1891 / 26 p. 6 (Deutscher Reichsanzeiger, Thu, 29 Jan 1891 18:00:01 GMT) scan diff

Staatssekretär Dr. von Stephan:

Ic hakte ums Wort gebeten, um cinige Anfragen des geehrten Herrn Vorredners zu beantworten, wo mir die Antwort nöthig er- scheint.

Einmal, was die Stcllung des Wolff'shen Telegrap“enbureaus betrifft, so haben wir die ledigli von Preufen übernommen zur Zeit des Norddeutshen Bundes, Die Telegraphenvrerwaltung geht die So&e überbaupt nihts an, Es ist das ein Vertrag, der zwischen der prcußiscen Staatsregierung und dem Wolff'shen Bureau ab- geschlossen ist. Bei Nebernahme der Telegraphenverwaltung auf den Norddeutshen Bund mußte dieser daher selbstverständlih das Tele- graphenwesen mit allcn Lasten und Pflickten übernehmen, und somit auch dieser Vertrag.

Irgentwele finanziellen Begünstigungen fommen dem Wolff- schen Telegraphenbureau nicht zu statten. Ls ist richtig, was der Herr Vorredner bemerkt hat, daß die A. C. Depeschen mit Vorrang vor den anderen Depeschen befördert werden, glei hinter den Staats- dep: hen, aber immerhin nur in derselben Kategorie, nit daß eine gewöhnliche Wolff’ {e Depese vor einer dringlichen Privat- depescde befördert wird, sondern nur, wenn sie als dringend bezahlt wird, sodaß nur cine dringende Wolff'\he Depesche vor den anderen dringenten befördert wird. Man bat «s also immer in der Hand, dur die Bezahlung des „drir gend“ die. \{nellere Beförderung zu bewi fen.

Was dér Herr Vorredner gesagt hat von Vergünstigungen in

Bezug auf Rohrpost u. #. w., so ist das wobl ein Mißverständniß. Eine Stadtpostanstalt für den öffenilihen Verkehr befindet sich in dem Hause, welches dem Wolff'schcn Bureau achsöit, und es hat da obnebin cin Rohrpostamt eingerichtet werden müssen, weil Maschinen aufzustellen waren; dies härgt mit tem ganzen System der Rohbrpoft- anlage in Verlin zusammen und hat mit dem Wolff’s@en Bureau nichis zu thun. Daß das Wolff’ {e Bureau das Rohrpostamt be- nußt wie jeder Andere, dcr do:t wobrt, versteßt si von felbst.

Dann ferner der Zutcitt zu den Räumen des Telegraphenamts das wurde ja woktl au erwähnt bat lediglich den Zweck, den Dienst zu erleichtern, denn dadur, daß die Beamten des Wolff- {hen Bureaus si da aufhalten, wird der Betri:b des Telegraphen- bureaus mit den vielen Depeschen, die das Wolff'@e Bureau \{ickt und erbält, wesentlich erleichtert; und hier triit das Moment ein, wel&{cs Sie erwähnten, daß man Rüccksiht nehmen müsse auf dîe- jenigen, die cinem viel ¿u verdienen geben, und daß man solZen Kortc!pordenten Rabatt bcwiliigen müsse. Diescr liegt nun darin, daß die Beamten zugelafscn werden, wodurch der Dienst wesentli erleictert wird.

Menn taron die Rede gewesen ist, daß das Wolff’ sche Burcau Lürstcnab:üge des „Staats-Anzeigers“ erhalte, so weiß ih das nit; die Telcgrapbenverwaltung hat damit nichts zu thun. Das ift aber richtig ur.d das sage i von meiner Verwaltung: wenn ih cire wichtige Nacrit habe, an deren rascher Verbreitung mir liegt, so técile i se sofort dem Wolff'shen Bureau mit, damit sie in alle Welt geht, und tas Wolfi’sce Bu:eau hat die Verpflichtung dazu ra dem Vertrage, der mit ibm gemacht worden ist. Eine jede Regierung muß von fol@en Organen Gebrau machen ; denn sie fann si unmögli mit allen Zeitungen in ein direftes Vertrag®- verbältni5 cinlassen; fie muß ein vermittelndes Organ laben, welches diese geschäftlihen Interessen besorat, um Nachrichten, an deren Verbrei- tung ihr gelegen ist, nell ins Land bringen zu können. Das ist unzweifelhaft erforderli, urd Sie wissen, daß Frankreich die Agence Havas hat, Enalcnd die Reuter’s{e Agentur, und daß in Italien, in Desterreich und andéren Ländern ähnliche Institute bestehen.

Wenn der Herr Abgeordnete gesprochen bat von der Berbindung mit Finanzzwecken, so ist mir das ein vollständig dunkler Punkt in ieiner Rete gewesen. Ich wciß nicht, was er damit meint; ehe Sie darüber nit nähere Ausklärurg geben, kann ih irgend welche Aus- funft darüber nit ertheilen. Ich weiß auc) nihts davon,

Nun ist erwäknt worden, das Welff's{he Bureau zable 300 000 M Telegraphengetühren. Dabei ift wieder nicht bedacht, daß das zum Tbeil auéländis&e Gebühren sind. Lie Telegramme gehen ja mit den Kabeln u. \. 1. in andere Länder. Die Lezüglien hier erhobenen Gebütren müfsin wir an die andern Staaten wieder abgeben; für Deutschland sällt also nur ein Theil ab, Diese Verhältnisse muß man eben fennen, wenn man darüber hier sprechen will; sonst erzeugt man doch bloß Irrthum und Verwirrung.

Die Frage der Ermäßigung überbaupt, auf die der Herr Vor- redner wieder gekommen ist, der privilegirten Ermäßigung für die Zeitungen, mödte ih doch aud noch berühren. Wenn Sie aus anderen Ländern Nachrichten gelesen haben, daß si zu diefen billigen Preisen die Tclearan me noch rentiren, so ist das entsck@ieden ein Irrthum. Es liegt gerate umgekehrt, und noch vor ein paar Tagen habe ich bier den Bericht des englischen General-Postmeisters, meines Kollegen Hrn. Raikes in London in Härden gehabt, wo er ausdrücklih sagt: diese ungewöhnlichen Begünstigungen der Presse stellen a considerable loss. cinen beträhtlihen Verlust dar für das Telegrapbenamt ; dies war au fklar bei unseren Berechnungen: wenn wir auf 3 Pfennig für das Wort beruntergehen, so bleiben wir unter den Selbsikosten; es würden Telegramme für 3 Pfenaige das Wort befördert werden mit Zushuß sämmtlicher Steucer- zabler im Interesse der Zeitungen. Das wäre das Er- gebniß, zu welem diefer Antrag führen würde; weiter sage ih ni@ts.

