1911 / 144 p. 2 (Deutscher Reichsanzeiger, Wed, 21 Jun 1911 18:00:01 GMT) scan diff

Se eiiotdnital ada Zin L E E T - t M U

4 getan habe, um für die territorialen Gewässer die Drei- meilenzone zu erhalten, die niht angetastet werden dürfe, wenn nicht die Lieferung billiger Fische beeinträchtigt werden sollte. Der Staatssekretär des Auswärtigen Amts Sir

Edward Grey erwiderte laut Bericht des „W. T. B.“:

s _Ich nehme an, daß sich die Anfrage auf die Gesetzentwürfe in Nußland bezieht, die die Grenzen der Territorialgewässer an der nörd- lichen Küste des europäishen Rußlands und an der Pacificküste des asiatischen Rußlands, was die Fischereigerehtsame anlangt, auf 12 Meilen auédehnen Wie ih bereits erklärt babe, hat die britishe Regierung der russischen Vorstellungen gemacht, dahin gehend, daß die Dreimeilen- zone ohne ein internationales Abkommen nit geändert werden kann. Augenblicklich erörtern wir mit der russi\hen Regierung die Frage, in welher Form die Angelegenheit einer internationalen Diskussion unterzogen werden fann.

Nach Erledigung der Tagesordnung vertagte sich das Haus wegen der E bis zum 26. d. M E __— In einer Konferenz der Führer der Unionisten beider Häuser wurde gestern, „W. T. B.“ zufolge, beschlossen, der Regierung gegenüber mit voller Ausnußung ihrer Mehrheit im Oberhause auf die Annahme von Abänderungsanträgen zur Vetobill zu dringen, die von ihrer Wirksamkeit Vorlagen ausschließen, die konstitutionelle Aenderungen wie Home Rule

in sich schließen. Frankreich.

Jn dem gestrigen im Elysée abgehaltenen Ministerrat teilte der Minister des Aeußern Cruppi Depeschen des Generals Moinier mit, die bewiesen, daß das französische Pazifizierungs- werk in Marokko einen guten Fortgang nehme. Der Prä- sident Fallières unterzeichnete darauf ein Dekret, das die Generale Moinier und Toutée zu Divijionsgeneralen ernennt.

Das Ministerium der öffentlihen Arbeiten bereitet einen Geseßentwurf, betreffend das Statut der Eisen bahn- beamten, vor. Der Entwurf erkennt, „W. T. B.“ zufolge, das Recht zum Ausstand an und schreibt hinsichtlih dessen Aus- übung vor, daß der Streik nur nah einem Referendum mit geheimer Abstimmung erklärt werden kann. An der Ab- stimmung müssen die Beamten teilnehmen.

Der Senat erörterte gestern vom Budget des Kriegsministeriums das Kapitel „Küstenshußz“.

Nach dem Bericht des ,W. T. B.* forderte der Admiral Cuver- ville, daß die Seegrenzen stets in Bereitshaft gehalten werden müßten, um jeden noch fo heftigen Angriff zurückzuweisen. Der Kriegéminister Goiran erklärte, diese Frage werde so bald als möglich innerhalb der Grenzen der erforderlihen Kredite gelöst werden. Gleihwohl feien die Arbeiten der Küstenverteidigung in Anbetraht der Herzlichkeit der Beziehungen zu England weniger dringend.

Die Deputiertenkammer hat in der gestrigen Sißzung gemäß dem Ersuchen der Regierung mit 423 gegen 125 Stimmen die Anträge Perrissoud und Rouanet, durch die Be- amten die Annahme eines Postens in der Verwaltung eines Finanzunternehmens verboten werden soll, an die Kommission zurückverwiesen. Die Anträge zielten auf den Fall des Polizei- präfidenten Lépine, der Administrator der Suezkanalgesellschaft ist. Sodann beriet die Kammer über die Wahl- reform. Der Justizminister Antoine Perier verlas eine Erklärung der Regierung, die, obiger Quelle zu- folge, besagt, daß eine Reform notwendig sei, um den zweifelhaften Ergebnissen ein Ende zu machen. Die Regierung sei Anhängerin der proportionalen Vertretung der Minoritäten, aber diese Reform dürfe nicht den Sinn der Wahl fälschen. Die Regierung sei mit der Kommission der Ansicht, daß die absolute Mehrheit der Wähler aus der Mehrheit ihrer Ver- treter Vorteil ziehen müsse. Die Kammer beschloß mit 311 gegen 149 Stimmen, am Freitag über die Interpellation André Hesse, betreffend das Oberkommando der französishen Armee, zu beraten.

_ Der frühere Präsident von Mexiko, Porfirio Diaz, ist gestern abend in Paris angekommen. :

Rußland.

Jn Anbetracht der Unmöglichkeit eines Aufshubs hat der Ministerrat, „W. T. B.“ zufolge, kraft des 8 87 der Grundgeseße beschlossen, ein Konsulat in Kobdo und ein Vizekonsulat in Aigun zu errichten, ohne die Session der Reichsduma abzuwarten. Der Ministerrat hat ferner die vom Finanzminister und dem Dirigenten der Haupt- verwaltung für Landwirtschaft eingebrahten Vorschläge für die Reform der Bauern-Hypothekenbank ge- nehmigt. Die Bank wird Reichshypothekenbank und erhält die besondere Aufgabe, den einzelnen Bauern, den Bauern- gemeinden, den Hausindustriellen und den Semstwoinstitutionen einen langfristigen Kredit zu Meliorationszwecken zu gewähren. Die Bank bleibt wie die Bauern-Hypothekenbank dem Finanz- ministerium unterstellt, das allein die Frage der Kreditfähigkeit der Klienten entscheiden wird. Der Ministerrat hat beschlossen, Bestimmungen über die Vorbereitung der Jugend zur Militärpflicht der Kaiserlihen Sanktion zu unter- breiten. Es werden Abteilungen von Knaben, die nicht älter als 15 Jahre sind, gebildet werden, die sih mit militärischen Uebungen befassen dürfen, ohne aber Schießwaffen zu benutzen. Der Eintritt in die Abteilungen ist vom Willen der Eltern ab- hängig, ihre Organisation von vertrauenswürdigen Personen, hauptsählich Offizieren, erlaubt. Staatszuschüjse sind aus- geschlossen.

Portugal.

