1891 / 104 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 04 May 1891 18:00:01 GMT) scan diff

Aba. Dr. Barth: Gerade wie bisher bei der Zuckerfteuer beständen aub bei der Branntweinsteuer verschiedene Besteuerungs8- arten: eine Verbrauhëabgabe und eine Maishbottiß- und Ma- terialsteuer. Die Beseitiguna diefer lehteren Steuerarten- würde dem analogen Beschluß in Bezug auf die Zuckersteuer entsprechen. Diese versiedenartigen Steuermethoden erforderten vershiedenartige Kontrolen, und diese seien mit allerlei Schwierigkeiten und Kosten für die Industriellen verknüpft. Eine einheitlihe Steuer in Form der Verdrauhsabaabe würde deshalb sehr vortheilhaft sein Daß die Interessenten an der Maischbotticsteuer festhielten, sei begreiflich. Ueberall, wo Branntwein zur Ausfuhr gebraht werde, oder für ge- werblihe und andere Zwecke nicht in den eigentlihen Konfum gelange, fomme für Diejenigen, welhe die betreffenden Quantitäten zur Abfertigung stellten, eine Vergütung des Rohmaterials, das sie veraus- lagt bâtten, in Frage. Es sei bekannt, daß für die 16 gezazlte Bonifikation in Wirklichkeit vorher an Steuer für Rob- material 14,13 4 und bei den besteingerihteten Fabriken noch weniger gezahlt werde. In der Differenz liege eine Prämie, die bei der Ausfuhr als Exvortprämie in die Erscheinung trete. Diese Branntweinprämie babe eine täushende Aehnli(keit mit der Zucker- prämie, und die paar Millionen, die in dieser Differenz lägen, würden ja allerdings den Branntweinbrennern entgeben. Das dürfe den Reichstag aber nicht bestimmen, die Materialsteuer aufrecht zu er- halten. Eine gewisse differentielle Behandlung in den Steuersäßen lasse sich auch im Rahmen der Gebrauch2abgaLte erzielen. Die von ihm vorgeschlagene Resolution binde Niemand, sie weise die Re- gierungen nur hin auf den Weg, den sie zweckmäßiger Weise be- schreiten sollten, wenn sie an die prinzipielle Reform dieser Brannt-

i eranträten. 2 :

E R e Buhl: Wenn die Resolution die Abschaffung der Materialsteuer unter der Vorausseßung verlangte, daß als Ersaß für die Materialsteuer den kleineren Brennereien in anderer Weise die in der Materialsteuer liegende Begünstigung zugewiesen werden sollte, so ließe sich über die Resolution reden. Der Antrag fei aber nit fo harmlos, wie der Antragsteller ihn hinftelle. Bei der verschiedenartigen Bedeutung der Brennereien in den verschiedenen Theilen von Deutschland dürfe man die Neuregulirung der Steuer nit so treffen, daß sie die gegenwärtigen Verbältnifse verschiebe. Der Satz, daß nicht durch eine Staatéfubvention die freie Konkurrenz in irgend . welchem Gewerbe gehindert werden dürfe, set in Bezug auf das Branntweinsteuergeseß mit Vorsicht aufzunehmen. Außerdem habe der Antragsteller nit gesagt, auf welche Weise im Falle der Beseitigung der Materialfteuer finanziell Ersay geschaffen werden solle. Es liege keine Veranlassung vor, die Einnabmen aus der Branntweinsteuer zu verringern. Gerade die pvolitischen Partei- freunde des Abg. Dr. Barth hätten 1887 in der baverishen Kammer für die Materialsteuer gestimmt. Er könne deshalb den radikalen S(ritt des Abg. Dr. Barth nit mitmaen. 5

Abg. Dr. Barth: Es handele sich hier darum, das Prinzip aus- zusprehen, nah dem in Zukunst die Reform der Branntwein- steuer erfolgen solle. Die Frage, welche der Vorredner angeregt habe, beantworte sich dann ganz von selbst. Er denke sich die Reform in der Weise, daß an Stelle der Maishraum- und Materialsteuer eine entsprehende Erhöhung der Verbrauchsabgabe trete. Wesbalb aber die durchaus der Zukunft vorbehaltenen fonstigen Modalitäten in diese Resolution aufgenommen werden follten, sei ihm unver- ständlih. In der Hauptsache handele es sich um die Beseitigung der großen Schwierigkeiten, welche sih aus dem zweifahen Steuersystem für den Branntwein ergäben. H :

Abg. Dr. Buhl bleibt bei seinen Bedenken gegen die vor- geschlagene Form der Resolution stehen, während der Abg. Dr. Bart h ausführt, daß dem von dem Abg. Dr Buhl gehegten Wunsche dur die Fassung der Resolution in keiner Weise präjudizirt werde.

Die Resolution wird abgelehnt. L

Die zu dem Gesezentwurf eingegangenen Petitionen sollen durch die gefaßten Beschlüsse für erledigt erklärt werden.

Es folgt die dritte Berathung der zwischen dem_Rei ch und Marokko am 1. Juni vorigen Jahres zu Fez ab- geschlossenen Handelskonvention. :

Abg. Richter: Er wolle die Gelegenheit nit vorübergehen lassen, obne dem Sultan von Fez und Marokko seine Anerkennung auszusprechen für die verständigen zollpolitishen Ansichten, welche er in diesem Vertrag bekundet habe. Der Sultan habe si verpflichtet, von allen in sein Sultanat eingehenden Waaren nicht mehr als 10% vom Werth an Zoll zu erheben. Er könne nur bedauern, daß diese Stipulation niht auf Gegenseitigkeit beruhe, und daß sih die deutshe Regierung nicht auch dem Sultan gegenüber verpflihtet habe, die Eingangszölle derart zu ermäßigen, daß sie 10 9% vom Werth nit überstiegen. Wenn eine solhe Bestimmung im Vertrage vorhanden wäre, so würde z¿. B. von Getreide gegen- wärtig 20 #4 Zoll statt 50 H erhohen werden. Er habe mit Genugthuung avs den Zeitungen entnommen, daß die Regierung fh besonders lebhaft und mit Erfolg verwandt habe, um die Ausfuhr von Getreide aus Marokko nah Deutschland zu erleichtern. Der Sultan habe sich verpflihtet, die Ausfubrzôlle entweder aufzuheben oder auf einen sehr mäßigen Ertrag herabzuseßen. Um fo bedauerlicher sei es, daß man in anderer Beziehung die Uebergangszölle in der gegen- wärtigen Situation aufrecht erhalte und damit die Barrikaden bestehen lasse, die die Ausfuhbrerleihterung von Getreide von anderen Staaten in ihrer Wirkung mehr als neutralifirten. Au die Verhandlungen mit ODesterreich versprähen ja höchstens vom nähftkommenden Jahre ab eine Ermäßigung der Getreidezölle. Inzwischen stiegen die Getreidepreise fortgeseßt, und auch wenn Marokfo die Erwartungen noch so vollständig erfülle, die in Bezug auf diesen Vertrag gehegt würden, so werde dies wenig verschlagen gegenüber dem Mangel an Lebenêmitteln, der in Deutschland auézubrechen drohe, seitdem die Witterung so ungünstig in den leßten Monaten gewesen sei. Die Roggenpreise seien in Berlin während des ganzen April über 180 # gewesen. Als im Jahre 1887 der Zoll auf den gegenwärtigen Betrag erhöht worden sei, habe befanntlich ein freifonservativer Abgeordneter den Antrag gestellt, daß in dem Fall, wenn 60 Tage der Roggenpreis eine folde Höbe erreiht habe, cine Zollermäßigung cinzutreten habe. Es sei darauf erwidert worden, daß, wenn der Fall einträte

