1890 / 298 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Thu, 11 Dec 1890 18:00:01 GMT) scan diff

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feit üben, damit man ([nicht bloß Heèr und Marine hake, fondern neben diesen seien auch noch viele andere Dinge da, die für das Wobl und Gedeihen des Vaterlandes ebenso nöthig und nüßlich seien. Gr bilte die Kommission, mit dem ganzen Ernst, der der Lage entsprehe, an die Prüfung des Etats heranzugehen ; mehr Steuern könne das Land nit tragen. (Lebhafter Beifall im Centrum.)

Staatésekretär Freiherr von Malßtahn:

Meine Herren! Ih möchte zunächst zur Vermeidung vou Miß- verständnissen auf einen Punkt eingehen, welchen die beiden Herren Vorredner, Dr. Windthorst und Graf von Behr berührt haben. Die beiden Herren haben den §. 7 des Jhnen vorliegenden Gtat8gefeßes kcitifirt und dahin aufgefaßt, als ob diescr § 7 eine grundfäßliche Abänderung unseres zcitigen Abrehnungésysteuts zwischen dem Reich und den Einzelstaaten enthalten solle, als ob er das Prinzip durbräche, daß gewisse Einnahmen des Reichs jeßt den Einzelstaaten überwiesen, anderer- seits die Einzelstaaten in der Form von Matrikularbeiträgen gehalten wer- den, zu den Bedürfnissen des Reichs beizusteuern. Cine solche Durch- brechung dieses Prinzips ist in dem 8. 7 des Etatsgeseßes weder enthalten, noch bei der Abfassung deéfelben beabsichtigt gewesen. Es handelt si bei diesem Paragraphen, dessen nähere Erörterung, wie ih glaube, am Zweckmäßigsten in der Budgetkommission erfolgen dürfte, lediglih darum, ein hervorgettetenes praktishes Bedürfniß auf die ¡weckmäßigste Weise zu befriedigen. Das Bedürfniß besteht darin, der Reichékasse zu Beginn des nächsten Etatsjahres die Mittel zur Verfügung zu stellen, aus denen fie am ersten Tage des nähsten Etatsjahres eine Summe von zehn Millionen bezahlen kann, die ihr beim Feblen dieser Mittel das Jaÿr hindurch an den Betriebsfonds fehlen, Wir haben geglaubt, daß dies am Zweckmäßigsten in der Weise geschehe, daß aus den Mehreinnahmen, welche im Jahre 1890/91 dem Ansaÿ des Etats gegenüber, wie wir jeßt hon mit Sicherheit übersehen können, den Einzelstaaten zufließen würden, diese zehn Millionen vorweg genommen werden zur Befriedi- gung dieses cinmaligen Bedürfnisses der Neichskasse.

In der Erkenntniß, daß die Verzinsung der Reichs\huld für die deutschen Bundesstaaten kein fremdes, fondern ein eigenes Interesse ist, insofern als die Reichsshulden schlicßlich ihre eigenen Schulden auch sind, haben die verbündetcn Regierungen diesem §. 7, obwohl die prinzipielle vcrfassungsmäßige Bedeutung der Sache au dort zur Erörterung gekommen ist, zugestimmt. Ich hoffe, daß auch der Reichs- tag diesem §. 7 zustimmen wird, will aber von vornherein sagen, daß ih glaube, wenn der Neichötag einen anderen Weg, der materiell dasselbe erreiht, eins{chlagen will, würde es nicht ausgeschlossen sein, daß die verbündeten Regierungen sich darüber mit dem Reichstage verständigten. Nur . scheint mir nothwendig, daß Sie aus den Einnahmen des Jahres 1890/91 diese Summe zur Verfügung stellen, die wir am ersten Tage des Jahres 1891/92 brauen. Verweisen Sie sie, wie ih |chon im Privatgespräch habe aussprechen 1 ören, auf die Einnahmen des Jahres 1891/92, \o nüßt uns die Sache viel weniger; Sie vertagen sie dann cinfach um ein Jahr.

Dann will ih, da ich aus diesem Grunde jetzt bereits das Wort genommen habe, gleich auf cinen anderen Punkt kommen, dessen Er- örterung ih mir sonst für einen späteren Zeitpunkt der Etatsberathung vorbehalten hatte. Es betrifft das nämlich die Frage der leßten An- leihebegebung und der Wahl cines dreiprozentigen Typus für die An- leihe, die damals aúégegeben ist. Ih habe gestern in den einleitenden Worten zu Anfang der Etatsberathung in dieser Beziehung nur gesagt, daß wir uns in einer Zwangslage befunden hätten, und dieser Aeußerung gegenüber, hat der Hr. Abg. Dr. Windthorst soeben gesagt, sche er vor einem Räthsel. Nun, meine Herren, das zwingt mi, das Räthsel etwas aufzulösen.

Sie wissen, daß in früheren Zeiten die Begebung der Reichs- anleihen sich verbältnißmäßig leiht durch Verkauf von Tag zu Tag an der Börse hat bercirken lassen; Sie wissen, daß mit dem Zunehmen der Rcichsanleihen, und weil zugleih außer der Reichsanleihe auch andere bedeutende Anleihebeträge auf dem deutschen Markte unter- zubringen waren, dieses Verfahren sich als nicht mehr ausreichend eiwa vor cinem halben Jahre zeigte, und daß wir in Folge desscn veranlaßt waren, im Februar d, I. einen Betrag von 129 Millionen zum Course von 102% an ein größeres Konfortium zu begeben. Die Frage, ob für die Reichsanleihe ein anderer Typus, als der 349% zu wählen sei, ift bereits damals und auch \choun früher zur Erörterung gekommen; sie ist namentlich zur Erörterung gekommen im Herbst vorigen Jahres, als 3%%/ Papiere deutscher Einzelstaaten Über 90 standen. Man hat damals von der Wahl eines anderen Typus abgesehen aus prinzipiellen Bedenken, wie sie ja in der Presse und auch hiec im Hause zur Sprache gebracht worden sind. Von Seiten der Bankhäuser, mit denen wegen Uebernahme großer Anleihen verhandelt wérden mußte, ist die Wahl eines anderen Verzinsungstypus au seit längerer Zeit angeregt worden; dennoch blieben wir im Februar bei dem alten Typus von 3&%. Nun wissen Sie Alle, daß die Marktverhältnisse \{chwierig waren, vielleicht auch der damalige Ausgabecours etwas hoch bemessen war und daß in Folge dessen das Konsortium, wclches damals die 129 Millionen übernommen hatte, die Weitergabe der übernommenen Obligationen an das Publikum nicht so \chnell, wie es gehofft hatte, ins Werk seten konnte, daß es selbst länger als man glaubte mit diescm Geschäft belastet blieb, Dies und die allgemeine Lage des Markles war für die Reichs + Finanz- verwaltung der Anlaß, mit der weiteren Legebung von Anleihen so lange zu zögern, als es nach der wirthshaftlihen Lage des Reichs möglich war. Wann wir die Anleihen begeben müssen, das hängt ja niht von der Neichs-Finanzoerwaltung ab, sondern das hängt wesent- lih ab von den Auésgabeverwaltungen, es hängt davon ab, zu welchem Zeitpunkt, wit welher Schnelligkeit die Bauten ausgesührt, die Be- \chafungen vorgenommen werden, zu denen Anleihen bewilligt sind. Mit dem Herbst dieses Jahres nun, das konnte man schon im Frük jahr voraussehen, mußte ein Zeitpunkt eintreten, wo wir gezwungen waren, wieder einen bedeutenden Posten Neic8anleihe zu begeben, und