Die Botschaft der provisorischen Regierung besagt laut Meldung des „W. T. B.“: : : i Die Revolution war die Folge der langen Krise, in der die Braganza ihre unheilvolle Tätigkeit vershlimmerten durch die Zerstückelung des Landes und die Unterdrückung aller Freiheiten. Die einmütige Zustimmung zur Republik it ein wahres Volksurteil gewesen. Die Botschaft hebt den Feldzug hervor, der in der öffentlihen Meinung des Auslands gegen die Republik geführt wurde, und erinnert an die Versuche einer Gegenrevolution. „Es war not- wendig“, fo führt die Botschaft aus, „die Diktatur zu ver- längern, um die Republik zu befestigen. Diese mußte gegen den Klerikalismus kämpfen, dessen Tätigkeit sih in Briefen von wahrhaft hochverräterisher Natur enthüllte. Gegenüber den religiösen Orden hat sich die provisorishe Regierung darauf be- schränkt, die bestehenden Geseße wieder in Kraft zu seßen. Die neue Regierung ist von den großen Nationen anerkannt worden. Die Oeffentlichkeit verfolgt mit Vertrauen ihre Reformen. Die provisorische Regierung ist glücklih, daß sie imstande war, ohne Anleihe die Verbrauchssteuern zu ermäßigen. Die internationalen Beziehungen sind mit einer Würde aufrecht er- halten worden, die das monarchishe Regime niht immer ge- wahrt hat.“ Die Botschaft betont zum Schluß, daß die pro-

visorishe Regierung gewünscht habe, der konstituierenden Ver-

sammlung die Jnitiative zu überlassen, gleichfalls die Republik

zu erklären. :

Die konstituierende Versammlung hat eine Sonderkommission aus sieben Mitgliedern ernannt, um ein Verfafsungsgesez auszuarbeiten.

Schweiz.

Der Nationalrat behandelte gestern in zwei Sizungen a MIEDEE A An gNvertrag der Schweiz mit Deutsch-

and.

Wie „W. T. B.“ berichtet, wurden von verschiedenen Rednern Einzelheiten kritisiert, ohne daß der Vertrag e L wurde. Der Sozialist Greulih (Zürich) beantragte die Verwerfung des Vertrages mit der Begründung, daß er die Stellung der \chweizerishen Arbeiter in Deutshland vershlechtere. Das Mits- glied des Bundesrats Hoffmann, Chef des Justizdepartements, verteidigte den Vertrag, der zumindest den gegenwärtigen Zustand nicht vers{limmere. Die von Deutscbland erhobene, von Greulih kritisierte Gebühr von 2 4 für die Legitimationékarte für \{wei- zerishe Arbeiter sei niht hoch. Die Schweiz werde selbst genötigt sein, für rufsishe Arbeiter ähnlihe Maßnahmen zu treffen.

Schließlih wurde der Vertrag mit 90 gegen 3 Stimmen angenommen.

Luxemburg.

Jn den gestrigen Stichwahlen für die Kammer sind, „W. T. B.“ zufolge, zwei Katholiken, zwei Liberale und ein Sozialdemokrat gewählt worden. Die Stadt Luxemburg behält ihre bisherige liberal-sozialistishe Vertretung. Das Gesamt- ergebnis der diesmaligen Kammerwahlen ist, daß die Katholiken drei Sitze von den Liberalen gewinnen, die ihrerseits einen Siß von den Sozialdemokraten erobern. «

Belgien.

In der gestrigen Sißzung der Deputiertenkammer verlas der Ministerpräsident de Broqueville eine pro- grammatishe Erklärung des neuen Ministeriums, in der laut Meldung des „W. T. B.“ zunächst auf die Thron- rede, mit der der König die laufende Session eröffnet hat, bezug genommen und angekündigt wird, daß dem höheren Rat für Handel und Jndustrie die Vermittlungsrolle bei wirtschaftlichen Streitigkeiten zuerkannt werden solle. Sodann heißt es weiter: ___ Die Negterung wende ihre Aufmerksamkeit besonders dem Kinder- \chut, den Arbeiterpensionen sowie der Förderung des Mittelstands und der Vermehrung des kleinen Besißzes zu. Auch die Lage der Beamten solle gebessert und noch heute ein Geseß über die Offiziers- pensionen eirgebracht werden. Eine bessere Kontrolle der Ausgaben durch den Nechnungébef solle gewährleistet werden. Ueber den Ausbau der Wasserstraßen und der Verkehrswege zur Förderung der wirtschaft- lichen Entwicklung solle eine besondere Kommission beraten und Beschlüsse fassen. Bezüglich des Schulgesezes wird erklärt, daß die Frage mit Ruhe und Ueberlegenheit gcprüft werden sfolle, um durch Abände- rungéanträge zu einer Verständigung zu gelangen. Im Congo soll auf dem bewährten Wege zu einer stets engeren wirtshaftliden Ver- bindung mit dem Mutterlande weitergegangen werden, auh solle die Entwicklung der Kolonie nur vom Geiste des Fortschritts und- der Zivilisation vorgezeichnet sein. Nah dem Ergebnis der leßten Volks- ¿ablung entsprehe es tem Prinzip der Gerechtigkeit, die Parlaments- sige zu vermehren. Der Ministerpräsident {loß mit der Aufforde- rung an das Parlament, das Budget nunmehr zu bewilligen, um einen regelmäßigen Gang der Staatsgeschäfte zu ermöglichen.

Nach Verlesung der ministeriellen Erklärung rechtfertigte der Führer der Altflerikalen Woeste seine Handlungsweise vor dem Ausbruch der Ministerkrisis, worauf der Liberale Hymans den Ministerpräsidenten aufforderte, präzise Erklärungen zu geben über das Schulgeseß und über eine etwaige Auflösung der Kammer zum Zwecke der Befragung des Volkes. Der Ministerpräsident erklärte, daß bei dem Schulgeseß alles von der endgültigen Gestaltung durch die Kammer abhänge. Ueber die Auflösung der Kammer fönne er nichts bestimmen, nile sei ein verfafungsmäßiges Recht der Krone.

Türkei. Der Sultan hat gestern die Reise nah Monastir an- getreten. Auf allen Bahnstationen sind zu seiner Begrüßung große Menschenmengen zusammengeströmt.

Amerika.

Das amerikanishe Repräsentantenhaus hat in der gestrigen Sizung, „W. T. B.“ zufolge, die Geseßesvorlage Underwoods bezüglich einer Revision des Zolltarifs für Wolle mit 221 gegen 100 Stimmen angenommen.

Afrika.

