1912 / 43 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Fri, 16 Feb 1912 18:00:01 GMT) scan diff

Rechnungen. Gerade die Ausführungen des Staatssekretärs lassen dieses Verlangen als gerechtfertigt erscheinen. Es find im Laufe dieses Jahres 2 Millionen für Flugzeuge mehr als im Etat stehend verauslagt worden. Einen Nachtrags8etat haben wir darüber bisher nit erhalten. Ih nehme an, er wird noch vorgelegt werden. Ebenso äußerte der Schaßsekretär, er werde \sich zur Ueberschreitung der Unterstüßungsfonds berechtigt halten, wenn der Reichstag nichts dagegen habe. Das ist ein neues Verfahren, Indemnität aus den Reichstag von vornherein erteilen zu lassen ; und welche Konsequenzen ergeben \sich aus einer solchen generellen Absolution, wenn wir einen anderen Reichsschaßsekretär vor uns haben 2? Auch im Interesse des Schaßsekretärs läge es, die spätere Kontrolle des Reichstages nicht auszu\chalten ; alle Ueberschreitungen des Etais müssen auch vom Reichstage nachträglih genehmigt werden. Bezüglih der Verbesserung des Neichsvereinsgeseßes pflichten wir ebenfalls dem Vorredner bei, wir wollen es in sfreiheit- lihem Sinne ausgelegt schen. ODringlih der Fürsorge bedürfen der kaufmännische und der gewerblihe Mittelstand; unsere Anträge auf diesem Gebiete empfehle ih Ihrer Er igung, Auf die Frage, wodur die Sozialdemokratie so stark geworden i}, will ih heute nicht eingehen. Wir halten es für praktisch wertlos, den beispiellos heftigen Wahlkampf hier nohmals durchzufehten ; in der Walhl- prüfungskommission wird eventuell der Play dafür sein. Schließlich dürfen wir aber die Nückwirkung auf das Ausland nicht übersehen. Der deutshe Parteihader ist vom Ausland mit s{lechtverhehlter Schadenfreude betrachtet worden. Die Parteigegensäße in diesem Hause sollten nit weiter verschärft, sondern möglichst abgeshwächt werden. Der e und Zerrissenheit unserer inneren Verhältnisse muß ein nde gemacht werden, soll das Reih nicht dauernd Schaden leiden. Das deutsche Volk hat uns nicht hierher geschickt, um Parteikämpfe zu führen, sondern positive Arbeit zu tun. Die bürgerlichen Parteien jollten sih gewärtig halten: Zuerst das Vaterland, dann die Partei! Fn diesem Sinne werden wir der Allgemeinheit am besten nüßen.

Staatssekretär des Reichsshazamts Wermuth:

Meine Herren! Da ih das Wort zu ergreifen habe, möchte ih dem Herrn Abg. Speck glei mitteilen, daß die 2 Millionen Mark für Flugzeuge bereits ausgegeben sind, daß die Maßnahme eingeleitet wurde, als der Reichstag niht mehr zusammen war, und daß sie jeßt zu Ende geführt ist. Es war also zu einem Nachtragsetat weder, bevor der Reichstag auseinanderging, noch, nahdem er wieder zu- sammengetreten ist, Play, es blieb vielmehr, da die Ausgabe un- zweifelhaft besonders dringlich war, nihts anderes übrig, als den von mir angedeuteten Weg zu beschreiten.

Im übrigen, meine Herren, bedaure ih lebhaft, daß ih mich gleich wieder in Ihre Debatte mishen muß. Ih würde es nicht tun, wenn ih nicht die von dem Herrn Vorredner angeregten Fragen geradezu für Existenzfragen der ganzen finanziellen Ge- barung und das von ihm empfohlene Verfahren als eine Gefahr für unsere gesamte finanzielle Entwicklung ansehen müßte. (Hört! hört ! links.) Im Interesse der Grundsäße, die ih hier stets vertreten habe, und im Interesse der Erfolge, die wir gemeinschaftlih damit erzielt haben, muß ich unbedingt das Wort ergreifen, um, mag es Erfolg haben oder nit, meinen Standpunkt mit Nachdruck auseinanderzuseyen.