naturgemäß hatten wir den Wunsch, diese Summe so hoch zu be- ziffern, daß wir für eine Reihe von Monaten damit gedeckt sein würden. Lange vor diesem kritischen Zeitpunkt ift selbstverständlich die Angelegenheit mit der Königlich preußischen Finanzverwaltung erörtert worden, sie ift bis in alle Einzelheiten mit der preußishen Finanz- verwaltung diskutirt und in vollem Einvernehmen mit derselben erledigt worden, von dem Moment ab, wo sich herausstellte, daß zu demselben Zeitpunkt, wo das Reichs-Anleihen begeben werden mußte,

d. h. etwa gegen ‘den Oktoker hin, au Preußen in der Lage war, Anleihetitel zu begeben. Das Geschäft ist ja auch unter den gleichen Bedingungen vom Meich und von Preußen gemacht. Ebenfalls felbst- verständlichß wäre die Sache bloß in der Presse erwähnt (ih habe sie in cincr Oktober-Nvmmer in der „Freisinnigen Zeitung“ gelesen), so würde ih darauf nicht gekommen sein, aber nahdem sie aeftern auch von einem Abgeordneten hier zur Sprache ge- bra worden ist, sehe ih mih genöthigt, darauf einzu- gehen selbstverständlih hat die Thatsache, ob Chefs einzelner Verwaltungen zu jener Zeit auf Uilaub warcn oder niht, auf die Verkandl ungen dieser Angelegenheit /nickcht den geringsten verzögernden Einfluß, au nicht von einer Stunde gehabt. Denn fo ist die Neichs- verwaltung eingerichtet und muß so gestaltet scin, daß, wenn nicht cin nach jeder Nichtung zur vollen Vertretung befugter Stellvertreter an Ort und Stelle i}, der betreffende Reichs- beamte, der auf Urlaub t, die tbm obliegenden Dien stgeshäfte erledigt, sodaß sie keine Verzögerung erleiden, Die Frage nun, ob, wann und in welchem Moment ein größerer Posten von Reichsanléeihen in diesem Herbst begeben werden follte, ist den ganzen Sommer hindurch von mir im Auge behalten und erörtert worden. Die mir vorliegenden \{chriftlich fixirten Verhandlungen hier- über beginnen mit dem Datum des 5, September. Sie haben zum Abschluß geführt am 29. September, wo mir mitgetheilt worden ist, daß das Konfortium, mit dem wir verhandelt hatten, si mit dem {ließli von uns geforderten Uekernahmecourse von 8640 für dreiprozentige Papiere einverstanden erklärt habe. Daß wir den dreiprozentigen Typus in diesem Augenblick wählen mußten, hatte einfach darin secin:n Grund, daß das übernehmende Konsortium sih außer Stande etklärte, irgend einen anderen Typus als dreiprozentige Anleihe zu über- nehmen. Dieser kategorischen Erklärung gegenüber, die erst gesprächs- weise angedeutet, dann auf unser Drängen uns in dieser runden Form gegeben ift, befand sich das Reih und das Königreich Preußen in der Zwangslage, daß ihnen nur die Wahl frei stand dazwischen, entweder zu einem Course, der an und für sch genügend war, drei- prozentige Papiere auszugeben, oder die ganze Frage ter Beschaffung einer größeren Geldsumme auf dem Wege ciner Anlcihe zu vertagen und sih auf einige Monate hinaus durch Schatzanweisungen zu be- helfen, bis ein günstiger Moment auf dem Markte ein- trat. Die Reichsverwaltung sowohl als die Königlich preußisde Regierung haben fsich dieser Sachlage gegenüber dafür entschieden, einen Postcn, der sh für das Reih auf 170 Millionen bezifferte, dreiprozentige Anleihe zum Uebernahmwmecourse von 86,40 zu begeben, und damit den Versu zu machen, wie ein der- artiges Papier auf dem Markte aufgenommen würde. Der Cours an und für fi, wenn man von den prinzipiellen Bedenken gegen den neuen Typus absicht, ist keineswegs ein {lechter, er entsprach einem Course für 3Zprozentige Papicre von über pari, wäßrend damals die 3öprozentigen Papiere etwa 97 oder 98 ich weiß niht genau standen.

Nun aber ist der Vorwurf, auch gestern, erhoben: ja, es sei der allerungünstigste Moment gewählt worden, um dieses große Kapitol flüssig zu machen. Ich habe Ihnen vorber {on gesagt, wie wir dazu gekommen sind, diesen Moment zu mählen: um deswillen, weil wir länger nicht die Sache hinaus\{hieben konnten und weil die ganzen vorhergehenden Monate hindurch ein güpsstigerer Moment \i{ nit geboten hatte. Daß aber das übernehmende Konsortium selber den Moment nicht für so absolut ungünstig gehalten baben kann und das sind doch Herren, die die Verhältnisse des Marktes kennen —, dafür möchte ich Ihnen nur eine Tha!lsache anführen. Am 29, Sep- tember haben die Herren ihr definitives Gebot abgegeben, auf Grund dessen der Abschluß erfolgt ist. Zwei Tage vorber, zu einer Zeit, wo wir in Verhandlung standen und man uns 85,50 bis 86 bot, haben einige der Herren 222 Millionen korvertirte vierprozentige Numänier zu 86,50 übernommen und auf den deutshen Markt gebracht.