Bei dem immer citirten Beispiel anderer Staaten muß man si doch fragen, wie ist denn das System entstanden, daß die Presse in Staaten wie Frankreich, Griechenland, Italien, Spanien, dem \ckchon gcnannten Argentinien u. Wau 0 folche Begünstigungen genießt ? Darüber wollen wir uns do nit Kopfzerbrechen machen; das wissen wir, glgube i, alle genau, Die Ministerien wechseln dort öfter als bei uns; es fomtint mitunter auch ein Ministerium ans Ruder, das der Presse seine Erhebung verdankt oder sonst Grund hat, sie zu berücksihtigen, und unter einem solchen Minifterium roird dann cine solhe Vergünstigung eingeführt. Das ist der einfaße Hergang; ich bezeichne ihn mit dem alten Wort: les petits présents entretiennent l’amitié, Das wollen wir aber in Deutshland ni cht nachmachen. Wir sind Deutste, wir ab men niht mehr na, was die anderen Länder haben ; es würde uns auch oft Schaden bringen, wenn wir z. B. das nach- ahmen wollten, daß in England für jeden Brief, der nah 6 Uhr auf-

gegeben ist, das Doppelte erhoben wird, daß in Frankreih Geld- sendungen nur bis zur Höhe, wie ih glaube, 25 000 Fr. geschickt werden können, daß tie amerikanische Postverwaltung überhaupt für

feinen Gegerstand haftet, der verloren geht für kein einziges Paket, für keinen einzigen Bricf u. \. w. Das maten wir au ni&t na. Weshalb sollen wir denn immer die Blicke auf das Aus- land richien? Wir sind eine selbständige Nation, stehen auf eigenen Füßen und rihten urs die Sachen ein, wie sie uns passen; die Zeit, wo wir immer Anderen nachmadten, ist längst vorbei, und wenn wir heute nicht auf einem anderen Standpunkt ständen, wüßte ih niht, warum die Schlachten im Teutoburger Walde, bei Leipzig und bei Sedan überhaupt ceschlagen worden find. (Lebhaftes Bravo

rets )

Abg. Dr. Bachem: Den Abs{luß des Vertrages mit dem Wolff- \{en Bureau könne er na dem Gehörten dem Staatssekretär nicht zum Vorwurf machen, aber er (Redner) müsse fragen, welche Gegen- leistung mae das Bureau dem Reih? Daß tas Wolff s&e Burcau seine Depeschen .\chneller befördert erhalte, als jedes andere Unter- nehmen, sei auf die Daucr doch wokl niht aufrecht zu erhalten. Er habe au ni&t heraus8gebört, ob der Staatssekretär jenen Vertrag billigez nur möchte er (Redner) fragen, auf wie lange derselbe ge- {lossen sci und wie lange das Privilegium bestehen bleiben solle. Die Frage der Telepboagebühren liege wesentlich anders, als die der Telegrammgebühren für Zeitungen. Im Telephonwesen sei Deutsch- land allen anderen Völkern voraus, und man könne bei der Jungen Einrichtung nit verlangen, baß die Gebühren bis zum Aeußersten herabg-sezt würden. In Bezug auf die Zeitungstelegramme aber stehe Deutschland allen anderen Ländern nah. Zunächst habe ibn der Ton, in dem der Staatssekcetäc die Frage behardelt habe, ret cigenthümlih bœührt. Er (Redner) glaube, der Staatssckretär abe sich über die Petiton der 234 Zeitungen nur des- halb so schaf geäußert, weil er angcnommen _habe, die ganze Angelegenheit gche von freisinniger Seite aus. Soweit setne (des Redners) Informationen reichten, fei die Sache aber von ganz anderer Seite angeregt, Ec wolle im Interesse der Würde der Ver- handlungen im Reichétage den Ton, in dem der Staatssekretär ge- sprochen habe, nicht auh_ anf{lagen, und versuche, rein sa&liŸ zu \sprehen. Ueber die Statistik des Staatssekretärs, nah welcher nur 1,29 9% aller Telegramme Zeitungêtelegramme seien und ur Zeitungstelegranmime jährlich nur 153 000 A einkämen, wundere er (Redner) ih im höchsten Maße, Er habe hier eine Lisie von 11 Zeitungen, die glaubwürdig versiGerten, daß sie insgesammt für inländisde Drahtberihte im lezten Jahre 348 628 ausgegeben hätten. Die „Breslauer Zeitung“ erkläre, daß sie allein im vorigen Jahre für inländische Drahtberichte 34 000 é entrihtet babe. Auch die übrigen zehn Zeitungen seien soiche, die cinen ausgedehnten Telegraphenbetrieb hätten: die „Frankfurter Zeitung“, die „Kölnische Volkszeitung“, die „Voisische Zeitung", der „Schwäb!\{e Merkur“, die „Neuc Badisc&e Landeszeitung“ und andere. Die Angabe des Staat®- \sekretärs seine ibm also fragwürdig. Dieser habe ich im Weiteren auf den Standpunkt des Abg. Singer gestellt, wonach die Zeitungen die Herah- setung nur angeregt babcn follten, um ihre Privaitfkafsen zufüllen, ohne daß sie dem Publikum Vortheile zuertheilen wollten. Wenn die Worts- gebühr von 5 4 auf 3 oder gar auf 1 4 h:rabgeseßt würde, würden die Zeitungen fein-n Nußen daraus zichen, sondern si nur mehr telegraphiren lassen, roas dow schr oft im öffentlichen JInxtere))e wünschentwerth näre, z. B. was die Verhandlungen hier im Reicbs-

