1910 / 36 p. 8 (Deutscher Reichsanzeiger, Fri, 11 Feb 1910 18:00:01 GMT) scan diff

Reform des Wahlrechts bekämpft und beseitigt werden sollen. (Sehr richtig! bei den Sozial- demokraten.) Jn ruhiger Diskussion wird wohl von vielen Seiten zugegeben werden, daß darin handgreifliche Uebertreibungen liegen. Aber man verlangt die Modernisierung eines angebli auf überwiegend agrarishe, zum Teil feudale Zustände zugeschnittenen Wahlsvystems, das seinerzeit vielleiht ganz zweckmäßig gewesen, jeßt aber veraltet sei, nachdem der Staat seinen agrarisch- feudalen Charakter längst abgestreift habe. Das bestehende Wahl- \ystem, so behauptet man, mache das Großgrundbesißertum, mache einen einseitigen Konservatismus zum Beherrscher der Situation, während doch andere Stände, Handel, Judustrie, Gewerbe, Arbeiter- schaft, die in der Bildung repräsentierten Volkskräfte, längst in eine gleichberechtigte Stellung eingerückt seien. (Sehr richtig! links.) Luft und Licht für alle, das ist der Grundton der Bewegung, und weil man diese Forderung mit der Forderung nah der Reform des Wahlrechts identifiziert, darum greift die Wahlrechtsfrage so tief.

Und dazu kommt noch ein anderes. Meine Herren, wir haben soeben miterlebt, wie sich in England ein Wahlkampf von beispiel- loser Leidenschaft abgespielt hat. Die Waffen, die da gebraucht worden sind, waren zum mindesten ebenso scharf, wie sie bei uns üblich sind. Nun, im Wahlkampf mag das sein. Aber eine jahrhundertelange politische Kultur und politische Erziehung verhindern den Engländer, politische oder gar religiöse Gegensäße auf das per- sönlihe und soziale Gebiet zu übertragen. (Sehr wahr! rets.) Der Engländer {äßt den Engländer nicht danah ein, ob er politisch oder religiós ebenso denkt wie er selbst. Bei uns sind wir noch niht so weit, auf allen Seiten noch nicht so weit. Bei uns heißt es noch vielfa: der denkt auders wie ih, also steht er eine Stufe tiefer. (Lachen links.) Das macht es, daß unsere politi- chen Zustände von einem Gefühl der Bitterkeit erfüllt find, das tiefer \{chmerzt als die Realitäten politischer Gegensäße. Der Kon- flikt, der im leßten Sommer über die Reichsfinanzreform ent- standen ist, ist deshalb so scharf geworden, weil die Gegensäße in den Formen des Widerwillens, der persönlichen Verstimmung, ja der Miß- atung aufeinanderstießen. (Zuruf bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, ich will die Schuldfrage nicht untersuchen; mir scheinen a ll e Konten belastet zu sein.

Nun, meine Herren, macht man für Dinge, die als Mißstände empfunden werden oder Mißstände find, das Dreiklassenwahlrecht verantwortlich und erwartet von dessen radikaler Reform den Wandel aller Dinge. Das ist die Täuschung. Es möchte sih hören lassen, wenn es möglich wäre, die politischen Kräfte der Nation rein ziffern- mäßig genau gegeneinander abzuwerten und dann in diesem Ver- hältnis im Parlament zusammenzufassen. Aber das sind Utopien, und wichtiger als die Theorie scheint mir doch die Praxis zu sein.

Und, meine Herren, da ist es zunächst unrichtig, daß das preußische Wahlsystem auf agrarishe und feudale Verhältnisse zugeschnitten gewesen sei. Wie is es denn in Wirklichkeit gewesen? Das Abgeordnetenhaus is von fortschrittlichen zu nationalliberalen und von nationalliberalen zu konservativen Majoritäten übergegangen. (Sehr richtig! rechts). Dafür is nicht die Form des Wahlsystems, sondern dafür ist die Stellung bestimmend gewesen, die die Parteien zu den aftuellen politishen Problemen eingenommen haben. (Sehr richtig! rechts.)

Und, meine Herren, trifft es denn weiter zu, daß die Mängel, die man dem preußischen Wahlsystem nahsagt: die angebliche Ent-

Dinge, die mit der

rechtung der Volksmassen, die Bevorzugung des Agrariertums, des Großgrundbesißertums, fein plutokratisher Charakter daß dies Mängel die Arbeit und Politik des Abgeordnetenhauses in eine die niederen Stände bedrückende einseitige und plutokratishe Richtung ge- drängt hätten ? Es ist so sehr Sitte geworden, Preußen als das Land der finstersten Reaktion hinzustellen (sehr richtig! und Zurufe links), daß ih mich \{chon im voraus auf die Kritik freue, die mir zu

teil werden wird, weil ih diese Frage überhaupt gestellt habe. Aber ih werde das zum übrigen legen. (Heiterkeit rets.)

Denn es ist notwendig, einer Phrase, die immer wieder als ein Gespenst aus vormärzlicher Zeit heraufbeschworen und \{chließlich im FIn- und Auslande als ein leibhaftiges Wesen angesehen - wird, ein- mal ins Gesicht zu leuhten. (Sehr richtig! rechts.) Nicht, meine Herren, um einen Lobeshymnus auf die preußishen Zustände an- zustimmen das wäre genau fo abgeschmackt, wie das Häufen von Schimpf und Schande, das Beschmußen des eigenen Nestes ab- geschmackt und unwürdig ist (lebhafter Beifall rechts) —, fondern um zu zeigen, daß die preußishe Geseßgebung, welche mit Ihrer Hilfe und Zustimmung gemacht worden ist, den einseitig rück- schrittlihen, reaktionären Charakter niht hat, den man als die Signatur des Wahlsystems bezeichnet. (Sehr richtig !)

