1890 / 148 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Fri, 20 Jun 1890 18:00:01 GMT) scan diff

bezüglib anderer Vorschriften des Gefeßes ermögliht werden, in denen ein folher Zusaß nit gegeben ist. Es ift ganz zutrefferd, wenn der Hr. Abg. Dr. Miquel der Auffassung Ausdruck giebt, daß, wenn eine Beschwerde nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist, die Be- \{chwerde innerbalb des geordneten Instanzenzuges für zulässig erattet werden muß.

Zu dem Antrag des Hrn. Abg. Auer und Genossen, bezügli des Absayes 2 des S. 16, kann ich mich nur den Ausführungen des Hrn. Abg. Miquel anschließen. JIch würde mich erft dann über die De- finition der „Verlegung der Amtspflihten“, welche der Hr. Abg. Singer in Aussicht gestellt hat, äußern können, wenn diese Definition vorliegt Im Algemeinen aber halte ich eine folche Definition für entbebhrlih. Denn was begriffsmäßig Tee und einer Amtspflickt ist, kann für Niemand irgendwie zweifelhaft sein, und wo in that- fäbliher Beziehung Zweifel entstehen, ist es eine quaestio facti, die unter allen Umständen der Beurtheilung des Gerichts überlassen bleiben muß. :

Ich Uebrigen halte ih den Abfay 2 des §8. 16 für nit ent- behrli®. Streichen Sie nach dem Antrage der Hrrn. Abgg Auer und Genoffen dieses Alinea, dann bekunden Sie damit die Absicht, Richter, die sich einer unwürdigen Verleßung ihrer Amtspflicht s{uldig gemacht baben, glei{wohl in ihrem Amte zu belassen, und das kann keiner von Ihnen wollen.

Abg. Ackermann meint, daß man über den Fall mit dem rothen Taschentuh nicht ohne Kenntniß des ganzen Akten- materials urtheilen könne. Daß die sächsishen Gerichte ihre

Urtheile niht nach dem Geschmack der Sozialdemokraten ein- rihten, mache er ihnen niht zum Vorwurf; sie urtheilen nah gegen die Verdächtigung der

dem Geseg. Er sähsishen Gerichte.

Vize-Präsident Baumbach: Jch seße voraus, daß das Wort „Verdächtigung“ niht gegen ein Mitglied des Hauses ausgesprochen ist,

Abg. Ackermann: Jh weiß niht, welhes andere Wort ih an die Stelle segen foll, aber ich will nah der Aufforderung des Präsidenten das Wort zurückziehen,

g. Singer: Ein genauer Abdruck jenes rothen Taschentuhs ist den Mitgliedern des vorigen Reichstages, zu denen der Abg. Ackermann gehörte, vorgelegt worden, und wegen dieses Stückhens orangefarbenen Papiers ist ein Mann zu 14 Tagen Gefängniß verurtheilt worden. Das beweist, daß bei den sächsishen Gerichten Alles möglich ist.

Vize-Präsident Baumbach bittet von deutschen Behörden niht in folhem Ton zu sprechen. D

Abg. Singer: Jh verwahre mih ferner gegen die Unterstellung des Staatssekretärs, daß es unsere Absicht sei, des Amts unwürdige Leute im Amt zu lassen. Wir wollen nur verhindern, daß des Amts nicht unwürdige ausgeschlossen werden fönnen.

Staatssetretär Dr. von Boetticher:

Ich bin erstaunt darüber, daß der Herr Vorredner mir eine Aeußerung untergelegt hat, an die ih garnicht gedacht habe. I habe das gerade Gegentheil gesagt. Ich habe gesagt, „das können Sie nit wollen,“ daß die Feclge eintritt, die mit der Streichung dieses Alinea 2 verbunden ist, daß unwürdige Richter nit entfernt werden können. Ic babe ausdrüdcklich mit dcn Worten gesch{lo\en : „Das können Sie nicht wollen,“ und Ibnen diese Absicht unter- zus@ieben, hat mir durchaus f.rn gelegen. Ich würde sogar jeßt nit einmal soweit kommen, zu sagen: qui s'excuse, s'accuse.

Abg. Kauffmann hält den Begriff „grobe Verlegung der Amtspflicht“ doch für einen unbestimmten und stellt einen Aenderungsantrag für die dritte Lesung in Aussicht. f

n De-

8. 16 wird darauf unter Streihung der Worte : schwerde findet niht statt“ angenommen.

Die §8. 17—20, welche von der Verpflichtung des Vor- fißenden und der Beisizer, der Beseßung der Gewerbegerichte bei den Verhandlungen u. \. w. handeln, werden unverändert angenommen.

der zweite Abschnitt: Verfahren (88. 21

Es folgt bis 54).

Die 8. 21—25 werden unverändert angenommen, nachdem auf eine Anfrage des Abg. Uhlendorff sowohl der Geheime Regierungs-Rath Hoffmann als Abg. von Cuny geantwortet haben, daß der Wunsh der Lipp'schen Ziegler, daß sie ihre Streitigkeiten niht an ihren Arbeits- orten, wo sie sich im Sommer aufhalten, sondern an ihrem Wohnort erledigen können, durch das Gesetz erfüllt sei.

Nach §. 25a werden Rechtsanwälte und gewerbsmäßige Rechtsbeistande vor dem Gewerbegeriht nit zugela}en.

Abg. Freiherr von Pfetten hält es für zweckEmäßig, in

gewissen Fällen, wo es sich um s{hwierige Rechtsfragen handelt, die Zuziehung eines Rechtsanwalts zu gestatten. _ Abg. Kauffmann hält die Zulaffung der Rehtsanwälte für unzweckmäßig, weil sie das Verfahren vertheuern und ver- längern würden, was namentlich bei den kleinen Streitfällen, um die es sich handle, bedenklih sei. Es könnten \ih sehr leiht Spezialisten für die Gewerbegerihte im Rechtsanwalt- stande herausbilden, und das wünsche er nit. Einen etwaigen Einnahmenausfall würden die Rechtsanwälte troy ihrer schwierigen Lage gern verschmerzen.

Staatssekretär Dr. von Boetticher:

It kann nit leugnen, daß ih für die Tendenz, die dem Antrage des Hrn. Abg. Freiherrn von Pfetten zu Grunde liegt, doch etwas übrig habe. Es scheint mir unter Umständen eine große Härte und zwar nit bloß für den Arbeitgeber, sondern au für den Ar- beiter darin zu liegen, daß es den streiterden Theilen verwehrt sein soll, si eines rechtsverständigen Beiraths zu bedienen. Die Herren meinen zwar, daf es sid stets um ganz untergeordnete Sitrei- tigkeiten handeln werde. _Es können indessen doch unter Umständen recht sckchwierige Rebtéfragen, namentli wenn es ih um die Interpretation von Î handelt, entstehen, bei denen der

protestire

Verträgen Arbeiter, der ohne Redtsbeistand vor Gericht erscheint, in einer sehr ungünstigen Lage si befindet. Ic erinnere aber weiter daran, daß der Arbeiter krank werden, daf er abwesend sein kann; er fann an einem dritten Orte Arbeit genommen baben, während sih der Streit vor dem Gerichte an seinem früheren Bescväftigungsorte abspielt. Da foll ihm verwehrt fein, einen Rechtsanwalt zu nebmen ! I finde darin eine gewisse Härte, und diese Auffassung bat aub die verbündeten Regterungen bestimmt, eine solhe Vorschrift wie sie der von Ihrer Kommission beschlofsene §8. 25 a enthält, niht in die Vor- lage aufzunehmen.

