt. Die Derbheit und Zügellosigkeit des Aus- drucks, das Geniale in den stürmishen Scenen verlich dem Stü das ihm gebührende Gepräge der Urwüchsigkeit. „Karl“ stirbt nach Hermann's Bericht wieder den Heldentod bei Prag unter König Friedrih's siegreihen Fahnen. Manche Scenen, wie das Zwie- gespräh Kosinsky's und des Räubers Moor im Garten und der spätere Dialog Amalia’s und Karls _erscheinen neu, andere wurden von ibren Verkürzungen, wenigstens zum Theil, befreit. Die Beseßung aller hervorragenden Rollen konnte durchaus befriedigen Hr. Matkowsky als „Karl“ spielte mit glühender Leideuscbaft seine Jünglingsrolle, welche er sväter mit ernster Männli@keit misbte. Die selbstbewußte Kraft der Entschlüfse und die \{melzende Weichheit der Empfindungen trug er _zu einem gelungenen Bilde zusammen, dem auh die Größe der Seele nicht fehlte; in der großen Scene des vierten Aktes, als er sih zum Richter des Vaters erhebt, und ebenso im fünften Akt entfesselte er wahre Stürme des Beifalls. Den „Franz“ gab Hr. Grube mit feiner Berechnung und s{chönem Gelingen Den heimtüdckischen, philosophirenden Bösewicht hatte er gut berausgeklügelt ; do stand er hier nicht auf der gleichen Höhe wie später in dem hirnverwirrenden Kampf mit seinem Gewissen, welcher die leßten Akte ausfüllt, nit zur geistvoll sondern auch mit warmem Herzblut des. Lebens spielte er die Scene im Ahnensaal, deren Wirkung dur das geister- haft bereinfallende Mondliht noh erhöht wurde. Die „Amalia* der Fr. v. Hochenburger war \timmungsvoll und elegisch in Haltung und Geberde; ihr wohlklingendes, \chönes Organ paßte sih der Ueberschwänglichkeit des Ausdrucks mit Geschick an. Hr. Purschian war als „Hermann“ vollständig an seinem Plate; sein sehr leiht zu Uebertreibungen geneigtes Naturell hielt LO alúckliŸ in den Schranken des Charakters, der einfältigen Natur, deren Kopf vom Versuher verdreht wird, aber in deren Herzen Gefühl und Scham noch nicht erstorben sind. Der „Spiegelberg“ des Hrn. Vollmer is sehr lustig, so lustig, daß davor oft genug die raffinirte Niedrigkeit des feigen Schustes zurücktritt. Hervorzuheben ist noch die Wieder- gabe des furchtlosen und glaubenssta:ken Pastors Moser darch Hrn. Sauer, der wie ein streitbarer Mann des Wortes Gottes auftrat. Die lebendige Theilnahme an der Darstellung steigerte sih von Aft zu Akt und that sich ix zahlreichen Hervorrufen kund.

Berliner Theater. E

Wie bei der Erstaufführung des „König Lear“, fo war auch bei den bisher stattgehabten beiden Wiederholungen das Theater in allen seinen Rängen und Logen bis auf den leßten Play ausverkaust.

Adolph-Ernst-Theater. L

Zum 1090, Male in ununterbrochener Reihenfolge und bei unver- minterter Anziehungékraft gehen am Freitag die „Flotten Weiber über die Bretter, und zwar in derselben Beseßung, wie am Tage der ersten Aufführung. Einer hergebracten Tradition gemäß hat die Direktion für diejen Festtag geschmackvolle Souvenirs Notenhefte cnfertigen lassen, welche die Bilder der hervorragendsten Mit- glieder des Adolph-Ernst-Theaters aufweisen und die beliebtesten Textnummern der Jubiläums-Posse enthalten.

Sing-Akademie.

Die ge\sckäßte Pianistin Frl. Clotilde Kleeberg hatte am Sozanabeud im Saale der Sing-Akademie einen Klavier-Abend ver- anstaltet, in welchem sie die Zuhörer durch den Vortrag einer reichen und kunstsinnig zusammengestellten Auswahl klassisher und neuerer Klavierstücke erfreute. Ihr zarter, duftiger Anschlag, die perlende Deutlichkeit ihrer Passagen, die sorgfältige Abstufung aller Schatti- rungägrade bis ins leiseste Piano hinein, die Vermeidung des jeßt so oft gehörten plößglichen Wechsels zwishen dem Piano und Forte, der mäßige Gebrauch des Pedals und vor allen Dingen die geijivolle Auffassung der Werke geben ihrem Spiel einen unwiderstehlichen Reiz. Unter den vorgetragenen Piècen heben wir besonders Beethoven's „Appassionata“, eine Lieblingssonate der Künstlerin, die Humoreske von Schumann sowie das sehr grazióse Phantasiestück von Rudorff (op. 10 Nr. 1) hervor, drei Klavierstüke, die große und sehr ver- \chiedene Anforderungen an den Spieler stellen und die Frl. Kleeberg

eitshrift des Königl. Sächsischen Statistishen Bureaus Sebält zunächst en Aufsaß „Beiträge zur Frage des Geschlehts-

mit seltener Vollendung zu Gehör brate. Sehr elegant behandelte

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