1910 / 47 p. 6 (Deutscher Reichsanzeiger, Thu, 24 Feb 1910 18:00:01 GMT) scan diff

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Meine Herren, ih habe mir vorbehalten, auf eine große Anzahl der Anregungen, die hier im Laufe der leßten Tage aus diesem hohen Hause gekommen sind, noch später einzugehen. Es ist mir aber viel- Ieiht hon mit Rücksicht auf die gedrängte Zeit gestattet , heute noch auf einzelne Dinge kurz einzugehen. Es ist seitens des Herrn Abg. Mayer (Kaufbeuren) darauf hingewiesen, daß wir wesentlih zur Ver- besserung unserer handelspolitishen Bezichungen zum Ausland bei- tragen würden, wenn es uns gelänge, in bezug auf bestimmte Noh- produkte, namentlich Baumwolle und Kupfer, unabhängig von den Vereinigten Staaten von Amerika zu werden, und er hat uns empfohlen, infolgedessen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln dahin zu wirken, daß in erster Linie in unseren Kolonien, aber sonst auch außerhalb Amerikas auf eine gesteigerte Produktion von Baum- wolle und nah Möglichkeit auch auf eine gesteigerte Produktion von Kupfer hingewirkt wird. Meine Herren, ih freue mich darüber ganz besonders, ih habe vor Jahren meinerseits einmal außerhalb dieses Hauses eine ähnliche Anregung gegeben, und bin dafür in diesem Hause herb fritisiert worden. (Heiterkeit.) Nachdem die - Anregung des Herrn Abg. Mayer (Kaufbeuren) hier keine Einwendung mehr erfahren hat, nehme ich an, daß das hohe Haus in diesem Punkte mit mir und mit Herrn Mayer einig ist, und kann hinzufügen, daß bereits eine internationale Vereinigung zur Förderung des Baumwollbaues außer- halb der Vereinigten Staaten von Amerika besteht, daß außerdem unsere Kolonialverwaltung bestrebt ist, zusammen mit dem kolonial- wirtschaftlichen Komitee die Baumwollkultur in unseren Kolonien zu fördern, und ich muß allerdings leider, wie |chon ein anderer Nedner dieses Hauses es neulich getan hat, darauf aufmerksam machen, daß troß aller Mühe und troy aller zweifellosen Crfolge, die wir bei dem Anbau von Baumwolle in den ‘Kolonien gehabt haben, der Zeitpunkt noch fern ist, wo wir durh unsere eigene Baumwolle den Vereinigten Staaten von Amerika werden erfolgreich Konkurrenz machen fönnen.

Der Herr Abg. Pauli ift auf eine Reibe von Mittelstands- und sozialpolitische Fragen eingegangen. Ich möchte mir vor- behalten, auf diese Fragen bei einer späteren Gelegenheit einzugehen. Gbenso möchte ih es mit den Anregungen des Herrn Abg. Fischer halten. Auch möchte ih heute nicht auf die Frage : Fabrik und Handwerk und nicht auf die Frage der Lehrlingsausbildung und der Heranziehung der Industrie zu ihren Kosten eingehen. Die Frage der Tarif verträge der Innungen, die neulich hier erörtert worden ist, ist meines Erachtens durch die inzwischen ergangene Entscheidung des preußischen Herrn Handelsministers in einer nah meiner Ansicht richtigen und den hier im Hause ausgesprochenen Wünschen entsprechenden Weise ge- löst. Auch auf die Beseitigung des § 100 der Gewerbeordnung möchte ih bei einer späteren Gelegenheit eingehen.

Nun, meine Herren, hat in den Ausführungen der beiden Herren Redner, die heute gesprohen haben, einen weiten Naum wiederum die Frage der Versicherung der Privatan gestellten ein- genommen. Meine Herren, ich kann cs verstehen, daß Sie mich dauernd und erneut auf diesem Gebiete drängen. Ich kann aber um- gekehrt versichern, es ist für jemand, der gewöhnt ist, das, was von ihm verlangt wird, zu leisten, soweit es in seinen Kräften steht, hart, wenn er dieselben Erinnerungen von Woche zu Woche erneut zu hören bekommt, und es ist das namentlih dann hart, wenn man die Empfindung hat, daß man zu Versprechungen gedrängt werden soll, von denen man nicht mit voller Sicherheit vorhersagen kann, wann man sie einlösen wird. Meine Herren, das ist der Grund gewesen, warum ih auf alle die Fragen, die hier an mi gerichtet worden sind, mit einem gewissen Zögern geantwortet habe. Ich kann den Zeitpunkt nicht bestimmen, bis zu welchem ih in der Lage bin, Jhnen das Geseß vorzulegen, und ih möchte dabei, meine Herren, noch einmal an eins erinnern. Jch habe tatsächlich an Meaterialien für

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dieses Geseß nichts vorgefunden als das, was in der T enkshrift steht (hört, hört! bei den Nationalliberalen), und den Entwurf ciner anderen Lösung, an der ih {on als preußis{er Handelsminister mit gearbeitet hatte, die bei feiner Partei in diesem hohen Hause Be friedigung erzielt haben würde. Jh babe mich nun inzwischen, soweit meine Entscheidung in Betracht kommt: in der Hauptsache über die wichtigsten Fragen \{lüssig gemacht. Aber, meine Herren, ih erinnere daran, daß ein Geseßentwurf, der im Reichsamt des Innern fertig gestellt ist, noh einen. weiten Weg zu machen hat, ebe er in den Neichstag gelangt, und daß ein Geseßentwurf, den ih noch so sehr zu besleunigen bestrebt bin, an Hindernissen inzwischen hängen bleiben fann, die zu beseitigen viele Mühe macht und nicht immer in meiner Macht liegt.

Vor allen Dingen bleibt noch eine Reihe von grundsäßlichen Fragen mit anderen Nessorts zu erörtern, die ich selbst allein zu ent- scheiden gar nicht in der Lage bin, und die früber auch nit gelöst sind. Ich will beispielsweise bloß erinnern an die Frage der Organi- sation der Versicherung in ihrer Spitze: soll ein großes zentralisiertes Reichsamt in Berlin eingerihtet werden oder nicht? Die Frage der Rechtsmittel: sollen wir das Nechtsmittel über strittige Fragen aus der Versicherung der Privatangestellten den ordentlichen Gerichten überweisen? Sollen diese Fragen zur Entscheidung eines besonderen Schiedsgerichts gebraht werden? u. dergl. mehr.

Meine Herren, ich kann Ihnen nur vorläufig versichern : in dem Augenblick, wo ih die Neichsversicherungsordnung aus den Händen habe, werde ich an die Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs über die Versicherung der Privatangestellten gehen (Bravo!), und ih werde ihn so {nell dur alle Instanzen durchzutrceiben ver- suchen, wie es in meinen Kräften steht. Aber ultra posse nemo obligatur; das gilt fogar für Staatss\ekretäre in Deutschland.

