1890 / 155 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 28 Jun 1890 18:00:01 GMT) scan diff

niht Alles im Geseß vorsehen, wohl aber leiht Schaden dur das Gesetz anrichten. j E E

Abg. Freiherr von Pfetten: Mein Antrag will ja nur eine Ausnahmebestimmung treffen. Bei s{hwierigen Sachen wie bei der Jntcrpretation von Verträgen, bei einer s{hwierigen Beweisführung oder in dem Falle, wo éine rehtskundige Partei einer rechtsunkundigen gegenübersteht, ist es wünschens- werth, dem Vorsißenden das Recht einzuräumen, darüber zu entscheiden, ob der Fall die Zulassung von Rechtsanwalten angezeigt erscheinen läßt. Wird diese Ausnahmebestimmung abgelehnt, so kann man den §. 25a überhaupt nit in das Geseg aufnehmen.

Unter Ablehnung der Anträge Bachem und von Pfetten wird der §. 25 a. unverändert angenommen, ebenso ohne wesentlihe Debatte die S8. 26 bis 63.

Nach §. 63 a. sollen die Gewerbegerichte verpflichtet sein, Gutachten auf Ansuchen der Staatsbehörden abzugeben; zur Vorprüfung können sie Ausshüsse aus ihrer Mitte bilden.

Abg. Ebert y beantragt, daß die Ausshü}sse nicht bloß zur Vorbereitung der Gutachten gebildet werden können, son- dern daß sie auch die Gutachten sofort abgeben können, damit nit erst das Plenum des Gewerbegerichts, welhes in großen Städten sehr umfangreich sein könne, in Bewegung geseßt werden müsse.

Der Antrag wird angenommen.

Zum 8. 69 (Aus\{luß der Militär: und Marineverwal- tuns) erkiärt Abg. Dr. Hirs, daß die Freisinnigen diesem Aus- {luß nah wie vor widersprechen, aber wegen der Aussichts- losigkeit auf die Einbringung von Anträgen verzichten.

Nah §. 72 soll die B R der Jnnungs\chieds- gerihte durch die Zuständigkeit eines Gewerbegerihts nit ausgeshlossen werden. f

Abg. Auer beantragt, diesen Paragraphen ganz zu streichen. Denselben Antrag stellt Abg. Eberty, welher für den Fall der Ablehnung die Jnnungsgerichtsbarckeit auf die Streitig- keiten der Arbeitgeber mit ihren Lehrlingen beschränken, die Sang des Jnnungsschiedsgerihts durch Erhebung der

lage vor dem Gewerbegeriht ausgeschlossen wissen will. Die Berufung gegen die Entscheidungen der Fnnungsschiedsgerichte soll an das Gewerbegeriht und, wo ein solches nicht besteht, an die ordentlihen Gerichte gehen. Falls dies abgelehnt werden sollte, also falls die Jnnungsschiedsgerichte in vollem Umfange bestehen bleiben, soll die Berufung ebenfalls an -das Gewerbegericht bezw. an die ordentlichen Gerichte gehen.

Abg. Eberty: Mein Antrag is nicht von Antipathie gegen die Jnnungen eingegebèn und g auch nicht vom Standpunkt einer einzelnen Partei aus, sondern allein vom Standpunkt der Zweckmäßigkeit und von Rücksichten auf das Wohl der betheiligten Arbeiter. Hr. Miquel hat nah seinen reihen Erfahrungen mit Recht die jeßige Bestim- mung der Vorlage als ein privilegium odiosum der Jnnungen bezeihnet, das andererseits die größte Unzufriedenheit in weiten gewerblichen Kreisen hervor- rufen müsse und das drittens die ganze Jnstitution der Gewerbegerihte - desorganisirt. Wenn Sie wünschen, daß dieses Geseg mithilst, den großen Riß zwischen Arbeitern und Arbeitgebern zu überbrücken, dann können Sie nihts Besseres thun, als eine einheitliche Kompetenz des Gerichtshofes zu \{haffen. Die Absiht der S{onung der JInnungsgerihte dieselben sind im Reichstage stets nur mit anz geringer Majorität angenommen worden muß federleiht wiegen gegenüber den s{hädlihen Wir- kungen, welche diese Bestimmungen hervorrufen müssen. Eine ungeheure Verwirrung über die jedesmalige Kompetenz eines Ynnungs: oder Gewerbegerihts müßte die nothwendige

onsequenz sein. Jedem, der eine Klage in Gewerbesachen anbringt, muß es unbeschränkt bleiben, sie beim ordentlichen Gericht anzubringen. Für denjenigen, der gezwungen ist, vor den Fnnungen Recht zu nehmen, ist die Entscheidung nur eine vorläufige. Ob eine sofortige oder nur eine vorläufige Ent- scheidung erfolgt, hängt rein von dem Zufall ab, ob die Klage an ein Jnnungsgericht oder an ein Gewerbegericht kommt. DieEntschei- dung der Jnnungsgerichte unterliegt der Nachprüfung durch den ordentlihen Richter; wo das der E ist, dauert der Prozeß niht Wochen, jondern Monate. Fh empfehle deshalb auf das Dringendste, der Partei wenigstens die Möglichkeit zu lassen, diejenige Gericht? barkeit anzugehen, die ihr rasch Recht \chafft und weit mehr Garantien giebt. Es wird Niemand dann im Zweifel sein, welche Vans er anrufen soll. Es ist ja bekannt, wie die Bann egung des Fnnungsgerihts zu Stande kommt. Fast alle Versammlungen der Gesellen zur Wahl für dieselben waren in Berlin vergeblich, und es bedurfte erst des Eingreifens der Regierung, um eine Wahl zu Stande zu bringen. Schon bei den Wahlen zum Jnnüngsschiedsgericht wird die Rechtsgleichheit der Parteien außer Acht ge'afsen, Die Einführung der Berufung vom Fnnungsgeriht an das Gewerbegeriht will Denen, die gezwungen sind, an das Innungzgericht zu gehen, wenigstens die Möglichkeit geben, nach- dem dieses gesprochen, zu s{hneller endgültiger Entscheidung zu kommen, Durch Annahme meines Antrages werden Sie weiten Kreisen die Wahl lassen, an welches Gericht sie gehen wollen. Sie werden die Jnnungen in ihrer Prärogative nah keiner Richtung hin schädigen und werden für die Einheit- [lichkeit der Jurisdiktion, deren Bedeutung viel zu wenig ge- {äßt wird, sorgen. Fassen Sie keine Beshlüsse, von denen man nachher sagt, der Reichstag hat zwar einen Geseßentwurf über die Gewerbegerihte gemaht, derselbe ist aber nichts als eine Begünstigung der Jnnungen.