__ Nah einer Meldung der „Agence Havas“ hat El Mofkri bei der Ankunft des Generals Moinier in Fes an den französischen Gesandten in Tanger einen Brief gerichtet, in dem er der Dankbarkeit des Sultans gegenüber der französischen Regierung für die Unterstüßung Ausdruck gibt, die sie ihm offen durch disziplinierte Truppen geliehen habe, um die plöt- lichen Schwierigkeiten zu überwinden, die sich seiner Absicht entgegengestellt hätten, vom allgemeinen Interesse eingegebene Reformen durchzuführen. E

Wie aus Fes gemeldet wird, wird auch der General Moinier, da er nicht über die Streitkräfte verfügt, die not- wendig sind, um den Gebirgsstock des mittleren Atlas zu durhsuchen, wohin sih die nichtunterworfenen Berber ge- flüchtet haben, darauf beschränken, in Sefru eine hinreichende Garnison zurückzulafsen, um die Ait Hussi in Schach zu halten, und einen Posten einrihten, um die Ver- bindung von Sefru und Mekines zu sichern. Auf diese Weise wird die Verteidigungslinie sichergestellt sein und den Einfällen der Berber nah Norden Einhalt getan werden. Moinier wird alsdann Fes räumen, indessen außer den Ab- teilungen Mangin und Bremond eine verstärkte Truppenmacht zurüdcklassen, die nötig ist, um die für die Kolonne bestimmten beträchtlichen Proviantzufuhren zu s{hüßzen. Sämtliche Truppen sollen im Laufe des Sommers nah Mekines gehen, wo ihre Einquartierung den Stillstand der aktiven Operationen be- deuten wird.

__ Einer Depesche der „Agence Havas“ aus Larraf\chch zufolge ist der spanishe Kreuzer „Carlos Quinto“ dort an- gekommen. Das wenig bewegte Meer erlaubte, mit der Aus: chiffung der an Bord des „Almirante Lobo“ befindlichen Kavalleristen zu beginnen. Die Gegend ift ruhig.

Parlamentarische Nachrichten.

Die Shlußberichte über die gestrigen Sizungen des Herre n- hauses und des Hauses der Abgeordneten befinden si in der Ersten und Zweiten Beilage.

Auf der Tagesordnung der heutigen (15.) Si Herrenhauses, welcher der Minister des gotns hes wiß beiwohnte, stand zunächst der Bericht der X. Kommission über den vom anderen Hause unter Abänderun der Ne. F ubaaeieen e Se eines weckver.

andsgeseßes. eferent ift erbürgermei S / Dove germeister Sholg- S 1 der Vorlage lautet in der Fassung der Kommis „Städte, Landgemeinden, Gutsbezirke, Bürgerieiltereien F n und Landkreise können behufs Erfüllung einzelner kommunaler A F gaben jeder Art mit einander zu Zweckverbänden im Sinne diéses Geseßes verbunden werden, wenn die Beteiligten damit einverstande ots Geber E Ds des Dea beschließt der Kreis: uß, bei Beteiligung von Städten oder amci s Berksaue\uß“ A g Landgemcinden der __ Der Referent führte aus, daß dem Entwurf in de mission eine ges{lossene Minderheit der S iädievecteet, p a dea babe; diese fürhteten, daß das Gesetz Eingemeindungen unftig unmöglich machen werde und auch sonst scharfe Eingriffe in die städtishe Selbstverwaltung enthalie. Der Minister babe diese Bedenken zu zerstreuen gesu t, die Bürgermeister aber nit über zeugen können. Die Minderheit habe überhaupt ein Bedürfnis für Zwangszweckverbände nicht anerkennen können, sondern nur ein Be. dürfnis für freiwillige Bildungen dieser Art; jedenfalls müsse may nah ibrer Ansicht zunäckhst die Erfahrungen mit dem Groß - Berliner Zweckverbandsgeseß abwarten. Nach wie vor sehe die Minderheit eine gedeiblihe Lösung der hier gestellten Aufgaben, namentlich auch der Beschaffung von Gas, Wasser und eleftrischer Kraft, nur im Wege der Eingemeindung als er, reihbar an. Die Bildung von Zwangszweckverbänden sei, insbesondere wenn eine Gemeinde verschiedenen derartigen Verbänden angebôte dazu angetan, die Verwaltung höchst unübersihtliß zu mahen: die Minderbeit halte tafür, daß das Geseß durchaus gegen den Geist der vortrefflichen Stein-Hardenbergshen Geseßgebung verstoße.