. tage betrcffe. Es sei ein sehr bedauerliher Zuftand, daß si ge-

wisse Nacwrichten erst in den Händen ganz gewisser Kreise befänden, daß sie dann in etwas weiter? Kreise gelangten und erst langsam in die breiten Schiten des Volkes sickerten. Was die Zeitungen auf öfentlihem Gebiet leisten könnten, hätten {on die Mittheilungen über die Invaliditätäversicherung gezeigt. Diese ganze Bersicherung hätte nicht so früh eingeführt werden föanen, wenn nicht die Zeitungen in selbsiloser Weise zur Verbreitung der Grundzüge des Gesetzes beigetragen hätten. Wenn €s nit ein öffentlihes Interesse gegolten hätte, häiten gewiß die meisten Zeitungen solche Publi- kationen gern unterlassen. Denn einen besonderen Vortheil bätten sie davon nicht. Auch in der Katastropbe, die das Rheinland dur den gewaltigen Eisgang bedrohe, die aber Gottlob bisber günstig verlaufen sei, bâtten sih die Zeitungen in der denkbar vortheilhaftesten Weise gezeigt. Sie hätten einen Apparat von Telegraphen und Telepvhonen ins Leben gerufen, wie ión die Regterung früher niht gekannt habe. Erst in diesem Jahre habe die Regie- rung am Rhein einen Nachrichtendienft na dem Muster dessen etablirt, den die rheinis@en Zeitungen in früheren Jahren bereits eingerichtet hätten. Auch die gegenwärtig in den rheinishen Zeitungen zu finder den spaltenlangen Berichte über den Wasserstand hätten für den einzelnen Leser wenig Interesse, roenn nit ein offentlihes Juteresse vorläge, Daß in anderen Ländern in Bezug auf das Zeitunzs8wesen andere Zustände bestär.den, könne ihn niht abhalten, für die deutschen Zeitungei einzutreten. Auch er wünsche, die deutschen Angelegenheiten iur vom deutsEea Standpunkte aus zu behandeln. Dann wäre cs ibm aber auch erwün\cht, wenn der Staat®sckretär dic Nnerkennungen aus Deutschland ebenso würdigte, wie die aus dem Auslande. Kein Mann habe cine so ausgiebige Anerkennung für seine Verdienste in Deuts(land erlangt als der Staatssekretär Dr. von Stephan. Auch er (Retner) stche niht an, anzuerkennen, daß der Staats-

| sekretär in dem nationalen wie internationalen Postw?sen garz hervor-

ragende Verdienste habe. Aber liege tarin ein Grund, daß man alle weiteren Wünsche unterdrücken solle? Selbst jene 234 Zeitungen brächten in ihrer Petition eine warme Anerkennung der Vertienf des Staatssekretärs. Eine solche Anerkernung sollte diesem wobl einigermaßen schmei@elhafter fein als die Stimme dieses jenes Ausländers. Nur müsse er (Redner) wiederholt wünschen, in die Verhandlungen des Reichstages niht ein Ton bineinge!

werde, der auch bei seiner (des Redners) Partei Gefühle zum Ausdruck | ;

bringen könnte, die der Satte nicht förderlid sein würden.

Um Uhr vertagt das Haus die weitere Berathung des s Etats der Post- und Telegraphenverwaltung auf Donnerstag ;

1 Uv.

Handel! und Gewerbe.

Tägliche Wagengestellung für Koblen und Koks

an der Ruhr und in Oberschlesien,

An der Rubr sind am 28. Januac gestellt (8904, nit recht- zeitig gestellt 2764 Wagen.

In Oberschlesien sind am 27. d, M. gestellt 3891, nitt rechtzeitig gestellt 841 Wagzen.

Unregelmäßigkeiten der Kohlenabfuhr aus dem

Ruhrcbezirk,

Die Königlicze Eisenbahn-Direktion (rechtêrheinishe) zu Köln bat über die Ursachen der unregelmäßigen Wagengestellung an der Rußr folgende Mittheilung crgehen laffen:

Die bedauerlichen Betriebsftörungen, welche seit Ende November die Abfuhr von Kohlen und Koks aus dem Ruhrbezirk bochst nach- theilig beeinflussen, haben vielfach eine abfällige Kritik der Leistungen der Staatseisen-ahn- Verwaltung herrorgerufen. E wird dabei be- tont, daß die ungünstige Witterung allein an der unzureichenden Wagengestellung in dem Industriebezirk nit \chuld sein könne, da tie Eisenbahnen in Ländern mit rauherem Klima sich alljährlich mit sol&en Einwirkungen abzufinden hätten und derselben ohne Schwierigkeiten Herr würden. Man glaubt daher die Ursache der unzureichendén Leistungen in mangelbaften Einrichtungen der Siaats- tahnen, namentli in zu knapp-m Wagen- und Maschinenpark suchen zu müssen. S j ¡

Solche Aufsassungen lassen die Thatsache gänzlich außer Acht, vaß die Wagengestellung und Güterabfuhr im Rußhrrevier bis zu den Ende November v. I. durch die Hochfluthen veranlaßten Betriebs- unterbreungen eine vollkommen regelmäßige war und allen An- sprüchen gerecht wurde. Vom 1. Januar bis 25. November 1890 find im Rubrbezirk beinahe 2} Millionen Wagen zur Kohlen- und Koksbeladung gestellt und abgefahren, niht rechtzeitig gestelt, aber

* vermohten aber nur

ctwa 5000 oder 1/5% Vom 25. November bis 6. Dezember ent- standen größere Ausfälle durch die Unfahrbarkeit zahlreiher Bahn- linien, während von Mitte Dezember ab die noch jeßt herrschen- den Kalamitäten cintraten deren Ursachen bei den Eigen- thümlicfkeiten des Betriebes im Ruhrbezirk offen zu Tage liegen.