Meine Herren, die preußishen Finanzen beruhen, wenn man in großen Zügen spricht, auf den Einnahmen aus den staatlichen Betriebs- verwaltungen und den staatlihen Steuern. Kein Mensch kann der preußishen Einkommensteuer und Vermögenssteuer vorwerfen, daß sie die Reichen zu Ungunsten der Armen bevorzuge (sehr richtig!) und noch jede Novelle, die wir mit Ihnen zu diesen Geseßen ge- macht haben, hat die Tendenz verfolgt, die Bemittelteren zu gunsten der Unbemittelteren noch weiter zu belasten. (Sehr richtig !) Meine Herren, sehr demokratish regierte Länder kämpfen feit Jahren aber vergeblich! um eine ähnlihe Steuergeseßgebung. (Sehr richtig! rechts.) Gewiß, die wenigsten zahlen Steuern gern; aber ih habe nicht gefunden, daß die Massen des preußishen Vóölkes nun gerade unter dieser preußishen Staatssteuergesezgebung seufzten. Dagegen wird als unsozial, als agrarisch, als arbeiterfeindlih die Steuer- geseßgebung gebrandmarkt, die der mit dem allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Reichstagswahlrecht gewählte Reichstag ge- macht hat. (Lebhafte Zustimmung rechts.) Meine Herren, ih halte diese Vorwürfe nicht für richtig, nicht für begründet, aber sie werden erhoben ; und gerade die leßte Reichssteuergeseßgebung hat in den- jenigen Kreisen eine besondere Mißstimmung ‘hervorgerufen, die jeßt für Preußen das RNeichstagswahlrecht fordern. (Sehr gut! rechts.)

Und unsere Betriebsverwaltungen, meine Herren! Jh wüßte nicht, daß die Verstaatlihung der Eisenbahnen, diese für unsere ge- samte Finanzgebarung grundlegende Maßregel, unsfozial gewesen sei (Sehr richtig !); im Gegenteil, meine Herren. Und ist die Art und Weise, wie wir mit den von Ihnen bewilligten Mitteln in den staat- lichen Betrieben die Lohnfrage der Arbeiter regeln, wie wir in der Eisenbahnverwaltung z. B. nicht unbedeutende Mittel dafür auf- wenden, um die Stellung der Arbeiter über die Bezüge aus der reihsgeseßlihen Versicherung hinaus zu verbessern; {ind

die Aufwendungen, die wir mit Jhrer Zustimmung zur Ver- besserung der Wohnungsverhältnisse der minderbemittelten Beamten und Arbeiter machen ich kann nur einzelnes herausgreifen —, meine Herren, ist alles dies ein Zeichen dafür, daß das so- genannte Geldsackparlament seiner sozialen Verpflichtungen so ganz uneingedenk gewesen wäre? Natürlich, meine Herren, die Sozialdemo- fraten verlangen sehr viel mehr (Zuruf bei den Sozialdemokraten); aber wer sich in der Praxis umsieht, der wird finden, daß viele sehr gut geleitete Privatbetriebe in der Nachbarschaft von Staats- betrieben darüber klagen, daß sie wirtschaftlih gar niht in der Lage sind, ihren Arbeitern eine gleihe Lebenshaltung zu gewähr- leisten, wie es die staatlihen Betriebs8verwaltungen tun. (Sehr richtig! rechts.)

Meine Herren, nehmen Sie einen weiteren hervorstechenden, einen grundlegenden Zug der preußishen Geseßgebung ih habe ihn vorhin in anderem Zusammenhange flüchtig gestreift —: den Aus- bau der Selbstverwaltung im weitesten Sinne des Wortes. Ich lege dabei das Gewicht nicht auf die formale Seite der Sache ih weiß, die Herren Liberalen haben da eine ganze Reihe unerfüllter Wünsche —, aber auf den materiellen Inhalt dieser Selbst- verwaltung.

Meine Herren, man kann ohne jeglihe Uebertreibung sagen, daß der Schwerpunkt der wirtschaftlihen und der kulturellen Ent- wicklung des Landes in der Tätigkeit der Kommunalverbände liegt, der engeren und der weiteren, der Gemeinden, der Kreise, der Provinzen, der Genossenschaften jeglicher Art, kurz aller der Ver- bände, die in den Staatsorganismus eingegliedert sind. Dort werden die das Wohl und Wehe des einzelnen Staatsbürgers am nächsten berührenden Maßregeln getroffen. Daran sollte man sich doch erinnern, wenn man über die preußischen Zustände so in Bausch und Bogen als reaktionär und rückschrittlich aburteilt. Und, meine Herren, die Tendenz unserer Geseßgebung in den gesamten leßten 40 Jahren ist es gewesen, einen immer größeren Kreis von Aufgaben, welche bis dahin zentralistisch vom Staate erfüllt wurden, auf die Kommunalverbände zu übertragen. Das ist nicht geschehen, meine Herren, um den Staat zu entlasten, sondern weil es in einem fort- geschrittenen Staatswesen nur auf diese Weise möglich ist, die Ent- wicklung des Landes intensiv zu fördern und dabei gleichzeitig die Bevölkerung zu einer Mitarbeit an ihren Geschiken heranzuziehen, wie es thr in ähnlicher Weise durh kein Parlament und durch kein parlamentarisches Wahlrecht gewährleistet werden kann. Meine Herren, der Kulturarbeit, die die preußishen Kommunen geleistet haben und leisten, brauht sich Preußen weder vor dem Inlande noch vor dem Auslande zu \{chämen. (Bravo !) Eine Gesetzgebung aber, die diesen Gedanken verfolgt, die damit doch nur ausgebaut hat, wozu Stein und Hardenberg den Grund legten, kann man nit reaktionär nennen. (Bravo! rets.)

Meine Herren, nun zum Kapitel Polizeiwillkür! Ich kenne keine Gesetzgebung, die wie die preußishe in so minutiöser Weise den Nechts\staat auszubilden versucht und jede polizeilihe Verfügung mit dem Schutze dreier Instanzen von unabhängigen Verwaltungs- gerichten versehen hätte. Wir sind darin fo weit gegangen, daß wir auf diesem Wege eine neue Art bureaukratisher Umständlichkeit und Vielschreiberei geschaffen haben (Sehr richtig!), zu deren Beseitigung man jeßt um Hilfe ruft.