Vize-Präsident Graf von Ballestrem; Er möchte den Redner doch bitter, sich von dem Gegenstande der Tagesordnung nicht zu weit zu entfernen.

Abg. Richter (fortfahrend): Er follte meinen, daß, nachdem das Haus drei Stunden eine Anzahl von Reden, denen man einen gewissen nationalen Schwung niht aberkennen könne, angehört habe, welcke den Zweck gehabt, die Wichtigkeit des steuerfreien Haustrunks nach- zuweisen, man die erste Veranlaffung ergreifen sollte, darauf hin- zuweisen, daß das zollfreie Brot für Millionen viel wichtiger sei, als der steuerfreie Trunk für die Brenner. Er habe nit die Absicht, auf diese Zustände hier näher einzugehen, es würde ja angezeigt sein, An- gesihts der augenblidihen Lage der Getreidepreise eine Interpellation darüber einzubringen, er halte das aber nicht für erforderli, da man in

den nädsten Tagen einen Nattrags-Etat zu berathen haben werde ; er beshrärke sih daher auf die Ankündigung, daß er bei diesem Nab- trags Etat an die Regierung die Anfrage stellen werde, welche ¡zollpolitischen Maßnahmen sie beabsihtige eintreten zu lassen, um der in beunruhigender Weise zunehmenden Vertheuerung des Getreides und des Brotes entgegenzutreten, h

Der Vertrag wird darauf ohne weitere Debatte endgültig genehmigt.

Es folgt die dritte Berathung über das internationale Uebeinkommen, betreffend den Eisenbahnfrahtverkehr.

In der Spezialdiskussion über Artikel 10, welcher von der Zollabfertigung handelt, wiederholt der Abg. Dr. Hammacher an die verbündeten Regierungen die Bitte, daß sie zur Berubigung weitester Geschäftskreise eine Erklärung dahin abgeben möchten, daß der Versender in Deutschland auch nah dem Inkrafttreten des internationalen Fratvertrags das Ret habe , für die Zollakferti- gung auf der Grenzftation eine Mittelëperson vorzuschlagen.

Präsident des Reihs-Eisenbahnamts Dr. Schulz: Er sei ja |

nicht in der Lage, Namens der verbündeten Regierungen in dem gewünschten Sinne eine Erklärung abgeben zu können, aber er glaube, wie es in der Kommission wiederholt erklärt worden sei, au an das Haus die Bitte ridten zu dürfen, zu vertrauen, daß die verbündeten Regierungen wie bei den Verhandlungen des inter- nationalen Vertrages auch später die Interessen von Handel und Ge- werbe aufs Beste wahrnehmen würden. :

Der Vertrag wird hierauf unverändert genehmigt.

Der Geseßzentwurf, betreffend das Reihs-Schuldbu, wird in erster Lesung ohne Debatte erledigt und in zweiter Lesung im Einzelnen unverändert angenommen. Z

Als nächster Gegenstand steht auf der Fagedoranag die erste Berathung des am 14. Mai 1890 von den Abgg. Dr. Hirs, Eberty, Dr. Hänel, Schneider und Schrader eingebrahten Gejeßentwurfs, betreffend die eingetragenen Berufsvereine. L :

Vor dem Eintritt in die erste Lesung wird jedoch die Vertagung beantragt und vom Hause beschlossen.

Schluß 31/2 Uhr.

Haus der Abgeordneten. 80. Sißung vom Sonnabend, 2. Mai.

Der Sißung wohnen der Präsident des Staats- Ministeriums, Reichskanzler von Caprivi, der Justiz-Minister Dr. von Swelling, der Finanz-Minister Dr. Miquel und der Minister für Sendwirthschast 2c. von Heyden bei.

Die Etatsberathung wird fortgeseßt bei dem Extra-

ordinarium des Justiz-Etats.

Bei der Position: Neubau eines Dienstgebäudes für das Ober-Landesgericht Kiel bittet :

Abg. Hollesem dringend um einen Neubau des Amtsgerichts in Rendsburg mit einem gegenüberliegenden Gefängniß. Das jetzige Gebäude entspreche in keiner Weise den bau- und feuerpolizeilichen Vors&riften. : i

Der Titel wird genehmigt. e N

Beim Titel : Neubau eines amtsgerihtlihen Geschäfts- gebäudes in Braunfels beklagt : : È

Abg. Wißmann, daß noch immer nit mit dem Bau eines Amtsgericht8gebäudes in Wiesbaden begonnen worden sei, obwohl die Baustelle bereits seit längerer Zeit vorhanden sei.

Der Titel wird genehmigt, ebenso der Rest des Etats.

Die Etats des Herrenhauses und des Abgeordneten- hauses werden ohne Debatte erledigt. E

Es folgt der Etat der Ansiedelungskommission für Westpreußen und Posen. Jn Verbindung mit dem Etat wird die Denkschrift über die Ausführung des Ansiede- lungsgeseßes für das Jahr 1890 berathen. : :

Berichterstatter Conrad (Flatow) berihtet über die Denk- \ch{rift und befürwortet den Antrag der Budgetkommifsion, die Denk- {rift durch Kenntnißnahme für erledigt zu erklären. Zum Sluß \priht der Berichterstatter dem biéherigen Präsidenten der An- siedelungekommission seinen Dank für die Förderung der Arbeiten der Kommissioa aus, woran er die Hoffnung \{ließt, daß, die Arbeit auch unter dem neuen Präsidenten rege Fortschritte mahen möge.