Fm Ruhrbezirk werden durhschnittlich tägli 10 000 Wagen mii Foblen und Koks. 2500 Wagen mit anderen Gütern beladen. Es ist also eine täglihe Bewegung von 25 000 Wagen (12 500 be» l1dene zur Abfuhr, ebensoviel leere zur Beladung), in Zeiten des starken Herbst- und Winterverkehrs aber von 97—28 000 Wagen er- forderlich. Obwohl sih diese Bewegung auf einem sehr kleinen Raum vollzieht, wird sie seit Jahren ohne nennenswerthe Störungen geleistet. Die Hauptschwierigkeit veruisaht dabei die Zusammenstellung der be- ladenen Wagen zu ges{losseaen Zügen von etwa 50 Wagen, alfo zu 2—300 Zügen tägli. Die Ordnung muß im Wesentlichen in der auf ten Fördertag folgerden Naht vorgenommen werden und bis zum näbitea Morgen beendet sein. Die Bildung der Züge auf ten 60— 709 Zecenanschlußstationen auszuführen. hat si bei der st.tigen Zunahme des Verkehrs und dem immer engmaschiger gewort even westli®cn Eifen- bahnnet als völig undurchfühßhrbar erwiesen. Die zablreiden Linien, welche von dem Kohlenbezirk ausgehen und in kurzer Entferrung von demselben sich vielfa weiter verzweigen, machten es guf die Dauer selbst den größeren Zechenansclußstationen niht môsgliw, Züge zu- \ammenzustellen, welche eine längere Strecke ohne weitere Behandlung auf Unterwegsstationen zurücklegen konnten. Dies ist aber im Interesse einer möglichst raschen, regelmäßigen und sicheren Beförde- rung der Züge, sowie einec wirthschaftlich rictigen Betriebsführung durchaus erforderlich. Man ging daher alsbald nah der Verstaat- lihung der westlihen Bahnen, dern Vorbild “der früheren rheinischen Eisenbahnverwaltung folgend, dazu über, an der Peripherie des Rußhr- bezirks große Rangirbahnhöfe zu bauen, welchen die beladenen Wagen in S(leppzügen ungeordnet zugeführt werden und auf denen die geordnite Zusammenstellung nach den versciedenen Hauptrichtungen und deren Abzweigungen erfolgt. In dem verflossenen SFahrz:ehat sind na dem Norbild des Speldorfer Bahnhofes die Rangir- und Sammelbahn- höfe Frintrop bei Oberhausen, Wanne, Dortmund, Herdecke (bei Hagen) erbaut. Der Betrieb der Sammelbahnhöfe erfolgt in der Weise, daß die ankommenden Züge auf cin fark gencigtes Ablaufgeleise ge! choben werden, von welchem die Wagen dur das Gefälle und die eigene S&were in Bewegung ge\ett, in fäberförmig angelegte, Ur die Ver- \Hiedenen Verkehrsrihtungen, Linien und Hauptorte bestimmten Ges leise gelangen. Die drei Houptbahnhöfe Frintrop, Speldor? und Wanne vermögen bei folchem Betrieb unter günstizen Verhältnissen gegen 6000 beladene Wagen in etwa 12 Stunden zu ordren und ab- zufahren. Die le:r oder beladen in das Ruhrgebiet zurück:hcenden Wagen werden, soweit erforderli, in gleicher Weise behandelt,

So unentbehcli@ diese Art der Betriebsführung für den starf

verzweigten Massenverkehr det Rubrkoblenbezirks ist, so bat siz einen rnangenehmen und unter Umständen verhängnißvollen Nzwtheil, ihre (Fmpfinblichkeit gegen MWitterungécinflüfse. Starker Nebel, Reif, heftiger Gegenwind, Frost beeinträchtigen die Ablauffäßigkeit der Magen von den geneigten Ebenen in tobem Maße, verlangsamen die Bewegung der Wagea und hindern sie, in die von den Ablaufbergen entfernter liezenden Geleise zu gelangen. Derartige Beeinträchtigungen sind in den Herbst- und Wintermonatcn haufig vorgekommen, vorübergehende Schwierigkeiten hervor- zurufen, weil die Ursachen bald wieder versGwanden und weil es möglich war, die Zeitversäumnisse in den voa dem regelméßigen Ablaufbetrieb freien Tagesstunden auszugleihen, fodaß Zugversvätungen und kurze Stzuungen auf den Ans(lußstationen die einzigen Folgen fsolch-r Unregelmäßigkeiten blieben, Gan: anders mußten sh die Verbältnisse unter dem Einfluß des gegenwärtigen Winters gestalten. Zum ersten Mal, seitdem der vocitehend er- läuterte Betrieb eingeführt ist, hat der Monate lang fast ununter- brohen anhaltende Frost die Leistangéfähigkeit dec Rangirbahnhöfe ebenso anhaltend herabged: üdt und dur seine Dauer verhindert, die bei dem Nachtbetrieb entstehenden Rückstände durch Zubülfenahme des Tagesbetciebes aufzuarbeiten. Die Haupt-Rangirbahnhöfe Frintrop, Speldorf und Wanne vermochten bei ununterbrochwenem Betrieb wocen- lang rur zwei Drittel ibrer regelmäßigen Leistung zu erreichen, indem nicht nur Reif und Wind, fondecn - au das Versagen der S&miervorri(tungen dea Ablauf andauernd verlangfamten und \törten. Das S@mieröl wird bet größeren Kältegraden steif, der Wagen büßt daducch an Bewegungsfähigkeit ein. Bei vem rollenden Zig kat dies niht viel zu bedeuten, weil die Bewegung Wärme erzeugt und das Schmieröl bald wieter die nöthige Gescchmeidigfeit erlangt; nur das Anfabren ifi \chwieriger und bedarf bei {weren Zügen Unterstüßung dur Hülfsmaschiren. Bei d¿em Ablaufbetrieb dagegen tritt die Verminderung der Stmierfähigkeit un so mehr bervor, als die Wagen, bevor sie zum Ablaufen gelangen, meifît einige Zeit fullgestanden baben und das Oel inzwischen steif geworden ift, ille Versuch2, dem Mangel abzuhelfen, baben nur geringen Erfolg gehabt. i Nu die bei dem Ublaufbetrieb unentbehrlichen centralisirten Weitßens- anlagen mit ihren ausgedehnten Drahtleitungen wurden durch Frost und Schnee bäufig gestört; ihre Instandhaltung verursa@te Verlust an kestbarer Zeit.

