1891 / 18 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Tue, 20 Jan 1891 18:00:01 GMT) scan diff

E E a e E E E T

Einstellung des Verfahrens beschließe, fo nehme er an, daß [das Verfahren rechtmäßig eingeleitet worden sei, und daß er es nur nicht fortgeseßt wissen wolle. Wenn er (Redner) auch niht so weit gehe, wie der Abg. Singer, der den Besitzer eines Privilegs auch als den rechtmäßigen Interpreten desselben betrachtet wissen wolle namentli ‘ür die bevorstehenden Verhandlungen über die Zuckersteuer möchte er (Redner) diesen Grundsaß nit gelten lassen —, fo wolle er do nibt, daß der Privilegirte stillschweige, wenn es sich um seine ganze Existenz handele. Der Ausspruch des Reichstages sollte aud allein in dieser Sache hon genügen, ohne daß noch der Bundesrath befraat würde. Der Tenor des Antrages Auer aber verlange Unmögli(es. Die Angelegenheit sei bier so behandelt worden, als käme es nicht wesentlich darauf an, daß gegen einen Abgeordneten eîne Unter- suchung eingeleitet werden könne, da der Reichêtag ja do das Recht habe, die Untersuchung illuforisch zu machen, indem er die Sistirung verlange. Das sei mcht richtig. Wären bei diefem Falle nit die Gerichtsferien dazwischen gefallen, so wäre die Untersuchung beendigt worden, bevor der Reichstag hätte sprechen können. Bestände also die Möglichkeit, ein Verfahren wäßrend einer längeren Vertagung des Reichstages einzuleiten, so könnte gelegentlich auch eine Aburtheilung erfolgen. Der Reicstag sei schuldig, seine Stellung zu kennzeinen, je unverrücter der Bundesrath bei der seinigen bleibe. (Heiterkeit. ) Er bitte also, beide Anträge der Geschäftsordnungskommission zu Überweisen. h

Abg. Freiherr von Unruhe-Bomst: Sein Antrag wolle nur, daß der Meichstag einen Besluß fasse, den er fassen müsse, und daß er Unausführbares zurüstelle. Die Kommission würde mit beiden Anträgen auch gewiß „nit rechtzeitig fertig werden. In jedem Falle müsse die Immunität der Abgeordneten auch während der Vertagung gewahrt bleiben.

Abg. Dr. Hartmann: Er bitte den Antrag von Unrube \ofort zu erledigen, da sonst leiht die Verhaftung des Angeklagten erfolgen könnte, und das gönne er dem Abg. Grillenberger nicht und vor Allem dem Reichstag nicht. Die Würde des Reichstages und der Volksvertretung müsse auf jeden Fall gewahrt werden.

Abg. Munckel: Der Antrag, das shwebende Verfahren fofort zu sistiren, bleibe für ihn unannehmbar, wenn nit eine besondere Resolution dazu angenommen würde. Er könne niht dafür ftimmen, daß ein an sich ungehöriges Verfahren nur sistirt werde, fondern wolle eine Entscheidung, ob das Verfahren rechtmäßig gewesen sei oder nit. Eine solche zu fällen, werde vielleiht das Neichsgericht in die Lage kommen.

Abg. Klemm: Dur Annahme des Antrages von Unruße er- kläre der Reichétag noch nicht das eingeleitete Verfahren für legal oder illegal. Er wahre damit nur die Autorität des Reichstages, übe aber feine Kritik über die Einleitung des Verfahrens aus. Er (Redner) bitte alfo den Antrag Unruhe-Bomst anzunehmen.

Damit {ließt die Diskussion. : :

Abg. Singer (Schlußwort): Er bitte, beide Anträge der Ge- \{äftsordnungésfommission zu überweisen. Die Auffassung, daß seine Partei mit dem Antrag auf Sistirung zuglei über die Rehtmäßig- keit oder Unrechtmäßigkeit des Verfahrens entscheide, sei für ihn zu juristisch. Die Kommission müsse aber das ganze Material in die Hand bekommen. Werde sie mit der Bearbeitung der Sache nit rechtzeitig fertig, so könne sie ja einen Vorantrag stellen. Jedenfalls aber werde alsdann die Sache eine prinzipielle Entscheidung finden.

Die Ueberweisung des Antrages von Unruhe - Bomst an die Geschäftsordnungskommission wird abgelehnt, die Ueberweisung des sozialdemokratishen Antrages an die Ge- schäftsordnungskommission einstimmig beschlossen und darauf der Antrag von Unruhe-Bomst angenommen.

Es folgt die zweite Berathung des Etats.