Abga. Dr. von Jazdzewski erklärt, daß der Referent von der Kommission nit beauftragt sei, ein Loblied auf die Kommission zu fingen; er habe dagegen in der Budgetkommission {hon Protest er- hoben. Nur die geringe Zabl der polnishen Stimmen habe seine Freunde abgehalten, den Antrag wegen Aufhebung dieses den Staat und die Provinz \{chädigenden Geseßes einzubringen. Seine Freunde seien nit der Ansicht, daß gute Früchte erzielt worden seien. Das Gesey habe politisch und wirthschaft- lich Fiasko gemaht. Die Regierung habe 30 Millionen w ark für Erwerbungen ausgegeben; sie habe mehrfach bei Subkhastà onen gekauft. Das sei eine Einmischung in Privatverhbältnisse, eine Be- einflussung der Kauflust Privater, die nit berehtigt sei. (Zuruf: Die Polen haben ein {önes Stück Geld bekommen!) i Allerdings, Geld habe der Staat bezahlt, aber den Verkäufern fei das Geld nit immer voll zu Gute gekommen. Die Regierung verdecke ihren Zweckz; es werde niht blos eine Germanisirung der Provinz beab- Adtigt, sondern auch eine Evangelisirung. (Widerspruch.) Das bewiesen die Zahlen, denn unter circa 600 Ansiedlern seten nur 59 Katholiken. Den Ansiedlern komme man fehr entgegen, das koste aber sehr viel Geld, und das Ergebniß fei deshalb nicht sehr bedeutend. Politish habe das Geseß garnicht gewirkt; der Gegensaß zwischen Polen und Deutschen sei nit beseitigt oder abgeschwäct worden, Das müßten die Herren aus Westpreußen und auch die Staatsregierung bestätigen. Die Gegensäte seien innerlich sebr viel stärker geworden. Die Polen, welche an die Ansiedelungskommission verkauft hätten, litten an einem moralischen Defekt, und der Vorwurf könne der Regierung nicht erspart werden, daß ße die Nothlage der einzelnen polnischen Landwirthe auêgerußt babe, um einen Druck auf sie auszuüben, ibr alt ererbtes Besißthum aufzugeben. Er möchte an die Staats- regierung eine Mahnung und eîne Bitte richten. Jedes Gesetz folle ein Ausdruck des Recbts sein; dieses Geseh sei der Ausdruck des Unrehts, denn ein Theil der preufishen Bevölkerung, von welchem verlangt werde, daß er zu diesen Millionen beitrage, der aber von den Woblthaten ausgeschlossen sei, werde degradirt; das errege Mißgunst und Haß. Nachdem aus dem Staats-Ministerium die Männer gewichen seien, welhe die Förderer dieses Unternehmens gewesen seien, sei die Zeit gekommen, wo die Staatsregierung untersuchen follte, ob das Geseß niht aufgehoben werden solle. Wenn die Staats- regierung das Geseg beseitigen wolle, dann würden es die Parteien auch wollen (Widerspruh rechts), wie das Geseß der Regierung auf böbere Anregung angetragen worden sei. Er richte an den Minister- Präsidenten die Frage, ob die Regierung noch auf demselben Stand- punkte stehe, wie Fürst Bismarck bei Erlaß des Geseßes. Er würde der Erwägung der Staatsregierung anheimgeben, ob es nicht thun- lid sei, dem Geseße eine andere Grundlage zu geben, nämlich das- selbe auf den ganzen Staat Preußen auszudehnen; dadurch werde die politishe Spiße genommen werden, welhe immer ein Dorn im Fleische der Betheiligten fet.

Präsident des Staats-Ministeriums, Reichskanzler von Caprivi:

Der Herr Abgeordnete hat vorhergesehen und wiederholt geäußert,

daß ein Theil seiner Behauptungen bestritten werden würde. J bin im Namen der Staatsregierung in der Lage, hiervon Gebrauch zu machen und zunächst zu widerstreiten der Behauptung, daß die Staats- regierung gewillt fei, durch die Benußung des Ansiedlungs8geseßes die Provinz Posen zu evangelisiren. (Sehr richtig!) Der Herr Abgeordnete ist den Beweis dafür \ch{uldig geblieben. Seine Behauptungen ent- behren nach Ansit der Staatsregierung der thatsächlihen Begründung.

Er hat dann weiter an die Regierung die Frage gerichtet, ob se gewillt sei, das jeßige Geseß zu verändern. JIch muß diese Frage verneinen. Die Staatsregierung ist nicht gewillt, das jetzige Gesetz zu verändern. (Bravo!) s

Der Abgeordnete motivirt seinen Wunsch damit zunächst, daß das Geseß nit gewirkt habe, weder wirtbschaftlich noch politisch. Die Staatsregierung kann diese seine Ansicht nicht theilen, aber selbs wenn sie sie theilte, würde fie niht geneigt sein, zur Auf- bebung des Gesetzes S{hritte zu thun. Denn daß ein Gesetz der

Art in fünf Jahren keine Erfolge haben kann, die offen zu Tage Tiegen, die sich Jedermann fühlbar machen, das is an ih nihts Ueberrashendes. Die Staatsregierung hat die Folgen dieses Geseßes wahrgenommen und erwartet, daß, wenn das Geseh länger in Gültig- keit bleibt, diese Folgen sihtbarer werden werden.

Der Herr Abgeordnete sagt dann weiter: „Die Staatsregierung will die Polen los werden.“ Auch diese seine Behauptung muß ih bestreiten. Wir wollen die Polen nicht los werden, wir wollen mit ibnen gemeinsam lebenz aber wir wollen unter denjenigen Bedingungen mit ihnen gemeinsam leben, die das Wohl und die Erhaltung des preußishen Staates fordert. (Sehr rihtig!) Die Verhältnisse in der Provinz Posen haben \sich im Laufe der fünf Jahre nicht so ge- ändert, daß die Regierung diejenigen Mittel, die sie damals für nöthig gehalten bat, um die Zugehörigkeit der Provinz Posen zum preußischen Staate zum vollen Ausdruck zu bringen, aus der Hand geben könnte. Jch glaube nit, daß in den leßten Jahren das germanische Element gegen das polnishe in der Provinz Posen vorgeschritten ist. Im Allgemeinen ist in den Jahren von 1867 bis 1886 eine Zunahme der Polen zu konstatiren gewesen; während im Jahre 1867 der Prozentsaß der Gesammtbevölkerung, der rein polnische Familiensprahe hatte, sich auf 54,86%, bezifferte, waren es 1886 57,69 9% geworden. (Hört, bört!) Ih bin nicht in der Lage, für das laufende Jahr eine Zahl anzuführen wir sind noch nicht in deren Besiß aber i balte es für wahrscheinli, daß ein Rüdck- gang des polnishen Elements nicht stattgefunden hat, und zwar aus verschiedenen Gründen. Bewegung, die eine gewisse Aehnlihkeit mit der Völkerwanderung hat. Sie vollzieht si{ch mit modernen Mitteln; es ist aber eine Be- wegung vom Osten nah dem Westen da. Diese Bewegung bält niht till an unseren östlihen Grenzen, fondern fie seßt fich von da aus weiter fort. Ich halte es für wahrscbeinlih, daß, wie es in anderen Grenzprovinzen ist, so au in der Provinz Posen im legten Jahre ein erhöhter Zuzug nichtdeutsher Elemente, troß des Ansiedelungs- gefeßes, stattgefunden haben wird. Jh halte weiter für wahrschein- lib, daß das polnische Element an Zabl zugenommen hat, weil es bis dahin ein statistish festgesetzter Erfahrungssaß gewesen ist, daß die polnis{en Eben im Durchschnitt um ein Kind reicher sind, wie die germanishen Ehen, (Heiterkeit.) Also auch diefes Naturgeseß wirkt dabin, das polnische Element nicht zu {wächen.