Das allerdings gebe ih zu: so wie der Antrag des Hrn. Abg. Freißerrn von Pfetten lautet, wird er kaum in das Gesetz aufge- nommen werden können. Es besteht der Unterstied zwischen seinem Antrag und dem Bef{luß der Kommission ledigli darin daß, während die Kommission vorshlägt: Rechtsanwälte und ge- werbêmäßige Vertreter dürfen nibt zugelassen werden, Hr. von Pfetten vorgeschrieben wissen will: sie sollen niht zugelassen werden. Die Wirkung dieser Vorschrift würde allein die sein, daß aus der Zulassung eines solhen Vertreters eine Nichtigkeit des Ver- fahrens nit folgt, während, “wenn es bei den Vorschlägen Ihrer Kommission bleibt, die Nichtigkeit des Verfahrens die Folge der Zu- laffung eines Rechtéanwalts oder eines gewerbsmäßigen Vertreters sein würde. Wenn aber Hr. Freiherr von Pfetten seinen Antrag dabin forrigiren wollte, daß er es als die Regel hinstellt, daß Rechts- anwälte oder gewerbémäßige Vertreter nit zugelassen werden sollen, so würde damit dies mein Bedenken erledigt sein.

Ib gebe ja zu, daß es immerhin etwas Mißliches hat, wenn man es dem freicn Ermessen des Vorsitzenden oder des Gerichts überläßt, ob ein Vertreter der bezeihneten Kategorie zugelaffen werden soll. Allein dieses Bedenken kann mich dob nicht bestimmen, den Antrag als eine Verbesserung anzusehen gegenüber den Beschlüssen der Kom- mission, wenn man wenigstens die Möglichkeit offen läßt, daß Parteien, die nah dem Ermessen des Gerichts wirklih einer recht8verständigen Vertretung bedürfen, auch in die Lage geseßt werden, der Vertretung si bedienen zu können. E 2 d

Ich resümire mi: Prinzipaliter würde ih mi dafür erklären, daß der Paragraph geftrihen wird; eventualiter würde ih auch einem modifizirten Antrage Pfetten beim Bundesrath das Wort reden,

Nachdem noch die Abgg. von Cuny und Eberty \sich für den Auss{hluß der Rehtsanwälte ausgesprochen hatten, zieht Abg. von Pfetten seinen Antrag zurück - und behält sich vor, in der dritten Lesung einen anderen Antrag einzu- bringen.

S. 25a wird angenommen.

Zur Geschäftsordnung beantragt Abg. Eberty, nunmehr die Abstimmung über §. 12 vorzunehmen, i

Vize-Präsident Graf von Ballestrem bleibt bei seiner Auslegung der Geschäftsordnung, daß diese Abstimmung erst dann stattfinden könne, wenn der ganze §. 12 berathen sei. Wenn das Haus anders entscheide, müsse er sih aber fügen.

Abg. Dr. M Jon beantragt, den Rest des 8. 12 und den §8. 72 jeßt zu berathen. i

Dieser Antrag wird mit 114 gegen 101 Stimmen an- genommen.

Nach §. 72 wird die Zuständigkeit der Jnnungen zur Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und ihren Lehrlingen und der Fnnungsschiedsgerichte bezüglich der Streitigkeiten zwishen Jnnungsmitgliedern und ihren Ge}ellen von diesem Geseße nicht berührt. Der dritte Absay des §. 12 schließt deshalb die Fnnungsmitglieder und deren Gesellen von der Wahlberehtigung zum Gewerbegeriht aus.

Ein Antrag Eberty , diese Debatte zu vertagen, wird abgelehnt.

Abg. Eberty: Nach der jeßigen Fassung des §. 72 wird künftighin die Zuständigkeit eines Fnnungsgerihts der Zu- ständigkeit eines Gewerbegerihts in einer großen Anzahl von Fällen vorgehen. Nur für Jemand, der sich sehr genau mit der einshlägigen Materie beschäftigt hat, wird es mögli sein, sich aus den Bestimmungen, die hiex in Anwendung kommen, herauszufinden. Die allgemeine Frage, ob die bis: herige Jnstitution sich überhaupt bewährt hat, will ih zunächst unerörtert lassen. Dringend nothwendig aber erscheint, daß eine einheitlihe Rechtsprehung für gewerblihe Streitig- keiten geschaffen wird. Den Gegensaß zwishen den Fnnungen auf der einen Seite und den übrigen arbeitenden Klassen andererseits durch Geseg hier festzulegen, wäre so unweise als möglih. Jh würde die Streichung des ganzen §. 72 für kein Unglück halten. FJndessen ließe si in Bezug auf die Lehrlinge für die dritte Lesung noch eine Verein- barung schaffen; die Streitigkeiten der Gesellen aber müßten jedenfalls den Fnnungen entzogen werden. Es würden sonst, abgesehen von allem Andern, für die Handhabung und Ausführung des Geseßes Schwierigkeiten geschasfen, deren Umfang Sie jeßt gar nicht übersehen können. n Berlin würden z. B. 43 ver\chiedene Jnnungsgerichte den Gewerbegerichten Konkurrenz machen. Bei der Frage der Legitimation der Wähler müßte auch erst jedesmal materiell festgestellt werden, ob der Wählende zu einer Jnnung gehört oder nit; in dem ersteren Fall wäre er ja gar nit wahl- berechtigt. Allein das würde ungeheure Schreibereien ver- ursahen. Aus diesen Gründen bitte ih Sie, den 8. 72 ab- zulehnen.