Bei dem Etat „Reichstag“ regt Abg Richter eine gedruckte Zusammenstellung der Beschlüsse der dritten Lesung des Etats an, wie sie in dem preußishen Landtage erfolge; es sei dies im Interesse der leichteren Orientirung und kor- rekteren Rechnungélegung. Redner bringt sodann die Gewährung von Diäten an die Mitglieder des Reichstages zur Sprache. Die Nothwendigkeit bierzu sei immer dringliher. Als zum erften Male die Frage negativ beantwortet worden fei, habe man kürzere Sessionen angenommen. Die Diätenlosigkeit habe abkürzend auf die Sessionen wirken sollen; die Erfahrung habe gezeigt, daß sie obne Einfluß sei auf die Dauer der Sessionen. Dagegen fei sie von Einfluß auf die Präsenz und Beschlußfähigkeit des Hauses. Die parlamentarische Arbeit beschränke sich in Folge der mangelnden Präfenz auf einen ganz kleinen Kreis von Personen, meist solchen, die in Berlin wohnten; diese seien dann von mehreren Kommissionen zuglei in Anspruch genommen, abgesehen davon, daß es dieselben Personen seien, die auch im Abgeordnetenhause die Kommissionsarbeit bâiten. Die Diâtenlosigkeit habe ferner dem Eindringen der Be- rufspolitiker entgegenwirken sfollen. Aber nach der Erfahrung sei es durch die Diätenlosigkeit Denjenigen leihter, cin Mandat zu übernehmen, deren Beruf der Politik näher stehe. Die Ver- hältnisse seien noch ungünstiger geworden seit Einführung der fünf- jährigen Legislaturperiode. Im Jahre 1867 sei die Gewährung als allgemeines fkonstitutionelles Recht angesehen worden; auch bei dem ersten konstituirenden Reichstage seien alle Staaten außer Preußen davon durchdrungen gewesen. Nur der pe:rsönlide Wille des Fürsten Bismarck habe die Diätenlosigkeit durchgeseßt. Nun habe der jeßige Reichskanzler bekanntli erklärt, daß die Regierung bereit sein werde, überall solwe zurückgedrängte Gedanken aufzunehmen und, soweit sie durfübrbar seien, zu realisiren. Deshalb möchte er (Redner) dem Rei&skanzler den Wunsch nahelegen, vorurtbeilsfrei in die Prüfung der Frage der Diätengewährung einzutreten. Seine Partei müsse si vorbehalten, in dieser oder der nähsten Session einen bezüglichen Antrag einzubringen. Die Sace würde si aber einfacher erledigen, wenn für die Angelegenheit, in der so viele Voten des Reichstages: für Gewährung vorlägen, die Initiative Seitens der Regierung selbst er- riffen würde. ; S F s Der Etat „Reichstag“ wird bewilligt, ebenso ohne Debatte der Etat „Reichskanzler und Reichskanzlei“. : Bei dem Etat des „Reich3amts des Jnnern“ und zwar bei dem Titel „Besoldung des Staatssekretärs“ bringt Aba. Lingens die Thâtigkeit der Fabrikinspektocen zur Sprache. Er weise auf das Ansehen dieser Beamten in Defterrei, namentli im 15. Inspektionsbezirk hin, wo fast alle Arveitéeinstellungen durch ihr Dazwischentreten ausgeglihen worden seien. Im Hinblick auf den badishen Bericht bezeihne er es als durhaus zwedck- mäßig, daß Angesihts der Zunahme der Arbeiterinnen in den Fabriken der Inspektor auh zur nächtlichen Zeit Inspektionen vor- nehme. In demselben Bericht werde bemängelt, daß katholische Geist- lie an fatholishen Feiertagen um 4 Ubr früh Méfsse läsen und dann die Arbeiter von dieser Stunde bis 7 oder 8 Uhr thâtig zu sein genöthigt würden. Das fei allerdings zu bedauern, aber der katho- lische Geistlihe würde wohl zu der Frühmesse nit übergehen, wenn niht dazu ein absolutes Bedürfniß vorläge; die ärbeitgeber sollten an solchen Feiertagen die Arbeit wenigstens später beginnen lassen. Abg. von Keudell: Nach den Ermittelungen des Dr, Baer hätten ih in deutshen Kranken- und Irrenhäusern 11 000 Personen befunden, die an Säuferwahnsinn gelitten, in Gefängnissen und Fuchthäusern unter 33 060 Personen 1400, deren Verhaftung dur runksucht veranlaßt worden jei, also 43 9% aller Gefangenen. Unter den beftraften Verbrechen seiea auf Mord 43 Trunkiüchtige gekommen, auf Todtshlag 63, aufBrandstiftung 47, auf Diebstahl 51, auf Raub 68, auf Körperverlezung 74 %%. Rechne man zu den 11000 und 14000 Personen die 800, welhe durch Selbstmord oder Unglücksfälle in Folge von TLTrunksuGt jährlich zu Grunde gingen, so ergebe das 258.0 Personen. Ghe diese Leute zum Aeußersten kämen, \{lügen fie si dur ein langes Leben hin, ruinirten eine Frau oder einen Ehemann und gäben Kindern das Leben, welhe mit dem erblichen Hange zur Trunksuht und zum Wahnsinn belastet in das Leben einträten, und das sei die entseß- liste Seite dieser Verheerung. Erfahrungsmäßig seien frische Fälle

von Trunksucht in den Trinkerheilanstalten sehr leiht geheilt worden, Personen aber, deren Eltern Gon dem Trunke ergeben gewesen seien, würden in der Regel, wenn sie geheilt würden, wieder rückfällig. Das Uebel wurzele im deutshen Volke tief; die Erfahrung aller anderen Länder, wo der Kampf gegen die Trunksuht geführt werde, beweise, daß nur da, wo der Staat seine starke Hand zur Unter- stüßung der Privatthätigkeit leihe, die Erfolge bedeutend seien. In Schweden und Norwegen sei der Konsum des Trinkbranntweins in wenigen Jahrzehnten bis auf ein Sechstel gesunken; England, mehrere Staaten Nordamerikas, die Schweiz, Holland wiesen ähnliche Erfahrungen auf. Für Deutschland fomme noch ein ganz besonderer Grund binzu, der Sache näher zu treten. Alle Interessenten der großen sozialpolitishen Geseße, und das sei so ziemlich die ganze Bevölkerung und die Reichskasse selbft, hätten ein Interesse daran, daß die Zahl der Trunksüchtigen fh vermindere. In der That habe auch das Reichsamt des Innern dem Gegenstande ernste Aufmerksamkeit gewidmet und darüber vielfach Correspondenzen mit den verbündeten Regierungen gepflogen. Vor einigen Wochen habe dur die Presse die Nachricht die Runde gemacht, daß ein solcher Entwurf bereits fertig gestellt sei. Er frage, ob die Nachricht begründet und ob Ausficht vorhanden sei, daß ein solher Entwurf noch im Laufe der gegenwärtigen Tagung vor- gelegt werden könne. (Beifall.)

Staatssekretär Dr. von Boetticher:

Ich benute gern die Gelegenheit, um über die Lage des Gesehes, welhes sich auf die Bekämpfung der Trunksuht richtet, Auskunft zu ertheilen. Wie aus meinen früheren Erklärungen, glaube ih ih habe sie jeßt nicht wieder eingesehen —, bereits dem hohen Hause bekannt geworden ist, hat ein Meinungsaustaush unter den ver- bündeten Regierungen über die Bedürfnißfrage stattgefunden, bei welhem ih die überwiegende Zahl der Regierungen dahin aus- gesprochen hat, daß ein Bedürfniß für ein geseßgeberisches Vorgehen auf diesem Gebiete anzuerkennen sei. (Hört, hört!) Demgemäß sind bereits von den berufenen Neichsstellen, dem Reich8-Justizamt und dem Reichsamt des Innern, kommissarische Verhandlungen ein- geleitet worden. Die Ergebnisse dieser Berathungen liegen mir augenblicklich in Gestalt von Grundzügen zu einem Gesetze vor, in welchem es sih darum handeln wird, sowohl gewerbepolizei- lihe wie privatrechtliche und \trafrechtlihe Bestimmungen zu erlassen, welche geeignet sind, gerade den Uebelständen, welhe der Herr Vorredner so lebhaft und, wie ih anerkennen muß, mit vollem Recht betont hat, entgegenzutreten. Der Gesetzentwurf selbst ist bisher noch nicht in seinen Einzelheiten aufgestellt, indessen ist bisher das Stadium, das noch bis zur Fertigstellung des Gesetz- entwurfs zurückzulegen ist, kein so s{chwieriges, daß ih nicht annehmen Fönnte, daß der Geseßentwurf in Bälde an den Bundesrath gelangen wird. Auh dort, hoffe ich, wird er nihcht auf große Bedenken stoßen. Ih möchte deshalb annehmen aber ohne daß ich, klug gemacht durch frühere Vorgänge, einen bestimmten Zeitpunkt bezeihnen kann —, daß Aussiht vorhanden ist, den Geseßentwurf noch in dieser

Session dem Hause vorzulegen, namentlich dann, wenn, wie der.