Dann, meine Herren, hat der Abg. Carmer gefragt, wie es läge mit einem Gesetzentwurf, betreffend die Negelung des Handels mit künstlihen Düngemitteln und Saaten. Meine Herren, über die Möglichkeit einer derartigen geseßgeberishen Aktion und ihre eventuelle Durchführung habe ih vor einiger Zeit Ver handlungen mit den zunächst beteiligten preußischen Nessorts ein- geleitet. Sie \{chweben. Zu welchem Ergebnis sie führen können, fann ih heute nicht sagen. Jedenfalls ersehen Sie daraus, daß die Sache von meiner Seite mit der nötigen Sorgfalt behandelt wird.

Es is dann von einem der Herren Borredner erörtert worden die Frage einer anderweiten Regelung der Nuhezeit für die weiblihen Angestellten in M olkereien. Meine Herren, daß eine derartige Anregung aus diesem Hause kommt, wundert mich niht; denn ih habe sie kommen sehen. Die betreffenden Bestimrnungen in dem Geseß sind gegen den Rat der verbündeten Regierungen beschlossen worden. (Hört, hört ! rechts.) Inwieweit jeßt Ihren Wünschen entsprolen werden fann, unterliegt ebenfalls

fommissarishen Erörterungen mit den preußischen Nessorts. Jch per- sönlich stehe den ausgesprochenen Wünschen absolut freundlih gegen- über. (Bravo! rets.) Ich halte die Wünsche einmal für zweck- mäßig und ih halte ihre Erfüllung für unbedenklich.

Der Herr Abg. Stresemann hat sih dann über die Welt - ausstellung in Brüssel geäußert. Ich glaube, dazu keine weiteren Ausführungen machen zu brauchen.

Gr hat sich ferner über die Unzweckmäßigkeit der amerika - nishen Ausstellung in Berlin geäußert. Ich kann ihm versichern, daß ih seine Auffassung in dieser Beziehung absolut teile und daß von Reichs wegen irgendwelche materielle oder moralische Förderung dieses Unternehmens nicht stattgefunden hat und auch nicht stattfinden wird. (Bravo!)

Der Herr Abg. Stresemann hat sih dann erkundigt nah dem Schicksal der Sojabohnen. Meine Herren, dasselbe Wohlwollen für diese Frage, wie es von verschiedenen Seiten dieses hohen Hauses bekundet worden ist, beseelt auch die verbündeten Negierungen. Es ist das zunächst eine Frage, die in das Ressort des Neichs\chaßamts fällt. Ich glaube aber nah meiner Kenntnis des Standes der Verhand- lungen, an denen auch ih beteiligt gewesen bin, in Ausficht stellen zu können, daß wir irgend eine Ihren Wünschen entsprechende Lösung dieser Frage finden werden, ohne in die Notwendigkeit verseßt zu sein, ein besonderes Gesetz über die Sojabohne verabschieden zu müssen.

Der Herr Abg. Stresemann hat dann über das Handels- archiv und über die Mitteilun gen für Handel und Industrie gesprochen, und er hat si darüber beschwert, daß das Handel8archiv häufig etwas spät mit seinen Veröffentlichungen, insbesondere mit den Konsulatsberihten käme. Meine Herren, ih möchte darauf auf merksam machen, daß das Handelsarchiv und die sonstigen Ver- öffentlihungen des Neichsamts des Innnern eng mit einander zusammenhängende und sich ergänzende Unternehmungen sind. Das Handelsarchiv foll in erster Linie eine Sammlung der handels- politischen Gesetze und zollpolitischen Vorschriften sein, und es sollen daneben an der Hand der Konsulatsberichte allgemeine Mitteilungen über die wirtschaftlichen Verhältnisse der einzelnen Länder gegeben werden. Das Archiv erfreut sich in dieser Form eines Ansehens, das weit über die beteiligten Kreise und über Deutschland hinausgeht. Wir können aber, wenn wir das Werk in diesen Grenzen halten wollen, nicht wohl dazu übergehen, die Berichte der Konsuln früher darin zu ver- arbeiten. Die Konsuln \elbst sind bei Abfassung ihrer Berichte von vielen Umständen abhängig, die außerhalb ihres Machtkbereiches liegen. Die Ergänzung zum Handelsarchiv liegt in den „Nachrichten“, den Berichten sowohl über Handel und Industrie wie für Landwirschaft, sowie in besonderen teils vertraulichen, teils nichtvertraulichen Mit- teilungen, und wir sind redlich bestrebt, in diese Veröffentlichungen und Mitteilungen hineinzubringen was irgendwie von aftuellent Interesse für Handel, Industrie: und Landwirtschaft ist. Jch bin gern erbötig, Anregungen entgegenzunehmen, wenn nach dieser Nichtung hin die erwähnten Publikationen und Mitteilungen Ihren Wünschen niht vollständig entsprechen.

Was aber die Frage des kleinen Druckes und der Farbe des Papiers betrifft: ja, meine Herren, wit sind in der Aera des Sparens, und ich habe Mühe gehabt, mir im laufenden Etat die Summen zu sichern, die ih bisher für diese Zwecke ausgegeben habe, und folange ih nicht mehr Geld habe, bin ih auh nit in der Lage, Ihnen besseres Papier und größeren Druck in Ausficht zu stellen.

Der Herr Abg. Stresemann ist daun noch einmal eingegangen auf die Frage des Wirtschaft! ihen Aus\chusses und seine Tätigkeit; er hat darauf hingewiesen, daß es notwendig sein würde, den Wirtschaftlichen Aus\{huß entweder zu einem Zollbeirat zu er- weitern oder ihm einen Zollbeirat zur Seite zu stellen. Meine Herren, ih möchte darauf aufmerksam machen, daß nah meiner Kenntnis der Dinge die historische Entwicklung nicht für die Auffassung des Herrn Abg. Stresemann spricht, denn die Einrichtung eines Zoll- beirats hat eben bewiesen, daß mit diesem großen Beirat nicht gearbeitet werden Tonnte, und man ist infolgedessen zu einem engeren Gremium und späterhin zu dem Wirtschaftlichen Ausschuß gekommen. J

Ich habe aber neulih schon gesagt, daß ich zunächst einmal zur Borbcereitung s{hwebender Fragen aus dem Wirtschaftlichen Ausschuß die besondere Kommission für Handel und Schiffahrt neu gebildet oder wieder ins Leben habe treten lassen, die ih mich bemühen werde so frühzeitig als irgend möglich mit allen wichtigen handel8politishen Fragen zu befassen, die später den Ausshuß zu beschäftigen haben, und mit deren Vilfe es mir hoffentlich auch gelingen wird, in noch höherem Maße ls bisher die speziellen Wünsche der einzelnen Industrien und deren dedürfnisse zu eruieren und als Grundlagen für die Beschlüsse des Wirtschaftlichen Aus\{chus}ses zu verarbeiten.