2 verminderte Leistungsfähigkeit der Rangirbahnhöfe bedeutet für den Ruhrbezirk eine Verminderung der Wagenbewegurg um

ehrere tausead Wagen, do entsprehend dem geringeren Ausgang 1S der RüClzuf der le:ren Wagen gesurken ist. Da ferner in Folge

: H die Wañeritraßzn scit Monaten den Dienst voll-

: Eisenbahnen namentli in den Niederlanden mt werden, wclche in regelmäßigen Zeiten meiden, da die Abfuhr in den Seehäfen ansammeln, welche nicht Linien verstopfen,

T

Mor L p. (

© Güätermassen

nen, tondern ganze Gneefälle in verschiedenen Gegenden Mittel- und ZoetrieböunterbreWungen von oft mehrtägiger Dauer

den Wagenrücklauf verzögert baben, jo ist

lärli, daß ) hiervon der Ruhrbezirk mit den angrenzenden ezn in idlichste Mitleidenschaft gezogen wird. Bereits hat

r

d iederlanden tageweise ganz eingestellt werden f u ( di von dort unregelmäßig z

¿ Mengen von dieéëseitigen Wagen stehen dort müßig und tebren

zurü. Kommen zu allen diefen Schwierigkeiten noch wie in

letzten Tagen Schneefälle au in unse:em eigenen Bezirk binzu, wele einzelne wichtige Strecken stundenlang unfaërbar gemacht kaber, so sind Betriebéstockangen unvermeidlich, welhe ¡hren Ausdruck ia den zu unheimlicer Höbe angcs{chwellenen Ausfôllea in der Wagens- geftellung finden

Hiéerna ift festzaïtellen, daß

1) die Ursache der bedauerliDen Unregelmäßigkeiten in den ganz abrormen Wittecungsverbältnissen der ießten Monate zu fuhen tft;

2) die Wirkungen bei den eigenttümlichen Verkehrs- und Be- triebêverbältnissen des Ruhrbezirks hier besonders \{chrof} hervortreten mußten;

3) alle Mittel zur Abhülfe bei dem concentrirten und intensiven Massenverkehr des Ruhrbezirks versagt haben E

In letzterer Beziehung ist noch zu bemerken, daß die Üblaufs- \@wierigkeiten sich auch auf anderen außerhalb des Ruhrbezirks be- legenen Bahnhöfen gezeigt haben, hier aber überrounden werden fonnten, weil es sh weder um solche Mafsenbewegungen noch um cine so weitgehende Theilung und Ordnung der Massen handelte, wie auf den Raungirbaÿnböfen des niederrheinischen Industriebezirks, Aus dem- selben Grunde sind Störungen von gleichem Umfange in anderen rauberen Gegendea mit wesentlih einfaheren Betriebévcrbältnissen und erheblih geringerem Verkehr ausges{chlofsen.

Nachdem mildere Witterung eingetreten ist, wird es boffentlih den angestrengten Bemühungen der betriebsleitenden Behörden ge- lingen, die Kohlen- und Koksabfuhr bald wieder in geregeltere Bahnen zu lenken, sofern nicht von Neuem elementare Ereignisse hin- dernd dazwischen treten oder die Ueberanstrengungen, welchen Personal und Material in den leßten Monaten unter den ungünstigsten Um-

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ständen ausgeseut gewesen sind, störend entgegen wirken.

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Zweite Beilage

zum Deutschen Reichs-Anzeiger und Königlih Preußischen Staats-Anzeiger.

Berlin, Donnerstag, den 29. Januar

M 26.

ÉSDA,

Haus der Abgeordneten. 22, Sißung vom 28. Januar 1891.

Der Sißzung wohnen bei: der Minister des Fnnern Herrfurth, der Justiz-Minister Dr. von Schelling, der Minister für Handel und Gewerbe Freiherr von Berlepsh, der Finanz-Minister Dr. Miquel und der Minister für Landwirthschaft 2c. von Heyden.

__ Auf der Tagesordnung steht zunächst die Jnterpella- tion Motty:

Ob und welche Maßregeln neben den bis jeßt getroffenen die Königliche Staatsregierung Angesichts der durch falsHe Vor- spiegelungen gewissenloser Agenten hervorgerufenen und im Frühjahr allem Anschein nach in vermehrtem Maße drohenden Mafsen- auswanderung nach Brasilien zu ergreifen gedenkt.

Abg. Motty: Die Auswanderung der unteren Bevölkerungs- klafsen aus den öôstliden Provinzen der Monarchie habe im Laufe der Jahre geradezu den Charafter einer Epidemie angenommen. Speziell die Auêwanderung nah Brasilien nehme immer größere Dimensionen an. Im Jahre 1890 seien über Bremen allein 32 000 Leute nach Brasilien ausgewandert. Daß die brasilianishe Regierung \ich be- mühe, fremde Einwanderer ins Land zu ziehen, Éönne er von ihrem Standpunkt nit mißbilligen. Sie sollte aber darauf sehen, daß nit vollständig mittellofe Leute dur Vorspiegelung der verlockendsten Aussichten in ihc Land gezogen würden. Agenten, die zum Theil wohl felbst mit der brasilianishen Regierung in Verbindung ständen, machten mit ihren Werbungen selbst nicht vor militärpflihtigen Personen Halt. Man sebe in den polnischea Landestheilen oft Agenten mit einer Art Uniform bekleidet, sodaß die Landleute diese Agenten für brasilianishe Beamte hielten und ihren Vorspiegelungen Glauben s{enkten. Besonders seien es LifMaboner Agenturen, die ihre An- gestellten nach den östlihen Gegenden Deutschlands, nach Balizien und Polen schickten. Diese s\{ilderten die Annehmli(fkeiten Brasiliens, besonders die Fruchtbarkeit des Landes, mit den übertriebensten Farben. Die Agenten hätten nur Interesse daran, möglichst viele Leute zur Auswanderung zu bewegen, denn sie erhielten für jeden Angeworbenen eine Prämie, z. B. für jeden pol- nischen Arbeiter 10 Rubel. Leider sei nicht zu vershweigen, daß auch die Ausfuhrhäfen die Auswanderung begünstigten. Erst wenn die Leute in den betreffenden Häfen angelangt seien, würden sie gewahr, weler Zukunft sie entgegengingen. Das Leben, welches die Leute in den brasilianishen Plantagen führten, sei nicht mehr als ein Sklaven- leben, Nur die beiden südlihsten Provinzen Brasiliens seien für den Aufenthalt von Europäern einigermaßen geeignet; troßdem locke man die Auswanderer selbst in die heißesten und für Menschen ganz unbewohnbaren Gegenden. Das Ganze sei ein Menscenhandel am Ende des 19, Jahrhunderts. Die Einwendung, daß die Leute ihren freien Willen hätten, sei nicht sti@haltig, denn sie befänden si in völliger Unkenntniß über die Verhältnisje, die ihrer in Brasilien warteten. Obgleich er der Regierung keine Gegenmaßregeln direkt vorschreiben wolle, so würde doch eine Verständigung mit Desfterreih und Italien gegen das Agentenwesen segensreich sein können, Jtalien sei für si selbst bereits mit Erfolg vorgegangen. Leider lägen in unseren inneren Zuständen selóst viele Gründe, die die Leute aus der Heimath trieben. Der Unterdrückung dec pelnisen Muttersprache müsse in einer wesentlich verbesserten Volks\ch{ule entgegengewirkt werden. Um dem überhandnehmenden Arbeitermangel in den Osftpro- vinzen abzuhelfen, der ja wesentlih dur die Auswanderung und die Sacsengängerei verursacht sei, werde sich au eine Organisation der russishen Einwanderung in das preußishe Gebiet schr empfehlen.