Jn der Generaldiskussion ergriff das Wort

_ Herr Dr. Löning- Halle: Das Geseß zerfällt in ¿wei von, einander wobl zu unterscheidende Teile: in die Vorschriften über die Bildung freiwilliger und über die Bildung zwang? weise zu schaffender Zweckverbände. Für den ersten Teil könnte ih stimmen, den zweiten halte ich für bedenklich und für einen Ausfluß der in jüngster Zeit außerortentlih an Umfang gewasenen Gesetzes. madcerei. Die Notwendigkeit für diese Zwangtzweckverbände ist nit erwiesen; auf feinen Fall war es çeboten, ein so weit, lâufiges Gese dafür auézuarbeiten. Wenn in ten Rkeinlanden und Westfalen eine Auédebnung der Lantgemeindeordnun zum Zwecke der Erleibte1vng der Bildung vcn Zweckverbänden nah tem Muster bon Schleswig-Holstein und Hessen-Nassau gewüns{t und als Bedürfnis empfunden wurde, bätte man sich auf die Erfüllung dieses Wunsces bes{ränken sollen. Nach § 2 follen aber eben Zweverbänte durch Zwang, turch Anordnung des Obezpräsidenten gebildet werden, wenn die Beteiligten ihre Zusiwmung nickt geben. Es wurde uns gesagt, damit gesäbe gar nichts Neues. Das ist dem Wortlaut der Landgemeinteordrung na ri&tig. Aber tatsählich gehen die Bestimmungen des vorliegenden Entwurfs weiter als die Landgemeindeordnung. Dieser Entwurf kat für die Städte und Kreise eine ganz andere Bedeutung wie die Landgemeindee ordnung. Ich habe dem Zwangéverband für Groß-Berlin troß manter Bedenken zugestimmt, weil ein kommunaler Bund nur auf diesem Wege möglich ist. Ich bin also nit grundsäßlih gegen die zwangêweise Bildung eines foshen kommunalen Bundes. Aber hier bei diesem Entwurf handelt es sich um einen so tiefen Eingriff in die kommunale Selbständigkeit, daß ih diesen Schritt niht mitmachen kann. Die Zusammenseßung des Bezirksaus\husses oder des Provinzialrats gibt keine Gewähr dafür, daß die Rehte namentli der großen Städte ge- wahrt werden. DieSelbständigkeit der Städte kann in der weitestgebenden Weise beschräukt werden. Die Entscheidung des Oberpräsidenten wird in den meisten Fällcn zugunsten des Kreisauss{husses und des Provinzialrats fallen, er wird unter deren Beschlüffe nur seinen Stegel drücken. Man verweist darauf, daß man Vertrauen zu den Behörden haben müsse. Ih kann doch nicht Vertrauen haben zu Herren, die ih nicht kenne, niht kennen kann. Der Minister ist noch nicht fo lange im Amt, um durch seine Anitsführung bewiesen zu haben, daß er das Vertrauen auch derjenigen Parteien verdicrt, die nicht Tonservaliv sind. In Anbalt hat er allerdings tas Vertrauen aller Parteien besessen. Wenn man aber auch zu ibm Veitrauen haben fann, so kann man dies nicht von den Ober- prâsidenten sagen. Bedenklich sind auch die Bestimmungen über di: Verteilung der Verbandéglieder auf den Verbandsauëschuß; dem Kreis- oder Bezirkéaus\chuß wird hier fast freie Hand gelassen. Der Kreis- oder Bezirksauës{uß karn durch Statuten die für die Verteilung in Betracht kommende Steuerlast zugrunde legen, obne daß die Beteiligten gehört werden. Man sollte statt solher Bestim- mungen den Weg der Gesetzgebung beshreiten. Ich babe deshalb zu S 2 den Antrag gestellt, daß, wenn einer der Beteiiigten ein Kreis ist, die Bildung eines Zweckverbandes durch Geseg zu erfolgen hat , das die Rechtsverhältnisse des Zwecverbandes regelt. Die große Entwicklung, die unser Vaterland seit dem leßten glor- reichen Kriege genommen bat, verdanken wir vor allem unserem Königbause. Unsere ganze historische, soziale und geistige Kultur ift aber nicht denkbar ohne die großen Städte. Freiherr vom Stein war konservativ bis auf die Knochen, aber er war davon überzeugt, daß die Städte einen Aufschwung nur nehmen könnten dur die Selbstverwaltung. Diese wird durch das vorliegende Gescß gefährdet, wenn für alle möglihen Zwecke Zwangsverbände gebildet und den Gemeinden ihre wichtigsten Funktionen entzogen werden. Dann werden die Städte zu Aktiengesellschaften berabgedrüdt. der Vürgersinn geschädigt und tamit au der Staat und die Freude aw Staat. Davor wollen wir unsere Städte und auch die Krei?- korporationen bewahren, die ebenso wie die Städte zwangéweise genötigt werden sollen, in einen Kommunalverband einzutreten. Ich wende mi an die Herren von der konservativen Partei, ih gelt ôre nid;t z dieser, sondern zu der liberalen Partei, aber ich müßte nicht seit 30 bis 40 Jahren mich mit dem Staatsrecht und der Geschicht Preußens und Brandenburgs beschäftigt baben, um nit zu wissumn daß die konservative Partei in unserem Staat eine Berechtigung hat. Diese Berechtigung aber besteht darin, daß die konservative Partei sih zur Aufgabe macht, diejenigen Einrichtungen und lebendigen Krâste des Staates, die für ihn nüglih sein können, zu erbalten und einer voreiligen Abänderung der bestehenden Verbältniffe entgegenzuwirken. Wenn wir aber für den Staat segenereide Glieder baben, wer wollte leugnen, daß dies unsere großen Städte find. Gerade mit Nücksicht auf die Prinzipien der konservativen Partei bitte ich Sie, hier zu helfen, daß die Städte aus der drohenden Gefahr gerettet werden. Jh würde den § 2 ablehnen- Sollte er aber angenommen werden, so bitte ih, meinem Antrage zuzustimmen.

Hierauf ergriff der Minister des Jnnern von Dallwis “agene dessen Rede morgen im Wortlaut mitgeteilt werden wird.

(Schluß des Blattes.)

In der heutigen 92. Sißung des Hauses der Ab- geordneten wurden zunächst eine Reiße von Petitionen entsprechend den Beschlüssen der Kommissionen für nicht geeignet zur Erörterung im Plenum erklärt. Sodann trat das Haus in die zweite Beratung des von den Abgg. Albers (Zentr.) und Genossen eingebrachten Ge}es- entwurfs wegen Abänderung der Provinzialordnung der Provinz Westfalen ein, wonach für jeden Kreis mit weniger als 60 000 S IE (bisher 35 000) eîn L geordneter zum Provinziallandtag und für jeden Kreis m!

oder mehr Einwohnern zwei Abgeordnete zu wählen 00 006,i 190 000 Einwohnern sollen drei Abgeordnete gewählt werden und für jede fernere Vollzahl von 100 000 Einwohnern foll ein Abgeordneter hinzutreten.

Berichterstatter Abg. Doe (Zentr.) befürwortete namens der Gemeindekommisfion die Annahme—des Entwurfs. Es fei hervor- ubeben, daß die Zahl der Abgeordneten des Provinziallandtags von imestfalen viel zu groß sei für die Aufgaben einer Provinzial- vertretung. Die Beovinz Westfalen habe einen Etat von 12 Millionen und 122 Abgeordnete, der preußishe Staat habe einen Etat von 4 Milliarden und 443 Abgeordnete. Die Regierung habe erklärt, daß sie, wie überhaupt bei Jniativanträgen, zu ' dem Beschluß erst Stellung nehmen kônne, wenn ein Beschluß des Landtags vorliege. Die Kommission habe den Entwurf mit allen gegen eine Stimme angenommen. L Ï i

Abg. Lippmann {forts{hr. Volksp.): Ih will versuchen, die Gründe, die gegen die Vorlage sprehen, im einzelnen darzulegen. Leicht wird das nicht fein, da die Akustik des Hauses niht immer gestattet, den Ausführungen der Redner im einzelnen zu folgen; ja, die Akustifk des Hauses - ist manchmal direkt {ädlich, indem die kleinsten Gesprähe im Saal lauter Magen als das, was hier oben auf der Rednertribüne gesprochen wird. Bisher gilt in der Provinz Westfalen gleihes Reht. Durch die Vorlage werden aber die größten Verschiedenheiten in den einzelnen Kreisen vorhanden sein, weil bestimmt wird, daß die Zahl der Ab- geordneten, die die einzelnen Kreise nah den bisherigen Bestimmungen im Jahre 1910 zu wählen hatten, unberührt bleibt. Be- sonders benacteiligt werden auf diese Weise die Städte. Die Stadt GelsenkirWen hat jeßt 171000 Einwohner. Ihr wúrden statt der ießigen 4 eigentlih 5 Abgeordnete zustehen. Nah dem neuen Gese kann sie aber niht mehr als vier Abgeordnete erhalten. Die ihr nah dem neuen Gesetz jeßt zustehenden fünf Ab- geordneten würde fie ersl erbalten, wenn fie die Einwohnerzahl von 20000 überschritten hat. Ein ländliher Wahlkreis mit 37 000 Ein- wobnern hat dagegen jeßt zwei Abgeordnete und behält diese auch n dem neuen Gesetz, obwohl 60 000 Einwohner nach dem neuen Geses die Grenze für einen Abgeordneten sind. Von den Landkreisen werden jeßt 90, von den Stadtkreisen 32 Abgeordnete gewählt werden, rábrend das Bevölkerungsverhältnis gerade umgekehrt ist. Man ver- suht eben die agrarishe Mehrheit zu erhalten. Jch bitte Sie also, das Gesetz abzulehnen, weil es unnötig und \{chädlich ist, oder wenigstens die von mir kritisierte Bestimmung zu streichen.