Abg. Dr. von Frege: Auch seine Partei halte es für keinen beson- ders glücklichen Gedanken der verbündeten Regierungen, einen so wih- tigen Grundsaß, wie ihn die Franckenstein’sche Klausel darstelle, wenn aub nur durch eine einmalige Maßregel abzuändern. Sie wünsche, daß man es bei der alten, unveränderten Franckenstein- \{hen Klausel belassen möge und daß die 10 Millionen, die zur Deckung des Aprilcoupons erforderlich seien, auf andere Weise auf- gebracht würden. Was die Anleihen betreffe, so beklagten es seine politishen Freunde einstimmig, daß man überhaupt die Konversionen angefangen habe. Es habe das Vertrauen zur Reichs- Finanzverwaltung erschüttert, daß die Begebung der lehten Anleihe auf Schwierigkeiten gestoßen sei. (Zustimmung rechts.) Seine Partei beklage es, daß überhaupt der mächtigste Faktor im Deutschen Neich, das Reich selbst, in Bezug auf seine Finanzgebahrung ih ohne Konsortien gar keine finanziele Maßregel denken könne. Es müsse doch möglich sein, das Gcld in einer Weise zu beschaffen, wie es das in dieser Frage ganz gewiß fehr vorsihtige Frankreich im Laufe der Ge¡chichte wiederholt gemaht habe, nämlich durch direkte Auflage, \odaß jeder kleinste, besheidenste Staatsbürger in der Lage wäre, für cine Anleihe zu zeihnen. Die große Mehrheit des Hauses sei darin einig, daß es vermicden werden müsse, daß das Reich sich nicht bloß unter die Abhängigkeit eines Konsortiums, sondern auch unter die der übrigen deutsben Staaten stelle. Ferner würde seine Partei es mit Freuden begrüßen, wenn dem Silber wieder der richtige Werth zurückzegeben würde, (Zustimmung rechts, Heiterkeit links.) Der Hr. Abg. Bamberger werde ihm wroahrscheinlih den amerikanishen Silberring entgegenhalten. Niemandem von seiner Partei falle es ein, die Manipulationen dieses Silberringes irgendwie entschuldigen zu wollen. Aber diese Maßregel sei nur in einem republikanishen Staat mögli, In einem monarchischen Staat würde eine solhe Maßregel, wie sie die amerika- nishen Kongresse durch ihre we{chselnden Beschlüsse zuWege bringeu könnten, unmöglich sein. Deu!lshland würde solchen Ausschreitungen ein- zelner Interessenten einen Damm entgegen seten und das Silber würde seinen effektiven Werth behalten. Gott sei Dank, vaß man in Deutschland noch keine Geldnoth habe, man würde aber noch viel unabhängiger sein, wenn das Silber seinen Werth besäße, Wenn etwa in Rußland eines Tages die Goldwährung eingeführt würde, so würde in Deutshland und in allen europäischen Kulturstaaten eine Krise entstehen, vor der Gott das Reich bewahren wolle. Was den vorliegenden Etat betresfe, so begrüße ér die Aeußerung des MReichs- kanzlers, daß in diesem Jahre keine Nachforderungen für das Heer zu erwarten seien, mit Freuden. Das werde im Lande sehr beruhigend wirken, und er (der Redner) danke Hrn. Richter, daß er diese Er- flärung schon gestern provozirt habe, Die 64 Millionen für das Alters- und Invaliditätsgesep halte scine Partei für noth- wendig; er zweifle nicht, daß die Beamten sich der Durchführung dieses Gesehes, so mühselig dieselbe auch scin inôge, mit der altbewährten Hingebung widmen würden. Was den Marine-Etat betz1effe, so sei seine Partei auch überrasht, daß {hon in einem Jahre so wesentlihe Mehrkosten für neue Panzerschiffe ver- langt würden, Die Erfindungen der Nachbarstaaten dürften aller- dings nit unbeacktet bleiben. Die Budgetkommission werte aber zu prüfen haben, ob das Reih so schnell diese Erfindungen sich an-