Abg. Bachem hält es für fals, die erst vor wenig wahren cingerihteten Fnnungsschiedsgerichte jeßt {hon wieder zu beseitigen, man müsse ihnen Zeit lassen, si erst zu be- währen, er bitte deshalb, bei den Beschlüssen zweiter Lesung stehen ju bleiben.

_ Abg. Meßner: Die Jnnungen haben allerdings bisher nit besonderen Erfolg gehabt; sie sind niht im Stande ge- wejen, den Verfall des Handwerks aufzuhalten. Jh bin des- Wi niht ein so begeisterter Anhänger des §. 72,

enn i L O denselben aufreht zu er- halten biite, jo geschieht es, weil die Rechtsprehung in den Fnnungen konzentrirt bleiben muß, wenn fie über- haupt lebensfähig sein soll. Jn kleineren Städten hängen die Gesellen mit Lust und Liebe an den Innungen. Br, Eberty scheint nur aus seinen Erfahrungen in Berlin zu schließen. Eine gewisse Kraft muß in dem §. 72 doch ent- halten sein, wenn gerade diejenigen Parteien, die keine Freunde der Jnnungen sind, dagegen eintreten. Die Beschlüsse zweiter Lesung sind wohl niht so {hwer autführbar, wie Hr. Eberty es darstellt, sonst würde wohl in der Kommission Und im Plenum die Mehrheit sih niht dafür ausgesprochen haben.

Abg. Grillenberger: Dieses Gesey enthält eine solche Anzahl fondexbarer Bestimmungen, daß sie niht etwa bloß von den Arbeitern nicht werden begriffen werden. Der Abg. Eberty hat bereits auf die Zerfahrenheit in der Recht- sprehung hingewiesen, welche dur diese Bestimmungen hervor- gérufen wérde. Es wird richt bloß die Einheitüichkeit des ge- werblichen Rechtswesens überhaupt gestört, es wird auch einfach von der Laune einer verschwindenden Minorität von „znnungs- brüdern abhängen, ob man überhaupt eine Recht)prehung auf gewerblihem Gebiet haben wird. Es kann jeden Tag die Zuständigkeit der Schiedsrichter wechseln. Die verbündeten Regierungen können unmöglih dieses Gesey mit diesem Paragraph annehmen, weil diese Bestimmungen absolut un- durhführbar sind. Unser Antrag ist ja aussihtslos. Es war ein wahres Gaudium zu sehen, wie Konservative, Centrum und vor allen Dingen die gewerbefreiheitlihen Manchestler oder staatssozialistishen Freihändler und Schutzöllner, die Nationalliberalen Hand in Hand und kaltlächelnd unsere Anträge niederstimmten. Diese neue Kartellmehrheit bot einen reizenden Anblick. Wir wollen sehen, ob es die Nationalliberalen fertig bringen, au für diesen Paragraphen zu stimmen. Der E Megner giebt zwar nicht viel auf diesen Paragraphen, um jo vorsihtiger müssen wir sein. Mit einer solhen Bestimmung ist das Gese für die Arbeiter werthlos.

. 72 wird unter Ablehnung aller Anträge nach den Be- \hlü)sen zweiter Lesung angenommen. ;

Nach §. 72a jollen die bestehenden Gewerbegerichte Bs Rheinland und in Gla otpringens von dem Geseß unberührt bleiben, wenn sie sih in Bezug auf ihre Zusammenseßung 2c. den Vorschriften dieses Geseßes anbequemen.

Abg. Porsch beantragt, den §. 72a dahin zu fassen, daß die bestehenden Gewerbegerichte zum 1. April 1892 aufgehoben werden sollen, wenn sie sich niht den Bestimmungen dieses Geseßes in Bezug auf die Zusammensezung (gleiche Zahl der Beisißer aus beiden Klassen) aefügt haben.

Abg. von Cuny \hließt sih diesem Antrage an, beantragt aber seinerseits, um alle Zweifel auszuschließen, hinzuzufügen, daß bei Anpassung an die Vorschriften des Gesezes die Zu- ständigkeit diejer Gewerbegerichte in vollem Umfange aufrecht erhalten werden soll. Der Antrag Tuzauer, wonach die Gemwerbegerichte sfich auch den Bestimmungen über den Vor- sißenden, daß derselbe weder Arbeiter noch Arbeitgeber sein joll, unterwerfen sollen, ist seiner Meinung nah unzweck- mäßig, denn gerade die Vorschrift, daß ein Arbeitgeber Vor- sißender sein soll, wird von den rheinischen Gewerbegerichten als ein großer Vorzug betrachtet. /

Abg. Tugtzauer: Wenn man hier ein Geseß im Jnteresse der Arbeiter erlassen will, muß man doch den Wünschen der Arbeiter selbst Rechnung tragen. Es is aber gegen den Wunsch der Arbeiter, daß in dem Gewerbegericht die Arbeit- geber den Vorsig führen können, wie es nach dem Antrage von Cuny der Fall sein wird. Mein Antrag bezweckt das Gegentheil, daß die rheinischen Gewerbegerihte sfich den Be- stimmungen dieses Geseßes auch in dieser Beziehung an- schließen sollen.

S. T2 a wird unter Ablehnung des Antrages Tutauer in der assung der Anträge von Cuny-Porsh angenommen; desgl. ohne Debatte die lezten 88. 73 bis 76.

Damit ist die dritte Berathung des Geseßentwurfs er- ledigt; die Gesammitabstimmung wird- ausgeseßt, da der Abg. Ah a (Berlin) gégen die sofortige Abstimmung Widerspruch erhebt.

Schluß 41/2 Uhr.