Endlich, meine Herren, die einseitige Bevorzugung des Agrarier- tums zuungunsten des vierten Standes von Handel und Industrie! Meine Herren, dabei vergißt man doch ganz, daß fast die gesamte Gesetzgebung, wo eine solhe Einseitigkeit hervortreten könnte, von Preußen auf das Neich übertragen worden ist. Wollte man auch hier irgend ein Wahlsystem für Einseitigkeiten verantwortlich machen, fo wäre es nicht das Dreiklassenwahlreht, sondern es wäre wiederum das Neichstagswahlrecht. (Sehr gut! rets.)

Meine Herren, wenn in all diefen Beziehungen, die ih kurz ge streift habe, das Dreiklassenparlament fo ganz versagt hätte, wenn es wirklich die rückschrittlihße Politik getrieben hätte, die man ihm nach- sagt, ohne die Dinge zu kennen, dann würde ih die Leidenschaft lichkeit begreifen, mit der man für eine radikale Aenderung unseres Wahlrechts eintritt. Wie die Dinge liegen, vergreift man \sich im Mittel. Oder, meine Herren, lassen Sie mich von einem etwas veränderten Standpunkte aus folgendes sagen :

Ich glaube nicht, daß der gemäßigte s preußishe Gesetzgebung, wie ih sie soeben in einigen Haupt- vuUntten idna lnert abe, und an der er dUrV- gehends selber mitgearbeitet hat, für so rückschrittlich hält; ich glaube auch nit, daß der gemäßigte Liberalismus der konservativen Partei im ganzen absolut rükschrittlihe Tendenzen vorwirft, wiewohl er sie wahrscheinlich fehr viel liberaler wünscht. Was die Herren meinen, das ist das: sie behaupten, daß die Regierung in der Ver- waltung und in der Anwendung der Geseße die Konservativen einseitig bevorrehte (Sehr richtig! links) Sie werden \{on hören, inwieweit das richtig ist! (Heiterkeit) einseitig bevorrechte, einseitig konservative Anschauungen vertrete (fehr richtig! links), und daß sie das tut oder tun müsse unter dem Druck der mit dem Dreiklassenwahlreht übermächtig gewordenen konservativen Partei. (Lebhaftes Sehr richtig! links.) Wir werden uns noch sprechen. (Heiterkeit.) Um diesen Druck zu beseitigen, soll das Wahlrecht ge- ändert werden.

Meine Herren, das führt mich zu der Stellung der Regierung zu den Parteien. Ich habe böse Dinge darüber zu hören bekommen, daß ih im Reichstage gesagt habe, wir könnten in Deutschland feine Parteiregierung haben. Widerlegt hat mih niemand (Wider- spruch links), und kann mich niemand widerlegen. Wir müßten ja, abgesehen von allem anderen, zunächst einmal die staatsrehtliche Stellung des Bundesrats beseitigen, wenn wir zu einer Partei- regierung kommen follten. Aber ‘ih will niht vom Reich sprechen, sondern von Preußen.

Meine Herren, eine preußishe Staatsregierung, die sih als Parteiregierung in dem Sinne etablieren wollte, daß fie einseitig die Geschäfte einer bestimmten Partei führte, daß sie sih als deren rerum gestor oder gar als deren Mandatar gebrauchen oder, richtiger gesagt, mißbrauchen ließe, würde dem historishen Preußen sein Ende vorbereiten, und eine Partei, die es beanspruchte, oder die es auch nur versuchte, eine Regierung so in ihren Bann zu zwingen, würde den Totengräber dabei spielen. (Sehr richtig! links; Zustimmung rets.) Preußen läßt \sich nicht in das Fahrwasser des Parlamentaris8mus vershleppen, folange die Macht seines Königtums ungebrochen ist (Bravo! rechts), und an der Macht dieses Königtums, dessen stolze

Liberalismus die

Tradition es ist, ein Königtum für alle zu sein, wird nicht gerührt werden. - (Lebhaftes Bravo! rechts.) Eine Regierung, die sich in den Dienst einer einzelnen Partei, und sei es auch der stärksten, stellte, die sich nicht in ihrem gesamten Organismus, auch in ihrer Beamtenschaft, Selbständigkeit wahrte, würde dem Lande einen halben Parlamentarismus vortäuschen, der außer allen übrigen Mängeln des Parlamentarismus noch den besonderen hätte, daß er innerlich unwahr und ungerecht wäre. (Sehr richtig! rechts; Wider- spruch links.)

Meine Herren, auch Sie von der konservativen Partei, Sie wollen und Sie müssen Ihre Unabhängigkeit und Ihre Selbständigkeit gegen- über der Regierung bewahren! (Lachen links.) Je selbständiger Sie fich stellen, je mehr Sie Ihre Stärke allein auf die eigene Kraft und die Ueberzeugung Ihrer Angehörigen begründen, um fo besser wird es nicht nur für die Negierung und den Staat, sondern auch für Sie selbst sein, eine um fo stärkere Stüße Preußens werden Sie damit sein. (Bravo ! rechts.) Aber dieselbe Unabhängigkeit werde ih auch der Regierung Ihnen gegenüber wahcen. (Na, na! links.)

Meine Herren, ih habe in diefem Zusammenhang ausdrücklih und absichtlih die Beamtenschaft genannt. Das ist ein Punkt, auf den die Herren von der liberalen Partei in der Wahlrechts- frage immer wieder hinweisen, und über den man sich mit voller Offenheit aus\sprehen muß. Sie von der liberalen Seite be- haupten vielfach, daß die politischen Beamten, und insonderheit die Landräâte, den Konservativen niht nur bei der Organisation und bei den Wahlen Handlangerdienste leisten (fehr richtig! links), sondern auch andere Parteien \chikanieren und an der freien Ent- faltung hindern. (Sehr richtig ! links.) Sie behaupten das. (Zurufe links.) Der Beamte ist ein Diener des Staates (Lebhafte Zu- rufe links. Glocke des Präsidenten.)