Abg. Schulze- Pelkum (kon}.): Wenn wir die Vermehrung der Abgeordnetenzahl so weiter gehen lassen wollen, dann reiht das jezige Gebäude nicht aus, es muß ein neues Landtagehaus gebaut werden, was immerbin einen Kostenaufwand von 14 Millionen bedeuten würde. Die Anregung auf Verminderung der Abgeordnetenzahl ist gerade von statistisher Seite ausgegangen, von den Vertretern der Stadt Dortmund. Wir leben im Landtag in größtem Einvernehmen mit einander. Es kann also gar keine Rede davon sein, eine Majorität zu fonservieren. Daß die kleinen Kreise zwei Abgeordnete behalten, ist auch sehr gut, denn es ift nur zu begrüßen, weun au der Landrat dem Landtage angehört. Daran, daß wir uns auf die Streichung des E Vorredner kerangezogenen Absates einlafsen, ist gar nicht ¡u denten.

Abg. Hausmann (nl.): Es bandelt sich nur um 6 Wahlkreise, teren größere Abgeordnetenzahl konserviert werden \oll. Aber diese ländlichen Kreise baben gar feine Aussicht, mehr Abgeordnete zu be- fommen, während die städtishen Wahlkreise bei der zunehmenden Einwohnerzahl sehr gut wachsen können. Gerade Westfalen hat die großzn industriellen Kreise, sodaß von einem Ueberwiegen ter Land- wirtschaft gar keine Rede sein kann. Ich bitte, dem Gesezentwurf zuzusttmmen.

Abg. Lippmann (forts{chr. Volksvy.): Wenn man die Zahl der Landtagsabgeordneten verringern will, dann darf man nicht den Neben- ¡weck damit verfolgen, die Minorität zu vergewaltigen, wie ih es bewiesen habe. Müssen denn immer die Landräte dabei sein ? Können die nicht auch einmal zu Hause bleiben? In den RNhein- landen bat sich die Zahl der Abgeordneten doch auc star? vermehrt, und do sind keine Klagen von dort laut geworden.

Der Geseßentwurf wurde gegen die Stimmen der Volks- partei angenommen. In der sofort folgenden dritten Be- ratung wurde das Geseß ohne Debatte angenommen.

(Schluß des Blattes.)

Statiftik und Volkswirtschaft.

Zur Arbeiterbewegung.

Die Elektromonteure in Frankfurt a. M., die im Metall- arbeiterverband zu einer besonderen Gruppe zusammenges{lofen sind, baben, der „Köln. Ztg.“ zufolge, den Auéstand beshlofssen. Von den 500 bis 600 Arbeitern, die bierbei in Frage kommen, haben bis gestern mittag {hon 400 die Arbeit niedergelegt. Die Arbeiter hatten den Arbeitgebern einen neuen Tarifvertrag überreiht, aber keine Be- {lußfaffung der Unternehmer darüber abgewartet, sondern sie haben unerwartet mit dem Ausftand begonnen. Außer dem Dynamowerk der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellshaft werden eine größere Zahl mittlerer und kleinerer EGleftrizitätsfirmen von dem Ausstand betroffen.

Im Baugewerbe Lüdenscheids ist, wie dasselbe Blatt mit- teilt, nah zweijähriger Ruhe wieder eine Streikbewegung im Gange. Eine Versammlung des Deutschen Bauarbeiterverbandes hat be- s{lossen, gemeinsam mit den Verbänden der Zimmerer und christlihen Baubandwerker gegen eine Anzahl Baugeschäfte vorzugehen, die an- geblih den Tarifvertrag, der bei dem leßten Streik vereinbart worden ift, noch nicht durchgeführt haben. Es soll fich um Ueberschreitung der Arbeitszeit und die noch vermißte Whnung am Freitag handeln. leber die in Frage kommenden Baufirmen soll nötigenfalls die Sperre verhängt werden.

Aus Mannheim wird demselben Blatte gemeldet: In der vorgestrigen Sißung der Lobhnkemmission der Meister und Gehilfen vurde eine Einigung im Bäckerausstand (vgl. Nr. 141 d. Bl.) e, Den Gehilfen wird Kost und Wohnung außer dem Hause gewahrt.

Zum Ausstand der englishen Seeleute (vgl. Nr. 142 d. Bl.) wird dem „W. T. B.* aus London gemeldet: Die Cunard Vampfschiffahrtsgesellschaft hat ten Seeleuten, Hetzern und Stewrards eine Loh nerbhôöhung von 10 Schilling, die Allan-, die Tevland- und die White Star-Linie haben ähnlihe Zu- geständnisse gemaht. Der Ausstand ist jetzt, soweit die Cunard ‘ompany in Betraht kommt, als beendet anzusehen, da in tiner Zusammenkunft zwishen den Vertretern der Gesellschaft und der Seeleute, die gestern in Liverpool stattgefunden hat, eine Einigung erzielt worden ist. Auch bei den anderen atlantischen Linien besteht Ausficht auf baldige Beendigung des Ausstands. Die Union. Castle-Linie und die Royal Mail Steam Patdcket- Gesellschaft sahen sch gezwungen, die Abfahrt der vier großen Dampfer, die zur Flottenparade nach Spithead geben sollten, abzujagen. Gestern sind aus den Häfen des Airth of Forth mebrere Dampfer ausgelaufen, die nicht zum FPerband der Seeleute gehörige Mannschaften an Bord hatten. In rerth nehmen die Bureauangestellten der Schiffseigentümer id Stellen der streikenden Dodkarbeiter ein. Die Mann- ‘haften von 30 Damvyfern haben gekündigt. In Goole ruht E E Hafenverkehr. Schiffe, die nach Häfen des Kontinents eiaaevens sind, sollen dort aufgehalten werden, bis der Streit d gelegt is. Der Reederverein von Goole hat bekannt- aeben, daß er fremde Arbeiter beschäftigen werde, wenn die S niht bis Montag wieder aufgenommen werden sollte. Der

mpfet „Ezardian*, der mit Schiffsoffizieren bemannt ist, wurde

bei der Ausfahrt mit Steinen beworfen, wodurch der Kapitän ver- wundet wurde. In Glasgow ist es am Montagabend zu ernsten Ruhestörungen gekommen. Eine dichte Menge von Seeleuten und Ausständigen versuchte sich Zugang zu dem Ankerplay der nah Belfast bestimmten Dampfer zu erzwingen, auf denen nit zur Union gehörige Seeleute eingestellt sein sollten.