cignen müsse. Der Ausgabe. für Unteroffizierprämien werde seine Partei zustimmen. Dec Unteroffizierstand sei einer der witigsten aus ihm refrutire sih der gebildete Mittelstand, und er (der Redner) wundere sich schr, daß Hr. Richter, der doch sonst immer von einer Beeinträchtiguna der Civilbeamten durch dic Civilverforgungsberec- tigten spreche, jet gegen diese Unterstüßung sei. «Wenn man jeßt {on die Verwaltung in die Lage setze, sorgfältig in der Auswahl der Unter- offiziere vorgehen zu können, fo erspare man vielleiht sehr viele fünstige Ausgaben, Er (der Redner) meine aber, daß sih au ältere Unteroffiziere sehr gut zu Beamten qualifizirten; absolute Pünkt- lihkeit, Wahrheitsliebde und Tüchligkeit sei immer eine Zierde der deutshen Beamten gewesen, und cr glaube, daß auch der ältere Unteroffizier diese guten Eigenschaften im Beamtenverhältniß bewähren werde. Auf das Gebiet der Kolonialpolitik folge er dem Abg Richter nicht. Er (der Nedner) denke, der Abg. Richter müßte damit einverstanden sein, daß die deut]che Flagge auch echalten würde, wo sie einmal aufgehißt sei. Wan würde den Einfluß der Landsleute im Auslande s{chwächen und ihre Opferwilligkeit und ihren Opfermuth nicht minder, wenn man sie im Stiche ließe. Mit einem Male könne eine Rentabilität in Ost-Afrika nickt erreiht werden, und es wäre seEr deplacirt , auf diesem Gebiet zu knausern, weil der Erfolg nit gleih mit Händen zu greifen set, Die militärishen Mehrforderungen und Neuforderungen würden genauer Prüfung bedürfen, die aber deshalb sehr \chwierig sei, weil sie doch nur von Sah: verständigen erfolgcn könne, was die Abgeordneten der großen Mehrzahl nach zu fscin nicht behaupten könnten, Was zur Förderung der Kadetterausbildung gefordert werde, wolle seine Partei gern bewilligen, ebenso die Errichtung von Unteroffizier- Vorschulen, ohne in leßterer Richtung den Vorwurf einer Begünsti- guna des Kastengeistes zu befürchten. Die Neuformation der Fuß- Artillerie werde sie gleichfalls bewilligen, da die Autoritäten einig scien, daß auf diesem Gebiet noch Manches nachzuholen sei. An Kasernen-, Magazine und ähnlihen Bauten werde sie Alles ge- nehmigen, was die Regierung an den Ost- und Westgrenzen des Reichs für erforderli halte; für Neubauten im Innern des Reichs nehme fie das Recht forgfältigster Prüfung in Anspruch, obwohl sie nit verkennen könne, daß erfahrungsmäßig bei folchen Forde- rungen der Militärbehörde sehr viel seltener Abstrihe mögli fcien, als bei Forderungen anderer Ressorts, z. B, der Postverwal- tung. Ueber die Einwirkung der Zuckersteuer auf die Gestaltung des Etats enthalte er sich ciner Vermuthung; man solle das bevorstehende Gefscy abwarten. Aber die fortdauernde Beunruhigung der Zucker- industrie könne ihr und der Landwirthschaft niht zum Heile gereichen. Wenn Steuer: Mehreinnahmen nöthig seien, so gebe er die Einführung des Zündholzmonopols zu erwägen, welches leiht 20 und felbst 30 Millionen dem Reich bringen könne. (Hört! links.) Das Ordi- narium des Post Etats enthalte ret beträchtliche Mchrforderungen; dicse beruhten aber wesentlih in der Umwandlung zahlreicher außer- etaismäßiger Stellen in ctatsmäßige, welche #. Z. vom Hause selber gefordert worden seien, Sodann wolle er dem Herrn Reichskanzler anheimgeben, ob nit Maßregeln zu ergreifen seien, welche zur Wieder- herstellung des Silberroerthes führten. (Aha! links.) Was der Hr. Abg. Richter gestern in volkswirthschaftliher Bezichung erbracht, habe aur ihn den Eindruck eines Tertianerstandpunktes gemacht. (Lachen links) Gc (Hr. Richter) habe ganz vergessen, was jeder Gymnasfiast wissen müsse, daß Rom dadurch und darum zu Grunde gegangen fei, weil es seinen Bauernstand vernachlässigt habe. Hier werde die Sache fo dargestellt, als ob ganz neue Bahnen der wirth- \chaftlihen Politik eingeschlagen werden follten, seitdem Fürst Bismark ron seinem Play geschieden sei, auf dem er lange und verantwortungs- volle Jahre hindurch zum Heile des Vaterlandes gewirkt habe (Beifall rets), Bahnen, welche den Interessen des Landes und des Bauerunstandes niht dienten, Wenn man solche Befürchtungen im Lande zu erwecken suche, so führe das zu einer Beunruhigung, die unheilvoll wirke, Handel und Wandel, Industrie und Landwirthschaft müßten gleihmäßig leiden, wenn fortgeseßt die Freihandelspartei, die Hrrn. Abgg. Bebel und Richter im Lande den Schein erweckten, ais könnten die cinschneidendsten, durchgreifendften wirthschaftlichen Veränderungea unmittelbar vor der Thüre stehen. (Sehr wahr! rets. Lachen links.) Auch in der Presse mache sih folhe Agitation geltend, er nenne die „Frankfurter Zeitung", das „Berliner Tageblatt", die „Vossische Zei- tung*z die Früchte dieses Feldzugsplans kämen nur der Baiîisse- und Haussespekulation an der Börse zu Gute. Die heutigen Getreide- preise hätten noch nicht eine Hôle, die dem zehnjährigen Durch- \hnitt entsprehe, wie man aus den Fourageanfäßen in den einzelnen ahren des Militär-Etats ersehen könne. Hrn. Abg Bebel müsse er das Recht bestreiten, sich als Vertreter der arbeitenden Klassen zu geriren Er (der Abg. Bebel) sei eher ein Vertreter der nichtarbeitenden Klassen. (Sehr gut! rets; Lachen bei den Sozial- demokraten.) Unter den Wählern seiner Partei befänden sih fo gut Ar- beiter, wie unter den Wählern der sozialdemokratishen Herren, Auch er und seine Freunde hätten cin Herz für den kleinen Mann. Wenn die Sozialdemokraten ihren Feldzug auf das platte Land aus- dehnen wooUten, so würden sie bei dem ländlichen Arbeiter kein Glück haben, der sich viel klarer als der industrielle Arbeiter das Bewußtsein seiner Zusammengehörigkeit mit dem Arbeitgeber gewahrt habe und dem sie seine religiösen und sittlihen Jdeale nit rauben könnten. (Sehr gut! reáts.) Weihnachten, das \{chönste Fest im Jahre, werde ihn und seine Freunde an Jesu Krippe Alle vereinigt finden, Alle, Hoch und Niedrig, Arm und Reich, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Daran werde der Atheismus des Hrn. Abg. Bebel, Gott sei Dank, nichts ändern. (Lebhafter Beifall rechts.) Der Versu, Zwietracht zu säen, werde den Sozialdemokraten niht ge- lingen, so wenig hoffentlich auch der Versuch gelingen werde, durch ihre Darstellung des Wirthschaftslebens die Stellung der ver- bündeten Regierungen in den Verhandlungen mit Oesterreich-Ungarn zu s{wächen und zu stören. (Lachen links.) Industrie und Handel hätten mit der Landwirtk; schaft in zehnjähriger gesunder Entwickelung die Ueberzeugung gewonnen, daß Deutschland ohne Schußtzzoll waffenlos der Ausbeutung des Auslandes preisgegeben wäre. Hier sagten die Sozialdemokraten, der deutshe Konsument zahle den Zoll, der amerikanischen Me. Kinleybill gegenüber sagten fie, der Importeur, der deutshe Pioduzent, zahle ihn; mal zahle ihn also der Produzent, mal zahle ihn der Konsument wie es just gerade für die Partei- \chablone passe. Mit dieser Taktik und Politik werde man boffentlich keinen Anklang finden. (Beifall rechts.)

Abg. Scipio: In dem Moment, wo die Regierung sich in Verhandlungen über Handelsverträge befinde, wolle er Über die &rage der Zölle stillschweigend hinweggehen, Bezüglih der Einfüh- rung der Silberwährung seien die Erfahrungen Nord-Amerikas für uns nicht sehr ermunternd. (Sehr richtig! links.) Nord-Amerika, cins der reisten Länder der Erde, ziehe große Quantitäten Silber zur Ausprägung heran, und doch sehe man ein Sinken des Silber- preises gegen alle Erwartung. Deutschland würde ebensowenig eine Stabilität des Werthverbältnisses zwishen Silber und Gold er- reichen können. Das hänge von anderen Momenten ab. Diese Frage sei überhaupt niht so eng mit unserem Import und Export verbunden, Sei denn der Import aus Oesterrei und Rußland von dec Silberfrage bedingt? (Nufe rechts: Ja !) Jätten biese Länder nicht Papierwährung, und stände heute nit und Jahre zurü die österreihishe Papierva]uta höher als der Silberpreis ? Könnten die Herren cinen Zusammenhang zwischen dem Stande des russischen Rubels und der Silberfrage nachweisen ? (Nufe rechts: Ja!) Die Einnahmen des Etats seien jeyt vielleicht auf einem Stande angekommen, wo man auf einen Rückschlag gefaßt fein müsse, Es sei zweifellos, daß der Wohlstand des Vaterlandes, wenn auch langsam, Fortschritte gemaht habe, und zwar unter einem Münzregime, welches sich mindestens der Goldwährung nähere. Nach solchen Erfahrungen solle man nichts ändern, sondern erhalten, was sih bewährt habe. Gegenüber den fteigenden Ausgaben seien alle Parteien zur mögli sten Sparsamkeit verpflihtet. Allerdings könnlen die durch die Gesetze der leßten Jahre und durch die Ent- widelung der Marine bedingten Ausgaben nicht vermieden werden. Bezüglich der ferdegelder seien die Offiziere der niederen Chargen gegenwärtig mitunter sehr {wer belastet,