Wenn dies eine Betrachtung ist, die die numerishen Verbältniffe betrifft, so glaube ich, daß auch dem inneren Werthe nach das polnishe Element nicht zurückgegangen is. Unter der preußischen Regierung und mit der Beihülfe der preußishen Regierung, nicht zum Wenigsten dur die Säkularisation der polnischen Klöster, aus denen die Mittel zur Dotirung polnis@er Sch{ulen und Gymnasien bergenommen wurden, ift ein Mittelstand in der Provinz Posen ent- standen, der eine kräftige Stütze des polnishen Elements bildet, sos daß ih der Meinung bin: niht nur numeris{, fondern auch innerlich hat das volnis&e Element zugenommen.

Nun sind, seit die jeßige Regierung diese Pläße einnimmt, von Seiten polnisher Abgeordneten hier und da Aeußerungen laut ge- worden, die darauf {ließen lassen, daß man polnischerseits gewillt sei, eine veränderte Stellung der preußischen Regierung und dem preußischen Staat gegenüber einzunehmen.

Der Herr Abgeordnete hat die Frage an mich gerichtet, ob die jetzige Regierung den Standpunkt des Fürsten Bismarck einnimmt, und hat diesen Standpunkt nachber dahin präzisirt, daß er ein haßerfüllter gegen die Polen gewesen sei. (Sehr richtig! bei den Polen.) Ich muß dem Herrn Abgeordneten überlassen, mit seinem Gewissen sich darüber einig zu werden, ob dieser Ausspruch auf den Fürsten Biêmar@ zutrifft. (Unruhe bei den Polen.)

Auf die gegenwärtige Regierung trifft er nicht zu. Wir hassen die Polen niht. Wir sehen sie als Mitbürger an s{wierige Mit- bürger zu Zeiten, zeitweise auch verirrte Mitbürger von unserem Standpunkt aus, aber immer unsere Mitbürger, mit denen zu- sammen wirken zu können zum Besten des Staats uns zu allen Zeiten eine Freude sein wird. (Bravo!)

Wir stchen in Bezug auf das Ansiedlungsgeseß und in Bezug auf das ganze politisGe Leben auf dem Standpunkt des Gesehes und sind gewillt, die bestehenden Gesetze gegen Polen und gegen Deutsche, für Polen und für Deutsche gleichmäßig zur Anwendung zu bringen.

Wenn nun polnischerseits der Wunsh laut geworden ift, sch der Regierung mehr zu Fo kann uns das ja nur reckcht sein. Aber es ist doch natürli, dap fr, als dieser überrashende Wunsch zuerst bei einer Reihstagédebatte im vorigen Jahre au zum prafkti- \{en Ausdruck dadur kam, daß die polnishe Fraktion, die si fonst der Vermehrung deutswer Wehrkraft widersetzt hatte, für diese Ver- mehrung eintrat, daß wir uns da die Frage vorlegten: Was mag denn der Grund zu dieser veränderten Stellung sein? Wenn über hundert Jahre Deuts%e und Polen gemeinsam in nichtfreundschaft- lichen Verhältnissen gelebt haben, so war es vom deutschen Standpunkt erklärlih, daß man diesen Umschwung, wenn auch erfreuli, so doch überra\schend fand. Man konnte glauben: Haben die Gesetze, über die die Polen \o viel geklagt haben, Spracho-seß, Gerichtsgeses, Schulgeses, Gaben die dow am Ende so stark gewirkt, daß polnischerseits eine Na- giebigkeit als Folge dieser Wirkung auftritt oder halten die Polen die jeßige Regierung für so \{chwach, daß sie glauben, ihr etwas bieten zu können, was sie der vorigen Regierung niht geboten haben ? (Zurufe rechts.) Die Staatsregierung hat keine dieser Auslegungen acceptirt. Sie hat sich an die Thatsache gehalten, daß ein freund- licherer Ton von Seiten der Polen anges{lagen wurde. Sie hat aber doch nicht vergessen können, daß in der Epoche, die die Provinz Posen mit dem preußischen Staat verbindet, Zeiten dagewesen sind, in denen wir {on ähnlihe Klänge gehört haben, (Sehr rihtig! rechts.) Ich darf erinnern an die ersten Zeiten der Re- gierung Friedri Wilhelm's IV. und ich will nicht erinnern an das, was darauf folgte, um nicht Wunden wieder aufzureißien, von denen wir ja auch boffen: sie vernarben, um nich{t einen scharfen Ton in die Debatte zu briagen, denn ih habe heute zum erften Male das Vergnügen gehabt, den Herrn Vorredner sprehen zu hôren; ih habe aber in den stenographischen Berichten über seine sonstigen Reden mih zu orientiren gesucht und kann mit Freude heute feststellen, daß sein Ton ein gemäßigterer war als früher. Ich- möthte nit dazu beitragen, daß der frübere Ton wieder angeschlagen würde. Die Botschaft dieses sanfterzn Tons haben wir gehört, der volle Glaube hat uns aber hier und da nog gefehlt; aber (Abs. Dr, von Jazdzewski ; Kommt nah!) gehen Sie voraus; das zichen wir vor! (Heiterkeit) Dann kommen wir mit Ihnen, Wir stehen ih