Nach einer Meldung des „W. T. B.* aus Toulon durchzogen in la Ciotat die Sch iffbauarbeiter im Verein mit anderen Arbeitern unter Absingen revolutionärer Lieder die Straßen, weil die Compagnie des Messageries maritimes einen Teil ihres Personals entlassen will, weil es zweifel» haft ist, ob die bisher der Gesellshaft von der Regierung gewährte Subvention weiter bewilligt wird. Die Arbeiter ver- sammelten \sich vor dem Stadthause und verbrannten, nahdem fie eine rote Fahne gehißt hatten, die Steuerzettel. Wie es e follen zwei Bataillone nah la Ciotat abgehen, um ernstere Nubestörungen hintanzuhalten. s

In A msterdam ist die Anzahl der ausständigen Seeleute, „W.T.B.* zufolge, im Zunehmen begriffen und beträgt jeßt fünfhundert. Der Dampfer „Charlois*“ der American Petroleum Company ist mit voller Mannschaft ausgelaufen. Siebenundzwanzig Deutsche sind einge- troffen, um an Bord der Dampfer der Nederland-Kompagnie Dienst zu tun. Eine Anzahl von holländishen Seeleuten hat \ich für eng-

lishe Damvfer anwerben lassen. A

Aus New York meldet ,W. T. B.*, daß der Ausstand der Seeleute der Küstendampferlinien beendet ist, nahdem die Reeder wie auch die Seeleute Zugeständnisse gemaht haben.

Wohlfahrtspflege.

Die Zentrale für Volkswohblfahrt hatte zum dritten Male eine Konferenz von Jugendvereinéleitern und an der Jugendvflege interessierten Personen für den 17. Juni nach der Stadthalle în Elberfeld einberufen. Die Beteiligung an der Konferenz war außerordentlich lebhaft. Zum ersten Punkt der Tagesordnung: „Die JIugendpflege und die kommunalen Verwaltungen“ sprach der :

Bürgermeister Maß - Görliß. Ausgehend von den zahlreichen Bestrebungen der Gemeinden auf dem Gebiete der Jugendpflege im weitesten Sinne, beleuchtete er die allbekannten, vielfach beklagten Erscheinungen, die fich immer mehr als Schäden besonders für die \{chulentlassene Jugend geltend machen. Daß die Jugend gegen diese Schäden eines Schußes bedürfe, und zwar eines weitgebenden Schußes, werde wohl niemand bezweifeln. Die Frage aber sei, wer diefen Schutz zu gewähren habe. Anfangs seien es die Geistlichen der evan- pet:ty A und katholischen Kirche gewesen, die von ihrem früheren Stand- punkte, nur das religiöse Moment zu betonen, längst zurückgekommen seien und jeßt eine weit ausgedehnte foziale Tätiakeit auch auf diesem Gebiete entfalteten. Dann habe sich die Gesellshaft durch Ein- richtung von Volks- und Jugendspielen, durch Förderung des Turnens und Wanderns tec Jugend angenommen, allerdings noch nicht in genügendem Maße, da noch viele Kräfte, namentlih die der verab- \hiedeten Offiziere und Beamten brach lägen, denen auf diesem Gebiete eine bedeutungévolle und dankbare Aufgabe erwachse. Neuerdings sei auch der Staat aus seiner Reserve hervorgetreten, wie die E henetrede und der Ministerialerlaß vom 18. Januar 1911 zeigten. Nah Ansicht des Referenten sei es jedo in erster Linie Aufgabe der Gemeinden, diesen Kampf gegen die Schäden, die der \chulentlafsenen Jugend drohen, zu führen. Die Frage, ob die Gemeinden für diesen Kampf zuständig seien, sei obne Zweifel zu bejaben, denn ihre soziale Aufgabe sei unbeshränft. Viele Aufgaben, die man noch vor wenigen Jahren als zu weitgehend zurückgewiesen habe, würden jeßt freiwillig von den Gemeinden übernommen, allerdings sollten sie fi büten, diese Bestrebungen in eigene Leitung zu übernehmen. Es set vielmebr die freie Liebestätigkeit, die bier Gutes schaffe, die Ge- meinden aber müßten alle auf die Ertüchtigung der Jugend gerichteten Bestrebungen durch Hergabe von Mitteln, durch Schaffung und Ein- räumung von Turnhallen, Versammlungsräumen und dergl. sowie namentli durch ibren Einfluß unterstüßen. Ein Widerspruch von kfirchliher Seite könne nit erboben werden, denn die Religion solle ja nicht ausgeschaltet und die Bestrebungen der kirchlicen Organe nur durch die Maßnahmen der weltlihen Bebörden ergänzt werden. Ebensowenig sei der Einwand von politisher Seite zu rechtfertigen. Die Jugend solle nicht in einer bestimmten Richtung erzogen werden, sondern zu politischem Verständnis und zur vollen Entfaltung der Persönlichkeit. Die einzige Forderung, die die Gemeinde allerdings stellen müsse, sei Treue zu Kaiser und Neih. Die Ein- rihtungen in der Gemeinde würden \fich im allgemeinen am besten an die Fortbildunass{ulen angliedern lassen, die möglichst sowohl für Knaben wie für Mädchen zu Pflichtshulen von den Gemeinden ausgebildet werden sollten. Als weitere Fürsorgemaßnahmen seien die Gründung von Ledigenbeimen, Beratung bei der Berufs8wahl, Ueberwachung be- strafter Jugendliher und \{ließlich die Bekämpfung {chädliher Ein- flüsse durch Schundliteratur und Kinematogravbentheater zu betraten. Zum Schlusse seiner Ausführungen erörterte der Redner die Ver- bâältnisse in Görliß, wo sich vor zwei Jahren ein Verband zur Fürforge für die \hulentlafsene Jugend gegründet babe, der alle auf die Er- tüchtigung der Jugend gerihteten Bestrebungen zusammenfasse. Nach dem Beispiele der Städte müßten auch die Landgemeinden, die Kreise und Provtnzen sowie sonstige größere Verbände vorgeben : für leßtere würde \ich namentlich die Einrichtung von Sport- und Spielplätßzen und die alljährliße Abbaltung eines gemeinsamen großen Festes empfehlen.