Meine Herren, der Herr Vorredner hat das deutete er felbst an eigentli gesprochen von dem Standpunkte aus, daß neue Steuervorlagen und insbesondere eine bestimmte Steuer kommen würden, und daß man do wohl vor die Frage gestellt sein würde, wie man diesen neuen Steuern oder dieser neuen bestimmten Steuer zu entgehen in der Lage sei. Dabei hat er Grundsäge entwickelt, die,

wie ih doch glauben möchte, von dem, was ec und seine Partei bisher in bezug auf die Gebarung in den deutschen Finanzen vertreten haben, ganz erheblich abweichen. (Sehr richtig! links und bei den

Nationalliberalen. Bewegung im Zentrum.) Meine Herren, die Tonart, in der Sie diese bisherige Gebarung kritisieren, klingt jeßt erheblih anders als früher, wo wir in der Lage waren, gemeinsam auf den Grundlagen zu arbeiten, die gemeinsam festgelegt waren und die die große Mehrheit des Hauses gebilligt hat. Damals ist nit davon die Rede gewesen, daß die Einnahmen unterschäßt seien, daß der Etat ein Bild gebe, das nicht den Tatsachen entspräche, und daß, wie der Herr Vorredner sich ausdrückte, ein künstliches Defizit geschaffen worden sei, nur um es zu ermöglichen, neue Steuern zu fordern. (Sehr richtig! im Zentrum.) Früher, meine Herren, haben Sie alle doch diese Einnahmeshäßungen mitgemacht und gebilligt (Heiterkeit und sehr richtig! links), und wenn au einmal davon die Rede gewesen ist, daß es Einnahmeshäßzungen seien, dte vielleicht überschritten werden könnten, so haben Sie sich doch bei meiner Ver- sicherung, daß wir, wie es der Fall gewesen war, mit aller Sorgfalt geschäßt hätten, beruhigt und haben es nicht beanstandet, daß später die Entwicklung {sich günstiger gestaltete, als sie in den Schäßungen vorhergesehen war. Jh meinerseits versichere, daß die Schäßungen stets mit aller Sorgfalt, aber auch mit aller Vorsicht gemacht find. Ich erkläre ausdrücklih, daß ih, wenn die Höhe der zu er- wartenden Einnahmen zweifelhaft war, stets den vorsichtig gewählten Betrag eingeseßt habe, und zwar habe ich persönlich dies getan, woeil ih beim Antritt meines Amtes unter dem Eindruck der außerordentlich großen Defizits vom Jahre 1908 und 1909 stand, eines Defizits, das bekanntlih im Jahre 1908 allein bei den Zöllen und Steuern ih auf 121 Millionen Mark belief. Wenn jeßt eigenartige Umstände in den Jahren 1910 und 1911 eine Ueberschreitung herbeigeführt haben, so ist das zunähst noch gar kein Beweis dafür, daß die Ueber- \chreitung auch andauern wird.

Ih muß doch einmal etwas näher auf die Ziffern der leßten Monate eingehen. Dasjenige, was zu den Erwägungen des Herrn Vorredners Anlaß gegeben hat, ist hauptsächlih das große Mehr an Einnahmen, welches wir im Jahre 1911 zu erzielen im Be- griffe sind. Wie steht es denn nun damit? Im Fahre 1910 das habe ih gestern \{chon ausetnanderzuseßen mir erlaubt hatten wir ein Mehr erzielt, das im allgemeinen der günstigen Wirtschaftslage angemessen war und auch in seiner Ausdehnung keineswegs etwas Veberrashendes hatte. Ich werde darauf später noch zurückommen. Aber im Jahre 1911 gestaltete sh die Sache folgendermaßen. Wir hatten im Jahre 1910 in den ersten 5 Monaten an Zöllen und Steuern sehr ungünstige Einkünfte, und zwar um deswillen, weil die Vorversorgung vom Jahre 1909 auf diese Monate drüdte. Dann hatten wir nach diesen ersten {chlechtên Monaten in der zweiten Hälfte des Jahres 1910 sehr viel bessere Einkünfte, weil wir uns bei den neuen Zöllen und Steuern \{chneller als angenommen dem Zustande genähert. haben, den man als den Beharrungs- zustand zu bezeichnen pflegt. Im Anfang 1911 find nun zunächst die ersten Monate in Vergleih zu stellen mit den entsprehenden ersten Monaten des Jahres 1910. Da leßtere ungewöhnlih \{chleckcht gewesen waren, so mußten natürlih die ersten Monate des Jahres 1911 ungewöhnlich günstig erscheinen. Die {hon im zweiten Halbjahr 1910 hervorgetretene Entwicklung der neuen Zölle und Steuern seßte