Der dem Reichstage zugegangene Entwurf eines Geseges, betreffend die Feststellung eines dritten Na ch- trags zum Reihshaushalts- Etat für das Etats- jahr 1890/91 lautet:

„Der diesem Gese als Anlage beigefügte dritte Nachtrag zum Reichshaushalts-Etat für das Etatsjahr 1890/91 wird in Ausgabe auf 73283 333 M, nämli auf 8409595 Æ an fortdauernden und auf 64 873738 # an einmaligen Ausgaben des außerordentlihen Etats, und in Einnahme auf 73283 333 M festgestellt und tritt dem durch das Geseß vom 1. Februar 1890 (Reichs-Geseßbl. S. 25) festgestellten Reichshaushalts-Etat für das Etatsjahr 1890/91 hinzu.“

Den Anlagen entnehmen wir Folgendes:

Von den in dem vorgenannten Gesetzentwurf erwähnten for t- dauernden Ausgaben entfallen auf die Verwaltung des Reihsheeres für Preußen und die übrigen Bundesstaaten aus- \{ließlich Bayern im Ganzen 7 436 776 ; davon auf die Militär- geistlihkeit 290 4; auf höhere Truppen-Befehlshaber 5274 (; auf das Ingenieur- und Pionier-Corps 31 524 4; auf Geldverpflegung der Truppen 3718 889 #4; auf Naturalverpflegung 1 909 692 4; auf Bekleidung und Ausrüstung der Truppen 446 765 4; auf Gar- nifons-Verwaltungs- und Serviswesen 660 795 #4; auf das Militär- Medizinalwesen 51 638 #;' auf die Verwaltung der Traindepots und die Instandhaltung der Feldgeräthe 10800 #{; auf Ver- pflegung der Ersaß- und Reservemannuschaften u. \. w. 25800 #; auf, den Ankauf von Remontepferden 158 214 4, auf die Verwaltung der Remontedepots 33 980 #4, auf Reisekosten, Tagegelder, Vorspann- undßCTransportkosten 40700 4, auf das Militär - Erziehungs- und Bildungswesen 9509 4, auf Artillerie- und Waffenwesen 294 350 4, auf den Bau und die Unterhaltung von Festungen 90 A, auf Wohnungsgeldzushüsse 37 816 #, und auf Unterstüßungen an afktive Militärs und Beamte 650 # Die außerdem für das bayerische Militär-Kontingent auf Grund des Bündnißvertrages mit Bayern vom 23. November 1870 bemessenen Ausgaben berechnen sch auf 972819 Æ, sodaß si die Gesammtsumme der für die Verwaltung des Reichsheeres erforderlihen fortdauernden Ausgaben auf 8 409 595 H stellt.

Von den einmaligen Ausgaben kommen im außer- ordentlichen Etat auf die genannte Verwaltung für die Ver- vollständigung des deutshen Eisenbahnneßes im Inter- esse der Landeêvertheidigung 10 305 000 A und zwar sollen nach- stehende Ergänzungéanlagen vorgenommen werden: Die Herstellung zweier Geleise auf den Strecken Lissa—Posen, Neunkirhen—Sthleif- mühle—Saardamm und Ruhnow—Neustettin—Koniß; die Herstellung von besonderen örtlihen Anlagen (Ladevorrihtungen, Kreuzungsgeleise U. \. f.) an verschiedenen Punkten; der Umbau der \hiefen Ebene zwischen Neuenma:rkt und Marktshorgast und der Bau einer festen Brücke über die Weichsel bei Fordon im Zuge einer preußischerseits geplanten Bahn von Cordon über Kulmsee etwa nah der Station Schönsee der Thorn-Insterburger Eisenbahn. Von den weiteren Ausgaben kommen auf Preußen an besonderen Zulagen u. \. f. 9976 225 #4; für das Magazinverwaltungswesen 14500 #4; für Bekleidungs- und Ausrüstungswesen 3 612 242 4; für das Garnisonverwaltungs- wesen 2375 0009 M4; für das Militär-Medizinalwesen 291 000 4; für das Trainwesen 1285 500 4; für das Remontewesen 4 679 250 4; für Uimnzugs- und Transportkosten 498000 Æ; für das Militär- Erziehungs- und Bildungswesen 1250 4; für Artillerie- und ens wesen 15710341 Æ#; für das Ingenieur- und PionierWesen 180 000 4; mithin zusammen 38 623 308 „G Dazu treten noch für Garnisonbauten u. \. w. in Elsaß-Lothringen 4 774 700 4, sodaß si der Gesammtantheil Preußens an den einmaligen Ausgaben im guperor tent Gen Etat auf 43 398 008 e stellt. Für Bayern be- rewnet {ih der Antheil für die gleihen Zwecke wie in Preußen auf

‘wir es an

5 514 045 A; für Württemberg auf 1463 650 A und für Sasen auf 2065525 M u eisernen Vo:schüssen für die Verwaltung des Reichëheeres sind außerdem 1 877 510 Æ erforderlich.

Von der Reihs-Post- und Telegraphenverwaltung werden an einmaligen Ausgaben im außerordentlichen

Etat 1250000 Æ zur Herstellung einer unterirdishen Telegraphen-

linie von Hof über Chéznniß bis Dresden verlangt, nahdem der bayeris&en Regiecung von dem dortigen Landtage bereits die Mittel zur Herstellung einer derartigen Linie von München bis Hof be- willigt worden sind. i

Die Gesawmtsumme der einmaligen Ausgaben bcträgt somit 64 873 738 M, welche dur eine Anleihe gedeckt werden soll, während der Betrag der fortdauernden Ausgaben in Höhe von 8 409595 # durch Matrikularbeiträge aufgebracht werden foll.

Neuere Fortschritte der wissenschaftlichen Elektrizitäts- lehre.

Von Professor Dieterici in Brezlau.

Die außerordentlich vielseitigen Anwendungen, welche heut im wirthschaftlichen Leben von der Elektrizität gemacht werden, bringen eine ungeheure Fluth von tehnishen Entdeckungen mit sich. Wohl keine Naturkraft, welche je nah ihrer wissen- schaftlihen Erforshung Eingang in das praktishe Leben ge- funden, ist mit einer solchen Lebhaftigkeit und Schnellig- keit in ihren Anwendungen entwickelt worden, wie der Elektrizität in den leßten zwanzig Jahren beobahten konnten -und noch jeßt beobachten; denn jeder Tag fast bringt neue Formen der technishen An- wendung, die den Ansprüchen des wirthschaftlihen Lebens zu genügen streben, und wohl niht mit Unrecht hat der größte Förderer der Elektrotehnik, Werner von Siemens, das kom- mende Zeitalter als das der Elektrizität bezeichnet im Gegen- saß zu dem jeßigen Zeitalter des Dampfes.