Abg. Tugzauer: Die Fnnungen haben nicht die Be- deutung, die man uns von der ihnen freundlihen Seite glauben machen will. Die geringe Betheiligung an den Wahlen zu denselben beweist das {wache Jntere}se. Wenn Sie jeßt den Fnnungen weitere Vorrechte geben, so würden dadur die Mißhelligkeiten zwischen den Arbeitern und Arbeit- gebern außerordentlich gesteigert werden. Was für Unzuträglich- keiten werden nicht schon bei den Wahlen zu den Beisizern ent- stehen! Es muß da festgestellt werden, ob die zur Wahl kommenden Personen bei dem Fnunungsmeister beschäftigt sind oder bei einem Meister, der niht zur Jnnung gehört, das wird sehr oft nicht leicht festzustellen sein, es werden auch Leute theilnehmen, die bei Fnnungsmeistern arbeiten. Das fönnte leiht die Un- gültigkeit der Wahl zur Folge haben. Ferner zürften, wenn der §. 72 angenommen wird, zu Beisißzern Leute nicht gewählt werden, die bei Jnnungsmeistern beschäftigt sind oder selbst Jnnungsmeister sind. Unter zehn Arbeitern weiß aber in Berlin kaum einer, ob ihr Meister der Jnnung angehört oder niht. Die Meister pflegen das in Berlin geheim zu halten, weil sie wissen, daß die Gesellen von den Jnnungen nit viel halten. Verwaltet Jemand das Beisißeramt eine längere Zeit, vielleiht 15 Fahre, und tritt dann bei einem Jnnungsmeister in Arbeit er mag das vorher nicht einmal gewußt haben, daß derselbe Fnnungsmeister ist —, so müßte er das Amt niederlegen. Das sind Zustände, die zur Förderung der Ge- werbegerichte niht beitragen werden.

Abg. Ackermann: Daß die einheitliche Rehtsprehung bei Annahme des §. 72 durchbrohen würde, gebe ih zu. Aber keine Regel ohne Ausnahme! Wenn die Ausnahme sih rechtfertigen läßt und zweckmäßig ist, so gehe ih von der Regel ab. Was machen die 43 Kompetenzen der Jnnungen in Berlin für Shwierigkeiten? Die Jnnungen führen do über ihre Mitglieder genaue Listen. Jede Innung weiß, welche Handwerker sie umfaßt. Ebensowenig kann es \{hwierig sein, festzustellen, welhe Gesellen bei den Jnnungen beschäftigt werden. Daß ein Gefelle von einem Fnnungsmeistec zu einem anderen Meister geht, wird vorkommen, aber auch diese Thatsache läßt ld leicht feststellen. Zu den Wahlen werden wahrscheinli Urlisten festgestelt werden müssen. Dabei wird sich ein jeder Wahlberechtigte legitimiren müssen. Ob die Gesellen den Fnnungen freundlih find oder nicht, läßt ih nicht beweisen. Sobald es sich um Jnnungen handelt, geht man darauf los, wie auf ein rothes Tuh. Es liegt fein Anlaß vor, Jnstitutionen, die wir zur Stärkung der Innungen geschaffen haben, zu beseitigen. Wir müssen im Gegentheil die Gelegenheit benußen, um auch die Streitig- keiten zwishen Meistern und Gesellen ihnen ein für alle Mal zuzuweisen.

Ein Veriagungsantrag des Abg, Shmidt-Elberfeld wird abgelehnt.

Abg. Freiherr Schenck von Stauffenberg (zur Ge- aaf r Die Abstimmung über diesen Gegenstand konnte kein Mensch in diesem Hause erwarten; es hat aber den Anschein, als ob man durch Ablehnung aller Vertagungs- anträge die Sahe heute zum Abschluß bringen wollte. Jh

würde dann die Beshlußfähigkeit des Hauses bezweifeln müssen, was ich bisher noh nie gethan habe, aber zum Schutze der Minorität des Hauses M muß. E

Vize-Präsident Graf von Ballestrem: Was der Herr Abgeordnete thun will, wird er ja später durch Anträge zum

Ausdru bringen können.

Abg. Meyer (Berlin): Sachsen ist das klassishe Land der Höflichkeit. Deshalb hat mich eine Stelle der Rede des Abg. Ackermann nicht überrascht. Er sagte, es handle si um Jnnungen, und darum ginge man darauf los wie auf das rothe Tuch. Daß er vershwiegen hat, wer auf das rothe TuG loszugehen pflegt, darin besteht eben die ganz spezifishe Höflichkeit des Abg. Ackermann. Es ist heute erzählt, daß die Auffassung eines rothen Tuches im Königreih Sachsen eine ganz besondere Aufregung und sogar gerihtlißhe Verfolgung hervorgerufen hat; die damals ihre an gegen das rothe Tuch ¿zu Tage legten, haben gewiß nit zur freisinnigen Partei gehört. Die ursprünglihe Regierungsvorlage nahm mehr Rücksiht auf die bestehenden Jnnungsgerihte, als uns zweckmäßig erscheint, und wir wollten hier Ein- shränfungen eintreten lassen, aber die Kommission hat die Vorlage sogar noch vershlehtert. Es wäre beklagenswerth, wenn eine jolche Angelegenheit übereilt in vorgerückter Stunde erledigt würde. Sie wollen durch diese Baltimsiinenn die Znnungen stärken; das beweist, daß die Jnnungen immer noch \chwählihe Kinder sind. Sie sehen fich deshalb bei jeder Gelegenheit nach einem neuen Kindermehl um, das die s{chwählihe Konstitution stärken sol, und ein solches glauben Sie in den FJnnungsgerihten gefunden zu haben. Die Gewerbegerihte erfordern \{hon Opfer, welche die Gemeinden allerdings gern geben werden, aber ihnen noch die Spezialkosten für vielleiht ein Dußend Jnnungs- gerihte aufzuerlegen, wäre eine große Härte. Wer nicht zur Fnnung gehört, kann auch kein Vertrauen zu den Jnnungs- gerihten haben. Wir würden hiernah statt eines einbeitlihen Gemwerbegerihts eine Vielköpfigkeit erhalten, ein Chaos, das auf die Rechtspflege nur lähmend wirken kann.

Um 41/2 Uhr vertagt das Haus die weitere Berathung auf Freitag 1 Uhr.

Der von dem Grafen zu Stolberg erstattete Bericht der VIT. Kommission über den ihr zur Vorberathung über- wiesenen Gesezentwurf, betreffend die Friedenspräsenz- stärke des deutshen Heeres, liegt jegt im Druck vor. Die Kommission hat neun Sigzungen gehalten. Aus dem Gang ihrer Verhandlungen heben wir Folgendes hervor.

Die Kommission ging davon aus, daß, da dem Deutschen Rei die Absidt, einen Angriffékrieg zu führen, fern liege, eine Verstärkung des Heeres nur dann und nur insoweit gerechtfertigt erscheine, als die- selbe durch die in anderen Lndern stattgefundene Vermehrung der Streitkräfte unabweislih geboten sei.