Der Beamte ist Diener des Staates und nicht Diener einer Partei. Wie die politischen Beamten die Negierungspolitik zu ver- treten haben gegenüber allen Parteien, darüber bestehen feste und allgemein bekannte Grundsäße. Jede Lockerung dieser Verpflichtung würde den Verfall des Staatsorganismus bedeuten. Da der Beamte auch für seine Person eine feste politische Ueberzeugung haben muß "L. sonst i er. kein guter Beamter, sonst kann er in seinem Amtsbezirk niht die Achtung gewinnen, deren er zu seiner Amtsführung bedarf —, \o werden hiernach an den Takt und das Verantwortlichkeitsgefühl der Beamten große und {were Anforderungen gestellt. Diese Anforderungen erhöhen fich dadurch, daß unsere Landräte durch die Dezentralisation der Staats- geschäfte auf die unteren Verbände und durch die Entfaltung des fommunalen Lebens in eine Instanz gerückt sind, die fie zu Vertretern fast der gesamten Lebensinteressen ihrer Kreisbevölkerung ohne Nücksicht auf deren politische Gesinnung und Nichtung macht. Jn der Arbeit, die da von ihnen verlangt wird, können politishe Gegensäße unheilvoll wirken. Wenn sich diese Gegensäße Gott sei Dank, ist es nicht der Fall, meine Herren dazu aus8wachsen sollten, daß der Beamte seine Macht politisch mißbraucht, so könnte das für den Staat ver hängnisvoll werden, meine Herren (Sehr richtig! links); es würde das die Initiative der Bevölkerung, ihre Freude an staatlicher Mitarbeit, also gerade alle diejenigen Eigenschaften lähmen, deren cin Staat wie Preußen, der sich nach einem beispiellosen staatlichen und wirtschaftlichen Aufschwung zu konsolidieren hat, in allererster Linie bedarf. (Sehr richtig!) Jede Verfemung des anders Denkenden rächt sich. (Sehr gut! links.) Deutschland und Preußen wissen davon ein trübes Lied zu singen, wenn sie sich der bleiernen Schwere erinnern, die in den zwmanziger, dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf dem Lande lastete. Meine Herren, wo ein solcher Mißbrauch stattfinden sollte, mißbillige ih ihn auf das entschiedenste (Heiterkeit links) lachen Sie doch nicht, meine Herren; wenn Sie nichts Besseres dagegen ein zuwenden haben, dann s{chweigen Sie lieber still (Bravo! rechts) ; meine Herren, wo folhe Mißbräuche stattfinden follten, da miß bilige ich fie ebenso, wie ich Schikanen wie Saal abtreibungen und ähnliches verurteile. (Sehr gut! links.) Meine Herren, das find kleinlihe Maßregeln, weder des Beamten, der sie betreibt, noch der Partei würdig, zu deren Gunsten sie be trieben werden. Aber dagegen protestiere ih, daß man unseren politischen Beamten, unseren Landräten in threr Allgemeinheit oder auch nur in einem nennenswerten Umfange Tendenzen in ihrer Amts führung andichtet, wie ih soeben besprochen und gerügt habe. (Seh richtig! rechts; Zuruf links.) Meine Herren, ih glaube zu wissen, ih glaube es auch persönlich erfahren zu haben, wie es in unseren Kreisverwaltungen zugeht. Ich habe lange genug selber im preußischen Verwaltungsdienst gestanden. Unsere Landräte sind mit den wirtshaftlihen Interessen ihrer Kreise so verwachsen, gehen in der Arbeit für diese Interessen so auf, erfreuen sich auch in ihrer überwiegenden Mehrzahl so des Vertrauens ihrer Kreisbevölkerung (Sehr wahr! rechts), daß es ein Unrecht ist, Ausnahmen, die immer und überall vorkommen, der Allgemeinheit zur Last zu legen und von Fehl griffen und Mißbräuchen einzelner auf den Geist {ließen zu wollen, der in der Verwaltung herrsht. (Bravo!) Lassen Sie doch, meine Herren, neben den Singularitäten, die, in den meisten Fällen noch dazu falsh und aufgebauscht, den Weg durch die ganze Presse laufen, auch einmal die anderen Tatsachen sprechen.

Meine Herren, daß auch unsere Kreise für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes Großes geleistet haben, das weiß jeder, der ih nur einigermaßen um diese Verhältnisse kümmert. (Sehr richtig!) Vergleichen Sie unsere Kreisetats aus dem Anfange der siebziger Jahre mit den heutigen, dann werden Sie sehen, in welchem Umfange auch die Kreise ihre Aufgaben erweitert haben. Die ganze Tätigkeit, die die Kreiskommunen da ausüben, ihre überwiegende Tätigkeit is freiwillige Tätigkeit, frei- willige Tätigkeit, die im leßten Ende auf den Consensus aller einzelnen Gemeinden zurückgeht. Und glaubt man denn nun, daß diese gemeinschaftlihe, große Kosten verursahende Arbeit hätte geleistet werden können, wenn an der Spiße der Kreise Männer ständen, welche sich durch planmäßige politische Unduldsamkeit die Kreiseingesessenen zu ihren Feinden machten? Ein gesundes Leben der Kreiskommunen, wie es sich bei uns entwidckelt hat, würde un- möglich sein, wenn es an so entscheidender Stelle krankte.