vielfah Rationen bewilligt, welche ihrer seien aud ! Deremuigung hätten. A ays E vier Abhülfe zu erwägen. Die große Tragweite der kommission bob fiziere M er niht. Gegenüber der Vermeh- Q Vergehen in jugendlichem Alter müsse der in das Heer SOE tene @rsay anders behandelt werden, und deshalb feien an Fu Unteroffiziere höhere Anforderungen zu stellen. Daß das Deutsche Nich aus dem unruhigen Zustande des Flaggenhissens herausgekommen sei me durch den Vertrag mit England und anderen Kolonialmächten feste und sichere Grenzen für unsere Kolonialpolitik gewonnen habe, e ihm zur Freude. Die Kosten der Kolonien Kamerun und Togo S ürden nit nur aus den laufenden Einnahmen bestritten, sondern 8 würden auch noch Summen erübrigt, welche ein weiteres gedeiblihes Fortschreiten derselben verbürgten. _ Beziehentlich Ost-Afrikas sei zu berücksichtigen, daß unter dem Schuß des Deutschen Reichs die Deutsch - Ostafrikanische Gesellschaft einen bestimmten Vertrag mit dem Sultan von Sansibar geschlofsen habe. Als das Deutsche Reich in Ost- Afrika ih festgeseßt habe, habe man den MRects- \chuß den die Gesellschaft genoß, nit verringern dürfen. Man möge von diesem Standpunkt das Abkommen mit der Gefellschaft be- trachten und vergleichen, was dieselbe aufgegeben habe, indem sie von dem Artikel 9 ihres Vertrages mit dem Sultan von Sansibar urüdzetreten sei und dagegen eîne Rente von 600 000 M auf eine Reibe von Jahren bekommen habe, welche sie aber nicht zu ihrem eigenen Gunsten, zu Gunsten ihrer Rente verwenden dürfe, sondern im Interesse des Landes, soweit niht die Ablösung in Frage fomme. Es sei ein entschiedener Vorthetl, wenn nicht cine Privatgesellschaft, _fondern das Reich die Landes- hoheit ausübe und die Zölle erhebe. Er enthalte sih aber eincs weiteren Urtheils darüber, weil er Mitglied des Aufsichtsraths der Deutsh-Ostafrikanischen Gesellschaft sei. Als einen Fortschritt begrüße ¿r die Auswerfung von 25090 #4 für Kolonisationsversuche in Südwest- Afrika. Das Klima daselbst sei so gesund, daß deulsche Ackerbauer und Viehzüchter gedeihen und zur Unabhängigkeit kommen könnten. Zur Erhöhung der Einnahmen aus der Zuersteuer biete die Lage des Etats keine Veranlassung. Den unleugbaren Fortschritt des Wohlstandes in Deutschland verdanke man der unentwegten, fraftvollen und konsequenten äußeren Politik, deren Grundlagen von dem Gründer des Reichs, dem Kaiser Wilhelm gefegneten Andenkens, und dem Kanzler Fürsten Bismarck gelegt seien. Und Dank der jetzigen Leitung der auswärtigen Angelegenheiten könne man mit Ruhe und Sicherheit in die Zukunft sehen. Das Vertrauen in die Festigkeit der deutschen Politik bei anderen Völkern fei auch die beste Grundlage für eine sihere Ausgestaltung der deutschen Finanzen. Daß die Einnahmen aus den Zöllen und der Tabacksteuer, welche für das Reich zurückkehalten würden, von 139 auf 140 Millionen erhöht werden scllten, bedeute keine Verminderung der konstitutionellen Rechte des Reichstages. Prinzipielle Bedenken gegen den Etat habe er nit, aber eingehende Erwägung in der Kommission sei angezeigt, damit das Reich nicht auf Abwege gerathe in einem Augenblick, wo es sehr hohen Einnahmen gegenüberstehe, aber gefaßt fein müsse, daß diese Einnahmen später einen nicht unbedeutenden Rückschlag erfahren würden. (Beifall bei den Nationalliberalen )