Hr. Abg. Richter vorhin vorausseßzte, die Session sih über Ostern hbinaus8zieht. Abg. Wurm: Die Sozialdemokraten seien ebenfalls ganz energische Gegner des Trunkes. Die Arbeiter, die dem Trunke huldigten, seien nicht Sozialdemokraten. Sie könnten sich aber niemals herbeilafssen, die unshuldigen Opfer der heutigen Gesellshaft dafür noch zu trafen, daß sie sie in diesen Zustand verseßt habe. Gerade die Inspektoren- berihte, besonders der badische, zeigten, wie die Trunksucht auf dem Boden der \chle{chten Ernährung, der niedrigen Löhne der arbeitenden Bevölkerung erwachse. Die Schilderung der sozialen Lage der Tabadckt- arbeiter in Baden gebe ein besonders trauriges Bild hiervon. Nicht bloß die \{lechte Löhnung und Ernährung, äuch die ganze Arbeits- cintheilung treibe die Leute zum Branntwein, besonders die Akkord- arbeit bringe den Arbeiter dazu, nervôs zu werden und setne Nervosität dur ein Alkoholikum zu betäuben, wie das in andern Kreisen au geschehe, nur daß der Arbeiter eben zu dem billigen Schnaps greifen müsse, dessen Konsum nicht gesunken, sondern gestiegen sei. Die Be- fugnisse seien leider in den verschiedenen Staaten verschieden. Zu beflagen sei auch, daß die Zahl der Inspektoren zu gering sei. Die Berichte vermieden es, klarzulegen, wie wenig Untersuchungen stattfänden; es werde nicht mitgetheilt, wie viele Anlagen hätten be- \ucht werden sollen, und wie viele niht hätten besucht werden können. Fn vielen Bezirken beshränke sich der Besuh auf nur wenige Pro- zente der Anlagen. Da dürfe es freilich niht wundern, daß der Ge- werbe-Rath für Hannover Müller in seinem Bericht Mittheilungen made, die den Thatsachen nit entsprächen, Er \chreibe z. B., daß regelmäßige Nachtarbeit der Frauen nur in den Zuckerfabriken statt- fände. Dicht vor den Thoren der Stadt befinde sich aber eine Wollwäscherei und Kämmerei, in der eine große Anzabl Arbeiterinnen beschäftigt sei, die auch des Nachts arbeiteten. Er (Redner) nehme seine falsche Notiz dem Gewerbe-Rath Müller gar nicht übel, da dieser nur 5 9% der Anlagen seines Bezirks zu besichtigen in der Lage sei. Wenn aber die Berichte von dieser Beschaffenheit seien, so werde doch der Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Berichte überhaupt berechtigt sein. Die Fabrikinspektoren müßten so vermehrt werden, daß es nicht mehr vorkommen könne, daß ein Arbeiter, welcher fünfzehn Fabre lang in einer Fabrik gearbeitet babe, überhaupt niemals den Fabrikinspektor kennen gelernt habe. In Preußen habe man gar keine Kontrole, wie viel Revisionen vorgenommen würden. In Sawhsen seien 549% der Betriebe revidirt worden, das sei immerhin {on besser. Wie viel Revisionen stattgefunden hätten, werde in allen Be- rihten gesagt, aber niht, wie viel Betriebe revidirt werden sollten. Es komme auch nit so sehr auf die Anzahl der revidirten Betriebe, als auf die darin beschäftigten Arbeiter an, sonst könnte ein Fabrik- inspektor sehr viele kleine Wirkstätten besuhen, wo die Revision \chnell beendigt sei, aber nit die großen Fabriken mit einer Masse von Arbeitern. In Sachsen seien merkwürdiger Weise 1887 weit mebr Betriebe unter das Fabrikgeseß gestellt gewesen als 1888 und 1889, nämli 1887 17 173, 1888 12 931, 1889 12963. Es seien 1888 eine ganze Anzahl Betriebe bei der Zählung auszesch{lossen worden, die doch unter dem In)pektorat stehen müßten, z. B. die unter Aufsicht der Berginspektion stehenden Betriebe, selbst wenn andere darunter nit stehende Betriebe damit verbunden würden. Ferner die Steinbrüche, in denen Viele verunglückten und die oft von den Unter- nehmern fahrlässig betrieben würden. Namentlich sei die Kantinen- wirtbschaft nirgends größer als dort, aber darüber verlaute in dem Bericht nichts. Würden die Unternehmer zu sehr von den Fabrik- inspektoren belastet, so konstruirten sie si Hausindustrie:n, die nit beaufsihtigt würder. Ein Stickereifabrikant habe sechs Stick- maschinen im Hause aufgestellt und die Stickmaschinen verpachtet ; wenn die Sticker nun im Haufe Kinder beschäftigten, so habe ihn das gar nichts angegangee. _Für Cigarrenfabrikanten sei es au vortheil- haft, wenn fie Werkstätten hausindustriell als Filialen einrichteten. Dann entzögen sie si der Aufsicht, weil sie niht Fabriken im. Sinne des Geseges hätten. Das Schlimmste sei auch nicht das, was man in den leßten Berichten erfahre, sondern das, was man nicht zu hôren bekomme, weil es sich der Aufsicht der Fabrikinspektoren entziebe. Wenn man nun in Preußen eine größere Anzahl von Fabrikinspektoren bekomme die Sozialdemokraten würden dem freudig zustimmen, aber leider hätten sie im Abgeordnetenhause nichts zu sagen —, so müßten auch deren Befugnisse ganz ent- schieden erweitert werden. Es komme auch auf die Person an und auf die Quali kation des Beamten. Ein klassisher Gegen- sas zwischen einem Fabrikinspektor, wie er sein solle und wie er nicht ein solle, bôten der Fabrikinspektor von Dresden und der von Baden. Der Erstere, der Gewerbe-Rath Siebdrat , habe es mit großer Ge-

\chicklichkeit verstanden, sich die Sympathien der Arbeiter voll- fommen zu verscherzen. Er habe z. B. erklärt, anonyme Auf- forderungen zur Revision überhaupt niht zu berüdcksihtigen. Der Arbeiter könne den Muth haben, hervorzutreten. Die Arbeiter hätten Muth genug gezeigt, wenn es gegolten habe. Aber ihre Familie elend zu machen wegen kleinliher Dinge, wo sie doch nur angehört würden und man ihnen höchstens wohlwollende Be- rückfihtigung verspreche, so dumm seien die Arbeiter niht. Vertrauen zu den Fabrikinspektoren hätten sie meistens nicht. Der Fabrik- inspektor von Baden sage ofen, wenn er etwas von einem Arbeiter erfahre, seien die Unternehmer fehr empfindlich, sähen es für einen Verstoß gegen die Disziplin an und entlicßen dann den Arbeiter. In Dresden habe ein Arbeiter einer Bronzefabrik von der Gesundheits\chädlihkeit des Betriebes Anzeige gemaht, er sei post hoc entlaffen worden, die Arbeiter seien aber überzeugt, daß es propter hoe geschehen sei. Der Gewerbe-Rath Siebdrat berichte über diesen Fall: „Nach der Untersuchung der Angelegenheit stellte ih heraus, daß der betreffende Arbeiter entlassen worden war, weil derselbe in agitatorisher Weise fortwährend Unzufriedenheit unter den Arbeitern verbreitet hat. Die von ihm gemahten Angaben waren theils übertrieben, theils ganz unwahr.“ Woher kenne der Gewerbe-Rath das agitatorishe Verhalten des Arbeiters? Die hygieni- \{hen Anforderungen dagegen seine er nit zu kennen. So lange das Unternehmerthum und das Fabrikin!|pektorat sih das Vertrauen der Arbeiter niht erwürben, werde man nicht weiter kommen, Von manchen Fabrikinspektoren werde ihre Pflicht eigenthümlih aufgefaßt. Der Fabrikinspektor von Baden fage, daß die Unternehmer sehr empfindlich seien, wenn man ihnen Vorhaltungen mahe. Viele Maßregeln zum Scute der Gesundheit und des Lebens der Arbeiter unterblieben im Interesse des Geldbeutels der Unter- nehmer. Er (Redner) denke, man si so weit gekommen, daß von einer Gleichberehtigung der Arbeiter die Rede sein könne; in dem Kaiferlihen Erlaß habe dics do ausdrüdlih gestanden. Wenn aber die Unternehmer erst nah wiederholten Bestrafungen zu Verbesserungen zu bestimmen seien, und wenn die Kinder zu falschen Ausfagen abgerihtet würden, damit die Fabrikinspektoren Nichts er- führen, so sehe das do einer Korruption verzweifelt ähnli. Wenn