Einmal befinden wir uns in einer

wiederhole es auf dem Boden des Geseßes und glauben da einen sicheren Boden unter uns zu haben. Jeßt kommen polnische Mitbürger, die so lange gegrollt haben, und wirken uns: kommt her. Wir sind vorsihtig, unsern sihern Boden zu verlassen und uns auf ein unbekanntes Terrain an der Hand unserer neuen Freunde zu begeben. ‘Aber wir wollen das nicht abweisen; im Gegentheil, wir find Ihnen in einzelnen kleinen Dingen nachgekommen. Gehen Sie weiter auf dem Wege der Versöhnung, so werden Sie es der Regierung und den Deutschen in der Provinz Posen mögli machen, Ihnen auch weiter zu folgen. Ih habe mich gegenüber einem der Herren, die mit mir darüber \sprahen, des Gleichnifses bedient: Sie machen uns ein freundlihes Gesiht; das freut uns, aber Sie können nit verlangen, daß wir Ihnen nun um den Hals fallen. (Heiterkeit.) Wir wollen wieder freundlich sein, aber wir wollen abwarten, wie diese der preußis{en Regierung wohl- wollende Entwickelung sich weiter gestaltet, und werden in dem Maße Ihnen folgen, als Sie uns vorangehen. (Sehr richtig !) Das Ansiedlungsgeseß, welches wir für eins der witigsten balten, jeßt aufzugeben, dazu sind die Motive des Wohlwollens, das uns von der anderen Seite entgegengebraht worden ist, noch niht gewiGtig genug. (Bravo!)

Abg. Seer: In der kurzen Zeit habe allerdings noch nit viel geleistet werden können, Wenn der Vorredner dagegen sei, daß bei Subhastationen angekauft werden solle, so sei das nicht zu ver- stehen. Freibändig wollten die Polen niht verkaufen, wie solle denn die Kommission Güter erwerben? Daß die Evangelischen bevorzugt würden, sei nit rihtig, man bätte vergleihen müssen, wie vile Katholiken sih gemeldet hätten, und wie viel angesiedelt seien. Wenn si keine Katholiken meldeten, dann könnten fie niht angesiedelt werden. Der Abg. von Jazdzewskfi wolle das Gesetz ausdehnen auf alle Provinzen. Wenn er es für fo gut halte, dann müsse er es au in Posen gelten laffen.

Abg. Rickert: Er bezweifle, daß die vorige oder die jeßige Regierung die Evangelishen bevorzugt babe oder bevorzugen wolle. Wenn die Polen sich auf den Standpunkt des Minifteriums stellten, so würden sie wohl begreifen, daß die Regierung nicht geneigt sein könne, jet nah fo kurzer Zeit von dem Geseze zurückzutreten Jeden- falls sei ein erfreuliches Ergebniß festzustellen: Der Ton sei auf beiden Seiten ein anderer, besserer geworden, man mache si freundlihe Gesihter und darüber könne man #sich nur freuen. Daß die bedenklihen Folgen des Ansiedlungsgeseßes auch von Kenservativen anerkannt würden, gehe aus verschiedenen Aeußerungen hervor. Der Reichskanzler habe darin Recht: in fünf Jahren könne man von einem solchen Gese eine Wirkung noch nit erwarten. Er sei der Meinung, daß das Geseß dem Deuishthum nit geholfen habe. (Sehr wahr! bei den Polen.) Er sei {on erfreut darüber, daß Männer an der Regierung seien, welhe an diesem Gesetze kein persönliches Interesse hätten. Er wolle dem Fürslen Vismarck keinen Vorwurf machen; aber der Ton, in welchem er zu den Polen ge- sprocen habe, sei ein ganz anderer gewesen. Er hoffe, daß die freund- lichen Gesichter gegenüber unseren pvpolnischen Brüdern dauern würden, daß heute der Anfang einer Versöhnung sei, welche zum Heile des Vaterlandes diene. (Beifall links, im Centrum und bei den Polen.)

. Abg. Graf zu Limburg-Stirum: Die Konservativen ständen im Wesentlißen noch auf demselben Standpunkte, auf welchem sie beim Erlaß des Geseßes gestanden hätten. Die Maß- regeln seien nicht aggressiv gegen die Polen, sondern defensiv für das Deutschthum gewesen. Die Polen würden durch die deutshen Gesetze und die deutschen Sculen wirthschaftlich gefördert, sonderten si aber sozial ab und gingen aggressiv gegen das Deutschthum vor, und es habe im Wesen der Dinge gelegen, daß die polnis-katholiswen Geistliben ihren großen kir{lihen Einfluß benußten, um nit allein die Interessen der Kirche, fondern au die polnishen Interessen zu fördern. Wenn seine Partei dem gegenüber das Deutshthum \{üße, so werde man ihr das nit verdenken können. Ueber das Ansiedelung8geseß und seine Wirkung könne man sich jetzt noch keine Anschauung bilden, es stehe aber zu hoffen, daß es für die Zukunft wirken werde zur Stärkung des Deutschtbums. Die zukünftige Gestaltung werde davon ab- bängen, daß die bolnisWen Angehörigen si zeigten als ganze An- gehörige des Deutschen Reichs, daß alle Gedanken auf eine spätere Wiederherstellung des polnisben Reichs vers{wänden. (Zuruf: Olle Kamellen!) Die „ollen Kamellen“ seien noch nicht ganz abge- storben. So lange das nit eingetreten sei, könne seine Partei auf eine vorsihtige Haltung den Polen gegenüber nit verzichten. Er freue fi über eine Aeußerung des Minister-Präsidenten; feine Partei werde vollkommen dem Wege foigen, den der Minister-Präsident ihr vorgezeihnet habe. Die Schwankungspolitik, die früher befolgt sei, habe |chwere Nachtheile gebraht. (Sehr rihtig!) Es werde si wieder bitter strafen, wenn nit eine feste Haltung beobachtet werde. (Beifall rets.)