Meine Herren, ich kann dabei nur immer wieder daran erinnern: was unsere zollpolitishen Entschlicßungen und Beschlüsse er- [wert t, bag wir ubt große prinzipielle ¿Fragen zu entscheiden haben, sondern daß wir vor einer ¿Fülle von Cinzelfragen stehen, die zu lösen und in ihrer Bedeutung neben einander abzuwägen, ein Maß von Spezial- und Detailkenntnis erforderlich ist, daß keiner Körperschaft, mag sie noch so groß (sein, innewohnen kann, und daß wir immer darauf angewiesen sein werden, sei es durch B-amte des Neichsamts des Innern, sci es durch den Wirtschaftlilzen Aus\{huß selbst, durch eingehende Befragungen der einzelnen Industrien uns über deren Wünsche und Bedürfnisse zu orientieren, und ich möchte nochmals daran erinnern, daß die Industrie mir diese Aufgabe wesentli erleihtern wird, wenn sie sich ihrerseits rechtzeitig mit etwaigen Wünschen und Bedenken bei mir meldet ; ih werde ernstlih bemüht sein, diesen Wünschen zu entsprechen.

Nun, meine Herren, hat der Herr Abg. Stresemann endlich dem Wunsche Ausdruck gegeben, ich möchte mein Interesse für die mir anvertrauten wirtschaftlichen Fragen nicht bes{Gränken auf das Studium der Akten und auf die Entgegennahme von Borträgen. Meine Herren, ih bin noch nie im Aktenstaub ertrunken. (Zwischenruf links.) Das Ertrinken is nur eine Form des Grstickungstodes, Herr von Vollmar. (Heiterkeit.) Es wird mir eine besondere Freude sein, wenn mir die Möglichkeit gegeben wird, von dem grünen Baum der Praxis gelegentlih Früchte zu pflücken auf Grund der Anregungen, die mir der Herr Abg. Stresemann gegeben hat. (Beifall.)

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Abg. Brejski (Pole): Der Ausschluß ausländischer Studenten von deutschen tehnishen Hochschulen is ein Beweis der Gngherzig- keit in Preußen-Deutschland. Die Folge der preußischen Polenpolitik ist der Boykott, der über deutshe Waren im Auslande verhängt wird. Verschiedene Länder, so Nußland, sind bestrebt, eine eigene Industrie zu entwickeln und sich von ihren Nachbarn wirtschaftlich unabhängig zu machen. Neuerdings sind die Nussen dabei, die

deutschen Ostseehäfen bei dem Zwischenhandel mit Japan aus- zuschalten. Dadurh wird der deutschen Industrie und den Arbeitern ein neuer Schaden zugefügt. Wir haben nun beantragt, die verbündeten Regierungen zu ersuchen, dem YNeichstage angesichts dessen, daß die Ausländer in den Bundes\taaten der polizeilichen Willkür preis. gegeben sind, insbesondere aus Preußen österreichishe und russische Staatsangehörige ausgewiesen werden, einen Geseßentwuxf zwecks Regelung des Aufenthalts der Ausländer im Deutschen Neiche baldigst vorzulegen. Die Beschränkung der Polen müsse fortfallen wenn Deutschland sich in wirtschaftlichen Fragen fortentwideln soll, Der Staat i} dazu da, die wirtschaftlihh Schwachen zu {hüßen. Deshalb treten wir für einen wirksamen Arbeitershußz ein, Arbeitershuy ohne Lohnämter und ohne Festseßung der Minimal: lôöhne ist aber niht mögli. Bei dex neuen Meichsversicherungs- ordnung empfehlen wir die Einführung der freien Aerztewahl. Die Sonntagsruhe kann ruhig ausgedehnt werden, ohne Schaden für das Gewerbe. Den Handels- und Privatangestellten muß telbstverständlich volle Koalitionsfreiheit gewährt WELDEN 9 daß sie die Vereine, denen sie beitreten wollen, frei wählen dürfen. Den jungen Kaufleuten ist an verschiedenen Orten durch die Polizei unmöglih gemacht worden, in polnischer Sprache zu verhandeln. Die Polizeibehörde hält sih nicht an den klaren Wortlaut des Gesetes, sondern an die Erklärung des Staatssekretärs, bom vorigen Sommer. Auch die Gerichte urteilen nicht nach dem Wortlaut des Gesetzes, sondern sie verlassen sih auf die Berichte des betreffenden Polizeikommissars, wenn es sih um Berufsvereine handelt. Um zu beweisen, daß ein Verein politisch sei, braucht der Berufsverein nur von einem politischen Manne, z. B. von mir be- gründet zu sein. Das ist nicht rihtig. Wenn ih einen politischen Verein gründen will, daun gründe ich keinen Kaninchenverein. Die polnischen Berufsvereine vertreten nur Berufsinteressen. Ausnahmen kommen auch bet anderen Berufsorganisationen vor, so bei den hristlich- nationalen Berufsgenossenschaften, ohne daß man sagt, daß sie einen politischen Charakter haben. Daß die polnischen Berufsvereine Ein- gaben an den Neichstag gerichtet haben, ist auch kein Beweis, denn diese Eingaben beziehen sich nur guf gewerbliche Fragen. Den Orts gruppen der polnischen Berufsvereine hat man den Gebrauch der polnischen Sprache verboten, weil sie nicht selbständige Vereine wären. Das ift auf die Polenhete der Hakatisten zurückzufihren. Um gleiches Necht zu afen, verlangen wir die Beseitigung des Sprachen paragraphen im MNeichsvereinsgesez. Das Koalitionsrecht der Land arbeiter wünshen wir durch ein Reichsgeseß sichergestellt zu sehen. ¿Ferner haben wir in einer Resolution die Vorlegung eines Neichs berggeseßzes gefordert, das u. a. die geheime Wahl bei der Wahl der Knappschaftsältesten verlangt, cines Gesetzes, durch welches die Freizügigkeit und die Freiheit des Arbeitsvertrages den Bergarbeitern gewährleistet wird und paritätische Arbeitsnachweiss\tellen errichtet werden, und ein Geseg auf Einführung des Marimalarbeitstages in Zink- und Eisenhütten, Walzwerken und ähnlichen Betrieben. Für eine Verkürzung der Nuhezeit der Arbeiterinnen in Molke reien, wie sie die Konservativen wünschen, können wir nicht ein- treten. Das widerspricht den Forderungen einer vorgeschrittenen Sozialpolitik. Den Kampf gegen die Schmußtz- und Schundliteratur halten wir für gerechtfertigt, aber nah den Erfahrungen, die wir Polen gemacht haben, können wir einer Erweiterung der Polizei befugnisse auf diesem Gebiete nicht zustimmen. Der Redner kommt schließlich noch ausführlich auf die Behandlung der polnischen Ver eine und die Handhabung des Neichsvereinsgeseßes durh die preußishen Behörden zurück, wobei er vom Bizepräsidenten Qr. Spahn zur Sache vermahnt wird. Jeder Versuch, die Polen als Neichsfeinde wirtschaftlih niederzudrücken, wird scheitern an der sitt lichen Macht, die den Polen innewohnt.