Hinter diesem rauschenden Treiben der {nellen Ent- wickelung der Elektrotechnik geht die wissenshaftlihe Erforshung des Wesens der Elektrizität ihren ruhigen methodishen Gang. Hier begegnen wir nicht jener überhasteten, dur das Streben nach materiellem Gewinn bedingten Entwickelung, sondern in sorgfältigem systematischen usammenarbeiten be- theiligen sich die Forscher aller Länder an der Lösung des großen wissenschastlihen Problems. Nur selten wird dieser langsame Gang unterbrohen durch geniale Entdeckungen ein- zelner Forscher, Entdeckungen, die dann allerdings Riesenschritte bedeuten, die einerseits geeignet sind, die nachfolgende Forshung in neue Bahnen zu lenken und ihr neue Probleme zu stellen, andererseits shon erforshte, aber theils unvollkommen theils falsch verstandene Thatsachen richtiger zu erklären im Stande sind.

Einen solchen Riesenschritt hat die wissenschaftliche Elektrizitätslehre in den leßten Jahren gethan; wir verdanken ihn den Untersuchungen von H. Herz, jeßt Professor an der Universität in Bonn, über die Ausbreitung der elektro- dynamishen Wirkungen.

Es soll versucht werden, den Sinn und die Bedeutung dieser Entdeckungen in Kürze hier darzulegen.

Wenn ein Leiter der Elektrizität, etwa ein gerade aus- feine metallisher Draht, von einem ua Strome

urhflossen wird, so bemerken wir an ihm wesentlihe Ver- änderungen. Zunächst wird derselbe warm und die in ihm entwickelte Wärme kann bei hinreichender Stärke des Stromes so weit gesteigert werden, daß der Draht zum Len fommt. Jn unseren Glühlampen begegnen wir diesem Phänomen; in den in ihnen enthaltenen Kohlenfäden bringt der elektrishe Strom eine so große Hitze

ervor, daß der Faden zur Weißgluth und damit zum euhten gebraht wird, Wir müssen uns zur Erklärung dieses Vorganges vorstellen, daß die Elektrizität sich im Leiter mit einer gewissen Reibung bewegt, daß diese Reibung gegen die Molekulen des Leiters so stark werden kann, daß ebenso wie bei der Reibung der Axen der Räder eines Eisenbahnwagens in ihren Lagern, eine Wärme entwickelt wird, hinreihend, um ein Glühen hervorzubringen. Die besprohene Erscheinung is also eine Wirkung des eleftrishen Stromes in seiner Strombahn, in den vom Strome durflossenen Leitern. Mit diesem Phänomen haben die weiter zu besprehenden Entdeckungen von ders jedoch Nichts zu thun, und das ist von vornherein klar festzuhalten, um nicht die vielfah fälshlih ausgesprochene Anshauung auf- fommen zu lassen, als sei durch die neuen Entdeckungen das Wesen des elektrischen Stromes erklärt.

Außer der besprochenen Wirkung in * der Strombahn En wir aber auch außerhalb derselben Wirkungen wahr, und diese zeigen sih, wenn wir in die Nähe des vom Strom durchflossenen Leiters einen Magneten bringen. Es wird dann der Magnet aus seiner Ruhelage abgelenkt. Erseßen wir den Magneten dur einen zweiten Leiter der Elektrizität, also wiederum durch einen gerade ausgespannten Draht, welcher aber niht von einem Strom durchflossen ist, so bemerken wir troßdem in diesem zweiten Leiter jedesmal dann eine Be- wegung von Elektrizität, wenn in dem ersten Leiter Shwan- kungen in der Stärke des ihn durchfließenden Stromes hervor- gebraht werden, also dann, wenn im ersten Leiter plößlich der eleftrishe Strom unterbrochen wird, oder wenn er plößlich wieder zu strömen beginnt. Troßdem also der zweite Leiter von dem ersteren dur eine beträchtliche Luftstrecke getrennt, ein direkter Uebergang der Elektrizität also völlig unmöglich ist, zeigt ih do stets ein eleftrisher Strom im zweiten Leiter.

Allerdings tritt diese Bewegung der Elektrizität im zweiten Leiter nur momentan auf und dauert nur so lange, als die erregende Stromshwankung im ersten Leiter andauert ; sie be- steht niht, während der Strom in diesem konstant fließt, aber ae fann sie bei hinreichender Länge der beiden Drähte fräftig genug werden, um zwischen den beiden zusammen- gebogenen Enden des zweiten Drahtes Funken von beträcht- licher Länge hervorzubringen. Dasjenige, was wirkt, ist also offenbar die erste Fluth des beginnenden und die keßte des abfließenden Stromes.

Das geschilderte Phänomen if dem Physiker bekannt unter dem Namen der Fnduktion; die in der Hand eines jeden Mediziners si befindenden Jnduktionsapparate, bei denen die auf einander wirkenden Drähte e Rollen A werden, sind Beispiele der praktischen Verwerthung der Jnduktions- wirkungen. |

Bleiben wir bei dem einfachen Bilde zweier neben einander ausgespannter Drähte, so tritt die Frage auf, wie kommt es, daß’ sich cine Wirkung vom ersten auf den zweiten Draht äußert ? geht diese Wirkung momentan vor e oder gebraucht sie eine gewisse Zeit, um die Entfernung vom ersten zum zweiten Draht zu durchmessen ? breitet fie sich nach allen Richtungen rings

um den ersien Draht gleichmäßig aus, oder bevorzugt sie be- stimmte Richtungen? pflanzt sie sich gradlinia, etwa wie das Licht, fort oder nicht? ift ihre Richtung beeinflußt durch die Natur des Zwischenmediums, also der Luft oder anderer Stoffe oder nich:? Kurz, es tritt die Frage nah dem Vo-:- gange der Fortpflanzung der Jnduktionswirkungen auf.