Meine Herren, nun noch ein Wort über den Vorwurf, den man im Zusammenhang hiermit hört, daß das gesamte preußische Beamtentum von verknöchertem, reaktionärem Geiste erfüllt sei. Auch das ist ein Agitationsmittel, mit dem man in der Wahlrechts- frage durch ganz Deutschland hausieren geht. Der Geist eines Beamtentums wie des preußischen ist nichts Willkürliches und nichts

Zufälliges; er ist gewachsen und geworden mit der Geschichte, mit der Entwicklung des Staats, bei der das Beamtentum —- alles das ver- gißt man heute so gern doch keine so ganz unrühmliche Nolle gespielt hat. Nicht nur die Stammeseigenart, sondern die ganze Ge- schichte Preußens, der Zwang, sich in zähem Ningen um die staatlihe und wirtschaftlißhe Existenz durchzusezen und zu behaupten, haben den Typus des preußischen Beamten ge- schaffen. Das hat seiner Art den strengen, vielfach barschen und abweisenden, auf die Behauptung des Errungenen bedachten Charakter gegeben, den Sie konservativ nennen mögen. Rükschrittlih und reaktionär ist er niht gewesen; denn mit ihm, niht troß ihm ist Preußen der führende Bundesstaat geworden. (Bravo! rechts.)

Gewiß, meine Herren, niht immer hat dieser Geist des preußi- schen Beamtentums \tihgehalten. Gerade seine besten Seiten können «auch die Quelle von Fehlern werden. Nach dem großen Anteil, den das preußishe Beamtentum am Steinschen Neformwerk genommen hatte, erstarrte es später bald zu dem von Stein fo bitter beklagten Büralismus, wie er den Bureaukratismus nannte. Und heute, wo sich die Bevölkerung in zahlreiche große und kleine Parteien spaltet, deren politische Kämpfe das Volk in Atem erhalten, würde \ich eine Kluft zwischen dem Staate und einem Teile der Bevölkerung wieder auftun, wenn die staatlichen Verwaltungsbeamten Parteiendienst ver- rihten wollten. Das kann keine s\taatserhaltende Partei wünschen, auch dann nicht, wenn sie selber die bevorzugte wäre. Der staatlich - konservative Organismus Preußens, - den wir erhalten wollen, fann nur erhalten werden, wenn er von freiem und vorurteilslosem Geiste erfüllt ist. (Sehr richtig! rechts.

Heiterkeit links.)

Meine Herren, ih habe hier Ausführungen gemacht, nicht um ih wiederhole es ein Lobredner der Gegenwart zu sein: im Gegenteil, ih habe dabei auch auf Mängel und Gefahren hin- gedeutet, welhe über unserer Entwicklung s{chweben, und die zu ihrem Teil s{uld find an dem Mißmut, der weite Kreise des Volkes er- füllt. (Zuruf links: Sehr richtig!) Aber dieser Mißmut greift doch viel weiter und anderswohin, als wohin Sie meinen, die Sie mir soeben „Sehr richtig!“ zuriefen. Hinter diesem ganzen Mißmut steht doch das dumpfe und unbehaglihe Gefühl, daß wir nah dem Auf- \{wung, den wir genommen haben, uns kulturell in einer Periode der Stagnation befänden. Lassen Sie mich nur zwei Punkte heraus- greifen! Die Sorge darum, ob wir mit der bestehenden Art der höheren wissenshaftlihen Erziehung und Heranbildung unserer Jugend noch auf dem richtigen Wege sind, erfüllt und bedrückt weite Kreise des Volkes. Wir werden ‘uns der Lösung dieses für unsere Zukunft entscheidenden Problems auf die Dauer nicht entziehen können. Und auf religiösem Gebiet! Ich will niht von den Konfessionen sprechen, und es liegt mir auch fern, irgendwelche religiöse oder kirchliche Ueberzeugungen antasten oder gar verlegen zu wollen : aber die religiöse Bewegung, die seit Jahren weite Schichten unseres Volkes durchzieht, gibt mir das Necht, zu sagen, daß der Drang nach innerlih ver- tiefstem religiösen Leben, der immer ein Grundzug deutschen Wesens gewesen ist und es hoffentlih für alle Zukunft bleiben wird, es vielfach schmerzlih empfindet, niht mehr immer und überall völlig Genüge zu finden.

Meine Herren, ich bin abgeshweift, werden Sie sagen. Aber man muß auf alle diese Quellen und auf ähnlihe Quellen zurück- gehen, um zu erkennen, weshalb die Mißstimmungen, von denen ih sprach, in unserem Volke vorhanden sind. Und diese Mißstimmungen erplodieren nun in dem Schrei nah einer Reform des Wahlrechts. Man wiegt sih in der Hoffnung, daß der Anfang zu allem Guten gefunden sein würde, wenn erst das preußische Dreiklassenwahlrecht abgeschafft sein werde. Meine Herren, ih muß immer wieder betonen, daß daë der große Fehlgriff, wenigstens für alle diejenigen ist, welche in der Demokratisierung des preußishen Staats nicht das große Heil erblicken. Wem es und damit komme ih auf meine vorigen Ausführungen zurück darum zu tun ist, alle Anklänge an einen Kastenstaat, an einen bevorrechtigten Stand, das Sichbesserdünken des einen gegen den anderen zu beseitigen, der wird mir zugeben, daß das Fragen der politishen Kultur und der politischen Erziehung sind, die sehr viel weiter reichen als die Formen des Wahlsystems. Soweit sie aber mit diesen Formen des Wahlsystems zusammenhängen, behaupte ih, meine Herren, daß politische Kultur und politishe Erziehung nicht gefördert werden, sondern leiden, je demokratisher das Wahlrecht ge- staltet wird. (Sehr richtig! rets.)