Das zweite Referat Das Kriegsspiel im Dienste der Iugendpflege für die \chulentlassene gewerblich tättge Jugend“ erstattete der Assessor Dr. jur. Reimers-Wanne i. Westf. Er gab zunächst einen kurzen Ueberblick über die Ent- stehung der Kriegs\spiele. Die Bewegung sei in neuester Zeit von England aus zu uns herübergekommen, im Grunde aber habe fie einen rein deutschen Charakter, und {hon der alte Turnvater Jahn habe die Wichtigkeit der Frage für die deutshe Jugend erkannt. In England seien zum ersten Male im Burenkriege Jugentwehren gebildet worden für Späber- und Kundschafterdienste. General Baden-Powell, der Vater dieses Gedankens, habe nah Beendigung des Krieges und nah seiner Rückkehr nah England die englishe und besonders die industrielle Jugend für den Gedanken zu interessieren gesucht, und zwar mit so außerordentlich gutem Erfolge, daß heute über eine halbe Million englisher Jungen auf diese Weise organisiert seien. In Deutschland habe sih um die Sache besonders der Verein „Wehrkraft“ in München verdient gemaht. Bayerische Offiziere seien dort mit Eifer an der Sache, um die Jugend zur Ertüchtigung durch Kriegss\piele zu erziehen. Hierauf \{ilderte der Referent eingehend den Verlauf der Kriegs\piele, wie sie im Vorjahre in Kiel und gegenwärtig in Wanne abgehalten werden. Im Gegensatz zu England, das keine allgemeine Wehrpflicht habe, sei bei uns absolut kein militärischer Drill bei der ganzen Sache beabsichtigt, sondern die rein pädagogische Seite in den Vordergrund gestellt. Durch die Kriegsspiele würden die moralishen Eigenschaften geweckt, die für das E von größter Bedeutung seien. Gerade unsere industrielle

ugend sei der Uebung von Auge und Ohr in der Natur vielfach entwöhnt, und fie müsse in den Kriegsspielen an den rihtigen Gebrauh von beiden und an das Leben in der Natur wieder gewöhnt werden. Auch die Erziehung zu Marschtüchtigkeit fei von großer Bedeutung, und eine Armee, die in Zukunft imstande sein werde, täglich nur um 5 oder 10 km mehr zurüdckzulegen als die gegnerische, werde au mit ihren Siege8aussichten im Vorteil fein. Wenn man die Jugend zu Pogeisteen verstehe, sei sie außerordentlich leistungs- fähig. In sozialer Hinsicht seten die Kriegsspiele auch für die Er- wachsenen von einer Bedeutung, die nicht unterschäßt werden dürfe. Den Erwachsenen bieten fie Gelegenheit, in die Welt des Jungen, in sein Elternhaus und in seine Arbeit Einblick zu gewinnen und nicht ten durch Rat und Aus\sprahe mit dem Jungen fegensreih zu wirken,

Kunft und Wissenschaft.

A. F. Vor wenig Tagen unternahm die „Brandenburgia“, Gesellschaft für Heimatkunde, eine Fahrt nach Potsdam und von da mit dem Dampfer nah Nedliz zum Besuch der Nedliß gegenüber, am jenseitigen linken Ufer der Havel bezw. des Weißen- und des Iungfern-Sees gelegenen Römerschanze. Es finden an diesem uralten, zweifellos unter Benußung günstiger Bodenverhältnisse von Menschenband angelegten Bollwerk bekanntlich seit einigen Jahren sorgfältige Ausgrabungen statt, um nah Möglichkeit die ihm ursprüng- lih gegebene Gestalt festzustellen und den Anteil zu ermitteln, den Germanen und Slaven an feiner Entstehung und Benutzung baben. Wie höchst wahrscheinli von jeber, liegt das Werk im dihten Walde, Fpenwärlig inmitten einer Umgebung der kberrlihsten alten, boben