Minister des Jnnern Herrfurth:

Der Inhalt der amilien Berichte, welche der Königlicßen Staatsregierung über den Umfang der Auswanderung nach Brasilien und über die neuerdings geftiegene Zunahme dieser Auswanderung zugegangen sind, steht im WesecniliGen im Einklang mit den that- sâhli&en Anführungen des Herrn Vorredners, obglei sie vielleicht etwas weniger lebhaft kolorirt sind. Auch die WBefürchtungen, daß im kommenden Frübjahr eine weitere Zunahine dieser Auswanderung eintreten werde, \{cheinen nicht unbegründet zu sein. Die Neigung zur Auswanderung, welche in einzelnen Theilen unserer Osfiprovinzen epidemisch zu scin pflegt, steigert sich dann und wann zu einem voll- ständigen Auswanderungs8fieber, welhes den Charakter einer geistigen Epidemie annimmt. Im Hinblick auf die großen wirthschaftlihen und politishen Nachtheile, welche mit einer folchen massenhaften Auswanderung nicht bloß für die Auswanderer und deren Angehörige, sondern auch für die Landestheile, aus denen sie auswandern, verbunden sind, erachtet die Königlihe Staats- regierung es für ihre Pfliht, mit allen ihr zu Gebote stehenden Maßregeln einem solchen epidemischen Auftreten der Auswanderung mögli entgegen zu treten (Sehr gut!); sie erachtet es für ihre Pflicht, mit allen den Maßnahmen, zu welchen sie nah den bestehenden Geseßen überhaupt befugt ist, dieser Aus- wanderung entgegen zu wirken.

j Aber, meine Herren, die Grenzen sind ihr für eine solche Ein- wirkung dur die Geseze ziemlich eng gezogen. Ich darf zunächst daran erinnern, daß die Aus8wanderungsfreiheit als solche, wie cs der Herr Vorredner ja auch hervorgehoben hat, durch Art. 11 unserer Verfassung geseßl ih garantirt ist, daß eine Beschränkung dieser Auswanderungsfreiheit nur stattfinden darf mit Bezug auf die Wehrpflicht, daß aus politischen, aus staats-, volks- oder privat- wirthschaftlichen Rücksißten eine Beschränkung dieser Auswanderungs8- freibeit nicht zulässig ist. Die Köntgliche Staatsregierung ift ferner bei allen Maßnahmen, welche sie gegen die Auswanderung zu treffen in der Lage ift, unbedingt gebunden an die reihsgeseßlichen Vor- schriften über Freizügigkeit, über Verkehrsfreiheit; und selbst im Wege der Landesgeseßzgebung kann nicht vorgegangen werden. Denn auch das ist ja vom Herrxa Interpellanten hervorgehoben worden nah Art. 4 der Reichsverfassung untersteht die Aufsicht und die Gesezgebung über das Auswanderungêwesen der Zuständigkeit des Reichs. Ich will in diefer leßteren Beziehung allerdings hier gleich einsalten, daß in den aller- leßten Tagen der Herr Reichskanzler si enischlossen hat, die Ver- handlungen wegen des Erlasses cines Reichsgeseßes zur Rege- lung des Auswanderung8wesens wieder aufzunehmen, und .daß in der nächsten Zeit die kommissarishen Verhandlungen zwischen den betheiligten Ressorts des Reichs und des Landes hierüber beginnen werden, (Bravo!) Bei dieser Gelegenheit werden alle die Gesichts- pankte, die gegen ein Uebermaß von Auswanderung aus politischen,

volks- und f\taaiswirths{chaftliGen Gründen geltend zu machen sind, ihre Berücksichtigung finden,

Meine Herren, nach Lage der bestehenden Vescgebunz ist aber die Königli®@e Staatsregierung niht in der Lage, die Auswanderung unmittelbar zu verhindern. Sie muß zufrieden sein, wenn es ihr gelingt, sie wenigstens zu vermindern. Was nah dieser Richtung hin gesehen kann, ist geshehen und wird auch in Zukunft ge- schehen.

Zunächst erinnere ih daran, daß, was speziell die Auswanderung nach Brasilien anlangt, wie dies Hr. Abg. Motty hervorgehoben hat, \{on im Jahre 1859 dur das bekannte von der Heydt'she Reskript Maßnahmen gegen diese Auswanderung angeordnet sind, allerdings nit ganz in dem Sinne, wie ihn der Herr Vorredner diesem Reskript gab. Das Reskript verbietet nicht die Auswanderung nach Brasilien, denn es durfte sie niht verbieten, aber es verbietct die Konzessionirung von Agenten, inländischen oder ausländischen Agenten, zur gewerbsmäßigen Vermittlung der Auêwanderung nach Brasilien, Meine Herren, dieses Reskript steht heute noŸ in voller Gültigkeit, es wird von den Bebörden streng angewandt; es wird nit nur jede Konzessionirung eines Agenten zur gewerbêmäßigen Vermittlung der Auswanderung nach Brasilien abgelehnt, fondera es wird auch genau darüber gewaht, ob nit derartige gewerbêmäßige Vermittlung von Auswanderungen nach Brasilien in ungeseßlicher Weise statifindet, und es wird Ieder, welcher sih ciner Uebertretung nah dieser Richtung hin \{uldig macht, unnachsichtlich zur strafgerit- lien Untersuchung gezogen.

Nit bloß die gewerbsmäßige Vermittlung ist untersagt, sondern es findet auch eine genaue Kontrole darüber ftait, daß nicht etwa in Einzelfällen durch die Vorspiegelung falsher Thatsachen die gewerbsmäßige Vermitilung gebraucht dieses Mittel fast aus- nahmslos die Auswanderung na Brasilien begünstigt wird. Hier liegt ein Vergehen gegen §. 144 des Strafgeseßbuchs vor, und au in die en Fällen wird unnahsihtlich vorgegangen.