Abg. Rickert: Die Ansichten des Hrn. Abg. von Frege über die amerikanishe Zollpolitik ständen mit den Thatsachen in direktem Wider-. spruch, und die Kritik, die das amerikanische Volk bei den leßten Wahlen über die neueste Zollpolitik gefällt habe, sollte ihn (den Abg. von Frege) cines Besseren belehren. (s habe eben schon gemerkt, daß es selbst den höheren Zoll bezahlen müsse, und habe deshalb mit feinem Urtheil über die Wc. Kinley-Bill nicht zurückgehalten. Wenn Hr. von Frege sih über die Beunruhigung beklage, die durch die drei Zeitungen, die „Vossische“, die „Frankfurter“ und das „Berliner Tageblatt“ in das Volk gebracht werden solle, so hätten doch die Herren, die den Zolltarif von 1879 zu ihrem Vortheil in den Jahren 188% und 1887 abgeändert hätten, vor Beunruhigungen gewiß nicht zurügeshreckt; in jeder Dorfgemeinde hätten Petitionen cireulirt um Zollerhöhungen; und wie könne man seiner Partei da Beunruhigung vorwerfen, wenn sie jeßt im Interesse der Aermeren eine Herabseßung der drückendsten Zölle erstrebe? Es sei niht patrictish, wenn man ihn und seine Freunde vor dein Auslande charakterisirte als Männer, die Ghre und Ansehen des Reichs gefährdeten, nur weil sie die Getreidezölle niht so ansähen wie der Hr. Abg. Graf von Behr. Die Reden über Sparsamkeit, und äußerste Sparsamkeit, die man heute gehört habe, würden beim Abschluß der Etatöberaihung viel besser am Plate gewesen sein; dann hätte man auch gleih erkennen können, ob die s{önen Reden auch in Thaten umgeseßt seien. Hätten diese Reden nur den mindesten Erfolg, so werde man einen kräftigen Strih in den Marine-Etat und auch im Militär-Etat Ab- strihe mahen. Nachdem in den leyten Jahren eine so erheblihe Ver- mehrung der Militärlasten eingetreten sei, habe man doch wirklich er- warten dürfen, daß eine große Zahl von Forderungen in diesem Jahre nit gebracht werden würde, die nicht absolut dringend und nöthig seien. Auch die Forderung für die Unteroffizierprämien, die schon im Sommer nicht bewilligt sei, hätte zurückgestellt werden können. Die \chnell folgenden Aenderungen in der Techaik follten zu einem lang- sameren Tempo im Bau von neuen Schiffen dringend mahnen. Bezüglich der Kolonialpolitik würde leider selbs eine Kolontalkom- mission unter dem Vorsiy des Abg. Dr. Windthorst nah dem Standpunkte, den er bei früheren Bewilligungen ein- genommen habe, s{chwerlich etwas ausrihten. Den Schmerz des Abg. Dr. Windthorst über die Klausula Franckenstein ver- stehe er beim besten Willen niht; es handle fich hier um eine einfache tehuis@e Maßregel, die mit der politischen und konstitutionellen Bedeutung der Klausel nicht das Mindeste zu thun habe. Wenn man an dem System der Matrikularbeiträge rütteln wolle, hätte der Hr. Abg. Dr. Windthorst einige Berechtigung zu seinen Bedenken. Er (der Abg. Dr. Windthorst) habe heute wohl auch nur etwas Alarm {lagen wollen, Die gestrige Aeußerung des Herrn Reichskanzlers über die von seiner (des Redners) Partei geübte Kritik des Invaliditäts- und Altersversicherungégeseßzes sei eine so scharfe Zurückweisung gewesen, wie sie die sahliche Aus- führung des Abg. Richter keineswegs gerechtfertigt erscheinen lasse. Bis in die jüngste Zeit seien im Lande Stimmen laut geworden, die eine Hinausschiebung des Inkrafttretens des Geseyes gefordert hätten. Der Hr. Abg. Dr. Windthorst habe erklärt, daß es zur Zeit nicht angezeigt sei, an dem bestehenden Zollsystem zu rütteln, daß, wenn Oesterrei niht genügende Konzessionen mache, Deutschland ganz gut am jeßigen Zollsystem festhalten könne. Die Erklärung, daß er und seine Freunde unter Umständen aber auch einer Modifikation des gegenwärtigen Zollsystems zustimmen würden, acceptire er (der Redner) gern. Die freisinnige Partei wünsche die alte Aera dieser Zollpolitik Delbrück - Camphausen zurück und den Zustand, den die Handelsverträge unter Führung von Napoleon und Cobden über Europa gebracht hätten. Die freisinnige Partei sei es aber durhaus nicht allein, welhe mit ihrem Urtheil über die Ge- staltung der deutshen Zollpolitik nicht zurückhalte. Dem Herrn Neichskanzler werde es doch bekannt sein, daß im preußischen Landes- Dekonomiekollegium bereits vor länger als vier Wochen die Frage erörtert sei, und daß Prof. Shmoller gesagt habe, es werde jeßt die Aera der Differentialzölle über Europa kommen und dann die eines europäishen Zollbundes. Niemand habe sich damals dagegen erhoben, obgleih aúch der preußische Staats-Minister für Landwirthschaft u. \. w. zugegen gewesen sei, Die Pommershe Oekonomische Gesellshaft , der Landwirthschaftliße Centralverein, sie hätten diese Frage vor ihr SouiN gezogen, überall starres Festhalten an dem gegenwärtigen ollsystem. Die Abgg. Dr. Windthorst , Graf zu Limburg-Stirum , von Tiedemann und noch einer hätten gestern im Abgeordnetenhause dasselbe gesagt , keiner der vier anwesenden Staats-Minister habe widersprohen. Und hier erfahre der erste Redner, der in wirklich sehr gemäßigter Form über die Sache spreche, eine solche Zurückweisung von dem Reichskanzler! In Oesterreich habe ein schr angesehenes und einflußreihes Mitglied der österreichi- {hen Kammer, Dr, Plener, gar keinen Anstand genommen, in öffent- icher Versammlung vor setnen Wählern in Eger über die Bedingungen zu \prechen, unter welchen allein die Kammern einen folhen Handels-

fig nach wenigstens keine

vertrag genehmigen würden. Man werde ihm do nicht vorwerfen, daß er die Stellung der Regierung erschüttert habe. Die freisinnige pes habe es mit Genugthuung und freudig begrüßt, daß der Reichs- anzlec ihren Ausführungen gegenüber eben so objektiv und unpar- teiish gewesen sei, wie den Ausführungen anderer Parteien gegen- über. Möge es so bleiben. Der Reichskanzler habe von der Sozialpolitik der Regierung gesprochen. Seine Partei verkenne diese edle und humane Absicht in keiner Weise, aber der Reichskanzler wolle! ihm nicht wverübeln, wenn er (der Redner) ihm gegenüber die Behauptung aufstelle: die "ganze Sozialpolitik habe nicht die Bedeutung für das arbeitende Volk, wie die Aufhebung des Bestehens des Steuer- und Wirthschaftssystems. (Beifall links.) Man stelle den Arbeiter vor die Wahl, er werde sih für die Aufhebung der Lebensmittelzölle ents{beiden; in diesem Sinne wolle die freisinnige Partei weiter wirken, (Beifall links.)

Reichskanzler von Caprivi:

Ich gestatte mir, den Hrn. Abg. Rickert darauf hinzuweisen, daß gerade der öôsterreihische Abgeordnete, den er hier citirt hat, in einer Rede, welhe durch die Zeitungen gegangen ist ob sie in dieser Form authentisch war, weiß ih niht, und ich kann auch nur aus dem Gedächtniß citiren etwa dahin sfih außs- gesprohen hat: Die ganze deutshe Zollpolitik müsse Fiasko machen, Deutschland sei durch seine öffentliche Meinung ge- nöthigt, die Agrarzölle aufzuheben; warum solle man sich in Dester- reih überhaupt noch mit einem Zoll plagen, wenn es ohnehin fest- stehe, daß Deutschland diejenigen Konzessionen, die es jeßt in Gestalt des Entgegenkommens machen möchte, machen müsse, weil es durch die öffentliche Meinuag dazu gezwungen werde. (Hört, hört ! rechts.)

Fch stelle dem Ermessen des Hrn. Abg. Rickert anheim, selbst zu erwägen, von welcher Seite diejenigen Reden, auf die der Abg- Plener seine Behauptungen aufbaute, ausgegangen sind.

Ein Vertagungsantrag wird angenommen.

Schluß 51/4 Uhr.

Statistik und' Volkswirthschaft.

Vorläufige Volkszählungs-Ergebnisse.

Königsberg i. Pr. 161 149 (151 157).

Hamburg (Stadt mit Vorstadt St. Pauli und Vororten) 570 534 (gegen 471 000 in 1885).

Hamburg (Staat) 624 199 (518 000).

Köln (mit den einverleibten Vororten) 282 537.

Görliß 61643 (55 470),

Münster 48613 (44 060).

Liegnitz 46 883 (43 347).

Zwidckau 43941 (39 243).

Bromberg 35130 (31 521).

Heidelberg 28 472 (26 928).

Worms 2 476 (21 839).

Hanau 24939 (24 479).

Eßlingen 22085 (20 310).

Ratibor 20578 (19 581).

Konstanz 16 226.

Emden 13752 (14021).

Dortmund 89518 (78 435).

Mainz 73271 (66 314).

Zur Arbeiterbewegung.