iefern, ausgezeihnet durch die diesem Nadelholz im Vergleich zu Tanne und Fichte eigentümliße Mannigfaltigkeit der Formen, phantastische Verästelung und rotbraune Rindenfärbung. Nur mit seiner nach Nordwest gerichteten, steil abfallenden Front tritt der bobe Steilwall der Römerschanze hart an das Wasser heran und gewährt von oben einen Aus- und Nundblick, der auch durch ähnliche märkische Landschaften verwöhnte Augen entzückt. Doch diefer Genuß follte der aus etwa 40 Personen bestehenden Gesellschaft erst gegen den Schluß ihrer Wanderung werden, nachdem sie, von Nedliß mit Motorboot über- geseßt und auf Waldwegen an der Nordostseite des Werkes angelangt, zunäst Belehrung über Stand und Ergebnisse der Ausgrabungen empfangen hatte. Der Direktor im Königlihen Museum für Völkerkunde, Professor Dr. Shuchhardt, Liter ter Ausgrabungen, war in liebens8würdigster Weise bereit gewesen, die Gesellschaft zu führen. Er orientierte fie zunächst durch einen kurzen Vortrag, aus dem hervorging, daß die „Nömerschanze“ (der Name {eint eine Ver- drebung des Wortes NRäuber- oder Nöêwershanze) von Germanen wahrschcinliß ungefähr im Beginn unserer Zeitrechnung als eine Feste angelegt, bewohnt und benußt, nah der Völferwanderung aber von Wenden bezogen, in _wesentlihen Punkten verändert, meist vershlechtert, ersihtlich jedob noch zu Shuz und Trugz ver- wertet worden ist. Von der Wiedergewinnung des Landes dur die Deutschen an scheint die Nömerschanze verlassen und unbenuzt gelegen und die Sage Zeit gebabt zu haben, sh um fie zu ranken. Auch fehlt jede Nachricht, daß die Schanze in den Kämvfen der Deutschen mit den Wenden zur Zeit der Askanier noch irgend eine Rolle gespielt hat. Die jüngsten, zurzeit noch nicht völlig abgeschlossenen Aus- grabungen, zu denen Professor Shuchbardt die Gesellschaft geleitete, bezwecken, nachdem man oben auf der Krone des Walles die Fest- stellungen im vorgedahten Sinne mit entsprehender Sicherheit und Zuverlässigkeit gemacht bat die angewandte Methode wird im nachstebenden noch berührt werden —, die genauere Ermittlung, ob - ein oder mehrere Gräben um das Werk gezogen waren und wie weit fie sich erstredten. - Die Frage ist, wenige geringere Feststellungen vorbehalten, inzwischen in demn Sinne gelöst worden, daß nit nur etner, fondern zwei einander parallele, 1 bis 13 m in der Soble breite, trockene Gräben von mäßiger Tiefe auf dem Glacis des Werkes angelegt waren, von denen der innere zur Wendenzeit vernachlässigt wurde und in Verfall geriet. Beide Gräben ums{lofen ursprünglih das Werk mit alleiniger Ausnahme der nah dem Wasser zu gelegenen Steilseite des Walles. Die Art, wie dies zweifelsfrei festgestellt wurde, ist böchst sinnreih: Man sagte \sich, daß man bei radial gerihteten Grabungen an den Stellen, wo inzwischen verfallene oder zugeshüttete Gräben vermutet wurden. auf diese stoßen müsse, und diese Voraus- idt trog nicht. Es wurden an verschiedenen Stellen, fontrollierbar dur die Besucher, die reten und linken Böschungen der Grube im gewachsenen Lehmboden freigelegt, während sich der Zwishenraum durch allerhand Becden und auch Schutt ausgefüllt fand, der sich stellenweise reih an Scherben erwies. Lßtere gaben wieder die Be- weise an die Hand, daß der innere Graben von den Wenden vernach- lässigt oder vershüttet worden war, denn es fanden sch fast aus- {ließli wendishe Scherben bier, wäbrend in dem äußeren Graben, der keine Spuren ersihtliher Vershüttung trägt, weniger Scherben, diese aber aus\{hließlich vorwendishen Ursprungs, gefunden wurden. Noch am Tage des Besuchs war hier eine woblerbaltene, bronzene Speerspize ausgegraben worden, die gezeigt wurde. Von befonderem Interesse war auch der bei den Ausgrabungen unerwartet gemachte Fund einiger wendischen Wohngruben mit besonders zahlreichen feramischen Resten darin, wahrscheinlich Behausungen für ärmere wendische Leute, die im Innern der Feste keinen Plaß fanden, doch hier möglicherweise Schuß suhten. An Resten der genannten Art find die Gesamtausgrabungen auf der Römerschanze von Anbeginn überaus reich gewesen. Die Zahl von etwa 8000 Gefäßresten, wovon 4 germanisc, #+ slavish, scheint doch auf eine sehr lange Bewohntheit des Bollwerkes binzudeuten. Bei der weiteren Wanderung wurde den- jenigen Stellen besondere Aufmerksamkeit zugewandt, -an denen die drei Tore der Feste mit Sicherheit bestimmt worden find. Es spielt für die Annahme, daß eins an gewissen Stellen hölzerne Bauten gestanden, bekanntlich hier wie auch bei dem vorgeschichtlihen Funde in Buch, eine wichtige Rolle, daß man deutlih im Erdreich die runden Stellen wahrnimmt, wo bölzerne Pfosten eingegraben waren. Sie unterscheiden \ch {on äußerlich in der Farbe, mehr aber noch durch ihren Inhalt auffällig von dem umringenden gewachsenen Boden, sodaß mit ibrer Hilfe ziemlih genau die Größe und Ver- bâltnisse der verschwundenen Bauten ermittelt werden können. In der Römerschanze gesellten fh zu diesen wertvollen Merkmalen aber noch andere der Chronologie förderlihe Hilfsmitt-l. Es baben nämlich zu einer oder mehreren Zeiten, vielleiht infolge von Belagerungen und Berennungen des Werkes, innerbalb desselben Brände stattgefunden, die bei \päterer Cinebnung der Brandreste den Boden \{wärzten, sodaß die von späteren Bauten bherrührenden Pfostenlöher anders aussehen als die älteren. Diese Beobachtung hat ein wertvolles Unterscheidung8mittel jüngerer und älterer Bauanlagen ergeben und mit Unterstüßung anderer, namentlich feramisher Funde zu der Feststellung geführt, daß die am Brandschutt fenntlihen Anlagen wendishen Ursprungs sind. An einem größeren Wohnhausbau in nähster Näbe des an ter Landseite der Schanze be- findlihen Tores wurde zuvörderst gezeigt, wie mit hinreichender Sicherheit aus den deutlich erfennbaren, kreisrunden Pfesten- lôhern die rechtwinklige Gestalt - des Baues und seine Abmessungen von 11 bis 12 auf 6 bis 8 m nachweizbar sind. An seiner Bestimmung für Wohnzwecke scheint aus dem noch vorgefundenen, aus drei Reihen übereinandergeshihteter Steine bestehenden Herd kein Zweifel. Daß die Pfostenlöber etwa 1 m im Durchschnitt batten, während die Pfosten natürlih sehr viel \{wächer gewesen sind, darf nit wunder nehmen, wenn man überlegt, daß es für die Ausführung der Grabung bequemer war, das Loh in überflüfsiger Weise anzulegen, als es gerade auf die Abmessungen des einzusetßenden Pfostens zu beschränken. Die oben dargelegte Unterscheidungêmöglicßkeit älterer und jüngerer Bauanlagen tritt besonders an dem zweiten, anscheinend dem wichtigsten, größten uyd in den stärksten Verteidigungszustand dur die ersten Erbauer geseßten Tore zutage. Hier ergibt si, daß dies sehr breit angelegte Tor, das auch noch die Bedrohung des eindringenden Feindes von der Seite erlaubt, von den Wenden er- heblih und unter Aufgabe leßterer wihtiger Verteidigungsmöglichkeit verengert worden ist. Es find an dieser hochinteressanten Stelle die ermanishen und die slavischen Pfostenlöchber durch verschieden gefärbte Pflôde zurzeit deutlih markiert, sodaß man sich Rechenschaft von ter

ers{lehterung geben kann, welhe die Toranlage später erlitten bat. Noch wurde auch zum dritten Tor gewandert und auf dem Wege dahin jener oben erwähnte Aussichtspunkt, jeßt durch eine Nuhebank ausgezeichnet, besucht. Jn feinen Dankesworten an Professor Schuchhardt, der mit unermüdliher Beharrlichkeit alle an ibn ge- rihteten Fragen beantwortet batte, hob Geheimrat Friedel die bemerkenswerte Tatsahe hervor, daß gegenüber den damals ver- breiteten mehr oder weniger phantastishen Deutungéeverfuchen der NRöômerschanze {hon um das Jahr 1840 der Sagensammler Karl von Neinhardt die Vermutung ausgesprochen habe, das Bollwerk wäre von

den Semnonen hergestellt und die Wenden hätten fs später seiner bemächtigt. Der Germanist Adalbert Kuhn habe fich 1843 dieser