die Fabrikfinspeftoren im Interesse der Saisonarbeit, die längst ab-

geschafft jein könnte, zahlreihe Ueberstunden erlaubten, so müsse dieses Institut geändert werden, wenn es segensreih wirken solle. Der Fabrikinspektor von Baden sage, der Verkehr zwishen den Fabrikinspektoren und den Arbeitera. werde nur dann vortheilhaft sein, wenn erstere mit organisationsmäßigen Vertretungen der Arbeiter verhandeln könnten. Was wolle seine Partei anders mit ihren For- derungen von Arbeiterkammern und | Arbeitsämtern als dies! Die bösen fozialdemokratishen Fachvereine seien gänzlih verpönt. Auf der einen Seite werde den Arbeitern Freiheit gewährleistet, auf der anderen werde sie beschränkt. Erst vor drei Tagen babe der Berg- werksdirektor Francke in Obernkirchen den Deputirten des Knappschafts- vereins erklärt, daß die Arbeiter, welhe einem Fachverein ange- hörten, austreten oder in 14 Tagen die Arbeit niederlegen müßten, Hoffenilih werde ihm _von seiner vorgeseßten Behörde mitgetheilt, daß er seine Befugnisse überschritten habe. Zu Fabrikinspektoren dürften nit Personen gemaht werden, die keine Ahnung von den Scbmerzen der Arbeiter hätten. In Preußen wolle man jeßt die Kesselrevisionen mit dem Fabrikinspektorat verbinden; dazu brauche man ges{chulte Beamte, die aber die Arbeiterzustände niht beurtheilen fönnten. Wenn der Mainzer Fabrikinspektor erkläre, die Arbeiter follten nur die Fenster öffnen, um bessere Luft zu haben, so kenne er nicht den Nachtheil der Zugluft, Die Unternehmer kümmerten #sich um die Gesundheit ihrer Arbeiter nur, wo sie Vortheil davon bâtten. In einer Cementfabrik habe der Besitzer eine Einrichtung zur Beseitigung des Staubes treffen sollen. Als er aber darauf aufmerksam gemacht worden sei, daß dann der Staub aufgesammelt werden könnte, habe er es gethan und aus dem Staube einen Ueberschuß von 3000 4 gehabt. So lange man unter den Interessen der Industrie immer das Interesse des Geldbeutels des Unternehmers verstehe, werde man Nichts erreihen. Immer s{chrofer werde der Gegensaß zwischen Arbeitgeber und Arbeiter werden. Wenn die Gleichberechtigung der Arbeiter von höchster Stelle ausgesprochen sei, müßten die anderen Organe erst reht darnach streten. In dem Bericht sei aber auch da- von die Rede, daß der Arbeiter aub ein Mens sei und daß er ein Ret habe zu leben. Wenn der Reichstag ihm das Recht nicht gebe, werde cr es sih nehmen. (Beifall links.)

Sächsischer Bundesbevollmähtigter Dr. Grafvon Hohenthal: Der Gewerbe-Rath Siebdrat in Dresden sei ein ganz vorzügliher Beamter und ganz allgemein als Fahmann erster Klasse anerkannt, nur nit bei den Sozialdemokraten, weil er mit Energie unberechtigten An- sprüchen derselben jederzeit entgegengetreten sei. Der Fall von dem Arbeiter in der Bronzefabrik sei ihm (dem Redner) nicht bekannt. Er glaube aber niht, daß die Untersuhung des Gewerbe-Raths und die Entlassung des Arbeiters im Zusammenhange ständen, Der Gewerbe-Rath Siebdrat sei von jeher der Agitation unter den Arbei- tern entgegengetreten. Es sei für ihn (den Redner) sehr wahrshein- lit, daß es sih in diesem Fall um einen Mann handele, der das ganze Einvernehmen zwishen dem Inhaber der Fabrik und den Arbeitern zu stören bestrebt gewesen sei und den der Besißer deshalb entlassen habe. Wenn der Besiger die hygienishen Maßnahmen für ge- nügend erklärt habe, so traue er (Redner) ihm ein befseres Urtheil zu, als dem betreffenden Arbeiter.

Abg. Bebel: Der sächsishe Bundesbevollmächtigte habe dem Gewerbe-Rath Siebdrat das Zeugniß ausgestellt, daß er ein außer- ordentlich tüchtiger und in seinem Fah brauhbarer Beamter sei. Er habe sich aber dadurch mißliebig gemacht, daß er ih ganz einseitig auf die Seite der Arbeitgeber gestellt und über Agitationen und Versammlungen der Arbeiter berihtet habe. Nun frage er (Redner) das ganze Haus: seit wann sei es denn Auf- gabe der Fabrikinspektoren, sich um die Agitation urd die Be- strebungen der Arbeiter zu bekümmern? Seit wann habe der Inspektor das Recht, sich als Partei in die Strikes u. |. w. einzu- mishen? Seien die Fabrikinspektoren Beamte zum Schuß der Unter- nehmer oder der Arbeiter? Wenn sie hon Partei ergriffen, dann hätten sie weit eher die Verpflichtung, sich auf die Seite der Arbeiter als der Unternehmer zu stellen. Man möge aber die Berichte des Hrn. Siebdrat durchgehen, dann werde man zahlreihe Aeußerungen gegen die Arbeiter finden, aber nit eine einzige gegen die Unternehmer. Der Herr müßte vom Ministerium eine Rüge erhalten oder entlassen werden. Er habe weder das Ver- trauen der Sozialdemokraten, noch der Arbeiter überhaupt. Freilich gegen Sozialdemokraten sei Alles erlaubt. Ihre Sammlungen in Versammlungen würden verboten, andere Parteien könnten ruhig diese Sammlungen vornehmen ohne polizeilihe Genehmigung. Er finde es sehr löblih, wenn der Abg. Dr. Hartmann und seine Freunde der Trunk- sucht entgegenträten. Man möge aber seine Aufmerksamkeit nicht bloß der Trunksucht in den niederen Klassen , sondern au in den höheren Ständen , namentli dem übermäßigen Biergenuß, den Kneipereien der Korps auf den Universitäten, dem Frühschoppen zuwenden. Da finde man ein weites Feld der Thätigkeit.