In der Generaldebatte begründete der erste Vertreter der Militärverwaltung die Vorlage in folgender Weise:

Frankrei habe durch sein neues Wehrgesetß einen solhen Vor- sprung erhalten, daß etwas geschehen müsse, um das jeßt {on vor- handene Uebergewicht, welches sich in Zukunft noch steigern würde, einigermaßen auszugleiwen. Man könne zweifelhaft sein, ob eine Vermehrung unserer Streitkräfte nicht {hon zu einem früheren Termin hâtte gefordert werden müssen, jedenfalls sei es jeßt die höchste Zeit dazu. Die Militärverwaltung nehme jede zulässige Rücksiht auf die Schonung der Finanzen, aber es vertrage sib nicht mit der ihr zus Laien 15 Verantwortlichkeit, mit Mehrforderungen noch länger zögern zu wollen

, Ein Mitglied der Kommission behauptete dem gegenüber : Seit der letzten Feststellung der Friedenspräsenzstärke im Jahre 1887 habe eine Vermehrung der französishen Streitkräfte nit über das bei dem Septennatsgesez vorauszeschene Maß stattgefunden, Wexn alfo, wie damals von der Militärverwaltung behauptet worden sci, das Septennat von 1887 genügende Streitkräfte zur Dispo\ition ge- stellt habe, so treffe dies auch je8t noch zu. Man könne sogar be- haupten, die Stärke der französischen Infanterie sei verringert worden dur die Auflösung der vierten Bataillone. Unsere präsenten Com- pagnien feien stärker als die französishen; die französishe Artillerie sei der unseren ziffffernmäßig auch früber \{on überlegen gewesen, und inzwischen sci auch unsere Artillerie verstärkt worden.

Ein Vertreter der Militärverwaltung erwiderte hierauf

Die Begründung des Gesetzentwurfs gehe davon aus, das eine Erbéhung der Friedenspräfenzstärke erforderlih sei, weil scit Ein- bringung des gegenwärtig bestehenden Septennats sch durch die fort- geseßten Nüftungen Frankreichs und Rußlands, insbesondere durch das französishe Webrgeseß vom 15. Juli 1889, die militärische Lage in einer Weise verschoben habe, wie dies damals nit vorausgesehen werdén fonnte und demgemäß auch nicht in Berechnung gezogen \ei. In Ausführung dieses Gedankens machte derselbe dann, gestützt auf zahlreiwe, der Kommission übergebene ftatistischbe Nachweisungen theils in zufammenhängender Ausführung, theils in Erwiderung der an ihn geribtcten Fragen, nähere Angaben, deren wesentlißer Jnbalt soweit derselbe nit als sekret bezeihnet wurde etwa folgender war :

_1) 1887 war angenommen worden, die französishe Friedens- prâsenzstärke werde im Laufe des Septennats sich auf etwa 515 090 Mann fteigern. Für 1891 ift dieselbe indessen bereits in Höbe von 520 548 Mann, aus\&ließlich Gendarmerie, vorgesehen. Die vers&iedenartige Bedeutung der Friedenspräsenzziffer in Frankreich und Deutschland wurde des Näheren erläutert. In Frankreich be- trage bercits die Frieden8präfenz von 1890 503 649 (ann aus- \chließlich Gendarmerie = 1,303 % der Bevölkerung, während in Deutschland auß nach der durch die Gesezesvorlage beabsichtigten Erhöhung und unter Einrebnung von 9000 Einjährig-Freiwilligen sich ein prozentuales Verbältniß der Friedensstärke des Heeres zur Bevölkerung von 1,008 %s ergiebt.

2) An der Hand statistishen Materials über die Ergebnisse des Erfaßtzgeshäfts in Frankreich im Jahre 1889 und auf Grund der Wehrgeseßgebungen Frankreihs und Deutschlands wurde eingehend ausgeführt, daß man untrr der Wirkung dcs neuen französischen Wehrgeseßes vom Jahre 1890 an mit einer jährlihen Rekruten- einstellung in Frankreih von mindestens 220 000 Mann renen müsse, und daß na völliger Durchführung dieses Gesetzes, d. i. in 25 Jahren, Franfreid eine Leberlegenheit von rund dretiviertel Millionen auêge- bildeter Mannschaften über Deutschland haben werde, wenn man bet uns bei der gezenwärtigen Rekruteneinstellung stehen bleibe.

3) Zur Zeit babe für den Mobilmachungsfall Frankrei 3- bis 400 000 ausgebildete Mannschaften mehr als Deutschland. Dies sei darin begründet, daß Frankreih über 25, Deutshland nur über 24 Jahrgänge verfügt und daß die jährlichen Rekruteneinstellungen bis auf die leßte Zeit in Frankreich höhere waren. Den ausgebildeten Erfsagreservisten in Deutschland (9 Jahrgänge, durchschniitlih je 19 600 Mann) ftehen in Frankrei 3 FIahrgänge hommes à disposition von je %5- bis 58 099 Mann gegenüber, welche dort s leßten 3 Jahren eine annäbernd gleihe Ausbildung erhalten

aben.

4) In Bezug auf Rußland warde ausgeführt, daß die Friedens- präsenzstärke desselben fic seit 18837 um rund 43 000 Mann, das jährlihe Rekrutenkontingent um etwa 20000 Mann vermehrt habe, Die Dienstpfliht im stehenden Heere und entsprehend auc in der Reichswehr sci um 3 Jabre erhöht. Es wurden die bei allen Waffengattungen stattgehabten Neuformationen aufgezählt und ins- besondere au auf die Bedeutung der Vermehrung der Reserve-Cadre- Bataillone hingewiesen,

erwesen, die Friedens- und Kriegsftärken von Oester- E h res Free Sialien wurden näher besprohen. Wolle man die gegenwärtigen Kriegsftärken von Frankreih und Rußland auf der einen, Deutschland, Oesterreich-Ungarn und Italien auf der anderen Seite si gegenüberstellen, so ergäbe sih für den Dreibund ein Meinderbestand von rund 650 000 Mann. i

Weiter erklärte der erste Vertreter der Militär- verwaltung: Da die Ueberlegenheit Frankreihs konstatirt sei, und

; mit jedem Jahre eine größere werden würde, fo halte er es für feine Pflicht, zu erklären, daß die jeßige Vorlage niht aus- reihen würde die Ungleichheit zu beseitigen, daß man vielmehr auf eine weitere Verstärkung unserer Rüstungen gefaßt sein müsse.

Wenn die bedeutende Ueberlegenheit für die Zukunft bei den Nahbarstaaten festgestellt sei, fo set es klar, daß wir niht die Hände in den Schooß legen können. E As :

Es fragt si, welchen Weg wir cinshlagen sollen. t:

Wir haben bisher sorgfältig nah beiden Seiten hingesehen, daß man dort keinen zu großen Vorsprung erlange, und darnach unsere Forderungen gestellt. Wie ih bereits in der ersten Sißung darauf hingewiesen habe, lagen Verhältnisse vor, welche dies gestatteten; mit dem Moment der Dur@führung des französishen Wehrgeseßes geht dies nicht weiter. Der bisherige Weg würde dazu führen, daß wir auch ferner neue Formationen erforderten, daß wir na einiger Zeit die großen Swlatßhtenkörper, die Divisionen und Corps Jufstellten, wie wir in Preußen dies eben gethan, in Bayern es angestrebt wird. Ich erachte für die Zukunft den Weg für uns

ezeigt, daß wir uns aus uns selbst heraus zu aller Kraft ent- E "welhe wir für die Entscheidungen zu erreihen fähig sind. Es ist die Konsequenz des Scharnhorft'schen Gedankens der allgemeinen Wehrpflicht, den er selbst in seinen Projekten gegangen ist: daß jeder Waffenfäbige auch zum Gebrauch der Waffen ausgebildet wird. Nun haben wir augenblicklich jährlich 11 500 Mann urüdgestellter Leute, außerdem etwa 209000 Mann bedingt *uszubildender aus der Gefammtzahl derselben für den Augenbli, wo drei Jahrgänge zur Verfügung stehen, also etwa 54000 Mann. Wir find in der Lage, diese sofort einzustellen, aber wenn wir solide ausbilden wollen, und das wollen wir, so müssen und fönnen wir nur \{rittweise vorgehen. Wir wollen uns nicht in die Breite ausdehnen, sondern den Zuschuß an Mannschaften wollen wir dem inneren Sebalt der Armee und der weiteren Entwickelung der einzelnen Waffen hinzufügen. Wir können aub aus Mangel an Ausbildungspersonal nur sehr srittweise vorgehen, sodaß wir auf längere Zeit hinaus abschnittsweise vorgehen würden, zuerst etwas s&neller, um den Vorsprung der Anderen ein wenig auêzugleihen; später kann nur in dem Prozentsaß fortgefahren werden, den die Zunahme der Bevölkerung ergiebt. Einzelheiten und Perioden kann ih nit angeben, es ift eine Grundlage, bei welcher jede Etappe mit Ihnen vereinbart werden muß, wenn die AUngelegen- heit an Sie herantritt; eine Grundlage, die noch gar keine feste Gestalt erhalten, bei welher vor Allem den verbündeten Regierungen noch gar feine Gelegenheit gegeben worden ist, Stellung dazu zu nebmen, Jedenfalls binden Sie si bei der jeßigen Vorlage noch in feiner Weise. Stellung zu der Sache kann nur genommen werden, wenn ein fertiges Projekt dasteht. * 5 :

Im weiteren Verfolg der Debatte erklärte derselbe: „Daß wir mit diesen 18 000 Mann nur einen ersten Schritt machen, geht {on aus der Begründung hervor. Bei diefer Forderung von 6000 Re- fruten mehr können wir unmöglich den Vorsprung decken, den Frank- rei bereits im Augenblick hat. Wir werden also mehr fordern müssen ; in welden Ctappen, läßt si zur Zeit niht bestimmen.“

Nachdem von einigen Mitgliedern der Kommission das Ersuchen an den Vertreter des Reihs-Schayamts gerihtet war, si über die allgemeine finanzielle Lage zu äußern, erklärte derselbe :

Der Bundesrath babe über den Nachtrags-Etat wegen der Be- soldungsverbefserungen beschlofsen: derselbe fordere 19 924 082 M, dacunter für Offiziere (und zwar nur für Stabsoffiziere nicht in Regtments-Commandeur-Stellungen, für Hauptleute und Premier- Lieutenants) etwa 4000000 # Ein weiterer _Nawtrags-Etat solle die finanziellen Konsequenzen des Militärgeseßzes eins{ließ- lich der einmaligen Ausgaben, sowie die bereits an ekündigten Forderungen für Uebungen mit dem neuen Gewehr und für militä- rishe Bahabauten enthalten. Letztere Zahlen könne er noch nit mittbeilen, da der Bundesratb noch keinen Beschluß gefaßt habe; die Forderung für Bahnbauten betrage aber niht 200 Millionen, fondern

weniger als den zehnten Theil diefer Summe. Die gesammten Nah- trags-Etats für 1890/91 würden sonach bei unveränderter Annahme der Vorlagen die Ausgaben des ordentlichen Etats um etwa 33 bis 34 Millionen steigern, nämlich der crste Nactrags-Etat ‘rund 5 000 009 6, der zweite (Gehälter) rund 20 000 090 F, die Militär- auégaben rund 8—9 000 000 J, dabei sei vorausgeseßt, daß, um die Matrikularbeiträge nicht noŸ böber zu belasten, die einmaligen Aus- gaben des dritten Nachtrags-Etats für dieses Jahr sämmtlih auf Anleibe verwiesen würden. / E E

Für die Dauer sei aber mit erheblich böheren Ziffern zu rechnen, nämli a. dem vollen Jahresbetrage an fortdauernden Ausgaben aus dem Militärgeses 18 0000009 #, b. bierzu die Besoldungsauf- besserungen 20 000 000 4, ec. Mebraufwand an Zinfen, und zwar wesentlich für bereits bewilligte, aber noch nit oder erst kürzlich be- gebene Anleißen etwa 8 000000 46, d. die Ausgaben für die Alters- und JInoalidenversorgung seien noch nicht genau zu über- schen. Für die ersten 3 Jahre verans{lage man sie auf etwa 7, 9, 13 Millionen, man könne also hierfür 10 000 000 6 anseten, e. für Ost-Afrifa enthalte bekanntlih der im Winter verabschiedete Etat ni@ts. Wenn man hierfür und f. für denjenigen Theil der einmaligen Ausgaben aus dem Militärgesetz, welche nah bisherigen Grundsäßen dem ordentlichen Etat zuzuweisen seien, etwa 4 000000 M anseßze, fo fomme man auf eine dauernde Erhöhung der fortdauernden Au?gaben von etwa 60 000 000 U s Ï j

Für die Deckung dieser Ausgaben im Etatdjahre 1890/91, theil- weise auch wokl noch im Jahre 1891/92, biete sch beim Fehlen anderer Quellen nur die Möalichkeit erhöhter Matrikularkeiträge. Das sei für die Einzelstaaten störend; es sei indessen zunächst wohl anzunehmen, daß die Bundesstaaten, wie dies in Preußen und Bayern der Fall sei, in ihre Etats die Säße der Bundesrathsvorlage cin- gestellt - hâtten, welche an Matrikularbeiträgen pro 1890/91 etwa 9 Millionen mehr in Aussicht genommen hatte, als der festgestellte Etat enthält. Dazu komme, daß das Etatsjahr 1889/90 für die Einzelstaaten sehr günstig abges{lossen habe. Der Etat für 1889/90 habe etwa 2813 Millionen an Ueberweisungen in Aus- sicht genommen. Diese Summe sei um etwa 73 Millionen über- schritten, welche den Einzelstaaten die erhöhten Lasten des Jahres 1899/91 erleichtern könnten. Allerdings sei es fraglich, ob auch im Etatsjahre 1890/91 die auf ctwa 2983 Millionen verans{lagten Ueberweisungen in ähnlihem Maße übecschritten werden würden, ausgeschlossen sei dies jedo nicht. Jene Mehrsumme von 73 Millionen im Jahre 1889/90 seßte si zusammen aus etwa 79 Millionen mehr bei Zöllen und Tabasteuer, 133 Millionen mehr bei den Stempelabgaber, abzüglich 19 Millionen Minderertrag der Branntwein- verbrauhéabgabe. Der Ertrag der letzteren dürfte sih heben. Bei den Stempelabgaben sei ein Zurückgeben wobl mögli®, da die hohen Einnahmen für 1889/90 hier den dbefonderen keine2wegs gefunden Verhältnissen des Börsenverkehrs entsprungen, auc die 2 Millionen aus der Súloßfreißeits - Lotterie in jener Summe enthalten scien. Die hohe Einnahme aus den Zöllen . sei zum Theil durch die Kornzölle hervorgerufen. Nun hâtten_ die ungünstigen deutschen Ernten der Jahre 1888 und 1889 den Import begünstigt, während das Jahr 1890 bisher bessere Aus- sichten biete. Auf der anderen Seite habe aber aub Ruß land 1889 eine \{lechte Ernte gehabt und der Stand des Rubels habe die Ausfuhr nicht begünstigt; es sei niht ausgeschlossen, daß eine Veränderung dieser Verhältnisse im Jahre 1890/91 den Korn- export Rußlands steigern und damit die Wirkungen einer besseren deutsden Ernte auf Verminderung der Zölle ausgleichen könne. Für das Jahr 1891/92 komme in Betracht, daß der Etat dieses Jahres ein Defizit von 1889/90 nicht zu decken habe,