Abg. von Czarlinski: Wie oft sollten die Polen wieder- bolen, daß sie die Verfassung beschworen hätten und halten würden. (Zustimmung links und im Centrum.) Er fordere Beweise für deren Illoyalität, sie seien Angehörige des preußishen Staats, aber fie seien Polen und wollten Polen bleiben, alles Andere seien leere Phrasen. Er stelle mit Genugthuung fest, daß der Reichskanzler in einem anderen Tone gesprohen babe, daß er das Entgegenkommen niht abweise. Aber wenn der - Reichskanzler sage: „Verlangen Sie richt, daß wir Ihnen um den Hals fallen“, so müsse er (Redner) sagen: „Liebe haben wir nit geradezu verlangt, sondern nur Gerech- tigkeit“, Von einer Versöhnung der Nationalitäten könne doch keine Rede fein, so lange dieses Gese bestehe wenn die Gelder der Polen benußt würden, um die Polen auszukaufen, wenn die Polen von der Kolonisation ausgeschlossen würden! An den Ein- rihtungen des Staats sollten alle seine Unterthanen Theil nehmen. Wie wolle man es rechtfertigen, daß auf diese Weise das Rechtsbewußtsein des Volk3 vernichtet werde? Es sei {hon manches andere Gescß wieder aufgehoben worden, und nach dem Wiederauflebea dieses Gesezes werde ih Niemand sehnen. Die Arbeiterbevölkerung von anderen Gegenden werde nicht nach Posen kommen; wenn man die Arbeiter ansässig machen wolle, müsse man polnis®e Arbeiter ansiedeln. Das Gese habe nicht gegen den polnishen Bauernstand gerihtet fein follen, aber die Thatsachen besagten das Gegentheil. Der starken Vermehrung des polnishen Volksstammes könne man doch nit entgegentreten, weder mit diesem, noch mit einem anderen Geseze.

Akg. von Tiedemann (Bomst): Wie seine politishen Freunde 1886 mit voller Ueberzeugung für diefes Geseß eingetreten seien, würden sie \sih auch dur nihts bewegen lassen, von demselben ab- zugehen. Daß_ mit diesem Gesege das Richtige getroffen sei, beweise der Ton der heutigen Debatte, das Entgegenkommen der Polen. Aber die Vorsiht, von der der MReichékanzler gesprohen, sei nothwendig; bisher habe man nur Worte gehört, möchten die Herren Polen Thaten folgen laffen. (Zuruf der Polen: Was für Thaten?) Sie mö@hten mit- arbeiten an dem Wohle des Deutschen Reichs und des deutschen Volks. Er freue si, daß die Regierung auf dem alten Boden stehen bleiben wolle. Der Zufall, daß ein Sprachenerl+ÿ zusammengefallen sei mit dem Ministerwehsel, habe zu Beunruz gungen Veranlassung ge- geben; dieser Zufall hätte vermieden werden können, denn es seien dadurch unter den Deutschen allerlei Befürchtungea hervorgerufen worden, Möge die Staatsregierung sich nicht durch das freundliche Gesicht der Polen von ihrem heutigen Stantpunkte ableiten lassen; möge sie aus der Geschichte lernen. (Beifall rechts.)

Abg. Dr. von Jazdzews ki: Worte des Wohlwollens Seitens der Regierung hätten die Polen mehrfach gehört, von Thaten des Wohl- wobens hätten sie sehr wenig gesehen. Bemerkenswerth sei, daß der neue Sprachenerlaß so viel Beflirhtungen hervorgerufen haben solle. Was bringe denn der Erlaß? Es werde der polnischen Be-

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völkerung erlaubt, ihre Kinder privatim im Polnishen unter- richten zu laffen. Von den Polen verlange man Thaten, während der Abg. von Tiedemann sih {on beunrubigt füble, wenn ein polnishes Kind privatin im Polnischen unterrihtet werde. Die Polen erfüllten ihre Pfliht vollständig. Sie bezahlten ihre Steuern, ihre Soldaten hbäâtten in den deutshen Kriegen mit- gefohten, was werfe man ihnen dann noch vor? Es sei bedauerlich, daß die Regierung sh von der Unbrauchbarkeit dieser Polen- geseße noch nicht überzeugt babe, daß sie mit großer Zähigkeit daran festhalte. Was die Wiederaufrihtung eines Polenreihs an- betreffe, so forderten die Herren eine Erklärung, die die polnischen Mitglieder des Hauses gar nicht abgeben könnten. Sie könnten doch nicht im Namen ihrer Wähler über die Zukunft ihrer Nationalität eine Erklärung abgeben! Der russis®e Kaiser Alexander habe 1809 aub von Napoleon die Erklärung verlangt, daß Polen nit wieder bergeftellt werden solle. Napoleon habe gefagt, er könne erklären, daß er dazu nicht beitragen wolle, aber etwas Weiteres würde ein Eingreifen in die Rechte Gottes sein. Wenn Gott ein polnisches Reich wiederberftellen wolle, so könne er nihts dagegen einwenden. Die polnische Fraktion könne nur erklären, daß, so lange die Polen dem preußishen Staat angehörten, ihre Pflicht mit voller Loyalität erfüllen wollten. Die Abweisung, welche die Fraktion beute von der Staatsregierung erfabren habe, werde sie niht abhalten, mit ihrer Forderung! ets von Neuem wiederzukommen. (Beifall bei den Polen.)

Abg. Sombart: Daß die Kolonisation wirthschaftli% nicht günstig gewirkt habe, sei nicht ridtig. Gerade die Ansiedelungen kleiner ländlicher Besitzer, welhe persönlih mitarbeiteten, sei das einzig richtige. Von den zablreiwen Bewerbern habe nur ein kleiner Theil berücsitigt werden können. Zahlreiwe Bewerber bätten ih ge- meldet, troßdem die Anforderungen erhöht worden seien; es werde ein Kapital von 6009 ftatt bisher von 4000 M verlangt. Unter keinen Umständen dürfe man die Sa@e jeßt im Stich laffen, sondern müsse sie energisch fortsezen. Die Auswanderung habe seit 1886 sibtlih abgenommen; denn die Auswanderung habe nur stattgefunden, weil die Leute kein Areal gebabt bâtten, um fich anzußiedeln.

Abg. Dr. von Stablewski bebält fic, da der Minister- Präsident den Saal verlassen habe, vor, auf dessen Ausführungen bei anderer Gelegenheit zu antworten.

Der Etat der Ansiedelungskommission wird darauf ge- nehmigt; die Denkschrift der Kommission wird durch Kenntnißnahme für erledigt erklärt.

Der Geseßentwurf wegen Abänderung von Amts- gerihtsbezirken wird in erster und zweiter Lesung ohne Debatte genehmigt.

Der Geseßentwurf, betreffend die Abänderung einiger Bestimmungen wegen der Pensionirung der Gemeindebeamten in den Landgemeinden der Rheinprovinz wird nah kurzer Debatte einer Kommission von 14 Mitgliedern überwiesen.

Es folgt die zweite Berathung des Entwurfs einer E für den Regierungsbezirk Wies-

aden.

u §, 5 beantragt Abg. Wißmann für die Erwerbung des Bürgerrechts keinen Census einzuführen.

__ Die Abgg. Wißmann und Zelle treten für den Antrag ein, während die Abgg. Grimm und Althaus, sowie der Geheime Ober - Regierungs - Rath Halbey den Antrag bekämpfen, weil er von den Vorschriften abweiche, die au in anderen Städteordnungen in Geltung seien.