Im Uebrigen, meine Herren, ist die Staatsregierung darauf an- gewiesen, zunähst durch Belehrung zu wirken, und da muß ich run leider fagen: es ist geradezu unglaublich, wclche Leichht- gläubigkeit die Bevölkerungéklassen, in denen das Auswanderunçe8- fieber am Meisten grafsirt, den tollsten und abenteuerlihsten Vor- spiegelungen der Auêwanderungsagenten entgegenbringen, und mit welchem Mißtrauen sie den wohlgemeinten Warnungen der Be- hörde gegen diese Vorspiegelungen begegnen. (Sehr richtig!)

Meine Herren, der Hr. Abg. Motty hat Ihnen ja bereits das eine Beispiel von den Königen von Brasilien, die die Auswande- rung Deutscher unter der Aegide des Papstes zu befördern Lemükt sind, mitgetheilt. IH erinnere an ein anderes Beispiel, das vor Jahresfrist in der Provinz Pommern passirt ist, wo verbreitet wurde, Se. Königliche Hoheit der Prinz Heinrih wolle in Brasilien ein Deutsches Reih gründen und es sei deshalb erwünscht, daß namentli aus Pommern die Aus- wanderer nach Brasilien gingen, um dort unter seiner Führung dieses neue Deutshe Reich zu begründen.

Meine Herren, diese Vorspiegelungen sind damals Veranlassung gewesen, daß ich in Gemeinschaft mit dem Herrn Handels-Minister Sr. Majestät dem Kaiser darüker Vortrag gehalten habe, und Se. Maiestät haben geruht, auf ursere Bitte am 19. Februar v. I. eine Allerhöchste Ordre zu erlassen, die Ihnen wohl noch erinnerlich ift ; id möchte sie aber doch in ihrem Wortlaut noch einmal verlesen. Die Ordre lautet:

Aus Ihrem Berit vom 18. Februar d. J. (1890) habe Ih mit Mißfallen entnommen, daß in wiederholten Fällen, namentli in den Regierungébezirken Stettin und Köslin, Landbewohner dur falsche Vorspiegelungen zur Auswanderung nach Brasilien verlockt worden {find und heimlich nach Bremen fich begeben haben, in der trügerishen Hoffnung, von dort aus nah Brasilien weiter befördert zu werden. Ih will, daß dem gemeingefährlihen Treiben der Aus- wanderungsagenten, durch welches ein Theil Meiner Unterthanen verlockt wird, unter Nichtachtung ihrer Pflihten gegen das Vater- land, unter Schädigung ihrer Angehörigen und unter Bruch ihrer Arbeitsverträge {ih dem Elende Preis zu geben, mit allen zu Ge- bote stehenden Mitteln entgegengetreten und insbesondere auch in geeigneter Weise auf Belehrung der Betheiligten hingewirkt wird. Fch beauftrage Sie, dementsprehend die Regierungs-Präsidenten

_in Stettin und Köslin mit den erforderlihen Weisungen zu versehen. Dieser Erlaß ist durch die Kreisblätter bekannt zu machen.

Meine Herren, wir haben damals veranlaßt, daß dieser Aller- höhfte Erlaß nicht nur in den Regierungsbezirken Köslin und Steitin, sondern aub in den anderen Provinzen, in welchen \ich die Neigung zur Auswanderung nach Brasilien geltend mate, in geeigneter Weise dur) Amtsblätter, durch Kreisblätter, durch Anschläge bekannt gemacht wurde, und ich kann hinzufügen: mit sehr gutem Erfolge. Es ift dem Auswanderungsfieber in jenen Landestheilen damals gesteuert worden.

Ein anderes Mittel zur Belehrung ist das, was der Hr. Abg. Motty heute, wie ich glaube, mit gutem Erfolge von der Tribüne angewandt hat: das ist die Bekanntmahung und Veröffent - lihung von Briefen Ausgewanderter, die, statt das er- hoffte Eldorado zu finden, dort ins Elend gerathen sind und die nah dem S(eitern ihrer Hoffnungen nur den einen Wunsch haben, wieder zurückzukehren, und daran kaüpft ih, wenn sie zurückehren, die Zurückbeförderung in ihre Heimath. Denn, meine Herren, diese zurückgekehrten Auswanderer sind die „abschreckenden Beispiele“, sie sind die allerbesten Agenten gegen die Auswanderung. (Sehr wahr!) Der Hr. Abg. Motty hat noch den Vorfall der Verleitung zur Auswanderung nach Brasilien in Galizien und den berüchtigten Oswieczimer Prozeß erwähnt. Es war in den Zeitungen mitgetheilt, daß bei diesem Prozesse auch preußishe Beamte eine nicht ganz er- wünschte Rolle gespielt hätten. Es hat dies Veranlassung gegeben, die Verhandlungen von der österreihishen Regierung einzufordern ; es

sind die genauesten Ermittelungen angestellt worden, und ih darf zur

Ekre der preußischen Beamten sagen, daß sich diese Annahme als vollständig unbegründet herausgestelit hai. Ich habe deéhalb auch Veranlassung genommen, im „Reichs- und Staats - Anzeiger ® ausdrücklich dies zu bestätigen. (Lebhafter Beifall.)

Meine Herren, es wird aber nun nicht bloß der Auswanderer selbst mit seinen Angehörigen ges{ädigt, sondern niht minder auch der Landestheil, welhem dur diese Auswgnderung die nöthigsten Arbeitskräfte entzogen werden. Auch nach dieser Ribtung hin hat die Königliche Staatsregierung dasjenige, was sie zu thun überhauyt berechtigt war, gethan; sie hackt fämmkliche Bebörden darauf hin- gewiesen, daß sie den Arbeitgebern, denen ihre Arbeiter unter Bruch fontraftlider Verpfli@tung dur die Auswanderung si entzichen, auf jede möglihe Weise Beistand zu leisten haben; soweit es si also um Gesinde handelt , kommt in Froge die zwangsweise Zurük- führung in tas Dienstverhältniß, soweit es sich um ländli®e Arbeiter bandelt, die Bestrafung auf Grund des Gesetzes vom 24. April 1854. Ferner sind die Behörden ausdrücktlih darauf hingewiesen, daß sie ermäßtigt seien, die Geltendmachung von Entschädigungsansprühen, welche die Arbeitgeber geltend mahen, da 8 sih bei den Auswanderungen um fluWtverdäßtige Personen handelt, nöthigenfalls im Wege der Verhaftung diefer Persönlichkeitzn urter Arrestlegung zu unterstützen.