Aus Solingen theilte die „Elb. Ztg.* über den Ausstand der Tashen- und Federmesserschleiser unter dem 9. d, M. mit, daß die seit Samstag wieder aufgenommenen Verhandlungen zwischen den Ausschüssen des Taschenmesserfabrikanten- und des Taschen- messerschleifervereins soweit gediehen seien, daß sie einen befriedigenden Abschluß in sichere Aussicht stellten. Ein Telegramm des Wolff- hen Bureaus“ vom gestrigen Tage meldet nun, daß der Ausstand nah viermonatliher Dauer dur beiderseitiges Entgegenkommen bei - gelegt worken ist, D

Fn Spiesen fand, wie die „S. u. Bl. Ztg." berichtet, am 7, d. M. eine allgemeine Bergarbeiter-Versammlung ftatt, welche nur von etwa 150 Personen besucht war und ungefähr eine Stunde dauerte. Nach Verlesung des Statuts des- Verbandes deutscher Bergarbeiter wurde zum Beitritt aufgefordert, da nur die große Masse etwas erreihen könne. Berwanger theilte fo- dann mit, daß Warken am 29. dieses Monats aus dem Gefängniß entlassen werde und {lug die Stiftung eines Neujahrsge\chenks für denselben vor. Alsdann beurtheilte Nieser aus Dudweiler das neue Knappschaftsstatut abfällig, erklärte es als unannehmbar und empfahl die Entschädigung der Vertrauensmänner für ihre persönliche Mühewaltung. i

Hier in Berlin fand vorgestern eine Versammlung der Taba ck- arbeiter und Arbeiterinnen statt, in welher der Reichstags- Abgeordnete Molkenbuhr über den Auss{chluß der Tabadarbeiter Hamburgs und der Umgegend sprach. Weiterhin theilte, wie wir dem „Berl. Volksbl.“ entnehmen, ein Hr, Otto mit, daß im Hamburger Tischlerverband, welcher circa 2000 Mitglieder zählt, be- {lossen worden sei, wöchentlich pro Mann 1 K für die Ausgesperrten zu steuern (Vgl. Nr. 296 d, Bl.). Ferner machte der Redner darauf aufmerksam, daß von den Tabacksarbeitern Berlins Marken im Werthe von 10, 25 und 50 4 ausgegeben sind, um für die Hamburger zu sammeln. Die Berliner Strike-Kontrolkommission habe, wenn auch erst nah vielem Drängen, den Vertrieb übernommen. Cine Generalversamm- lung des Fachvereins sämmtlicher an Holzbearbeitungs- Maschinen beschäftigten Arbeiter tagte am Montag, den 1, Dezember und erklärte nach Erstattung des Kassenberihts und der Entlastung des Kassirers den Fachverein, der in den neu gegründeten Centralverband als Filiale Berlin aufgelt, für aufgelö.

Ueber die Arbeiterbewegung in England wird der „Rh.- Westf. Ztg.“ berichtet: Die Angelegenheit Betreffs der \ch{hotti- \chen Hochofenarbeiter is noch immer auf demselben Stand- punkt. Weitere Unterhandlungen haben niht stattgefunden und es ist kaum anzunehmen, daß in diesem Jahre eine Einigung er- zielt wird. Weitere Aus stände sind in Swansea erfolgt. aselbst haben in vier der größten Weißblehwerke ungefähr 3000 Mann die Arbeit niedergelegt. Da der Ausftand entgegen den Vereinbarungen, welche mit den Werken getroffen waren, erfolgte, fo sind die Werke an nichts gebunden und werden, so weit dies möglich ist, andere Ar- beiter heranziehen. ] :

Aus La Lo uvidre wird der „Köln. Ztg.“ telegraphirt, daß einer Meldung der „NRéforme* zufolge ein allgemeiner Aus- stan d nahe bevorstehe, wenn auf dem am nächsten Sonntag daselbst stattfindenden Kongreß eine Einigung der belgischen Becg* leute zu Stande komme.

Die im Ressort des Königlich preußishen Ministeriums

der geistlihen, Unterrihts- und Medizinal-Angelegen- heiten während des Jahres 1889 durch Allerhöchste Er- lasse genehmigten Schenkungen und leßtwilligen Zuwendungen.

Au im Iahre 1889 hat sich der Wohlthätigkeitssinn der preu- ßishen Bevölkerung durch Schenkungen und Dae Zuwendungen an inländishe Korporationen und andere juristische Personen in reger Weise bethätigt. Soweit das Men des Ministeriums der drr lien, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten hierbei in Betrach kommt, finden wir in dem „Centralblatt für die gesammte Unter- rihtsverwaltung in Preußen“ für 1890 eine nah Kategorien geordnete Zusammenstellung derjenigen Zuwendungen, welche im einzelnen alle den Betrag von 3000 4 übersteigen und demna gemäß den Be-

D

stimmungen im §. 2 des“ Geseßes vom 23, Februar 1870 der Aller- höchsten Genehmigung bedurften. Nach dieser Zu/ammenstellung be- trug die Zahl der Shenkungen und lettwilligen Zuwendangen 313, der Geldbetrag 6436684" A 41 S, von wel@{en entfielen: 13,91% auf evangelisdé Kirchen und Pfarrgemeinden, 8,71 % auf evangelish - kfirchlihe Anstalten, Stiftungen, Gesell- haften und Vereine, 15,28 % auf cevangelisch - kirh- lihe Gemeinshaften außerhalb der Landeskirche und dazu gehörige Anstalten, 3,40% auf Bisthümer und die zu denselben ger bôrenten Institute, 33,69% auf katholishe Kirchen und Pfarr- 2c. Gemeinden, 9,80% auf fkatholisch-kirchliche Anstalten, Stiftungen 2c., 9,86 9/0 auf Universitäten und zu denselben gehörige Institute, 1,95 %/o auf höhere Lehranstalten und die mit denselben verbundenen Stif tungen 2c., 1,08 % auf Volks\chulgemeinden, Elementarschulen bezw. die den leßteren gleihstehenden Institute, 0,33 9/6 auf Taubstummen- und Blindenanstalten, 4,91% auf Waisenhäuser und andere Wohl- thätigkeitsanstalten, 2,70 9/0 auf Kunst- und wissenschaftlihe Institute; Anstalten 2c. und 1,38 9/9 auf Heil- 2c. Anstalten.

Zur Frage der Fleischpreise. ;

Bezeichnend für den Einfluß des Zwischenhandels auf die Fleis h- preise ist folgende Meldung der „Schles. Ztg.“ aus Liegnig: Be- wohner unserer Stadt, welche alljährlih Schweine zum Verkauf mästen, klagen, so schreibt das „Lieanißer Tageblatt“, in diesem Jahre darüber, daß die Fleischer für das Fettvieh zu niedrige Preise bieten. Sie g:hen deshalb daran, selbs zu \{chlachten und das Fleis zu ver- kaufen. Auf diese Art hat, wie uns mitgetheilt wird, ein Pefger Bürger aus einem Schwein 32 M mehr herausgeschlagen, als ihm der Fleischer zahlen wollte, und dabei verkaufte er das Pfund [eis mit 55 A. Infolge dieses günstigen Ergebnisses haben sih bereits Nachfolger gefunden, welche es ebenso machen.