Diese Fragen durch finnreihe Experimente klar gelegt zu haben, ist das Verdienst von Herß; ihm verdanken wir einen klaren Einblick in die Mechanik der Fortpflanzung der JIndufktionswirkungen. Gestüßt auf seine Entdeckungen können wir heut ausfprechen, daß diese Wirkungen in genau derselben Weise sich durch den Luftraum fortpflanzen, wie das Licht.

Die aufgeworfenen Fragen waren -niht neu, vielmehr hatten sie hon seit Entdeckung der Jndufktionsströme, also seit mehr als einem Menschenalter, das Nachdenken der Physiker in Anspruch genommen, und namentlih war es Faratay, der ohne jede mathematische Ueberlegung, lediglih gestüßt auf eine staunenswerthe intuitive Anschauung, vorhergeahnt hatte, daß die Jnduktionswirkungen si ebenso ausbreiten, wie das Licht. Die Anschauung Aurabiy s wurde allerdings von seinen Zeit- genossen als eine underlichkeit betrachtet, und dieselbe würde in das Reich der Phantasie verbannt geblieben sein, hätte niht ein Mann von derselben Tiefe und Selbständigkeit der Einsicht, der zugleich mit hervorragendem mathematischen Sgarffinn begabt war, dieselbe hervorgezogen. Dieser Mann war 5. Clerk Maxwell. Mit großer Kühnheit machte er die Vorausseßung daß der Alles erfüllende Lichtäther der Träger der JInduktionswirkungen sei, und stellte die F1age, welhe Eigenschaften müßte dieser haben, damit er alle die Jndufttionswirkungen fo vermittele, wie wir es beobahten. Die mathematishe Analyse ergab, daß die- selben Eigenschaften, die wir dem Aether beilegen müssen, damit er die Lichtshwingungen übertrage, auch hinreichend sind, um die Erscheinungen der Jnduktion zu erklären. Eine einzige Stüße erhielt diese Theorie dur die Erfahrung.

Die Jnduktionswirkung des ersteren induzirenden Drahtes auf den zweiten tritt, wie wir oben bemezrkten, nur auf bei Beginn des Strömens oder beim Aufhören, also bei einer Aenderung des elektrishen Zustandes des induzirenden Drahtes; diese Aenderung is bedingt dur Be- wegung der Elektrizität, und die Bewegung geschieht mit einer gewissen Geschwindigkeit. Jn die Wechselwirkung des ersien auf den zweiten Draht tritt also als mitbestimmend eine gewisse Geschwindigkeit auf, und diese ließ sich aus der Stärke des wirkenden Stromes und aus der ebenfalls der Messung zugänglichen Stärke des im zweiten Leiter hervor- gerufenen Stromes berehnen. Sie ergab sich als eine Ge- shwindigkeit von außerordentlicher Größe, und zwar gleich der Geschwindigkeit des Lichts, wie wir diese aus astronomischen, wie auch optishen Beobachtungen ermitteln können.

Aber troy dieser auffälligen Uebereinstimmung blieb die Faraday-Maxwell'she Theorie ein Phantasiegebilde; fie glih einer Brücke, welhe zwei weit auseinanderliegende Gebiete, das des Lichts und das der Elektrizität zu verbinden strebte; aber die Spannung dieser Brücke blieb zu groß, es fehlten, wie Herß es ausdrüdckt, die Strebepfeiler, welche in der Mitte die Brüce stüßen.

Diese Pfeiler zu bauen, gelang Herz mit einem ver- hältnißmäßig sehr einfahen Werkzeug. Er beobachtete nämlich, daß in dem zweiten Drahte dann die Bewegung der Elektri- ität besonders stark wurde, wenn man ihm eine ganz be- Airanite, je nah den Versuchsbedingungen abzumessende Länge ab; die Elektrizitätsbewegung zeigte sich in ihm dann jo rästig, daß, wenn wir den Draht zu einem Kreise zusammen- biegen und die Enden einander nähern, zwischen diesen Enden

unken übergehen; allerdings Funken von Ne T pes

einheit, von nur hundertstel Millimeter Länge, aber dennoch deutlich sihtbar im verdunkelten Zimmer. Diese Beobachtung erinnert unmittelbar an die in der Akustik als Resonanz bekannte Erscheinung. Nehmen wir eine aus- gespannte Saite von beliebiger Länge und stellen sie an dem einen Ende eines Zimmers auf, während an dem anderen eine Scallquelle zum Tönen gebracht wird, so wird diese Saite dann tönen, wenn die erregende Schallquelle genau den Ton angiebt, auf den die Saite abgestimmt ist. Ganz analog zeigt asen elektrisher Resonator dann Funken, wenn seine Länge genau abgestimmt ist auf die elektrischen Oscillationen, welche wir in dem ersten Draht durch periodishes Deffnen und Schließen des Stromes hervorbringen. eir A1 :

Dieser Resonator ist unser Werkzeug; mit ihm führen wir dieselben Versuche, wie Herß, aus. 10 2

Wir bringen ihn zunächst in verschiedene Entfernungen vom ersten Draht und bemerken, daß er auch in Entfernungen von 5—10, ja 20 m .resonirt, und dabei erweist es fih als gleichgültig, ob wir nah vorn oder hinten, nah oben oder unten vom ersten Draht uns entfernen. Also die Ausbreitung der Wirkungen erfolgt nah allen Seiten hin, sie bevorzugt nicht eine bestimmte Richtung. | j

Wir bringen zwischen den ersten und den zweiten Leiter eine Wand, schließen etwa eine Thür, die Wirkung is unver- mindert da; wir schieben ein dünnes Metallbleh vor, die Wirkung ist aufgehoben; wird der Versu mit Wänden aus verschiedenen Materialien wiederholt, so zeigt sich, daß alle diejenigen Stoffe, welche Nicht-Leiter für die Elektrizität sind, die Wirkung hindurhlassen, während alle Leiter die Wir- kung vernichten. | i

"Gi fragen wir weiter, heben die Metalle die Wirkung auf, weil sie dieselbe absorbiren, wie etwa eine undurhsihtige Substanz das Licht absorbirt, oder lassen sie die Wirkung nicht hinter sih gelangen, weil fie, wie ein Spiegel, dieselbe reflek- tiren? Wir mathen den entspre enden Versuch und sehen, daß die Metalle wie ein Spiegel wirken, der die elektrische Wirkung in andere Bahnen lenkt, und zwar reflektiren sie die Wirkung unter dem gleihen Winkel, unter dem sie einfällt. Wir beobachten dasselbe Geseg der] Reflexion, wie beim Licht.