Nach dieser 11/5 stündigen Rede erhält gegen 7 Uhr noch das Wort der

Abg. Nieseberg (wirts{ch. Vgg.) : Interessant war mir, daß der Staatssekretär die Notwendigkeit des Mittelstandes anerkannt hat. Leider kann man aber bei den unteren Behörden eine Mittelstands- freundlichkeit nicht bemerken. Von einem Stillstand der sozialen Geseßgebung, wie von sozialdemokratischer Seite behauptet wird, ist nicht die Nede. Auf Grund der sozialen Gesetzgebung wird in einer Woche mehr für die Arbeiter ausgegeben als von den Gewerk- schaften in einem Jahre. Wie kann man da von Bettelpfennigen reden! Wir erkennen an, daß auf diesem Gebiete täglih neue Aufgaben erwachsen, fodaß es dem Staatssekretär {wer fallen muß, sie zu bewältigen und für die nächste Zeit ein bestimmtes Programm aufzustellen. Unter den zahlreichen Fesolutionen, die uns vorgelegt sind, befindet sich auch eine, die eine Negelung des Konsumvereins8wesens wünscht. Diese Vereine sollten zum mindesten zu den Kosten der Innungen herangezogen werden. Das ganze deutsche Konsumvereinswesen, wie es lih bis in die höchsten Beamtenkreise herausgebildet hat, ist eine fehr bedauer- lihe Crscheinung. Für die Beamten haben wir im vorigen Jahre 117 Millionen Gehaltsqufbesserungen bewilligt; möge der Staats sekretär den Beamten klarmachen, wie sie sich mit diesen Konsumvereins bildungen in Widerspruch setzen zu den berechtigten Ansprüchen de1 Handel- und Gewerbetreibenden, die dur ihre Tätigkeit und Arbeit die Möglichkeit dieser Gehaltsaufbesserung mit geschaffen haben. Sollen wir denn über Mittelstandsfreundlichkeit aus diesen Kreisen immer nur Worte hören? Der Mittelstand ist nicht etwa Gegner der , Sozialpolitik, für jede gesunde Sozialpolitik hat er feine Unterstützung bereit, aber au er muß von der Gesetzgebung berücck- sichtigt, feine {wachen Schultern dürfen nicht weiter zu Gunsten einer uferlosen Sozialpolitik belastet werden. Dem Handwerk bereiten die Wanderlager eine scharfe Konkurrenz, die nicht bloß durch die Sonderbesteuerung, sondern auch durch die Prüfung des Be durfnisses eingeshränkt werden sollte. Dasselbe gilt von der Gefängnis arbeit; hier sollte man den Wünschen des Handwerkskammertages mehr entgegenkommen. Der alte und der neue Mittelstand sollten si zur gemeinsamen Erreichung ihrer Ziele die Hand reichen. Es mag für den Minister sehr hart sein, immer dieselbe Erinnerung zu ver nehmen, aber es ist auch sehr hart für die Privatbeamten, erfahren zu müssen, daß er ihren Wünschen zurzeit nicht entsprechen will. Daß dem Hansabund hier von dem Abg. Stresemann ein Lob lied gesungen werden konnte, verstehe id nicht. Ist es etwa Auf- klärung der Massen, wenn man in Versammlungen behauptet, das Bolk wäre mit Kaffee- und Teezoll verschont geblieben, wenn wir die Grbschaftssteuer bekommen hätten? Die unheilvolle Bäerei verordnung leidet an den s{wersten inneren Widersprüchen. Zahl reihe Bäckermeister {weben in steter Sorge, ob ihnen nicht morgen die Bude zugemacht wird. Ist das auch Miittelstandspolitik ?

Gegen 8 Uhr vertagt das Haus die weitere Beratung auf Donnerstag 1 Uhr.

Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 26. Sißung vom 283. Februar 1910, Vormittags 11 Uhr. (Bericht von Wolffs Telegraphischem Bureau.)

Ueber den Beginn der Sigzung ist in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden.

Das Haus seßt die zweite Beratung des Staatshaus- haltsetats für 1910 fort.

Zum Etat der Oberrehnungskammer liegt der Antrag der Konservativen vor, den Beitrag aus RNeichs- fonds zur Besoldung des Chefpräsidenten um 2000 Á zu er- mäßigen.

Referent Abg. Graf von der Groeben (kons.): Im vorigen Jahre hat bei der Neuregelung der Besoldungen im Neiche der Chef- präsident in seiner Eigenschaft als Chefpräsident des Nechnungshofs des Deutschen Reichs eine pensionsfähige Zulage von 4000 #4 er-

halten, die „nah den voraufgegangenen Verhandlungen zwischen Preußen und dem Reich“ von Preußen zur Hälfte übernommen werden sollte. Ein entsprelender Antrag ist von der Kommission allerdings abge- sehnt worden. x S :

Abg. Peltasohn (fr. Vgg.): Die Ablehnung des Antrags ist von der Kommissionsmehrheit nit Recht erfolgt, weil es sih dabei um éine indirekte preußishe Zulage von 2000 A für diesen Beamten gehandelt häfte. Einem solchen Bovgehen mußte hon mit Nücksiht auf die prâjudizielle Wirkung energisch entgegengetreten werden. Wir haben hier im vorigen Jahre die Bejoldungsordnung geschaffen, und damit soll es für eine lângere Reihe von Jahren sein Bewenden haben. Würde \{on jeßt einer der höchsten Beamten des Landes eine solche Zulage bekommen, so fzunten sih viele Tausende von Beamten, die im vorigen Jahre zu furz gekommen zu sein glauben, sofort darauf berufen. , Künsftig Zu- lagen im Wege des Etats zu gewähren, soll ausdrücklih nur als Ausnahme zulässig sein. Andererseits ist es doch nicht angängig, auf dem Umwege über das Reich die gesetzgebenden preußischen Faktoren einfah auszuschalten. j :

Unterstaatssekretär im Finanzministerium Dr. Michaelis: Es handelt sich hier nicht um eine Durchbrechung der Besoldungsordnung des vorigen Jahres. Die Erhöhung des Gehalts für den Chefpräsidenten der Dberrehnungskammer ist zwischen dem Neich und Preußen unter den erwähnten Modalitäten vereinbart worden. f

Abg. von Pappenheim (kons.): Wenn es sich um eine Aenderung der Besoldungsordnung handelte, würden wir prinzipiell dagegen sein. Hier handelt es sih aber nur darum, daß Preußen jeßt die ihm ¡fallende Hälfte der Zulage auf seine Finanzen übernimmt. Wird unser Antrag nicht genehmigt, so würde Preußen einfah den Betrag von 2000. J außeretatsmäßig verausgaben, und wir hätten uns im nähsten Jahre wieder mit der Sache zu beschäftigen.