Meine Herren, es hat eine Zeit gegeben, wo die politische Bildung des Volkes vom Parlament ausging. Mir s\cheint diese Zeit vorüber zu sein. Was einer unserer bedeutendsten lebenden Geschichts\hreiber die Politisierung der Gesellshaft genannt hat, das kann nur noch von den unteren Gliederungen des Volkes und des Staats ausgehen. Dort wird der allgemeine formale Rahmen, den die Geseßgebung aufstellt, mit wirklihem Leben erfüllt, dort in der freiwilligen Arbeit wirken auch die Vertreter ertremer politischer Richtungen in der Regel ruhig und fahlich zusammen, dort in der Arbeit, deren Wirkungen. der Nachbar an seinem Leibe fühlt, vollzieht sich die Erziehung zu dem s\taatlihen Ver- antwortlichkeitsgefühl, das die Grundlage aller politischen Kultur ist. Vergleichen Sie doch damit, meine Herren, den Anteil, den das Volk in seiner großen Masse an der Tätigkeit der Parlamente nimmt. Jch sprehe nicht von den Fällen, wo Lebensfragen der Nation in Krieg oder Frieden das Volk bis in seine Tiefen aufrühren. Das ist nicht das tägliche Brot, und es soll nicht das täglihe Brot sein. Aber welchen Anteil nimmt das Volk an der laufenden \ach- lichen Arbeit der Parlamente? Meine Herren, die Presse hat die Sitte aufgebracht, von den Parlamentsverhandlungen Stimmungs- bilder zu bieten, bei denen man häufig den Eindruck niht von sich abweisen kann, als sollte ein Bericht über eine Theatervorstellung gegeben werden. (Zustimmung und Heiterkeit.) Verläuft die Sitzung ruhig und sachlich, und möge es sich auch um die wichtigsten Gegen- stände handeln wir haben das noch neulich erlebt, als im Reichstag die Strafprozeßreform zum ersten Male gelesen wurde —, dann heißt es in dem Stimmungsbilde, daß öde Langeweile über dem Saale brütete. (Sehr richtig! und Heiterkeit.) Aber, meine Herren, wenn ein großer Tag ist, dann wird beschrieben, welche Krawatte und welhe Weste der Minister angelegt hatte, dann werden seine Handbewegungen unter die Lupe liebevoller Kritik genommen; was er sahlich sagt, wird {nell von oben herunter abgetan ; und lustig wird es, meine Herren, wenn berichtet werden kann, daß der Abgeordnete so und so temperamentvolle Angriffe gegen den Minister

richtete, wobei er kräftige und energishe Töne fand und womög- lich einen Ordnungsruf erhielt. (Große Heiterkeit.)

Meine Herren, so wird das Volk allmählich dazu verführt Sie lachen darüber; ih halte es für eine sehr ernste Sache —, in der“ Sensation den Kernpunkt der Politik zu erblicken. (Sehr richtig! rechts.) JIch übe damit keine Kritik an der Tätigkeit der Parlamente, aber ich muß mich doch fragen, ob die Behauptung noch gerechtfertigt ist, daß die Parlamente das Zentrum seien, von dem politische Bildung und politische Erziehung auf die Volksmassen aus- strahlt, und ob nicht umgekehrt die Demokratisierung des Parla- mentarismus in allen Ländern dazu beigetragen hat, die politischen Sitten zu verflahen und zu verrohen (fehr richtig! rechts) und einen Entwicklungsprozeß zu hemmen, dessen wir bedürfen, dessen wir dringend bedürfen, und den zu fördern, jeßt die Demokratisierung des preußishen Wahlrechts verlangt wird.®? E Bes

Meine Herren, ih habe alle diese Ausführungen gemacht, um einer Uebershäßung der Wahlrechtsfrage in ihren Gründen und in

ihren Wirkungen entgegenzutreten. Ih habe damit vielleiht Jhre Geduld übermäßig in Anspruh genommen. Aber, meine Herren, wenn behauptet wird, daß die Wahlrechtsfrage im Mittelpunkte, im Zenit unseres gesamten politishen Lebens stehe, dann konnte auch ih an diesen allgemeinen Fragen nicht vorbeigehen. Lassen Sie mi jeßt in furzen Worten die Nichtlinien der Reform angeben, die wir Ihnen vorschlage::

Meine Herren, mir is mehrfach der Gedanke entgegengebracht worden, die Regierung müsse eine radikale Reform unseres Wahl- rechts vorschlagen, sonst würde uns die rote Flut vershlingen. Für mich leidet dieser Vorschlag an zwei großen Fehlern. Erstens ist Furcht immer der \{lechteste Ratgeber (sehr richtig! rechts) ; und sodann: glaubt man denn, daß, sich die Sozialdemokratie mit irgend einem Wahlrecht begnügen würde, das ihr niht zur Herrschaft verhilft? So unschuldig sind die Herren niht. Wenn wir aber bereits so weit sein sollten, daß große Teile der bürgerlichen Parteien zu den Sozialdemokraten übergehen, weil ibnen eine Wahlrechtsreform nicht radikal genug ist, dann ist daran nicht die Neform \{huld, fondern der mangelnde staatliße Sinn ver Ueberläufer. (Sehr richtig! rechts und Zuruf links.)

Meine Herren, die Regierung kann Ihnen nur eine Reform vorschlagen, welche in Anknüpfung an das historisch Gewordene Bestimmungen beseitigt, die keine innerlihe Berechtigung mehr haben, und die Vorsorge dafür trifft, daß das zu Erhaltende sih nicht zu \{chäd- lihentFolgen auswächst. Das tut die Regierung mit dem Entwurf, und das zu tun ist ihre Pflicht.