Mit Nücksicht darauf, daß im vorigen Jahre wiederum eine der- artige gesteigerte Auëwanderung nach Brasilien herrortcat, habe ih Ende Dezember eine Verfügung an die Ober-Präsidenten erlassen, werin i denselben mitgetheilt habe, daß ih mi zunähst mit dem Minister der autwärtigen Angelegenheiten in Verbindung gefeßt hätte, um bei dem Senate von Bremen auf eine strengere Handhabung der Kontrole deutsher Auswanderer hinzuwirken. Das kann ja nit direkt von Preußen gesehen, das ist ja Reichssache. Es sind ferner

die Ober-Präsidenten darauf hingewiesen, die Verfügunzen vom Februar vorigen Jahces aus Anlaß der von mir verlesenen Allerhöchsten Ordre und die Cirkularerlasse von 1833 und 1884 wegen des Schußes der Arbeitgeber überall zur Anwendung zu bringen, und diesem verderblichen Treiben der Auswanderungs- agenten unausgesezt ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. (Bravo!) Immerhin, meine Herren, das muß ih anerkennen, was die Königliche Staatsregierauug gegen die Auswanderung thun kann, die Nicht- konzessionirung von Auëwanderungs2agenten, die \trafrechtliße Ver- folgung gewerbs8mäßiger Vermittelung und doloser Verleitung zur Auswanderung, die Belehrung durch Wort uad Schrift, die Unter- stützung der Arbeitgeber in Geltendmachung ihrer Forderungen gegen die auswanderungslustigen Arbeiter u. #. w., alles das sind nur Palliativmittel, die niht unbedingt und nicht sier wirken, aber, meine Herren, ein Universalmittel von unbedingter Wirk- samkeit giebt es hier überhaupt nicht. Und, wenn ter Hr. Abg, Motty als ein solches die Organisation der Einwanderung von Polen her und eine andere Behandlung der polnischen Volksschule hingestellt hat, so ist das wohl kaum ernstlich gemeint, jedenfalls nur vom Standpunkt seiner Fraktion verständlih. Was die Einwanderung mit Zulassung polnischer Arbeiter anlangt, so babe ih diefelée in dem Umfang, in wel@em sie für die Landwirthschaft ein Bedürfniß war, und in dem Umfang, wie sie ohne national-volnische Bedenten zu erregen, stattfinden kann, zugelassen. Eine vollständige Organisation der polnischen Einwanderung eintreten zu laffen, ist meines Erachtens aber niht angezeigt.

Meine Herren, cs giebt aber kein unbedingt wirksames Universalmittel, am Wirksamsten bleibt es immer, wenn ein Feder bemüßt ist, diejenigen Bevölkerunngsklafsen, bei dencn der Bacillus des Auswanderungsfiebers einen sehr wohl vorbereiteten Nährboden findet, in ihrem Kampfe ums Dasein zu unterstüßen und ibnen helfend zur Seite zu stehen. Wenn ein Jeder sih bemüht, die Bestrebungen der Reih2- und Staatsregierung zu fördern, welche darauf geri{tet sind, die intellektuelle und moralische Ent- wicklung dieser Bevölkerungéeklasse nit minder wie ihre mate- rielle Wohlfahrt zu heben und zu stärken, dann wird, wie ih boffe, au bei Denjenigen, welche jeßt nur zu geneigt sind, in karz} sittiger Uebershäßung egoistischer Interessen, dem vaterlandslosen Spruÿ: „ubi bene, ibi patria“ zu folgen, das Heimathsgefühl wieder erwalen, dann werden sie si nit mehr verleiten lassen, dem Vater- lande den Rücken zu kehren und, um den alten deutschen Ausdruck zu gebrauchen, hinauszuzicehen ins Elend. (Bravo!)

Abg. Cahensly beantragt die Besprehung der Interpella- tion; der Antrag findet genügende Unterstüßung.

Abg. Seer theilt mit, vaß in der polnischen Bevölkerung allgemein der Glaube verbreitet sei, daß in Brasilien ein neues polni-

hes Reih begründet werden solle, wo jeder Pole 50 Morgen Land, ein zweistöckiges Haus, zwet, Pferde und drei Kühe erbalten solle. Das beste Mittel würde sein, wenn auf Kosten des Staates einige hundert Auswanderer aus Brasilien in ihre Heimath zurük- transportirt würden. : E ; :

Abg. Cahensly bezeihnet es als eine Aufgabe von Vereinen und Privaten, die Auswanderer zu belehren. Er verweist auf die Thätigkeit des Rafael-BVereins, zu dessen Vorstand er gehöre, der ih den Schuß voa Auswanderern zur Aufgabe gestellt habe. Leider sei die segensreihe Thätigkeit dieses Vereins beeintcähtigt worden dadurch, daß die Gerichte den Verein verfolgt und als gewerbs- mäßigen Beförderer der Auswanderung betrahtet hätten. Es sei sehr erfreulich, daß von Seiten des Reichs ein Auswanderung8gesetz vorbereitet wird. i : :

Abg. Dr. Arendt verweist auf die Auswanderung8geseßgebung in England und der Schweiz, die er als nahabmungswerth für die Ausarbeitung eines deutshen Gesehes empfehle, Die Schweiz und Belgien hätten Auswanderungsbureaus errichtet, während Deutsch- land troß der großen Auswanderung sih um feine Auswanderer nit kümmere. Die meisten anderen Staaten seien in der Lage, ihre Auswanderer an ihre Kolonien abzugeben, könnten sie also ihrem Volksthum erhalten und behielten sie au als Abnehmer der heimi- \hen Industrie. Bei uns lägen die Dinge in dieser Hinsicht fehr ungünstig. In Amerika würden die deutschen Auswanderer direkt zu unseren Konkurrenten. Die Auswanderer zögen jährlich 24 Mil- liarden aus dèîm deutshen Nationalvermögen heraus, Wir könnten leider feine Auswanderer an unsere Kolonien abgeben; er persönlih

habe allerdings die Hoffnung, daß es demnächst gelingen werde, einen