Die Abgg. Wallenborn (Zentr.) und Dr. N öchling (nl.) er- flären sich für den Antrag.

Das Haus beschließt demgemäß.

Abg. Dr. Wagner (freikons.): Die Oberrechnungskammer ist sowohl die Oberrehnungskainmer für Preußen als auch der Nechnungshof für das Deutsche Reich. Es wäre wünschenswert, wenn jeßt die Trennung zwischen Meich und Preußen vollständig durchgeführt würde. Dann lassen sich auch die Schwierigkeiten vermeiden, die jeßt bezüglich der Besoldung des Chefpräsidenten entstanden sind. Die Art und Weise, wie uns die Nechnungsprüfung der Dberrehnungskammer vorgelegt wird, ist ein alter Zopf. Die hohen Drukkosten, die jetzt dafür aufgewandt werden, sind unnötig. Diese Drucksahe gehört zu Erscheinungen, an denen, wie der Dichter sagt, jeder gern vorüber- {leiht. Die Tätigkeit der Oberrehnungskammer U t Der Kommission allenthalben fkritisiert worden. Vor allen Dingen sind die Klagen über die formalistishe Tätigkeit sehr berechtigt. Zur Prüfung von Rechnungen, auf die Beanstandungen und deren Er- ledigung wird oft viel mehr Zeit ausgewandt, als die ganze Sache wert it. Die Furcht vor der formalistischen Handhabung der Geschäfte in der Oberrehnungskammer ist so groß, daß es ein offenes Geheimnis ist, daß bei vielen Behörden Positionen, die nicht auf- gebraucht zu werden brauchten, doch aufgebraucht werden, um unnötige Reklamationen zu vermeiden. Die Reform der Oberrechnungskammer ist eine dringende Aufgabe, mit der sich auch die Kommission für dié Reform der inneren Verwaltung beschäftigen muß.

Abg. Dr. Gott\chalk-Solingen (nl.): Da die Oberrechnungs- fammer die Aufgabe hat, Mißstände bei der Nechnungslegung auf- zudecken, so muß ihr auch die Befugnis zustehen, Einfluß auf die Gestaltung des Budgets zu haben. Eine Entlastung könnte dadurch erreiht werden, daß belanglose Nechnungsarbeiten in die Provinzial- und Lokalinstanzen verlegt werden könnten.

Der Etat der Oberrehnungskammer wird bewilligt, des- gleihen ohne Debatte der Etat des Kriegsministeriums (Ver- waltung des Zeughauses in Berlin).

Es folgt der Etat des Ministeriums des Jnnern.

Berichterstatter der Budgetkommission Abg. von Pappenheim s{lägt vor, die Fragen der Verwaltungsreform, der Wablre ¡tsreform, der rheinischen Landgemeindeordnung, der Bildung von Zweckverbänden und der Regelung des Automobilverkehrs von der Debatte aus zuschließen, da diese Gegenstände teils auf Grund besonderer Vor lagen, teils bei anderen Gelegenheiten, z. B. der Automobilverkehr beim Eisenbahnetat, zu besprechen sind.

Die Abg. Fritsch (nl.), Borgmann (Soz.), Dr. Friedberg (nl.), Cassel (fr. Volksp.) und Dr. von Jadzewski (Pole) er- llâren sih gegen eine solche Beschränkung der Debatte: wenn man sich au in solhe Gegenstände, die bei anderer Gelegenheit zu ver- handeln seien, nicht allzu tief einlassen würde, so könne doch eine Er- wähnung derselben niht verboten werden. Abg. Cassel bemerkt, daß nah dem Vorschlage des Berichterstatters z. B. die Bemerkung ver boten werden könne, daß seine Freunde eine Einschränkung der Be-

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| fugnisse der Landräte bei der Berwaltungsreform wünschten.

Die Abgg. Freiherr von Erffa (kons.), Shmed din g (Zentr.),

Freiherr von Zedliß und Neukirch (freikons.) und der Bizes

| pvräsident Dr. Pors ch bemerken, daß das Haus wiederholt den Aus

{luß bestimmter Gegenstände von der Debatte beschlossen habe, wenn dieselben demnächst bei anderer Gelegenheit besprochen werden tonnten ; es sei niht angebracht, die Etatsberatung, die {on sehr verzögert sei, mit zu vielem Ballast zu belasten.

Berichterstatter Abg. von Pappenheim modifiziert seinen Antrag dahin, daß die Frage der Verwaltungsreform innerhalb dieser Debatte behandelt werden darf, weil für diese Frage eine Vorlage in dieser

} Session nicht mehr zu erwarten sei.

Das Haus beschließt gegen die Stimmen der Freisinnigen, Polen und Sozialdemokraten gemäß diesem Vorschlage des

} Verichterstatters.

Vei den Einnahmen der Polizeiverwaltu ng referiert

| Berichterstatter Abg. von Pappenheim über die Erfahrungen j mit den Polizeihunden und die Forderung im Extra- | ordinaruum von 27 000 6 zum Bau einer Zucht- und

Dressuranstalt für Polizeihunde bei Grünheide bei Erkner.

Abg. Dr. Heisig (Zentr.) wünscht, daß auch Privatanstalten, die 1h mit der Zucht von Polizeihunden beschäftigen, vom Staate unter-

} flüßt würden, und weist ferner darauf hin, daß es zwar Hunde- | \hulen, Gendarmerieschulen, Polizeishulen gebe, und daß von den

Beamten der Königlichen Polizei Vorkenntnisse verlangt würden, daß aber solche Anforderungen von der kommunalen Polizei nicht gestellt

} würden.

Die Einnahmen der Polizeiverwaltung und die Kosten der

Z Zuchtanstalt werden bewilligt.

Zu den Beihilfen an unterstüßungsbedürftige

} ehemalige Krieger nah dem Reichsgeseß von 1895 bemerkt

Abg. Beyer - Neustadt (Zentr.): Es sind noch viele hilfsbedürftige

| Veteranen vorhanden, die keine Unterstüßung erhalten; das beweist | de große Anzahl von Beschwerden an die Mitglieder des Reichstags } Und dieses Hauses. Diese Beschwerden sind von der Sozialdemokratie | gitatorisch ausgenußt worden. Parteipolitische Erwägungen haben

bei der Gewährung dieser Beihilfen keine Nolle gespielt, aber die Bestimmungen des betreffenden Neichsgeseßzes über die Hilfsbedürftig- eit find zu eng gefaßt. Es ist dringend zu wünschen, daß die Summe, le für die Beihilfen ausgeworfen ist, erhöht wird, und alle be- rechtigten Gesuche um Unterstüßung berücksihtigt werden.