Meine Herren, wie oft wird in der Wahlrechtsagitation das bekannte Verdikt Bismarcks über das Dreiklassenwahlrecht zitiert, namentli} von denjenigen, die seinerzeit die erbittertsten Gegner Bismarcks waren ! (Sehr richtig ! rechts.) Daß Bismarck troß dieses Verdikts in seiner dreißigjährigen Tätigkeit das Wahlrecht nicht geändert hat, daß er am Ende seines Lebens, als er die Entwidcklung in Deutschland und Preußen überblite, in seinen „Gedanken und Grinnerungen“ ganz andere Anschauungen niedergelegt hat (sehr richtig! rechts), das wird lieber vershwiegen. Man stellt eben Bis- marck als Theoretiker hin, der uns das Reichstagswahlreht gegeben habe, weilZ er es für das vollkommenste gehalten hätte, und das Dreiklassenwahlreht verdammt habe und es deshalb ja, da hinkt die Sache: er hat es eben nit geändert. Jn der ganzen Auf- fassung, welche Bismarck als Kronzeugen für eine radikale Reform des [preußischen Wahlrehts aufruft, spricht “sich eine grenzenlose historishe WVorausseßzungslosigkeit aus. (Sehr rihtig! rets.) Meine Herren, lesen Sie doh die Rede vom 28. März 1867 nach, in der sih jene Kritik des Dreiklassenwahlrechts befindet, die Bis- marck schon vorher mehrfach und noch s{chärfer formuliert hatte. Er sagt vom MNeichstagswahlreht, dessen Mängel er ausdrücklich anerkennt, daß es . uns überkommen sei als ein Erbteil der Entwicklung der deutschen Einheitsbestrebungen. Es sei eben dagewesen. Die ver- bündeten Regierungen hätten einfah genommen, was vorlag, und wovon sie glaubten, daß es am leichtesten annehmbar sein würde, und weitere Hintergedanken hätten sie dabei niht gehabt. Schärfer und präziser, meine Herren, kann der reale und geschihtliche Geist Bismarckscher Politik gar niht ausgesprochen werden. Und auch die heutige Regierung muß sih auf diesen geschichtlichen Boden stellen. Sie kann nur an das geshichtlich Gegebene anknüpfen, und indem fie das tut, hat fie zu untersuhen, ob und was veraltet ist; und was sie als veraltet ansicht, das muß sie beseitigen; das ist ihre staatliche Pflicht.

Auf diesen Grundlagen ist, ih wiederhole es, der Entwurf auf- gestellt. Jch will meinerseits im gegenwärtigen Augenblick nicht auf seine einzelnen Bestimmungen eingehen. Nur einen Punkt, einen negativen Punkt freilich, will ih doch hervorheben.

Meine Herren, der Entwurf hält am öffentlihen Wahlrecht fest. Er ist um deswillen von vornherein für unbrauchbar, für unwürdig, für unanständig erklärt worden. Das ist das Modewort, mit dem man jeßt bis in die gebildeten Kreise der Bürger hinein die Einrichtungen des Staates zu belegen beliebt. (Sehr richtig! rechts.) Meine Herren, auch die Frage der öffentlihen oder der geheimen Stimmabgabe ist in vielen Beziehungen eine Ueberzeugungs\sache. Das öffentlihe Wahl- ret hat seine Vorzüge und seine Nachteile, ebenso wie das geheime Wahlrecht. Wir haben das öffentlihe System. Sollen wir von ihm abgehen, so müßten wir überzeugt werden, daß das geheime Wahlrecht theoretisch und praktisch das für Preußen absolut bessere sei. (Sehr richtig! rechts; Zuruf links.) Meine Herren, die Regierung steht dieser Frage ganz anders gegenüber als vielleiht der einzelne Politiker. Der einzelne Politiker kann von den Vorzügen des ge- heimen Wahlrechts auf das leidenschaftlihste überzeugt sein und es deshalb mit der größten Energie verfe{hten. Die Negierung hat zu fragen, ob sie ein bedeutungsvolles Prinzip des bestehenden Rechts, wel leßteres für sie Grundlage jeder Reform bleibt, preisgeben soll oder nicht.

Meine Herren, die Geheimheit der Stimmabgabe, so meint man, soll es dem Wähler ermöglichen, in voller Unabhängigkeit eigener persön- liher Ueberzeugung Ausdruck zu geben. (Sehr richtig! links.) Man soll doch den Begriff der Unabhängigkeit niht übertreiben. Meine Herren, unser ganzes Leben seßt sich aus Abhängigkeiten zusammen (Unruhe und Zurufe links); und da foll nun plößlich der Mensch, der den Stimmzettel in die Hand nimmt, als geflügeltes &@o» rodlereæxóv frei in der Luft {weben? Das ist ein Phantom. Die Abhängigkeiten, die des Lebens Notdurft schaft gottgegebene Abhängigkeiten hat Bismark sie genannt —, die Abhängigkeiten, die der Kampf der

Parteien nicht zufällig mit sich bringt, fondern si ausdrücklich zum Ziel seßt —, diese Abhängigkeiten begleiten den Wähler auch in die Isolierzelle des Wahlraums hinein, und es ist der dringende Wunsch jeder Parteileitung, daß sich «ihre Angehörigen bei der Abgabe der Stimmzettel dieser Abhängigkeiten recht lebhaft erinnern mögen. (Zurufe des Abgeordneten Dr. Liebknecht. Glocke des Präsidenten). Meine Herren, es liegt ferne von mir, zu bestreiten, daß die geheime Stimmabgabe es dem Wähler erleihtern kann, \ich von der Nücksiht auf wirtschaftlihe, soziale und religiöse Ab- hängigkeitsverhältnisse frei zu machen und eigene politishe Ueber- zeugung zum Ausdruck zu bringen. Aber, meine Herren, es ist fals, was jeßt in diesen Tagen vielfach behauptet wird, daß diese Ab- hängigkeitsverhältnisse, von denen ich gesprochen habe, in unseren gegenwärtigen Zeiten stärkere seien als damals, wo das preußiscke Wahlrecht eingeführt wurde. (Zurufe links.) Jm Gegenteil, meine Herren, das patriarchalishe Verhältnis, das zu jener Zeit die Be- ziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in weitem Umfange beherrschte, ist zum guten Teile heute nicht mehr vorhanden. Wer im praktischen Leben steht, weiß, wie es häufig s{chwer ist, einen Arbeiter zu finden und festzuhalten, und wie auch namentlih der Arbeiter immer unabhängiger geworden ist, und wie darüber hinaus alle Abhängigkeiten des Lebens nicht verschwunden, aber in threr Wirkung geshwäht worden sind. Und weiter, meine Herren, die gute Absicht des Geseßtzgebers, dem Wähler in der geheimen Stimm- abgabe die Betätigung einer eigenen politischen Ueberzeugung zu ermöglichen, schaft noch niht diese Ueberzeugung. Die ge- heime Stimmabgabe verhilft unleugbar dazu, alle innerlich oder geistig chwächeren Wähler unfrei zu machen gegenüber den Antrieben, materielle Jnstinkte, persönliche Verstimmungen und den Hang zur allgemeinen Unzufriedenheit walten zu lassen. (Sehr richtig! Unruhe.) Darum hat die Sozialdemokratie beim geheimen Wahl- reht soviel mehr Mitläufer als beim öffentlichen (sehr richtig !), darum ist die Sozialdemokratie, die doch sonst den Fanatismus der Oeffentlichkeit hat, eine so begeisterte Anhängerin des geheimen Wahlrehts. Die Sozialdemokratie, die nüchterne und praktische Realpolitik treibt, {häßt eben den Sukkurs, der ihr aus den Ueber- läufern bei geheimer Wahl erwächst, höher ein, als die Hilfe, die sie bei öffentliher Wahl dur den Terrorismus erzielt (Zurufe bei den Sozialdemokraten), und daß die Sozialdemokraten Terrorismus in sehr viel größerem Umfange treiben als irgend eine andere Partei, das ist in diesem Hause urkundlich festgestellt. (Sehr rihtig! Unruhe. Pfuirufe bei den Sozialdemokraten. Glocke des Präsidenten.)