Diese Beobachtung führt uns ofort einen großen Schritt weiter : wir stellen tone elektrische Tonquelle, unseren ersten Draht an das eine Ende des Zimmers, überziehen die gegen- überliegende mit Metallblech und beobachten im Raum zwischen beiden. An bestimmten Orten bemerken wir jeßt sehr starke Wirkung, an anderen keine. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß die todten Stellen dadur hervorgebracht sind, daß die von der Wandreflektirte Wirkung aufgehoben wird durch eine andere später abgegangene, welhe auf einem kürzeren Wege zum gleichen

iele gelangt ist. Wenn ein kürzerer Weg weniger Zeit er- ordert als ein längerer, so ist die Ausbreitung eine zeitliche.

ie Frage ist gelöst: die Ausbreitung der Wirkung geht mit einer gewissen Geschwindigkeit vor sih; die beschriebene Er- scheinung ist das Analoge zu dem Jnterferenzphänomen des Schalls und des Lichts.

Schon ist kein Zweifel mehr, wenn überhaupt eine solche

Erscheinung auftreten kann, so muß die Bewegung eine Wellenbewegung sein; der von der Felswand reflektirte Wellen- berg gleiht das Wellenthal einer später sich heranwälzenden Welle aus und erhöht den Wellenberg, der dem Thale folgt; dadurch entstehen die todten und die kräftig wirkenden Stellen. Wir bestimmen die Entfernungen von der Wand, in denen Aufhebung, und diejenigen, in denen Verstärkung auftritt, die todten Stellen folgen einander in bestimmten und gleichen Abständen, die Entfernung zwischen beiden muß gleich der Länge einer Welle sein. Diese Wellenlänge können wir je nah der Zahl der elektrishen Bewegungen, die wir im ersten Leiter hervorbringen, variiren, wir können sie 5 m lang machen, können fie aber auch verkürzen bis auf 50 ecm Länge. Wir multipliciren die für den ersten Leiter berehnete Zah! der Schwingungen mit der gemessenen Wellenlänge und er- halten für die Ausbreitungsgeshwindigkeit eine Geshwindigkeit, i fg des Lichts von 40 000 Meilen in der Sekunde gleich ift. __ Man wirft die Frage auf, welcher Art die Wellenbewegung ist: ob sie so erfolgt, wie die Wasser: und Lichtwellen, sodaß die Hebungen und Senkungen senkrecht sind zur Fortpflan- zungsrihtung der Welle, oder so wie die Schallwellen, bei denen Verdichtung und Verdünnung der Luft erfolgt in Rich- tung des Fortschreitens. Wir entscheiden die Frage, indem wir unseren Draht in verschiedene, Lagen an dieselbe Stelle der Welle bringen; das eine Mal spricht er an, das andere Mal nicht. Mehr bedarf es nit ; die Frage ist entschieden, es sind Transversalwellen, Wellen, in denen die Hebungen und Senkungen senkrecht zur Fort- pflanzungsrihtung erfolgen, und wir können die Lage der Ebene, in der die Oscillationen erfolgen, genau fixiren.

Wir sind am Ziel; unsere Untersuhung hat mit unum- stößlicher Sicherheit bewiesen, daß die Fortpflanzung der Jn- duktionswirkung niht momentan, sondern mit der bestimmten und meßbaren Geschwindigkeit von 40 000 Meilen in der Se- kunde erfolgt, derselben Geschwindigkeit, mit der auch das Licht sih ausbreitet ; fie hat weiter gezeigt, daß sie eine Wellen- bewegung is, und zwar eine solche, bei der die Oscillationen senkrecht erfolgen gegen die Fortpflanzungsrihtung, genau wie beim Licht, bei dem auch die Schwingungen senkrecht zum Strahl erfolgen.

__ Und doch, welch ein Unterschied besteht zwischen beiden in ihrer Größe! Denn während die Lichtwellen eine Länge von 4—8 ZBehntausendstel eines Millimeters haben, find die elektrishen Wellen einhalb bis fünf Meter lang; fie gleichen der majestätishen Dzeanwelle, welhe in ihren Thälern die C Schiffe aufzunehmen vermag, während die ihtwellen vergleihbar sind den zarten, kurzen Wellen, welche ein sanster Windstoß auf der Oberfläche eines Teiches hervorruft. Und dennoch sind beide Arten von Wellenbewegungen in ihrer Qualität dieselben, beide haben dieselbe Geschwindigkeit des Fortschreitens. Müssen wir da nicht beide Arten der Bewegung ein und demselben Medium ete dem hypothetishen Lichtäther? Wir wissen ja oh schon, daß dieser fähig ist, außer den Lichtwellen nohch andere zu übertragen, fürzere von 4 bis 2 Zehn- tausendstel eines illimeters Länge, deren Existenz zwar nicht unser Auge, wohl aber die photo- graphishe Platte kund thut, und längere von 8 Zehn- taujendstel bis etwa 3 f eal Millimeter Länge, welche die Uebertragung der ärme durch Strahlung vermitteln. Sollte es nun so {wer sein, noch diejenigen Wellenzüge zu entdeckden, deren Größe die noch fehlende Lücke zwischen 3 Hundertstel eines Millimeters und einem halben Meter ausfüllt? Geseßt, es sei dies geshehen, so jehen wir im Geist den hypothetishen Aether Wellenzüge durch- ziehen von verschiedener Länge; für die ganz langen Wellen haben wir kein Organ, welhes uns ihre Wahrnehmung direkt gestattete, wir können sie nur künst- lih auf elefktrishem Wege erkennen ; die kürzeren kommen zur Wahrnehmung als Wärme durch unseren Tastsinn, ihnen folgen dann diejenigen, die das Auge als Licht wahrnimmt; für die Éürzesten fehlt uns wiederum ein Organ, wir können sie nur dur die Photographie entdecken.

Die Lichtshwingungen, die bisher durch die Mannigfaltig- keit ihrer Farbenpraht unser Mr im hohen Grade in Anspruch genommen, verlieren fast an Jnteresse, sie sind nur ein kleiner Theil der allgemeinen im Aether erfolgenden Schwingungen; sollten fie nit vielleiht auch, wie die längeren Wellen, elektrisher Natur und damit unser Auge ein Organ zur direkten Wahrnehmung elektrisher Wirkungen sein ?