Sächsischer Bundesbevollmächtigter Dr. Graf von Hohenthal: Der Abg Bebel frage, ob die Fabrikinspektoren den Unternehmern oder den Arbeitern dienen sollten, und meine, den Arbeitern; er (Redner) sage, Beiden zugleih. Wenn der Abg. Bebel weiter meine, Hr. Siebdrat habe noch niemals eine Klage der Arbeiter Be gerecht- fertigt ecklärt, so verweise er (Redner) ihn auf den Bericht, da \tehe das Gegentheil.

Abg. Bebel: Der Vorredner habe. ihn mißverstanden. Er (Redner) habe gesagt, daß man in den zahlreichen Berichten dieser Herren fortgesezte Angriffe gegen die Arbeiter, aber niemals eine Beschwerde gegen die Arbeitgeber finde. :

Abg. Ackermann nimmt den Gewerbe-Rath Siebdrat in Schuy. Derselbe sei ein Ehrenmann durch und dur.

bg. Dr. Hartmann: Daß Herr Siebdrat von den sozialdemo- kratishen Hetern angegriffen werde, nehme ihn (den Redner) nicht Wunderz es gehe ihm da ebenso wie den Staatsanwälten. urufe bei den Sozialdemokraten.) Die Staatsanwälte seien gewissermaßen

ihre geborenen Feinde. Mit vollem Recht. Die Sozialdemokraten gefährdeten Staat und Gesfellshaftsordnung, und suchten \sich um das Gesey herumzuslängeln, es zu umgehen. Sie hätten auf dem Kongreß in Wyden das Wort „gefeßlich“ aus ihrem Programm gestrihen. Sie wollten also auch mit ungeseßlihen Mitteln kämpfen. Später, als man gesehen habe, daß die Sacve doch einen {lechten Eindruck mache, habe man gesagt, man habe das Wort „geseßlich“ des- halb gestrichen, weil man sonst das Sozialistengesez anerkannt bätte. Seit dem 30. September sei das Sozialistengescß in den Hades ver- \sunken. Die Sozialdemokraten seien in Halle zusammen gewesen, bätten sie dort das Wort „gesezlich*“ in das Programm hinein- geschrieben? Sie wollten also ihre Träume und Hirngespinnste mit gesezlichen und ungeseßlihen Mitteln durchführen, Da diefe Partei mit den Gesetzen in Konflikt komme und die Wächter des Ge- seßes das verfolgten. so bâtte fie keinen Grund, sich darüber zu be- klagen. (Zuruf bei den Sozialdemokraten.) Warum hätten sie ihn immer als Staatsanwalt angegr:fffen? Man möge ihm einen Fall nennen, wo er als Staatsanwalt einem Sgzialdemokraten gegenüber das Reht gebeugt oder gebrohen habe. Das sei nicht einmal be- hauptet worden, obgleich die Sozialdemokraten doch mit Behaup- tungen sehr \&cknell bei der Hand seien. Redner geht nunmehr aus- führliher auf den Kopenhagener Kongreß und die spätere Verhaftung von sozialdemokratishen Abgeordneten ein und wird dabei durch wiederholte Rufe zur Sache unterbrowen. Sachsen besiße ein tüh- tiges Vereins- und Versammlungsreht, hade, daß das Prefzgeseß nicht auch fo sei. Wenn wirklich die Gerichte irgend einen Fehler gemaht bâtten, fo sei allemal Remedur eingetreten. Statt den ordentlickben íInftanzenweg zu gehen, inkommodirten die sozialdemokratischen Ab- eordneten den Reichstag mit allerlei Spezialfällen. Ganz ent- chieden müsse er bestreiten, daß in Sachsen das Recht verschieden gehandhabt werde. Im Großen und Ganzen gewährten die Berichte O cin sehr erfreulihes Bild. (Lebhafter Beifall rechts.

Abg. Stadthagen: Wenn der Vorredner si darüber beklage, daß die Fabrikinspektoren ebenso vielfa angegriffen würden, wie die Staatsanwalte, so übersehe er, daß die einzige Person in Deutsch- land, die nicht angeklagt werden könne, der Staatsanwalt sei, selbst wenn er eine strafbare Handlung begehe. Sih selbst anklagen werde ein Staatsanwalt wohl niemals, desto \{limmer gehe er gegen die Sozialdemokraten vor, die nicht einmal eine Kritik über die Fabrikinspektoren fällen follten.

Abg. Singer: Wo die Fabrikinspektoren ihren Aufgaben in sach{liher, unparteiischer Weise nahkämen, fei niemals ein Wort des Tadels gefallen. Jn den meisten Fällen aber habe die Handlungsweise der Beamten das Mißtrauen weiter Kreise herausgefordert. Vas fozialdemokratishe Urtheil über Hrn Siebdrat sei im Interesse der Dresdener Arbeiter, nicht bloß der Dresdener Sozialdemokraten ge- fällt worden. Einem Mangel an geeignetem Personal bei einer Vermehrung des Fabrikinspektorats könne man vorbeugen, wenn man auch Arbeiter zu Fabrikinspektoren ernennen wollte. Nur dann würde das Amt auch im Interesse der Arbeiter verwaltet werden. Der Abg. Dr. Hartmonn deduzire als Ober-Staat18- anwalt, wenn er aus dem Umstande, daß das Wort „gefeßlich“ im sozialdemokratishen Programm neuerdings fortgelassen sei, folgere, daß die Sozialdemokraten sich fortgeseßt Ungeseßlihkeiten zu Schulden kommen ließen. Zunäcst habe er (Redner) nicht bemerkt, daß in dem konservativen Programm das Wort „g:\eßlich“ stehe. Seine Partei habe es aber auch niht nöthig, das Wort , geseßlich * in ihr Pro- gramm besonders aufzunehmen, denn gegen Ungeseßliches schreite ja der Staatsanwalt ohne Weiteres ein, auch jeßt, wo so vielfa von einer neuen Aera die Rede set. Hauptsächlich aber habe sie das Wort E deéhalb auf dem Wydener Kongreß fortgelassen, weil sie das sog. Sozialistengeseß nie als Gesetz habe anerkennen können. Dem Institut der Fabrikinspektoren nüge sie aber mehr dur eine angebrachte Kritik, als durch fortgesezte Lobeserhebungen. Solche könne nur Einer erheben, der die Berichte der Fabrikinspektoren nicht eingehend gelesen habe. :

Das Gehalt des Staatssekretärs wird bewilligt.

Um 51/4 Uhr wird die weitere Berathung des Etats auf Dienstag 1 Uhr vertagt.

Entscheidungen des Reichsgerichts.