Der Antrag Wißmann wird abgelehnt. Ebenso ein Antrag zu §8. 17, welcher die rihterlihen Beamten und die Elementarlehrer als Stadtverordnete zulassen will, während die Vorlage dies verbietet. Auch ein Antrag Wiß- mann zu §. 25, statt der öffentlihen, die geheime Abstimmung bei der Stadtverordnetenwahl einzuführen, wird abgelehnt, nahdem die Freisinnigen und das Centrum fich dafür erklärt und Abg. Grimm sich dahin geäußert hat, daß die geheime Abstimmung das Richtige sei, i aber jeßt diese prinzipielle Frage nicht erledigt werden önne.

Ein Antrag des Abg. Wißmann zu §. 33, wona nur die Bürgermeister, niht aber die besoldeten Magistrats- mitglieder der Bestätigung unterliegen sollen, wird von den Abgg. Riesh und Schaffner, sowie vom Geheimen Ober- Regierungs-Rath Ha lbey bekämpft und abgelehnt.

Einige redaktionelle Anträge des Abg. Zelle werden unter Zustimmung der Regierung angenommen.

Schluß 4 Uhr.

Statistik und Volkswirthschaft.

Landgüterrolle.

Landgüterordnungen mit dem Zweck, ein besonderes, die Theilung auëf{ließendes Erbfolgerecht in Landgüter zu begünstigen, bestehen, ab- geseben von Hannover, in Westfalen (seit 1882), in Brandenburg (seit 1883), in S(leñen (seit 1884), in S{leswig-Holstein (scit 1886) und dem Regierungsbezirk Kassel (seit 1887), Der Eigenthümer, der sein Gut ungetheilt vererben will, bat zu diesem Behufe die Eintragung in die von dem zuständigen Amtsgericht geführte Landgüterrolle zu bewirken. Am 1. Januar 1890 waren in die Rollen insgesammt eingetragen Güter: in Hannover, wo das Institut der Höferolle seit lange besteht und völlig eingelebt ist, 68394, im Kreise Herzogthum Lauenburg mit ähnli@en Verhältnissen 513, in Westfalen 2028, in Brandenburg 73, in S@lesien 40, in St&leswig- Holstein 8, im Re- gierungsbezirk Kassel 67.

i Fleischpreise in Berlin. __ Einer vom Statistishen Amt gemachten Zusammenstellung über die Fleis{preife in Beriin ift zu entnehmen, daß die Preise für Rind- fleish, Hammelfleis@, Kalbfleish, Schweinefleisd im Kleinhandel fast durgängig seit dem Oktober oder Dezember wieder stetig zurückgegangen sind, wenn sie auch theilweise noch nicht wieder auf den Status vom April vorigen Jahres herabgesunken sind. Beispiel8weise kostete das Kilogramm Rindfleisch (im Kleinhandel) im April v. I. 1,21 4, im August, September und Oktober 1,35 #, im März d. I. 128 #4; das Kilo Hammelfleis{ im April v. I. 1,18 #, im Januar d. I. 1,41 , im März; d J. 1,31 #; das Kalbfleisch im April v. I. 1,35 F, im September und Oktober 1,50 #4, im März d. I. 1,30 #; das Schweine- fleisch im April v. J. 140 #, im September 1,51 4, im März d. I. 1,35 Hiernach waren Rindfleisch und Hammel- fleisch im März d. I. noch theurer als im April vorigen Jahres,

. dagegen waren Kalbfleisch und Schweinefleisch im März d. I.

schon wieder unter die Preise vom April v. J. berabgesunken.

Zusammenstellung der Zwangsversteigerungen.

Im Jahre 1890 sind in Preußen nah dem Geseß vom 13. Juli 1883 7192 Zwangsversteigerungen mit 75 447,6775 ha Flächeninhalt, 3188 271,24 #«# Gebäudesteuer-Nußungswerth und 935 422,61 #4 Grundsteuer-Reinertrag erfolgt; hiervon waren 3766 Liegenschaften, welche hauptsächblich zur Land- und Forstwirthschaft dienten. Antrag- fteller waren 5714 Gläubiger mit einem niht ers im Wege der Zwangsvollstreckung erlangten Realrecht allein oder mit Anderen. Von den 7192 Fällen wurde in 4696 Fällen die baare Zahlung des ganzen Betrags geleistet, in 2050 Fällen wurden Forderungen mit Einwilligung der Gläubiger übernommen, in 496 Fällen auf rüdck- ständiges Kaufgeld angewiesen. Außerhalb des Geliungsbereihs des Geseßes vom 13. Juli 1883

erfolgten 1520 Zwangsversteigerungen mit 1446,7425 ha Flächen-

inhalt, 319 406,07 A Gebäudefteuer-Nuzung3werth, 26 328,01 M Grundsteuer-Reinertrag ; 937 verfteigerte Liegenschaften dienten haupt- \fächlid zur Land- oder Forstwirthschaft. Antragsteller waren 1245 Gläubiger mit einem nicht erst im Wege der Zwangsvollstreckung erlangten Realreht allein oder mit Anderen.

XVI. deutscher Schmiedetag.

In den Tagen vom 7. bis 10. Mai d. J. findet in Keller's Etablissement, Köpenickerstraße 96/97 hierselbst, der XVI. deutsche Shmiedetag statt, auf welhem recht wihtige, das Schmiedehandwerk berührende Fragen zur Berathung stehen. Mit diesem Verbandstage ist eine Ausstellung von Hülfsmaschinen, Werkzeugen und Materialien des Schmiedegewerbes und verwandter Fächer ver- bunden, welche wegen ihrer reihen Beschickung und der Eigenartigkeit der ausgestellten Gegenstände sowohl für das Fa- als auch für das Laien-Publikum viel des Jnteressanten bietet. Nah den bis jeßt eingelaufenen Anmeldungen verspricht dieser Schmiede-Verbandstag sehr zahlreich aus allen Theilen des deutshez Vaterlandes besuht zu werden. Die Berliner Shmiede- Innung hat denn auch alles Mögliche aufgeboten, um den hier er- scheinenden Kollegen eine der Reichs- Hauptstadt würdige in jeder Hin- iht gastfreundlihe Aufnahme zu bereiten, und sie hat zu diesem Behufe eine Reihe von feftlihen Veranstaltungen getroffen.