Geheimer Oberregierungsrat Dr. Drew s: Eine genaue Angabe der Zahl der noch vorhandenen Veteranen kann nicht erfolgen, da hierüber genauere statistische Erhebungen nicht vorliegen. Die schatßungsweise an- genommene Zahl von 200 000 Veteranen in Preußen aus den drei Srlegen hat sich aber durch Stichproben in einzelnen Gebieten als richtig herausgestellt. Von diesen Veteranen beziehen 133 678 Bei- len, es sind das also etwa zwei Drittel aller vorhandenen VLtteranen, Die Regierung ist an das Geseß gebunden, nah welchem

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nur gänzlih erwerbsunfähigen und hilfsbedürftigen Veteranen Bei- hilfen gewährt werden dürfen. Um diesen Zweck des Gesetzes zu erfüllen, langen die vorhandenen Mittel jeßt erfreulicherweise aus. Früher war das leider nicht der Fall, und es kam vor, daß Veteranen troß anerkannter Hilfsbedürftigkeit aus Mangel an Mitteln längere Zeit auf die Gewährung von Beihilfen warten mußten. Bei der Gntscheidung der Frage der Hilfsbedürftigkeit gehen wir so weit, wie es irgend mit den Bestimmungen des Gesetzes zu vereinbaren ist; wir fordern nicht, daß ein verhbeirateter Veteran erst seine zurücgelegten Spargelder aufbraucht. Cine Prüfung der politischen Haltung der Veteranen findet über- haupt nicht statt.

__ Abg. Dr. Pachnicke (fr. Vgag.): Es ift Chrenpfliht des Reiches und des Staates, den Veteranen die Unterstüßungen zu ge- währen, auf die sie nah dem Geseße Anspruch haben. Eine gründ- liche Abhilfe kann nur geschaffen werden, wenn das Neichsgeseßz über die Veteranenbeihilfen, das vom Bundesrat wegen eines Formfehlers

abgelehnt worden ist, unserem Jnitiativantrag entsprechend ver-

ab\schiedet wird. Die Einnahmen werden bewilligt.

Bei den dauernden Ausgaben, und zwar beim Titel des Ministergehalts, findet eine allgemeine Besprechung statt.

Abg. Dr. Bell- Essen (Zentr. ): Ich darf wohl bezüglich der fo schn- süchtig erwarteten rheinischen Landgemeindeordnung, die ja von der Er- örterung ausges{chlossen worden ist, nur den dringenden Wunsch aus- sprechen, daß sie eine befriedigende Gestaltung finden möge. Zur Aenderung des Kreistagswahlrechts haben auch wir neben Anträgen der Freisinnigen Partei einen Antrag auf Limitierung der Provinzial- landtagsabgeordneten gestellt. Im Anschluß daran ist die Prüfung der Frage angebracht, ob nicht auch unser Kommunalwahlrecht reform- bedürftig ist. Wir halten ebenso, wie für den preußischen Landtag, auch für unsere Gemeinden und insbesondere unsere Stadtgemeinden die Einführung des geheimen Wahlrechts für geboten. Früher be- stand für Stadtgemeinden ein Dreiklafsenwahlsystem in der Gestalt, daß nach dem Gesamtsteuerertrag eine Drittelung stattfand. Dieses System hatte damals eine gewisse Berechtigung, weil der \tarke Gegensaß zwischen den besißenden und mchtbesißenden Klassen noch niht annähernd in dem Maße wie heute vorhanden 1war. Seitdem ist der Mittelstand, der nah dieser Bestimmung in die zweite Klasse gehören sollte, mehr und mehr daraus verdrängt worden. Die Miquelsche Steuerreform vom 24. Juni 1891 hatte noch eine außer- ordentliche Verschärfung des plutokratischen Systems, besonders in den westlichen Provinzen, zur Folge. Um diesem Mangel abzuhelfen, legte die Regierung im Jahre 1900 einen K ommunalwahlrechtsreformentwurf vor, nach welchem zwar das Drittelungsprinzip beibehalten, aber ein Durch- \chnittsprinzip eingeführt wurde, so, daß diejenigen Wähler, die über den Durchschnitt des Gesamtsteuerertrags bezahlten, obne weiteres in die zweite Abteilung hineinkamen. Non diesem Durchschnittsprinzip wurde dann die sehr wichtige Ausnahme gemacht, daß bei Zweidrittelmajorität des Kollegiums das anderthalbfache Durchschnittsprinzip eingeseßt werden konnte, oder daß eine Zwölftelung eintrat, falls ih sonst noch eine

Verschärfung des plutokratischen Systems ergeben sollte. Nun wurde verordnetenkollegiums einstimmig der Antrag gestellt, an Stelle des Fraktion einfah die Pflicht habe, ihre Majorität nach zugunsten des Mittelstandes zu verschieben, so wäre die liberale 471 Wähler des Mittelstandes sind ihres Wahlrechtes zur zweiten fraktion hat, als diese plutokratische Wirkun ih

staltete, nunmehr einen Antrag auf Wiedereinführung des Durch- ab, weil das bestehende Ortsstatut die Gewähr gebe, daß auf ab- seitens der Behörden nicht ausgeschlossen Ia T Tei worden wäre. Die vorgeseßte Behörde hat nch immer nur auf Bei der Einteilung in Wahlbezirke werden die Wähler dritter Ab- wünschen wir, daß die Frage der amtlichen Bekanntmachungen in den auch in anderen Blättern zur Kenntnis bringen. Man foll bier

im Jahre 1901 in Crefeld von der liberalen Fraktion des Stadt- einfachen das anderthalbfache Durchschnittsprinzip zur Durchführung zu bringen. Der Antrag wurde damit begründet, daß die liberale jeder Nichtung zu sichern. Wenn dieser Antrag, der auch ans- genommen wurde, geetgnet gewesen wäre, das plutokratische System Fraktion im Necht gewesen. Gerade aber das Gegenteil war der Fall. Abteilung durch diesen Beschluß verlustig gegangen. Die Zentrums-