In Bezug auf §. 345 Abs. 1 der Civ.-Proz.-Ordnung: „Ein ordnungéêmäßig geladener Zeuge, welcher niht erscheint, ift, ohne daß es eines Antrages bedarf, in die durch das Aus- bleiben verursachten Kosten, sowie zu einer Geldstrafe . .…. zu verurtheilen" hat das Reihsgericht, Y. Civilsenat, durch Beschluß vom 26. September 1890 ausgesprochen, daß jede der Prozeßparteien zur Stellung des Antrages, daß ein in ihrer Prozeßsache ge- ladener, aber nicht erschienener Zeuge in die durch sein Ausbleiben entstandenen Kosten verurtheilt werde, berechtigt is und event. deshalb den Beschwerdeweg beschreiten kann.

Das Vergehen des Bandenschmuggels im Rückfalle, welches im §. 14s Absatz 3 des Vereinszollgeseßzes außer der Konfis- kfaticn und der Geldbuße beim Anführer mit ein- bis zweijähriger und bei den übrigen Theilnehmern mit se{8monatlicer bis einjähriger Freibeitsstrafe bedroht ift, liegt, nah einem Urtheil des Reich8gerichts, I. Straffenats, rom 23. Oktober 1890, nur dann vor, wenn die frühere Bestrafurg auch wegen Bandenshmuggels ergangen war; war dagegen die frühere Bestrafung nur wegen einfacher Defraudation oder Contrebande erfolgt, so tritt neben der im §. 146 Absay 1 für den Bandenschmuggel angedrohten Freiheitsstrafe (von 3 bis 6 bezw. 1 bis 3 Monaten) die Rückfallstrafe der einfachen Defraudation gemäß §§. 140 flg. des Vereinszollgeseßes ein. Ferner fällt bei dem Bandenshmuggel im Rückfalle die Straferhöhung wegen Rüdckfalls des §. 146 Absay 3 fort, wenn drei Jahre seit der Verbüßung des vorhergegangenen Bandenshmuggels bereits ver- floffen sind.

Sozietätsverträge müssen nach §8. 170, 171 I, 17 des Preuß. Allg. Landrechts bei Strafe der Nichtigkeit \chriftlich ab- gefaßt werden. Haben jedoch die Kontrahenten bebufs Ausführung der mündlichen Abrede gemeinschaftlihe Verwendungen gemacht und ist mit diesen etwas für die Sozietät erworben, so soll ein solher Erwerb als gemeinschaftliches Eigenthum, welches aus einer zufälligen Begebenheit entstanden ift, angesehen werden. In Bezug auf diese Bestimmungen hat das Reichsgeriht, V. Civilsenat, durch Urtheil vom 5. November 1890, ausgesprochen, daß unter den „gemeinshaftliLen Verwendungen“ nit bloß die Hingabe von Geld oder Sachen, sondern auch die Leistung von Arbeiten oder die Uebernahme einer Verpflichtung, insbesondere auch die der Ersatz- vfliht eines Theils des von dem anderen Kontrahenten gezablten vollen Erwerbspreises, Seitens des einen Kontrahenten zu verstehen ist.

Stellen sich zwei Personen einander zum Zweikampf gegenüber und geben beide Personen ihren S{chuß in die Luft ab in der dem Gegner unbekannten Absicht, fehlzushießen, fo liegt nad einem Urtheil des Reichsgerichts, 11. Strafsenats, vom 11, November 1890, ein strafbarer Zweikampf nit vor.

Statistik und Volkswirthschaft.

Volksheime.

Dem „Volkswohl“ entnehmen wir Folgendes: In neuester Zeit machen gewisse gemeinnüßige Unternehmungen, die ganz besonders den ärmeren Ständen zu Gute kommen, viel von sich reden und werden allgemein zur Nachahmung empfohlen. Es sind die sogenannten Volksheime. Sie sind ein sprehender Beweis für die freundliche Ge- sinnung und das Gefühl der Verpflihtung unserer Gebildeten und Besitzenden gegenüber den breiteren Schichten des Volks. Denn ene Volksheime sind zum Theil mit großem Kostenaufwand

(in Leipzig z. B. für 340000 4) errihtet, und dies Geld ift durch freiwillige Zeihnungen und Schenkungen aufgebracht worden. Ein Volksheim ist ein {chönes, großes Gebäude, mit weiten Räumen für Tischgäste und sehr billigen Speisen, mit s{önen Lese- zimmern und inhaltreiwen Bibliotheken, mit Sälen, in welhen Vor- träge gehalten werden können, mit Unterrichtsftuben, mit Billard und Kegelbahn, mit Garten und Spielpläten für die Kinder. Die Be- quemlichkeiten eines Volksheims find gerade für die Aerimsten be- rechnet. Die Mitgliedschaft in Leipzig wird für 50 vierteljährlich erworben, und dafür kann man Alles genießen, was ein Volksheim bietet : lehrreihe Vorträge, \{chône Musik an den Concertabenden, gute Lesebücher und Zeitungen.

Auch in Hamburg plant man die Einrichtung von Volksheimen und Logirhäusern nah dem Muster der von den Vereinen für Volks- wohl in Dresden, Leipzig und Halle geschafenen Anstalten. Der dortige Verein für Volkskaffeehallen, dessen Erfolge ja bekannt sind, will das Unternehmen ausführen und wendet sih jeßt an befreundete Kapitalisten mit dem Ersuchen, Antheilscheine zu 1000 ( zu zeihnen.

Zur Arbeiterbewegung.