Eine Fülle von Fragen drängt sich uns auf; Vieles ift durch die neuen Entdeckungen gewonnen, aber mit jeder Stufe, die wir in der Erkenntniß der Natur erklimmen, mehren sich die Fragen, weil die Umschau eine weitere wird. Die Wissen- schast steht nie still, jeder Fortschritt bringt neue Fragen. Glü auf zu ihrer weiteren Entwickelung!

Statiftik und Volkswirthschaft.

Zur Arbeiterbewegung.

In Hamburg fand am 26. Juni laut Mittheilung des „Hamb. Corr die konstituirende Versammlung des evangelish-sozialen Arbeitervereins statt, zu der fich etwa 80—100 Personen ein- gefunden hatten. Nach einem Hinweis des Vorsißenden auf die Ziele des Vereins erstattete Prediger Dr. von Schubert einen Bericht über den evangelisch-sozialen Kongreß in Berlin und die damit verbundene Spezialkonferenz von Vertretern der evangelishen Arbeitervereine, \scwie über den gegenwärtigen Stand und das Wachsthum der Vereins- bewegung. Die Anwesenden wurden Hierauf befragt, ob sie dem neuen Verein beitreten wollten; sie erklärten fast sämmtlich, mit nur ein paar vereinzelten Ausnahmen, ihren Beitritt. Alsdann wurde der noch übrige Theil des Statuts durchgegangen und von der Versamm- lung angenommen und endlich der aus 11 Perfonen, worunter 6 Arbeiter, (nah dem Statut muß die Mehrzahl der Vorstands- mitglieder aus Arbeitern bestehen) zusammengeseßte Vorstand gewählt.

Aus Elmshorn schreibt man der „Kiel. Ztg.“ unterm 26. d.: Die vereinigten Gerber und Lederzurichter hierfelbst haben in einer gestern Abend stattgehabten Versammlung auf das Anerbieten der strikenden Gerbergesellen, die Arbeit wiedec aufnehmen zu wollen, beschlofsen, mit den leßteren erst dann in Verhandlungen treten zu wollen, wenn dieselben in denjenigen Blättern, in welchen sie früher den Strike angezeigt haben, erklären, daß der Strike durch Nachgeben ihrerseits hin aufgehoben sei. L :

Der Wupperthaler Zimmermeister - Verein hielt am 2%, Juni, laut Mittheilung der „Elb. Ztg.*“, eine zahlreih besuchte Versammlung in Elberfeld ab, in welcher der Vorsißende die An- wesenden ermahnte, an dem Beshluß, nur nah Leistung zu bezahlen, festzuhalten und jeden Versuch der Ausständigen, noch arbeitende Gesellen von der Arbeit abzuhalten, sofort zur Anzeige zu bringen.

Es sind zwei sol{er Anzeigen bereits erfolgt. In Barmen fand am 26. Juni wiedcr cine Versammlung der ausftändigen Zimmer- gesellen und zu gleicher Zeit in Elberfeld eine Zusammenkunft sämmtliher Bauunternehmer des Wupperthals statt.

Zum Feilenhauerstrike in Remscheid wird der „Elbf. Ztg.“ geschcieben: Am 25. Juni weilte der Gewerbe-Rath Theobald aus Düsseldorf im Auftrage der Königlichen Regierung in Remscheid, um über die Frage des Feilenhauerstrikes nähere Erkundigungen bet den Pen sowobl als auch bei den betheiligten Arbeitern ein- zuziehen.

Die Vertrauensmänner-Versammlung des Rechts- \chußvereins der pfälzischen Bergleute hat, dem „Frkf. Journ.“ zufolge, bes{lofsen, Falls der von ihr gewählten Arbeiter- deputation die erbetene Audienz beim Prinz-Regenten versagt werden sollte, fich mit einer Petition an den im Herbst wieder ¿zusammen- tretenden bayerif&en Landtag zu wenden, um cinen der bekannteren und einflußreiheren Parlamentarier für die Sahe der Bergleute zu interesfiren.

Die Uhrmachergehülfen, die, wie die „Staatsb. Ztg.“ \hreibt, bisher eine Organisation nicht batten, haben si{ nunmehr eine solhe geschaffen. Nah den von Seiten des Frankfurter Uhr- madchergehülfen-Vereins getroffenen Vorarbeiten traten am 22. Juni etwa 20 Vertreter der größeren Städte in Frankfurt a. M. zu- sammen, welhe die Gründung eines „Deutschen UhrmaGbHer- gehülfen-Verbandes* beshlofsen und nah eingehender Berathung die Satzungen annahmen. Zweck des Verbandes ift unter anderem Stellenvermittelung, Unterstüßung Arbeitsloser, Gründung von Ge- hülfen-Vereinen. Zum Verbandsorgan wurde die zweimal monatlih in Jüterbog ersheinende „Allgemeine Uhrmahher-Zeitung“ dur Ver- trag beftimmt; jedes“ Verbandsmitglied erhält das nunmehr obligato- rishe Verbandsorgan.

Die Freie Vereinigung der Holzindustriellen Berlins hielt am 23. d. M. eine außerordentlihe Generalversamm- lung ab, auf wel{er, wie die „B. B. Zta.“ schreibt, u a. besonders hervorgehoben wurde, daß die F. V. d. H. B. duc ihr cnergishes Vorgeben und getroffene Maßregel dazu fehr viel beigetragen habe, daß der 1. Mai außerordentlih günstig und wider Erwarten befriedi- gend verlaufen und dadurch der Beweis geliefert worden ift, welchen moralischen Einfluß der Verein bereits gewommen hat. Die anwesenden Vorstände von Arbeitgebern der Fräser, Falousiemaher, Drechsler 2x. gaben Namens ihrer Kollegen dem Wunsche Ausdruck, sih der F. V. der H. B. anzuschließen. Bereitwilligst wurde demselben gewillfahrt und foll bei demnächst bevorstehenden Versammlungen der einzelnen Fach? genossen das hierzu Erforderliwe veranlaßt werden. Der Schat- meister der F. V. d. H. B. theilte u. A. mit, daß Anbahnungen im Gange find analog dem Arbeitgeber-Verbande in Hamburg, sowie dem Chemnigzer Verbande der freien Vereinigung dortiger Arbeit- geber, mit welchen der Berliner Verein bereits in Verbindurg steht —, um einen größeren Garantiefonds zu bilden.