mithin um etwa 20 Millionen besser ftehe, als der Etat für 1890/91. Auf die Dauer werde aber allerdings eine Mehrausgabe von jährlich 60 Millionen ohne Vermehrung der Einnahmen nicht gedeckt werden können. Daraus folge für ihn zu- nächst mit zwingender Nothwendigkeit, daß eine Verminderung der bestehenden Reichseinnahmen, etwa durch Abschaffung der Kornzölle, vom finanziellen Standpunkt aus unzulässig fei Die vorgeschlagene Reis-CEinkommensteuer würde ein Abweihhen von dem im Art. 70 der Reichêverfassung borgezeihneten Wege bedeuten und störend in den Haushalt der Einzelstaaten eingreifen. Auf welchem Gebiet nun eventuell die Mehreinnahmen zu suchen seien, vermöge er heute nit zu sagen, weil die vecbündeten Regierungen hierüber einen Beschluß noch nit gefaßt hâtten, er glaube, daß diese Mebreinnahmen wohl theils auf dem Gebiete der Reichseinnahmen, theils durch Reformen in den Einzelstaaten er erinnere an die Reform der Einkommen- steuer in Preußen zu beschaffen sein würden. Diese Fragen zu erörtern werde nah vorheriger Verständigung zwischen den verbündeten Regierungen Aufgabe der nächsten Reidétagssessionen sein. Ein soles Verfahren entsprehe auch durhaus der Retbtslage im Reich. Der Reichshaushalts-Etat gehe von den gemeinsamen Aitiaden aus. Au3gaben , deren Nothwendigkeit und Unauf\cieblihkeit Regie- rungen und Reichstag anerkannt hätten, müßten verfassungs- mäßig gedeckt werden, sei dies vom Reih oder durH Matrikular- beiträge. Ein Unterlafsen solcher Ausgaben aus finanziellen Gründen sei im Reiche nur dann geboten, wenn man die Meinung habe, daß dem deutschen Steuerzabler durch seine Gesfammtbelastung vom Reiche und den Einzelstaaten eine größere Last aufgebürdet werde, als er tragen könne. Dies treffe zur Zeit noch niht zu, wenn man die Steuerverbältnisse in Deutschland und in anderen Ländern ver» gleihe. Die Verschiebung der Erörterung etwaiger Steuer- reformen sei auch sachli® zweckmäßig. Nur unter ange- strengtester Arbeit und äußerster Anspannung der Kräfte der Beamten sei es möglich gewesen, die Nathtrags - Etats fertig zu stellen. Gleicbzeitig auch die Deckungsfrage gründlich zu be- arbeiten, sei unausführbar gewesen. Wenn man ferner z. B. an Ver- änderung der Zuckersteuer denken würde, so sei doch für eine derartige Vorlage die Entscheidung, welche der 1. August über das Zustande- kommen oder Nichtzustandekommen der Londoner Konvention bringen werde, von wefentlidem Einfluß. Endli habe man do, da Steuern auf Vorrath zu bewilligen vom Reichstag nit beliebt werde, mit Erörterung der Frag? vermehrter Steuern zu warten, bis das Maß des Bedürfnisses durh Reichstagsbeshlüsse feststehe.

Was zum Schluß die einmaligen Ausz3aben betreffe, so babe er binsichtlib der Möglicbkeit, die zu fordernden Anleibebeträge unterzu- bringen, feine ernsten Besorgnisse. Es sei viel von der angeblichen Schwierigkeit die Rede gewesen, welche die Begebung eines Betrages von 129 Millionen Reichs-Anleihe im Februar gehabt Haben solle ; die Zeiturgen hätten die Nachricht gebracht, der neue Bankpräsident sei bereits gezwungen gewesen, mit den Vertretern größerer Bank- häuser darüber zu verhandeln, wie es möglich sein werde, noch Reihs-Arleihe zu begeben. Dies sei nit rihtig. Der Präsident Koh habe nur das noch bestehende Konsortium, welches im Februar jene Anleihe übernommen habe, wegen der weiteren Ab- wickelung dieses Geschäfts versammelt, Richtig sei, daß von jenem den Bedarf dec Neichskasse auf eine Reibe von Monaten deckenden Betrag nur ein Theil sofort weiter begeben sei, während die über- nehmenden Häuser den Rest vorläufig behalten hätten. Diese Schwierigkeit der Weiterbegebung möge wohl darin mit ihren Grund haben, daß der inländische Markt in Folge der Konvertirungen momentan mit prozentigen Papieren ftark gefüllt sei, man könne daher wohl den Gedanken erörtern, ob man einen anderen Zinsfuß, 3 oder 4 9/0, wählen folle. Auf 4 prozentige Papiere arbeite ein Theil des Großfapitals zur Zeit hin, bei dem jeßigen Course 4 prozentiger Pae piere aber könne die Ausgabe 4 prozentiger Reichs-Anleihe nicht in Frage kommen. Selbst einem Pari-Course 3Lprozentiger Anleihe (und diese stehen noch über Pari) würde für 4prozentige ein Cours von 114—115 entsprechen, während der Cours zur Zeit nur 107 etwa betrage. Dieser niedrige Cours der 4prozentigen Anleihe habe vielleicht einen Grund in der Befürchtung einer Konvertirung ; er glaube nicht, daß für eine solhe im Reich zur Zeit ein Anlaß vorliege. Der dadurch zu erzielenden Zinsersparniß stehe die Rücksit gegenüber, daß das Reich trahten müsse, seinen Anleihen den Charakter von Anlagepapieren für ruhige Kapitalisten zu sichern, welche cin Interesse daran hätten, in dem Zinsgenuß, welchen ihnen der Ankauf gewährt habe, zu bleiben. Daß für folche siheren Anlagepapiere in Deutschland Abnehmer zu finden seien, bezweifle er nicht, und wenn es gelinge, damit einen Theil der ausländishen zweifelhaften Werthe, mit denen der deutsche Marft übershwemmt werde, zu verdrängen, so könne dies nur er- wünscht sein. i

Wenn die Nothwendigkeit der Vorlage von der Mehr- heit nicht bestritten werden FTonnte, so wurde von mebreren Rednern erklärt, man müsse mit Rücksicht auf die erörterte Finanz- lage Kompensationen zur Erleichterung der in der Vorlage ent- haltenen finanziellen und wirthschaftlien Mehrbelastungen fordern.