In Bezug auf die sogenannten fozialdemokratischen Sperren hat das Landgericht II Berlin ein Urtheil gefällt, welches wir, weil von allgemeinerem Interesse, an dieser Stelle wieder- geben. Im Auftrage des Vorstandes des Deutschen Tischlerverbandes hatte ein Tischler Ernst Hampel an zwei Tischlermeister in Friedrihs8berg bei Berlin Briefe des Inhalts geschrieben, daß über die Werkstätten derselben die Sperre verhängt werden würde, wenn sie bis zu einem bestimmten Tage eine verlangte Lohnerhöhung nicht bewilligt bâtten. Die Staatsanwaltschaft hatte gegen Hampel die Anklage wegen groben Unfugs erhoben. Das Schöffengeridt am Amtsgericht 11 erklärte sich für unzuständia, weil nit grober Unfug, sondern Verrufserklärung im Sinne des §. 153 der Gewerbeordnung vorliege. Der Staatsanwalt sprach vor der Strafkammer ebenfalls die Meinung aus, daß nicht grober Unfug, sondern Bedrohung vorliege, und beantragte fechs Wochen Gefängniß. Der Gerichtshof fällte folgendes Urtheil: „Die Frage des groben Unfugs ist ohne Weiteres verneint worten. Auch eine Nöthigung liegt nicht vorz ebensowenig ist der §. 153 der Gewerbeordnung anwendbar. Bei diesem Para- graphen handelt es sich nur um die Verabredungen der Arbeiter untereinander und um diejenigen unrechtmäßigen Mittel, welche die Arbeiter denjenigen Arbeit8genossen gegenüber anwenden, die. sich den gemeinsamen Bestrebungen zur Erreichung besserer Lohne und Arbeitsbedingungen nicht anschließen. Wohl aber ist 8. 253 des Strafgeseßbuchs anwendbar, welher von der Er- pressung handelt und Denjenigen bestraft, welcher ih oder einem Dritten durch Gewalt oder Drohung einen rechtswidrigen Ver- mögensvortheil zu verschaffen sucht. Eine Lobnerhöhung ift ein VBermösgensvorthei!, der erst dann ein berechtigter wird, wenn der Arbeitgeber seine Einwilligung dazu gegeben hat. Wenn von der Vertheidigung behauptet wird, daß die verhängte oder angedrohte Sperre nur für die Mitglieder des Vereins gelte, so habe die Erfah- rung do gelehrt, daß sih die Sache in der Praxis ganz anders ge- staltet und si viele andere Arbeiter mehr oder weniger unfreiwillig der Sperre unterwerfen bezw. anschließen müssen. Eine solche Sperre ist unter den heutigen Verhältnissen ein großes Uebel, es liegt darin eine \{chwere Drohung, wenn den Gesellen gesagt wird: „Diese Werkstatt ist gesperrt!“ Die Handlung, welhe im Sinne des §. 253 erzwungen werden sollte, ijt die Einwilligung in die verlangte Lohnerhöhung. Damit sind alle Thatbestandsmerkmale der Erpressung erfüllt. Es liegt allerdings nur ein Versu vor, denn der Arbeitgeber hat sich niht eins{chüchtern lassen, das Vergehen ift aber ein sehr \{weres, denn solhen Maßnahmen stehen die Arbeitgeber vollständig wehrlos gegenüber. Darum erschien es angemessen, über das vom Staats- anwalt beantragte Strafmaß_ hinauszugehen, und deshalb ift auf sechs Monate Gefängniß erkannt worden.“

Wie die Berliner „Volkêztg.“ aus Bochum mittheilt, hat die Belegschaft der Fe ne „Eintracht Tiefbau“, da der zweite Vorsitzende des Verbandes „Glückauf“, Hohmann, von der Verwaltuyg der Zeche ohne Kündigung entlassen wurde, beschlossen, die Einstellung Hohmann's gütlich zu verlangen, indem sie Zwangs8- maßregeln für den Fall der Nichtgenehmigung ihres Verlangens in Aussicht stellte.

Der Ausstand der Puddler auf der Laurahütte ist einer Meldung der „Bresl. Ztg.“ zufolge beendet.

In Solingen wurde der „Köln. Ztg." zufolge in einer Ver- sammlung der Metallarbeiter am Sonntag angekündigt, daß die Solinger Sozialdemokraten die Gründung eines Arbeiter- Nereinshauses, verbunden mit einer Arbeiter-Bildungs\hule, planen.

In Hamburg erstattete, wie die „Hamb. Börs.-H.“ berichtet, die Lohnkommission in einer öfentlihen Cigarrenarbeiter- versammlung am vorigen Mittwoch Bericht über den Stand des Strikes. Danach hat si in der Sahlage nihts geändert. Aller- dings hat die Firma Caprano & Co. ihren Arbeitecn den Vorschlag gemacht, mit ihr in Unterhandlung zu treten, doch haben die Arbeiter dies abgelehnt und die Firma an die Lohnkommission verwiesen. Der Vorsitzende der Lohn- kommission berihtete dann über seine Reise nach London und Antwerpen, die er zu dem Zweck unternommen, um die englischen und belgishen Arbeiter zu veranlassen, für die hiesigen Cigarrenarbeiter Geldbeträge beizusteuern. Eine bedeutende Summe wurde ihm in London übergeben und außerdem versprochen, daß allwöchentlichß nam- hafte Geldbeträge für die Ausgeschlossenen nah Hamburg gesandt werden sollten. Es striken nah wie vor 3000 Cigarrenarbeiter, do soll ein ausreihender Unterstüßungsfonds vorhanden fein, um den Strike noch avf Wogen binaus fortseßen zu können.

Ueber die Arbeiterbewegung in England wird der „Rh.-Westf. Ztg.“ geschrieben: In Süd-Wales sind in der lehten Woche Lohnstreitigkeiten ernstliher Art in Merthyr Valley ausgebrohen. Sämmtliche Arbeiter der Plymouthgrube, über 2000, striken augenblidlich. Ferner sind im Diffryn-, Morriston- und Swansea-Distrikte die Arbeiter der Weißblecbfabriken im Ausstande. Der Zweck is hier lediglich die Abschaffung eines Flußmittels, welches bei der Bereitung des Weißblechs gebrauch{t wird. Die Maschinenwärter und Heizer in Aberdare haben pro- visorisch die Arbeit wieder aufgenommen; man will das G einer Berathung der Grubenbesißzer in Cardiff abwarten. Der Aus- ]stand in den Hunnery-Gruben in Yorkshire ist beendigt. In den Verhältnissen der schottischen Hochofenarbeiter ist eine Aenderung bis jet noch nicht eingetreten. Die Londoner „Allg. Corr.“ berihtet unter dem 17. d. M.: DerStrike der schottischen Eisenbahnbediensteten dauert jet fast einen Monat. Denno will feine Partei etwas von Nachgeben wissen. Die Geschäftswelt hat die Buße für diese schottishe Halsftarrigkeit zu zahlen und es nimmt deshalb nicht Wunder, wenn auf einer in Edinburg abge- haltenen Bürgerversammlung ein neuer Ausschuß mit Lord Aberdeen an der Spitze eingeseßt wurde, um zwishen den Bahn- gesells haften und den Strikern zu vermitteln. Die Gesellschaften bebaupten, daß immer mehr Angestellte zur Arbeit zurückehren, während die Striker, nach ihren Reden zu \ch{ließen, siegesgewisser als je sind. Bedrohung der in ihren Stellen gebliebenen Beamten ift an der Tagesordnung. Am Sonnabend machte der in Glasgow ernannte Bürgerausschuß den Direktoren der Nord- britischen San in Edinburg seine Aufwartung und be- \{wor sie, Zugeständnisse zu machen und den Strikers auf halbem Wege entgegenzukommen; allein sie seßten den Vorstellungen des Auéschufses unbedingten Widerstand entgegen.