In der demnächst ins Leben tretenden Berliner Central- Strikekommission, welher, aus je 2 bis 3 Vertretern aller Gewerke zusammengeseßt, die Entscheidung über alle. Strikes unter- stehen soll, glaubten, so {reibt die „Staatsb.-Ztg.“, die Arbeiter ein Allheilmittel gegen wirkungélose Strikes gefunden zu haben. In der allgemeinen Ernühterung, die unverkennbar in diésem Jahre dem Rausch des vorigen Sommers gefolgt ist, tauchen indeffen neuerdings mehr und mehr Stimmen auf, die erhebliche Zweifel an dieser Institution ausdrücken. Die Schuh- macher und die Former lehnten rundweg die Betheiligung an der genannten Kommission ab, anführend, daß fie niht gesonnen seien, im Fall eines ihnen aufgedrungenen Strikes erst einen so \{chwerfälligen Apparat in Thâtigkeit zu seßen. Bei den Berliner Zimmer- leuten, welde sich am 26. Juni in einer öffentlihen Versamm- lung unter Vorsiß des Gesellenaus\{usses mit der Frage der Wahl

2} von Vertretern der Central-Strikekommission beschäftigten, war

für die genannte Institution gleichfalls wenig Neigung vor- handen. Vornehmlich von den älteren und des Längeren {on in der Gewerkshaftsbewegung als Berather thätigen Fachgenoffen wurde die Haltlosigkeit des ganzen Gedankens und die Aussichtslosig- keit der Verwirklihung desselben \charf betont, Es wurde aus- geführt, daß der Strike eine Sache sei, die naturnothwendig entstehe und si nit durch irgend eine, wenn auch noch fo erleuhtete Kom- mission dekretiren oder aufhalten lasse. Den Strike der Bau- handwerker im vorigen Jahre hätte keine Kommission aufzuhalten vermoht. Das, was noththue, werde jede Korporation in Bezug auf fich selbst am besten zu beurtbeilen wissen. Die Strikes von fonst und in der Gegenwart seien kaum zu vergleihen. Man sei gegenwärtig zu schwach, dem allseitig geeinten Kapital erfolgreich gegenüberzutreten. Nur allgemeine Organisation könne helfen, nicht in der günftigen Arbeitsperiode unternommene Strikes, mit denen man wohl einen geringen Vortheil erringe, um ibn alsbald wieder zu verlieren. Troß dieser und vieler anderen Ausführungen war die Mehrheit doch der Meinung, daß die Wahl zweier Vertreter niht {haden könne, und nahm dieselbe vor. : :

Der Londoner Gewerkverein der Dodckarbeiter ift, laut Mittheilung der „A. C.“, von den Dockarbeitern in Ham- burg ersubt worden, ihnen bei der Gründung eines Gewerfk- vereins bebülflih zu sein.

Aus New-York meldet die „A. C“ unterm 26. d.: Der Verkehr auf der Illinois Central-Eisenbahn ift durch den Ausstand ihres Bahnpersonals theilweise gelähmt. Die Strikenden verlangen die Entlassung des Superintendenten, welcer es ablehnte, gewisse Beshwerden abzustellen. 1500 Bedienstete feiern. Chicago leidet ernstlich unter dem Strike, da der Bahnverkehr zwishen den südlihen Vorstädten und der Stadt stockt. Die Ver- bindung wird nur durch Postkutshen bewerkstelligt. Wie indeß .W, T. B.“ aus Chicago unterm 28. ds. meldet, ist der Strike hon beendet.

Ehen und Geburten in Frankrei.

Wie aus einem Vortrage des Hrn. Lagneau in der am 24. d. M. abgehaltenen Sitzung der Pariser Académie de Médecine bervorgebt, nimmt die Zahl der Geburten in Frankrei in beunruhigender Weise ab. Im Jahre 1872 betrug sie noch 26, 7 °/o0o, ift seitdem aber auf 23 9/00 gesunken, während sie in Preußen 42/0, in Rußland fogar 48 9/00 beträgt. Andererseits ist das Verhältniß der unebhelihen Ge- burten zu den ehelihen in den leßten se{chzig Jahren von 5 °/ auf 8,59% gestiegen. In einzelnen Garnifonorten ftelt fich dasfelbe auf 20 9/0, in Paris erreiht es sogar 28 9/o. Avf 100 Eben werden in Frankrei 10 fkinderlose gerechnet. Die Zahl der Ehen nimmt überbaupt in hohem Maße ab, und war 1888 um 12 707 geringer als 1881, Die Ursache für die Abnahme der Ehen findet Hr. Lagneau in dem Zuströmen der Bevölkerung zu den großen Städten und in den ers{werten Erwerbsverbältnifsen, die für die Abnahme der Geburten in dem Wunsche der Eltern, ihren Kindern ein ebenso großes Ver- t zu gewähren, wie sie selbst haben, und ihren Besit ungetheilt zu laffen.

Land- und Forstwirthschaft.

Saatenstand in Ungarn.

Den beim Königlih ungarishen Ackerbau-Ministerium in der Zeit vom 17. bis 23. Juni eingelaufenen offiziellen Berichten zufolge war die Witterung fortgeseßt eine kühle und windige, mit Stürmen, Nieder- chlägen und stellenweise großen Wolkenbrühen verbunden, _welcher Umstand uit so sehr auf die Herbftsaaten als auf den Frübjahrs- anbau und insbesondere auf den Maisanbau s{ädli& einwirkte.

Von den Herbstsaaten haben sich die üppigeren în vielen Gegenden gelegt. Der Rost hat si aber in der abgelaufenen Woche niht mehr in dem Maße verbreitet wie vordem, und dies ist um so mebr als günstiger Umstand zu betraten, als die Körnerbildung der vom Rost bisher vershont gebliebenen Aebren eine befriedigende war. Die Körner sind s{ön, gesund, und Falls binsihtlih der Qualität der Rost keinen großen Schaden verursacht, werden Weizen, Roggen und