Als Kompensationen wurden bezeichnet :

1) Eine Verlängerung der Rekrutenvakanz sowie eine Vermehrung der Dispositiorsurlauber. E

2) Die Abkürzung der Dienstzeit beziehungsweise die Einführung der zweijährigen Dienstzeit für die Fußtruppen. e

3) Die Beseitigung des Septennats und die Einführung einer jährlichen Bewilligung durch den Reichstag. 5

Ein Mitglied ersuchte die Militärverwaltung, eine bestimmte Erklärung über ibren Standpunkt dieser hochwichtigen politischen Frage gegenüber abgeben zu wollen,

Nachdem der Herr Ron Lar in der Kommission erschienen war, äußerte er si dahin :

„Sachlihe Motive gegen die Vorlage seien nit in dem Maße vorgebracht, daß dieselbe daran scheitern könnte. Der gute Eindrudck, den er von den Aussihten der Vorlage zunäbst gehabt habe, sei seit den leßten Verhandlungen abges{hwäht und er sei nicht ohne Besorgniß. Die vom Kriegs-Minister angedeuteten Zukunftspläne hâtten sih zu düsteren Gestaltungen in der Bevölkerung verdihtet, und sei es deshalb nöthig, die Vorlage wieder mebr als das erscheinen zu lassen, was sie sei, Was über weitere Pläne gesprocen worden sei, sei aus der Absicht hervorgegangen, auf keinen Fall unwahr zu sein; es handele si aber dabei vorerst nur um s\chäßenêwerthe Ideen, von denen er selbst noch nit wisse, welche Stellung er dazu zu nehmen hätte, no@ weniger, welche die verbündeten Regierungen einnehmen würden. Man müßte jeden- falls vorher die finanzielle Seite der Sache erörtert haben; das Auf- bringen so großer Summen bringe aber viele Schwierigkeiten mit sich. Er und der Kriegs-Minister hätten nur ehrlich auftreten wollen. Die Aufregung im Publikum babe au die geplante Erhöhung, der Offiziersgebälter damit verknüpft, daß ießt ein „Soldat“ Reichs- kan¡ler sei; ihm aber habe weniger die militärische als vielmehr die finanzielle Seite der Sade Sorge bereitet. Er sei Übrigens bezüglich dieser Frage in von seinem Vorgänger gutgeheißene Pläne eingetreten. Also trage an dieser geplanten Erböbung nicht seine zu militärische Bildung die Schuld. Die Vorlage habe ihre Wurzeln in der Vergangenheit, in der Bildung zweier Armee-Corps und den Rüstungen der Nachbarn. Es sei auch nit nothwendig, Kompensationéforderungen an die jeßige Borlage zu binden. Es wäre fast verbreherisch von den verbündeten Regierungen, obne Noth neue Forderungen zu stellen. Sollte es aber später nothwendig werden, dann würde auch der Moment gekommen sein, in dem es Pflicht und taktishes Erforderniß für dieselben sein würde, sch ernstlich mit den Kompensationen zu beschäftigen. Das Septennat wäre von selbst dur- brochen, wenn vor Ablauf desfelben eine Vorlage käme, wie die vom Kriegs-Minister angedeutete. Niemand aber wisse, ob eine folhe kommen würde. Er glaube, daß die verbündeten Regierungen eine Abänderung des Septennats zur Zeit ablehnen würden; mehr empfehle s®&, dur eine Resolution ‘dadin gehende Erwägungen an- zuregen. Ebenso verhalte es sih mit der zweijährigen Dienstzeit, er könne Namens der verbündeten Regierungen nichts erklären, Der

Reichstag verliere nihts, ob er die Kämpfe früher oder später auf- nähme; die verbündeten Regierungen aber hätten ein fehr starkes Intereîse daran, die Vorlage jetzt bewilligt zu sehen. Das Ausscheiden des Fürsten Bismarck aus dem Reichsdienst habe Verhältnifse hinter - lafsen, die nit so siher seien, als zu der Zeit, da seine faszinirende Perfönlikeit noch§ vor der Welt stand. Immer habe man damit rechnen müssen, daß er einmal nicht mehr da sein würde, und daß die Uebergangszeit \{chwierige Verhältnisse bringe, war immer flar, warum aber wolle man jeßt die Schwierigkeiten ohne zwingenden Grund vermehren? Viele Dinge würden statt wie früher mit einem Ausrufszeichen, jeßt mit einem Fragezeihen behandelt. Die einfachsten Geschäfte fallen der Regierung jeßt oft \{werer; man sollte darum jeßt keine konstitutionellen Doktorfragen aufwerfen, die zu einer Krisis führen fönnten Haben si die Verhältnisse befestigt, so würde er einen ihm angebotenen Kampf mit Kampfesfreudigkeit aufnehmen; zur Zeit aber follte man die Situation niht \{wieriger machen, als sie es so wie so sei,“

Jn der Spezialdebatte wurde {ließlich die Vorlage in unveränderter Fassung mit 16 gegen 12 Stimmen an- genommen. Die Kommission empfiehlt dem Reichstage, au seinerseits die Genehmigung zu ertheilen und sodann folgende Resolutionen anzunehmen:

1) Die Erwartung auszusprechen, daß die verbündeten Regie- rungen Abstand nehmen werden von der Berfolgung von Plänen, durch welche die Heranziehung aller wehrfähigen Mannsthaften zum aktiven Dienst burthgeführt werden soll, indem dadurch dem Deutschen Reich geradezu unershwingliche Kosten erwahsen müßten.

2) Die Erwartung auszusprechen, daß die verbündeten Re- gierungen in eine etwaige weitere Vorlage Behufs Abänderung des Geseßes über die Friedenspräsenzstärke des Heeres unter Aufhebung der Fristbestimmung des Septennats das Etatsjahr als Bewilligungs- frist aufnehmen werden, während der Reichstag es si vorbebält, au bei sonstiger sich ergebender geeigneter Gelegenheit die Durhführung dieser Aenderung der Frist zur Geltung zu bringen.