Aus Brüssel wird der „Vos. Ztg.“ unter dem 16. d. M. ge- schrieben: Auf dem belgishen Metallmarkt ift die längft be- fürchtete Krisis zum vollen Ausbrnch gekommen. Die hohen Selbst- kostenpreise, die übermäßig hohen Preise des Brennmaterials, das Ausbleiben aller Aufträge haben den Eisenmarkt ershüttert und die Kürzung der Löhne, wie die Verminderung der Arbeits-

zeit herbeigeführt. Alle belgishen Metallwerke haben die Löhne

um © bis 15 9% heruntergeseßt. Viele Eisenfabrik:n und Walz- werke, auch einzelne Hochöfen haben einstweilig den ganzen Betrieb eingestellt; andere Werke lassen nur an 4 bis 5 Tagen in der Woche arbeiten. In einzelnen Werken haben die Arbeiter es abge- lehnt, mit ermäßigten Löhnen zu arbeiten und sind ausständig. Tausende von Metallarbeitern sind heute in den Provinzen Hennegau und Lüttich unbeschäftigt. Es herren bei dem ungewöhnlich harten, Winter daher in den dortigen Arbeiterkreisen {limme Noth stände. welche die {hon vorhandene Gährung erhöhen, /

Der XV. Jahrgang des fstatistishen Jahrbuches der Stadt Berlin, herausgegeben von dem Direktor des statistischen Amts der Stadt Berlin, R. Böckh, in welchem die Statistik des Jabres 1888 bearbeitet ist, ist im Verlag von P. Stankiewicz Buchdruckerei erschienen. Wir behalten uns vor, auf den Inhalt des Werkes zurücckzukommen.

ck. Die kirchlich eingesegneten Ehen und Taufen in Berlin während der Jahre 1877—1888.

In der Reichshauptstadt ift în dem Jahrzwölft 1877— 1888 nach dem leßten „Bericht über die Gemeinde-Verwaltung der Stadt Berlin“ der Prozentantheil der kirchlich eingesegneten Eben an der Zahl der Ebeskießungen christliher Männer sehr erheblich, fast um das Doppelte, gestiegen, wie aus der nachstehenden Zusammens- stellung ersichtlich :

Zahl der Hiervon sind Jahr : Ghe!chließungen Hel ige aanet E chriitlicher Männer : Botgen:

1877 10 602 35.6

1878 10 086 384

1879 10 068 43,0

1880 10 414 43,9

1881 10 722 48,6

1882 11 362 59,7

1883 11 810 59,4

1884 12 836 61,1

1885 18 300 60,1

1886 13 907 61,7

1887 14 674 63,1

L 1888 15 185 64,7

__ Während demnach im Jahre 1877 nur ein Drittel der ehe- shließenden Christen fh kirchlich einsegnen ließ, that:n das im Jahre 1888 fast zwei Drittel,

Auch ergiebt eine Vergleichung der Zahl der Taufen mit der Zahl der in Betraht kommenden lebend geborenen Kinder evangelischer, fatholisher und sonst christli&er Ehemänner und uneheliher Mütter dieser Konfessionen ein erfreulihes Resultat; denn die folgende Zu- sammenstellung zeigt, daß, während im Jahre 1877 31,5 9/6 der Kinder ungetauft blieben, diefes im Jahre 1888 nur mit 13,4 9/6 der Fall war :

i Zahl der Hiervon sind Iahr: in Betracht kommen- in Prozenten E den Kinder : getauft worden : 1877 41 888 68,5 1878 41 755 1879 41 956 1880 41 826 1881 41 747 1882 42 743 1883 42 492 1884 42 883 1885 43 409 1886 44 296 1887 45 415 1888 46 337 j

Das Jahr 1882, in welchem nur rund das zehnte Kind ungetauft blieb, hat den größten Prozentantheil der Getauften an der Zahl der in Betracht kommenden Kinder aufzuweisen.

Bremens Schiffsverkehr 1890.

Das vergangene Jahr hat, wie die „Wes.-Ztg.* mittheilt, eine Zunahme in dem Schiffsverkehr Bremens ergeben, die freilich nit so groß ist wie die des vorhergehenden, aber doch s{hon aus dem Grunde freudig begrüßt werden muß, weil 1889 aus verschiedenen Gründen eine Ausnahmestellung einzunehmen s{ien. Nun ift 1890 noch darüber hinausgewahsen, Die Gesammttonnenzahl der ange- menen Seeschiffe betrug :

Zunahme in °%

1888: 1477500 t

1889; 1 682 700 ,„ 205 200 t 13F

1890: 1 733 800 , DL O0 5

Von den einzelnen Weserhäfen hat Nordenham am meisten ge-

wonnen, nämlich 39 400 t, fodann Bremen 35 000 t, endlich Geeste- münde 19 500 t. Bremerhaven hat 31700 t verloren, Brake 9500 t, Die Seeschiffahrt der Stadt Bremen ift auf 173 400 t angekommen und wird sich im Laufe des soeben begonnenen Jahres hoffentlich erfreulich weiter entfalten. Darauf ist um fo sicherer zu renen, als der Norddeutsche Lloyd beabsichtigt, einige Dampfer für die Fahrt von Bremen-Stadt nah London zu erbauen. Die Schiff- fahrt auf der Unter- und Ober-Weser zeigt auch einen normalen Fortschritt. Die Gesammtzahl der in der Stadt Bremen ange- kommenen See- und Fluß\chife beläuft si für 1890 auf 8153 Schiffe mit 900 000 Registertons.

Nah Mittheilung des Statistishen Amts der Stadt B erlin sind bei den hiesigen Standesämtern in der Woche vom 4, Januar bis incl. 10. Januar cr. zur Anmeldung gekommen: 274 Ebeschließungen, 1143 Lebendgeborene, 41 Todtgeborene, 646 Sterbefälle.

Verkehrs-Anfialten.

London, 19. Januar. (W. T. B.) Der Union-Dampfer „German“" ist heute auf der Heimreise in Southampton an- gekommen. 5

Der Castle-Dampfer „Grantully Castle“ ist heute auf der Heimreise in Plymouth angekommen. Der Castle-Dampfer „Dunottar Castle“ hat heute auf der Ausreise Lissabon passirt. Der Castle-Dampfer „Methven Castle“ ist am Sonnabend auf der Heimreise in London angekommen.

Theater und Musik.

Königliche Theater.

Nachdem Se. Majestät der Kaiser die hundertste Vorstellung des „Fliegenden Holländer“ besuhßt und allen Mitwirkenden durch den General - Intendanten der Königlihen Schau- spiele Grafen von Hochberg die Allerhöhste Anerkennung hatten aussprehen lassen, erschienen Se. Majestät mit Sr. Königlichen Hoheit dem Prinzen Heinrih, Sr. Hoheit dem Erbprinzen und Ihrer Königlihen Hoheit der Erbprinzessin von Sachsen-Meiningen auf's Neue in der Sonntags-Aufführung der gleichen Oper. In der Oper „Doctor und Apotheker“ am Donnerstag im Opernhause sind die Damen Waiß, Herzog und Kopka, die Bra. Krolop, Ecnst, Lieban, Schmidt und Mödlinger beschäftigt. In der E der Oper „Der Prophet“ treten die Damen Hiedler und Staudigl sowie Hr. Sylva in den Hauptpartien auf.

Im Schauspielhause qn am Donnerstag, dem Geburts- tage Lessing's, „Nathan der Weise* mit Hrn. Kahle in der Titelrolle

in Scene. Deutsches Theater.

„Am Donnerstag findet die 25. Aufführung des L Kinder der Excellenz“ ftatt. führung ustspiels „Die

Berliner Theater. Am Donnerstag geht zur Feier. des Geburtstages Lessing's das

Lustspiel „Minna von Barnhelm® neu einstudirt in Scene. Der