Kunft und Wissenschaft.

Das Koch'she Heilverfahren.

Jn der gestern erschienenen Nr. 51 der „Berl. klinischen Wochschr.“ (Verlag von A. Hirshwald) berichtet Professor Senator, daß er an der Königlichen Universit äts- Poliklinik am 17. November und auf seiner Klinik in der Charité am 20. v. M. mit den Einsprißzungen be- gonnen und seitdem einschließlich einiger Privatpatienten 53 Fälle in Beobachtung genommen hat, an denen etwa 400 Einsprizungen gemacht wurden. Dem Aufsaß ist Fol- gendes zu entnehmen : /

Die längste Beobachtungsdauer ist knapp drei Wochen, eine Zeit, welche selbstverständlih nicht hinreiht, um über endgültige Erfolge und Heilungen zu berihten, Außer manchen Besonderheiten und un- gewöhnlichen Ecscheinungen im Verlauf der Behandlung hebt Senator einige niht genug berüsihtigte Punkte hervor, die dazu dienen sollen, die günstigen und ungünstigen Vorbedingungen für die Anwendung des Koch'scen Verfahrens festzustellen und zu verhüten, däß bei jeder Tuberkulose planlose Einsprißzungen ohne Rücksiht auf den Sig und die Ausbreitung des Prozesses gemaht werden, Denn eine unzweckmäßige Anwendbarkeit des Mittels kann statt Nüßen nur Schaden stiften und es leiht diskreditiren. Ungemein wichtig für die Frage nach der Anwendung des Kochen Verfahrens {eint die Art der örtlichen Reaktion. Wie Koh selbst es {on kurz be- schrieben und wie die von O. Israel veröffentlihte erste anato- mishe Untersuhung bestätigt hat, handelt es sich um ein Absterben des tuberkulösen Gewebes, welches durch eine in der Umgebung stattfindende reaktive Entzündung zur Abstoßung ge- bracht wird. Dieser Vorgang wird sih am Leichtesten abspielen und am Günstigsten. ablaufen auf freien Flächen, welhe die Ab- \toßung und Abführung des abgestorbenen Gewebes nah anes ge statten und bei welchen die entzündlihe Schwellung der Gewebe keine Gefahr bedingt, also auf der äußeren Haut und auf S{leimhäuten, welche frei nah außen führen, wie Mund-, Rachen-, Nafenschleimhaut und ganz besonders auch der Darmschleimhaut, ferner der Schleimhaut der Harnwege zumal der Blase. Zu den weniger günstig gelegenen Stellen, welche das Leben gefährden können, gehört der Kehlkopf, dessen Tuberkulose ja bereits vielfa Gegenstand der neuen Behandlun geworden ift und bei dem die begleitende entzündlihe Schwellung ja au {hon die Tracheotomie nöthig machte. Professor Senator war in der günstigen Lage, das Koch'she Verfahren bei cinem Schwindsüchtigen anwenden zu können, bei welhem bereits viele Wochen vorher die Tracheotomie nothwendig geworden und jene Gefahr deshalb aus- geschlossen war. Bei diesem mat die Affektion unter der Behand- lung sihtlihe Fortschritte zur Besserung. Der Patient, welcher wegen Bebinderung des Schluckens dem Verhungern nahe war, ernährt ih jeßt befriedigend und kann {on auf dem natürlihen Wege athmen. Noch weniger günstig liegen die Verhältnisse an den Lungen, da vermöge ihres Baues, wegen der Kleinheit der zu- oder abführenden feinsten Luftröhrenverzweigungen eine Entleerung der abgestorbenen Massen nah außen recht s{wierig ift, abgesehen davon, daß gar nit selten die zu den erkrankten und zerfallenen Partien führenden Bronchien verödet und verschlossen sind. „Für die Lungentuberkulose werden wir daher unsere Er- wartungen nicht zu hoh spannen dürfen und die Mah- nung Koch 's, daß nur das Anfangs stadium der Phthisedas eigentlihe Objekt der Behandlung sei, kann dem Drängen des Laienpublikums und setnen übershwän g- lihen Hoffnungen gegenüber niht genug wiederholt werden.“ Die Tuberkulose der geschlossenen Höhlen bietet die un- günstigsten Verhältnisse, da die abgestoßenen Massen nit entleert werden und Anlaß zur Resorption bacillenhaltigen Materials geben. Wo der Chirurg einen Ausweg \haffen kann, wie bei den Gelenken, dem Bauchfell, da wird ja die Gefahr dadurch vermindert. Wo aber die Eröffnung nicht thunlih is und wo es sih vollends um starre, unnaGgiebige Höhlen handelt, da wird das Koch'sche Mittel nit, oder nur mit der allergrößten Vorsicht angewandt werden dürfen. Für vollständig kontraindizirt hält es Senator bei Tuberkulose inner- halb der Schädelhöhle, also des Gehirns, oder der Hirnhäute, wegen der doppelten Gefahr, die einmal dur die entzündliche Blutfülle und Schwellung, sodann dur die möglihe Auffaugung des Infektionsstoffes bedingt wird. Daß bei vorgeschrittenem Kräfteverfall, ausgedehnter Erkrankung das Verfahren zu unterbleiben hat, würde er hervorzuheben nit für nöthig halten, wenn niht noch fast tägli Kranke in trofte losestem Zustande nach demselben verlangten, :

Dex Bau der Baracken für JInfektionskran k- heiten, welhe auf dem Terrain zwischen Stadtbahn und Charité errichtet werden, s{hreitet, wie die „Nat. Ztg.“ mit- theilt, rüstig vorwärts. Die einstöckigen leichten Bauten find aus Holz und Eisenfachwerk konstruirt und werden mit Steinen ausgemauert. Die Däher werden aus Wellblech hergestellt. Für den Bau der Baracken, deren vorläufig drei errichtet werden sollen, sind eine große Pahl von Arbeitern angestellt, um die Bauten möglichst schnell fertig zu stellen; man arbeitet sogar nach eingetretener Dunkelheit bei elektrishem Licht.

Jn Köln is nah einer vom Ober-Bürgermeisteramt er- lassenen Bekanntmachung der Vorrath der städtishen Krankenanstalten an Koh'sher Lymphe erschöpft. Auswärts wohnende Kranke könnten demnach in den betreffenden Anstalten bis auf Weiteres keine Ce mehr finden.

Die „Wiener Zeitung“ veröffentliht eine Verordnung des österreichischen Ministeriums des Jnnern vom 8. d. M., betreffend das Koch'sche Heilmittel. Dana darf dasselbe nur aus den von der preußishen Staatsverwaltung autorisirten Versandstätten und! zwar bis auf Wider- ruf nur Seitens der Vorstände von Heilanstalten

und diplomirter Aerzte bezogen werden. Eine ams