3) Die verbündeten Regierungen zu ersuchen, eine baldige Hzrab- minderung der thatsählihen Präsenzzeit bei der aktiven Armee, sei es durch Verlängerung der Rekrutenvakanz, fei es durch Vermehrung der. Dispositions-Beurlaubungen eintreten zu lassen. i

4) Die verbündeten Regierungen zu ersuchen, die Einführung der geseulihen zweijährigen Dienstzeit für die Fußtruppen in ernstliche Erwägung zu ziehen.

Helgoland.

Es giebt Leute, die nach Helgoland reisen, um dort Zerstreuung und Vergnügen zu finden Sie fahren des Morgens nah der Düne hinüber. Im Fährboot unterhalten sie fh mit ihren Reisegefährten. Sie lachen und \cherzen; sie erklären dem Neuangekommenen die Flagge von Helgoland:

Grün ift das Land;

Weiß ift der Strand;

Roth ift die Kant”.

Das sind die Farben von Helgoland. Sie tragen Matrosenhemden, fliegendes Halstuch, weichen Hut, den Plaid auf der Schulter. Sie haben si für die kleine Reise sorg- fältig ausgerüstet und find in ihrer Art vollständig korrekt und fehlerlos. Sie wissen dies, und Selbstgefühl zeigt si in ihrer Haltung, in dem Kennerblick, mit dem sie das Dampfschiff mustern und den Flug der Moöôve verfolgen; in dem herablafsend vertrauli§-freundlihen Ton, in dem sie mit dem wettergebräunten, gelbhaarigen, vershmißt lächelnden Fischer, der sein Boot vermiethen will, einige Worte über den Zustand der Atmosptäre wechseln. Helgoland hat für se keine Geheimnisse! Sie kennen jeden Fußbreit der kleinen Insel und se sind, ih ihrer Ueberlegenheit bewußt, bescheiden stolz darauf. Wird das Wetter stürmisch, so ersheinen sie in Regenrock und wasser- dihten Stiefeln, und in thren Koffern befindet sch der Süd- Wester, der dem verblihersten Stadtgesihte ein wettertrozendes, männlihes Ansehen verleiht und den sie nur aus falscher Scham an den sfonnigen Tagen niht aufzusezen wagen. Es sind wahre Männer, diese jungen Leute! Man muß nur seben, wie kühn sie mit der Büchse auf der Shulter einhershreiten, um einen harmlosen Seevogel zu erlegen; wie sie bei ruhigem Wetter das kleine Segelboot zu steuern verstehen; und man muß sie hören, wie sie die Seekrankheit verhöhnen und die helläugigen Schenkmädchen beim Vornamen rufen und den berühmten Sonnenuntergang, oben auf der Klippe, als eine „alte Geschichte“, als abgeshmadt erklären. Sie lassen si herab, den Neuling „zum Sonnenurtergang“ zu führen und mawben ihm auf diese Weise gewiffermaßen die Honneurs ihrer Insel. Aber sie selbft sind über dergleihen Alltäzlichkeiten erhaben ; und während die Sonne in unbescreibliher Pracht in ein goldenes Feuermeer versinkt, stecken sie sich mit souveräner Gleichgültigkeit eine billige Cigarre an und blasen, dem versinkenden Stern den Rücken kehrend, die Rauhwolken in die klare Abendluft hinein. Auf der Düne, beim Bade sind sie ganz zu Hause. Sie wissen genau, wie lange man im Wasser bleiben darf, damit das Seebad niht {ädlich wirke; sie bezeihnen die Restauration als die „Giftbude“, und nah dem Bade breiten sie den Plaid am Ufer aus und ruhen dort in malerisher Stellung, mit sich und der Welt zufrieden, Glückliche Leute! und wie ih ibnen ihre harmlosen Vergnügen gönne, obgleich ih im Grund der Seele für dies vollständig zwecklose Komödiespielen, das der deutshen Jugend eigenthümlich ist, wenig Sympathie habe.

Das Mittags8efsen versammelt einen großen Theil der Helgoländer Gäste im Konversationshause. Dort werden die Unterhaltungen, die des Morgens früh bei der Ueberfahrt ihren Anfang genommen hatten, fortgeseßt. Man verabredet Segelpartien um die Insel, man giebt sih Rendez-vous auf der Kegelbahn, auf dem Tanzboden, am Strand. Die Aristokraten der Table d'hôte lassen Champagnerpfropfen knallen und die jungen, heirathsfäßigen Männer mustern \{chüchternen Blikes die jungen Mädchen und vice versa. Helzoland ift bekannt dafür, daß zahlreiwe Ehebündnisse dort ihren Ursprung genommen haben. Für gewöhnlihe „Flirtation“ eignet sih der äußerst solide Charakter der Helgoländer Badegesellshaft nur wenig. Na dem Essen findet Concert im Garten des Konversationshauses oder auf der Promenade am Strande statt; am Abend wird dann und wann Theater gespielt oder die fleine Kapelle, in der ih besonders einen Musikfus be- wundere, der sechs Instrumente bhandhabt, nämli: Pauke, Trommel, Casftagnetten, Triangel, Cymbal und Glasharmonika läßt #ch wieder hören. Die Mußk ist ganz gut, die Programine vorzüglih und der Direktor, dem nur {wae Mittel zur Verfügung stehen, ver- dient für das, was er damit leistet, die vollste Anerkennung. Von Zeit zu Zeit wird auch getanzt. An diesen feierliben Ballabenden wird im großen Saale nihtSgerauht. Für gewöhnlich jedoch ist die Luft desselben dur zahlreihe Glimmstengel in niht sehr angenehmer Weise verdorben. Aber die Damen, die den Saal mit ihrer Gegen- wart beehren, sind durch Vater, Mann, Bruder oder Sohn an Taback- dâmpfe jeder Art gewöhnt worden und die allgemei:ic Heiterkeit wird dur die \{lechte Luft in keiner Weise gestört. Zwischen 10 und 11 Ubr zieht sih die ganze Gesellshaft zurück und bald darauf herrscht tiefe Ruhe auf der Insel, eine Rube, von der man si in keiner Stadt, vielleiht mit Ausnahme von Venedig, auch nur einen Begriff machen kann. Wie ein Wiegenlied dem müden Menschen gesungen ballt vom Fuße der Klippe die mäthtige, tiefe Stimme des Meeres empor, alles Andere liegt im tiefsten Frieden. Diese vollständige, herrliche Ruhe ist das Eigenthümliche und ist das Schöne von Helgoland. Sie bietet dem von des Lebens Lärm Ermüdeten seltene Erquickung. :

ür denjenigen, der während kurzer Feiertage nicht Vergnügen und Be sondern Ruhe und Erholung sucht, ist die kleine, baumlose Insel, auf der kaum eine Blume gedeiht und nur das prosaishste der Gemüse, die Kartoffel, wächst, ein Garten von Eden. Er findet dort in dem wenig belebten Theile der Stadt, oben auf der

Klippe, mit Leichtigkeit eine helle, freundliche, reinliße Wohnung.