Die überseeishe Auswanderung aus dem Deutschen Reih über deutsche Häfen, Antwerpen, Rotterdam

und Amsterdam betrug im März Januar bis März

1891 11 637 19 285 1890 9 884 17 099 1889 10 998 17 333 1888 10 338 17 398 1887 11 671 19 020 Von den im laufenden Jahre ausgewanderten 19 285 Personen kamen aus der Provinz Posen 3880, Westpreußen 3134, Pommern 2049, aus Bayern rechts des Rheins 1413, aus der Provinz Hannover 1101, Brandenburg mit Berlin 832, S{leswig-Holstein 827, dem Königreid Württemberg 741, aus der Provinz Rheinland 606, aus Baden 9524, aus dem Königreih Sachsen 493, aus der Provinz Oefsen-Nafsau 411, aus der Rheinpfalz 405, Schlesien 310, Westfalen e a Rest von 2254 vertbeilt fich auf die übrigen Gebiete es Ne1Ms8,

Das soeben ausgegebene Märzbeft der Monatsbefte zur Statistik des Deutschen Reichs entbält: 1) Ein- und Ausfuhr der witigeren Waarenartikel im März und im erften Vierteljahr 1891, 2) Großhandels8preise wihtiger Waaren an den maßgebenden deutsben Handelspläßen, 3) übersecishe Auswanderung, 4) Be- triebsergebnisse der Rübenzucker- Fabriken, versteuerte Rübenmengen und Zuckermengen im März 1891, 5) Zahl und Art der Nieder- lagen für unverzollte Gegenstände nah dem Stande vom 31, Januar 1890,

: __ Zur Arbeiterbewegung. _ Die Maifeier der sozialdemokratischen Arbeiter ist in ganz Deutshland am gestrigen Sonntag, der von der Reichstagsfraktion als der eigentlihe Feiertag vorge- {lagen war, ebenso ohne irgend welche bemerkenswerthe Ruhe- störungen verlaufen wie der erste Mai; aber im Auslande sind namentlich durch“fogenannte „Anarchisten“ doch an mehre- ren Orten bedeutendere Unruhen angestiftet worden, welche mehrere Menschenleben niht nur auf Seite der aus\hreitenden Massen, sondern auch auf Seiten der die Ordnung wiederher- stellenden Polizeimannschaften gekostet haben. Wie weit die Maifeier etwa einer Wiederbelebung oder Anfahung von Aus8- ständen Vorschub geleistet hat, läßt sich noch nicht übersehen.

Hier in Berlin fanden gestern zahlreiche Versammlungen von Arbeitern statt, aber nur sehr vereinzelt waren dieselben zahlreich besucht. Erwähnenswerth find folgende großen Zu- jammenkünste: Die sozialdemokratishen Wahlvereine für den ersten, zweiten und dritten Reihstagswahlkreis waren am Nachmittag in dem Etablissement der Berliner Bock- brauerei versammelt. Das große Lokal war übermäßig gefüllt; die Festrede unterblieb. Fn der „Neuen Welt“, einem großen Gartenlokal im Osten der Stadt, wo die Tischler und die Berufsgenossen der Holzbearbeitungsindustrie zu- sammenkamen, soll der Andrang der Massen noch größer ge- wesen sein; man berichtet, daß etwa 14000 Eintrittskarten verkauft wurden. Hier hielt am Nachmittag der Reichstags- Abgeordnete Bebel eine etwa einhalbstündige Rede, und es gelangte die bekannte Resolution zur Abstimmung. Bei den Aus- flügen in die Umgegend von Berlin haben die Arbeiter namentlih Friedrihs8hagen bevorzugt, wo der sozial- demokratishe Reichstags-Abgeordnete Shippel Nachmittags eine Festrede hielt.

Von anderen deutschen Städten liegt nur aus Ham- burg folgende telegraphishe Meldung über den Verlauf des gestrigen Tages vor:

An dem Feftzuge der Arbeiter na Horn nahmen nahezu 30 000 Personen Theil; die Aufstellung und Entwicklung des Zuges, der von zehn Musikcorps begleitet war, erfolgte in- größter Ordnung, der Abmarsch dauerte zwei Stunden. Die Bahrenfelder L weil sich die Altonaer zumeist dem Hamburger Zuge ans{lossen, wenig besucht. 509 S@ußleute waren aufgeboten, n Lde und Ordaung aufrechtzuerhalten, was ohne Schwierig» eit gelang.

Aus dem Auslande liegen zahlreiche Telegramme vor, welche sich zum Theil noch auf den Verlauf des 1. Mai be- ziehen, zum Theil aber auch {on Berichte vom gestrigen Sonntag enthalten. Wir fiellen die -bemerkenswerthesten Nachrichten in dem Folgenden zusammen :

In Pest baben die Fabrikanten sämmtliche Arbeiter, die am 1. Mai ohne Genehmigung gefeiert haben, entlassen. Ferner wird aus Pest nach Zeitungsmeldungen telegraphirt: In Oroshaza und Bekescsaba in der Nâbe von Szegedin fanden am Freitag Uns ruhen ftatt. In Oroshaza hatte der Ober-Stuhlrichter für den 1. Mai das Ausftecken einer Fahne sowie jede Zusammenkunft verbot en. Das Verbot war dem Arbeiterverein \{riftlid mitgetheilt worden ; troßdem wurde in Oroshaza eine Fahne ausgesteckt. Jn Bekescsaba sammelten \ich über 1000 Arbeiter vor dem Stadthause an und forderten die direkte Einbhändigung des Verbotes der Arbeiterversammlungen. Der anwesende Kommissar sandte nach dem Ober-Stuhlrichter, welher s\ofort ershien und die Menge zu beruhigen ver- suchte. Die Arbeiter zerrten jedoch den Ober-Stuhlrichter und den Kommissar zu Boden und verwundeten Beide, Das zur Hülfe erschienene Militär, welches von den Massen mit Steinwürfen empfangen wurde, rückte mit gefälltem Bajonnet vor und zersprengte die Massen. Zwei Arbeiter und ein Soldat wurden verwundet 20 Tumultuanten verhaftet. Die Ruhe if wiederhergestellt. : In Fourmies, wo am Freitag bereits Ruhestörungen statt- gesunden hatten (vgl. Nr. 103 d. Bl.), fanden am Sonnabend ver- iedene Zusammenrottungen statt, das Militär wurde von allen Seiten besdimpft. Nah mehreren Abendblättern beträgt die Zahl der Todten 14, die der Verwundeten 40. 8 find bedeutende Truppenverstärkungen eingetroffen, da bet den Begräbnifsen der Getödteten Excesse befürhtet werden. Die Behörden beabsichtigen, das Begräbniß auf Montag zu verschieben. Au geftern berrshte noch immer unter den Arbeitern große Erregt- beit, die Munizipalität erbat militärishen Schuß, der duch Ab-

sendung einer Abtheilung Artillerie gewährt wurde. Na den der