/ g ih immer schärfer ge-

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s{nittsprinzips gestellt. Die liberale Fraktion lehnte diesen Antrag schbare Zeit die liberale Majorität im Stadtverordnetenkollegium erhalten bleibe. Troßdem nah einem Grlaß des damaligen Ministers des Innern bei der Nachprüfung solcher Be- chlüsse durch die Behörden bei Mißbräuchen eine Nemedur einziger Fall bekannt geworden, daß nah diesem Erlaß gehandelt die formelle Prüfung beschränkt, ob der Beschluß auf Aenderung des Vrftsllaluts mit der erforderlichen Majorität erfolgt fei. teilung noch besonders in ihrem Wahlrecht beschränkt. Wir wünschen, daß auf diesem Gebiete bald Wandel ge]cchaffen werde. Ferner Kretsblättern anders geregelt wird. Diese Bekanntmachungen sollen doch in die bréitesten Kreise dringen; und deshalb sollte man sie nicht zu sehr am Alten hängen, sonst kommt man \{ließlich wieder

dahin, die Bekanntmachungen in den Ortschaften mit der Schelle auszutlingeln. Nicht vorkommen dürfte es, daß in den Kreisblättern Artikel stehen, die Andersgläubige verleßen können, wie ;. B. kürz lih ein Artikel „Gelder, die nah Nom gehen“. Bei der Verwaltungsreform wird hoffentlih der Bielregiererei, die die Selbstverwaltung beschränkt, ein Ende gemacht werden. Namentlich haben wir zu flagen über die Einmischung der Behörden bei der Niederlassung von Klöstern. Beim Kultusetat werden wir Material darüber vorbringen. Wir haben gefunden, daß der Widerstand gegen die Niederlassung von Klöstern weniger im Kultusministerium als viel mehr im Ministerium des Innern liegt. Vielleicht nimmt der Minister des Innern an der Debatte beim Etat des Kultusministeriums einmal teil. Die Bürgermeister im Westen haben vielfah über die Eingriffe in die Selbstverwaltung zu klagen. Ein Regierungspräsident verlangt z. B., daß ihm stets die Entwürfe von Polizeiverordnungen vorgelegt werden. In einem Fall hat der Megierungsöpräsident angeordnet, daß die Nevierbeamten genau darauf achten, daß bei Glatteis gestreut werde, und daß die säumigen Einwohner in ein Verzeichnis ein getragen werden sollen. Der Negierungspräsident {rieb dabei: „Ich werde mich selbs überzeugen, ob danach verfahren ist.“ Ich dachte, diese Dinge seien Sache der niederen Polizeiorgane. Nun denken Sie einmal, daß der Negierungspräsident lelbst aufs Glatteis ginge und zu Fall käme. In einem Fall hat der Fiskus bei der Verteilung der Kosten der Errichtung einer Baugewerks\chule in einer Stadt dieser Stadt das Aufrechnungsrecht, das sie gegen den Fiskus hatte, gewaltsam genommen. In Kiel ist einem Engländer, der in einer \ozialdemokratischen Versammlung in seiner Muttersprache über die Friedensarbeit sprechen wollte, dies vom Ne gierungspräsidenten verboten worden auf Grund des Sprachen paragraphen im Vereinsgesez. Der Minister hat in der Kommission keine genügende Erklärung dafür geben können. In Breslau ist eine Versammlung der polnischen Arbeiter im Anschluß an den Katholikentag verboten worden. Es sollte lediglich ein Vortrag gehalten werden über das gefährliche Thema „Arbeit im Lichte des Glaubens“. Aller- dings sollte der Vortrag in polnischer Sprache gehalten werden. Der Negierungspräsident hat erklärt, es könne auch in diesem Falle keine Ausnahme gemacht werden. Der Abg. Porsch hat bereits früber diesen Fall kritisiert, und ih shließe mich seiner Kritik durchaus an.

Ich habe noch einen Fall zur Sprache zu bringen, in dem unsere Parteiehre lebhaft interessiert ist. Im vorigen Jahre erschien im Buch- handel eine Schrift „Für|t Bülow und seine Zeit“, deren Verfasser sich unter dem Namen Germanicus verbirgt. Jch mache keine Partei für diese Schrift verantwortlich und nehme an, daß ‘mir das ganze Haus in meiner Kritik zustimmen wird. Auch der Fürst Bülow scheidet hier vollkommen aus, ebenso wie alle parteipolitischen Gegensätze. Ich wende mich namens meiner Freunde nur gegen die Tatsache, daß dieses Buch fast von der ersten Seite bis zur leßten Seite stroßt von unerhörten Beschimpfungen der Zentrumspartei und den \{chwersten Schmähungen der katholischen Kirhe. Diese Beschimpfungen ziehen sich wie cin roter Faden dur das ganze Buch und bilden seine Grundtendenz.