Meine Herren, wenn die Sozialdemokratie richtig rechnet und ih bezweifle nicht, daß sie es tut —, dann ergibt sih die Gegen- rehnung für alle bürgerlichen Parteien von selbst. Sie verlieren in ihrer Gesamtheit an Stimmen, und zwar nicht, weil sih persönliche politishe Ueberzeugung frei betätigt, sondern weil mangelndes staat- lihes Verantwortlichkeitsgefühl unter dem Schleier des Geheim- nisses Einflüssen nachgibt, zu denen es sih öffentlih nicht zu bekennen wagt. (Zustimmung rechts.) Aus allen diesen Gründen hält die Königliche Staatsregierung an der überkommenen Oeffentlichkeit der Wahl fest. (Bravo! rets.)

Meine Herren, alle Fragen, welche bei der Beratung dieser Vorlage den préeußischen Landtag beschäftigen, haben weit über Preußens Grenzen hinaus in ganz Deutschland lebhaftes Interesse wachgerufen. Formal ist die Angelegenheit eine preußische, und ih bin der Zustimmung der großen Mehrheit dieses hohen Hauses gewiß, wenn ih die Stimmen mit Entschiedenheit zurückweise, welhe dem Reiche eine Kontrolle über das vindizieren, was wir hier beraten und beschließen. (Bravo! rechts) Meine Herren, materiell ist es vollkommen berechtigt und begründet, daß man sich in ganz Deutschland dafür interessiert, wie sich im führenden Bundesstaate die staatsrechtlihen Verhältnisse gestalten. Dabei ist für viele Kreise gewiß der praktishe Wunsch bestimmend : es möge Preußen durch ein modernes Wahlreht so demokratisiert werden, daß ein im leßten Ende auch demokratisierter Bundesrat die Ge- schicke des Reiches bestimmen möge. (Sehr richtig !) Das ist eine Entwicklungslinie, der wir widerstreben, der wir widerstreben müssen, gerade in Nücksiht auf das im Reiche geltende Wahlrecht.

Meine Herren, vielfach wird es als Selbstverständlichkeit be- zeichnet und gefordert, daß die konstitutionelle Entwicklung in den vershiedenen Bundesstaaten homogene Bahnen einschlagen müsse. Das ist eine dogmatische Forderung ohne jedes Verständnis für die Eigenart der deutschen Nation, ihre Geschichte und Kultur. Wenn es deutshem Wesen und deutscher Kultur entspräche, daß dem Norden und Süden die gleihen politishen Formen paßten, dann hätte \ich im Laufe der tausendjährigen deutschen Geschichte längst der zentralistishe Einheitsstaat entwickelt. Daß das nicht geschehen ist, ist nicht ein Zufall der Geschichte, sondern liegt in einem tiefen Zuge des deutshen Wesens, der, wenn er auch die Quelle unseres politischen Elends war, doch mit dem Reichtum und der Innerlichkeit deutscher Kultur und mit dem Besten, was Deutschland geschaffen hat, enge zusammenhängt. Der individualistische Zug im deutschen Wesen, der starke Jsolierungstrieb, wie ihn Bismarck genannt hat, hat lange die Bildung einer adäquaten politishen Form verhindert, hat Deutschland jahrhundertelang zum Spielball fremder Interessen ge- macht; und als endlich die Form gefunden wurde, weil sie gegen das Ausland gefunden werden mußte, da konnte es nur der Föderativ- staat sein, in dessen Wesen es eben liegt, daß die einzelnen Teile ihre durh Geschichte, Kultur und Charakter der Stämme bedingte Eigen- art frei entfalten können, ohne daß das Ganze Schaden erleidet. Wir können und wollen diese Eigenarten der bayerischen, der s{chwäbischen, der sächsischen Stämme, und wie sie au heißen, nicht missen, diese Eigenarten, die sich nicht nur in den Sitten und Ge- wohnheiten der Bevölkerung, sondern auch in den politishen Formen des Staatslebens widerspiegeln. Wir ahten und lieben darin einen Teil unseres eigenen Deutshtums. Aber ebenso soll man auch uns unsere preußische Eigenart nicht verkümmern, soll sie nicht mit billigen Schlagworten wie feudal, agrarish und reaktionär in Verruf bringen. Das dient weder dem deutschen Ansehen, noch der deutschen Einheit. (Lebhaftes Bravo! rets.)

Und s{chließlich hat doch Preußen und Preußens Eigenart nicht an leßter Stelle bei der Wiedererstehung des Reiches mitgearbeitet. (Bravo! rets.)

Aber diese Tatsache {ließt auch eine Verpflichtung in - sich. Ich will wenigstens mit Berufung auf fie niht sagen, daß in Preußen auf alle Dauer alles beim alten bleiben müsse, daß ih Ueberlebtes