Es wird über das autoritätenfeindlihe Treiben des Ultramontanismus, über die fklerikalen Sünden gesprochen; die Nationalliberalen werden als die einzige Neichspartei gepriesen, in welcher der nationale Gedanke am reinsten und selbstlofesten verkörpert sei; es heißt weiter, die rômische Kirche sei in allen Gliedern von Jesuitismus derart verseucht, daß es an dem tatsächlichen Stande der Dinge niht mehr viel ändere, ob die würdigen Patres einzeln oder zu Hauf die Neichsgrenze über- schreiten dürften ; es heißt weiter, die Nückkehr unter das faudinische Joch der Krummstabträger müsse vermieden werden; unter dem viel zu lange im Amte gebliebenen Minister von Studt hätten sich die Klöster nach Kaninchenart vermehrt; Studt habe sich in die Gunst des Kaisers und der Kaiserin eingenistet, er sei die sicherste Stüßte des ultramontanen Systems und folge dem freundlichen Blinzeln der Zentrumspartei. Der Haupterfolg des Wahlkampes von 1907 sei die Ausschaltung des Krummstabes aus den Insignien der Hohenzollernshen Kaiser- krone. Diesem widerlichen Fußtritt reiht sich würdig der Versuch der Ministerstürzerei an; auch die Marineverwaltung werde erst dann zu einer großzügigen Auffassung- ihrer Aufgaben gelangen können, wenn sie von einer Persönlichkeit geleitet werde, die sich von jeder Rücksicht auf das Zentrum frei wisse. Dem Zentrum werden hinterhältige Verdächtigungen, niederträhtige Mittel, er- bärmliche Manöver, skandalöses Verhalten und dergl. vorgeworfen. Die leßte Seite des Buches enthält, nur allzu durhsichtig, eine shmeichelnde Lobhudelei für die Konservativen. Aber wie ändert \ich das Bild nah dem Zusammenbruch des Blocks in der zweiten Auf- lage! Weil die Konservativen den jelbstlosen Natschlägen des Germanicus nicht gefolgt sind, werden sie jeßt als „Blockverräter“ an den Pranger gestellt ; auf das Zuckerbrot folgt die Peitsche: Treu- losigkeit wird ihnen vorgeworfen. Fürst Bülow habe nur die aller- erbärmlichste Krämerpolitik vorgefunden, bei den Konservativen hätte fein national Gesinnter eine solche Felonie, ein sol perfides Spiel mit den Interessen der Monarchie und des Landes vermutet: die Konfer- vativen im Lande s\eien Leute von alter, treuer Art, die Konservativen im Reichstage verträten dagegen Kirchturmsinteressen, das Wahlrechts- programm der Regierung sei ihnen {nuppe; denn neben der rechtmäßigen Herrschaft Wilhelms 11. habe sih längst das ungekrönte Königtum von Grnst von Heydebrand und der Lasa aufgetan, das bestrebt sei, zum heimlichen Kaisertum emporzuwachsen : sie hätten von dem preußischen König und seiner Regierung Wortbruch verlangt, das Opfer des Intellekts, für das sie gern das Doppelte und Dreifache der ge forderten wirklichen Besißsteuer hingegeben hätten : als man fie ab- gewiesen habe, hätten sie in ohnmächtiger Wut alles zertrümmert und zertreten, was König und Volkstum inzwischen in freudig nationalem Einklange geschaffen hätten, um zuleßt denjenigen Staats- mann aus dem Amte zu ekeln, der gemeinsamer Vertrauensmann des Kaisers und der Nation gewesen sei. Und in der Schlußrakete des Brillantfeuerwerks des Sehers Germanicu: heißt es, daß die konser- vativen Îdeale nur zeitweilig unter unfähiger Führung im Materialismus erstickt seien, daß sie aber ihren neuen Frühling finden würden : andernsalls wäre den Konservativen das Finale, das Halali, geblasen. Ueber ein derartiges gewöhnliches Pamphlet könnte man zur Tages- ordnung übergehen. Dem Buche wird aber cin pikanter Beigeshmack dadurch gegeben, daß ihm eine Empfehlung von hoher Seite beigefüat worden ift. Der Verleger konnte namlih folgendes Empfehlungs- schreiben veröffentlichen : „Der Minister des Innern. Für die Uebersendung. des Buches „Fürst Bülow und feine Zeit“, von dessen Inhalt ih mit Interesse Kenntnis genommen, spreche tch Ihnen meinen verbindlihsten Dank aus. Wenn ich auh aus grundsäßlihen Erwägungen davon absehen muß, die nachgeordneten Behörden und Beamten auf das Buch hinzuweisen, so habe ih doch gern eine empfehlende Besprehung desselben in der beiliegenden „Berliner Korrespondenz“ Nr. 5 veranlaßt und hoffe, hierdurch weitere Kreise zur Lektüre des Buches anzuregen.“ In der amt- lichen „Berliner Korrespondenz“ heißt es dann, daß zwar der Verfasser als Privatmann nur subjektiv die politischen Vorgänge habe be- leuten können, daß diese unvermeidlichen Fehler aber den allgemeinen Wert des Buches nicht beeinträchtigen könnten, in welchem der Ver- fasser den nationalen Lebensfragen mit erfreulicher patriotisher Ge- sinnung gerecht zu werden bemüht sei. Der große Wert des Buches rehtfertige es, daß die Aufmerksamkeit darauf gelenkt werde. Ich will gern annehmen, daß der Minister des Innern, ob wohl er dieses Schreiben eigenhändig unterschrieben hat, es gar nicht gelesen hat. Gerade der Titel : „Fürst Bülow und seine Zeit" ruft ja die Erinnerung wah, daß schon viel wichtigere Schriftstücke ungelesen unterschrieben worden sind. Aber auch bei aller Zurückhaltung kann ih dem Minister den Vorwurf einer bedauerlihen Unvorsichtigkeit nicht ersparen. Die Staats- regierung darf sich nicht von der Parteien Haß und Gunst verwirren lassen, sie muß über den Parteien stehen. Was foll denn ein Leser dieses Buches denken, wenn derartige Angriffe vom Minister des Innern empfohlen werden ! Difficile est gsatiram non scribere! Auch der zweiten Auflage, die die Angriffe gegen die Konservativen enthielt, bat die Cmpfehlung des Ministers beigelegen. Die Folge dieser bedauerlichen Unvorsichtigkeit des Ministers ist es also gewesen, daß zur Abwechslung auch einmal eine andere Partei als das Zentrum in der \{ärfsten Weise angegriffen worden ist. Wir haben aber erst die zweite Auflage (Zurufe), vielleicht kommt noch eine dritte. Dann werden in diesem von der Regierung empfohlenen Buche vielleicht die Herren der Linken angegriffen werden. (Zuruf: Und die zwanzigste Auflage ?) Vielleicht wird da dann der Regierung unter ihrer eigenen musikalishen Begleitung das Lied vom Hirtenknaben ge- sungen werden. Der Abg. Friedberg hat \ich darüber beklagt, daß in manchen Ministerien nur parteivoliti\{ abgestempelte höhere Beamte an- gestellt werden. Ich bedaure das ebenso, wenn ih auch nicht glaube, daß der Abg. von Friedberg damit aud meiner Fraktion den bisher versperrten Weg zu den Ministerien öffnen würde. Aber ih hoffe, daß der Kollege Friedberg auch dann seine Auffassung auf recht erhält, wenn wir dafür eintreten, daß der Stempelabdruck auch namentlich nach feiner Couleurseite nicht untersu@t wird. Ich möchte also den Minister um eine beruhigende Erklärung und um die Versicherung bitten, daß in Zukunft folche bedauerlicen Entgleisungen im Interesse der Regierung und ibrer guten Beziehungen zu den Parteien niht mehr vorkommen.

Minister des Jnnern von Moltke:

Um mit dem Herrn Germanicus zu beginnen, möchte i zunächst dem Herrn Vorredner erwidern, daß es doc eine Pflicht der Höflich- keit ist, wenn einem ein Buch geschickt wird, dafür in der Form, in der ih es getan habe, zu danken. Ich: habe mi für sehr viele Bücher bedankt, die mir in freundlicher Weise zugeshickt worden sind ih habe sie auch größtenteils gelesen (Heiterkeit), mit deren Inhalt ih mich dadurch in keiner Weise identifizieren will. Die Stellen, die der Herr Vorredner hervorgehoben hat, sind durchaus nicht das, was ih unterschreiben würde das kann ich ihm positiv versichern —, es sind doch aber auch mande Sacen darin ih habe das Buch ziemlich durchgeblättert (Heiterkeit), die ein gewisses reizvolles und lehrreihes Behandeln von Tageëfragen enthalten. Es ist mir durchaus nit eingefallen, dieses Buch den nachgeordneten Behörden zu empfehlen; im Gegenteil, es war ein folcer Wuns an mich herangetreten, aber das habe ih direkt abgelehnt. Das geht ja auch aus dem mitgeteilten Schreiben hervor. Warum sollte i aber, nach- dem das Buch in der „Kreuzzeitung“ besproben war, nachdem es im Militärwochenblatt besproen war, nachdem der Reichskanzler Fürst von Bülow sich in einem höfliden Schreiben bei dem Verfasser be- dankt hatte (Aha! im Zentrum und Zurufe rechts), das war sfebr s{wer, aber er hat es do getan (Erneute Zurufe rechts), warum sollte ih dem Verfasser niht den Gefallen tun, daß auch das Buch in der „Berliner Korrespondenz“ erwähnt wurde. Es ist das mit der

alleräußersten Rücksicht geschehen. (Widerspruh im Zentrum.) Der