sih 1911 fort. Gegenüber deu ersten Monaten des Jahres 1910

mußten die entsprehenden Monate des Jahres 1911 deshalb blendend

in die Erscheinung treten. Dazu kam aber nun noch das außerordent- lie Mehr an Getreidezöllen, welhes uns wie ich {hon gestern sagte in der ersten Häfte des Jahres 1910 zugeflossen ist.

Nun bitte ih auf die folgenden Zahlen «zu ahten. Wir haben also 1911 mehr gegen 1910 eingenommen: im April 19,1 Millionen, im Mai 20,8 Millionen, im Juni 29,5 Millionen- im Juli 27,2 Millionen, im August 24,8 Millionen. Das sind die ersten 5 Monate, die im Jahre 1910 so \{chlecht gewesen waren, in denen 1911 aber die große Getreideeinfuhr stattfand. Diese Monate haben ein durch\chnittlihes Mehr über 1910 von 24,3 Millionen Mark. Es folgen nun die Monate September, Oktober, November, De- zember und Januar. Diese brachten im September ein Mehr von 8,3 Milli onen, im Oktober ein Mehr von 6,8 Millionen, im November ein Weniger von 4,2 Millionen gegen das Vorjahr, im Dezember ein Mehr von 7,2 Millionen und im Januar ein Mehr von 9,8 Millionen, insgesamt also ein durchschnittliches Mehr von 5,6 Millionen. Und dies steht gegenüber dem Mehr von 24,3 Millionen in den ersten 5 Monaten dieses Rehnungsjahres.

Fh bitte namentlich die Herren von der Linken, freundlichst hieraus nit entnehmen zu wollen, daß meine Behauptungen in der Rede vom 4. Dezember oder wann es gewesen ist übertrieben ge- wesen sind. Das ist durhaus nicht der Fall. Aber Sie werden aus dem Gesagten ersehen, in welchem Sinne fie gemaht und gemeint waren. Es war der Zweck, festzustellen, daß wir nunmehr mit den neuen Steuern und Zöllen beinahe an dte Grenze dessen kamen, was wir als den Beharrungszustand in Ausficht genommen hatten. Nur wenig fehlte hieran. Ein plôöß- licher Ruck hat uns dahin gebracht, mit Schnelligkeit dasjenige zu tun, was uns die Reichsfinanzgeseße von 1909 zu tun geboten.

Wir haben im Jahre 1911 einen beträchtlihen Ueberschu §. Da darf ih mir zunächst mal die Frage gestatten: ist es denn an und für sich ein Verbrechen, einen Ueberschuß zu haben? (Große Heiter- Feit. Zurufe: Nein, durchaus nicht!) Ich meine, das kann doch sehr leiht vorkommen unter so außergewöhnlihen Umständen. (Er- neute Heiterkeit.) Es is auch durchaus nicht etwas, was den beiden leßten Jahren eigentümlih ist, sondern es is wiederholt {hon in relativ noch viel größerem Umfange vorgekommen als 1910 und fogar als 1911. Ih erinnere daran, daß 1890 (Zuruf: 1910!) 1890 (große Heiterkeit) eine Einnahme von 967,4 Millionen ge- {äßt war, und daß über diese Schäßung von 567,4 Millionen mehr eingegangen sind 92,9 Millionen; das ist ein Uebershuß von 16,4 9/0. Das war in dem bekannten Jahre, in dem wegen der Getreidenot die Getreideeinfuhr so ungewöhnlih hoch war. Aehnliche Zahlen kommen noch häufig vor, z. B. 1896. Auch hier hauptsählich aus Gründen der Getreidecinfuhr ein Mehr von 94 Millionen gegenüber der Schäßung von 695 Millionen ; das ist ein Mehr von 13,6 9%. Also, wenn wir diesmal ein Mehr haben von, sagen wir 10, 11 oder 12 9% bei den Zöllen und Steuern unter den von mir geschilderten außer- gewöhnlihen Umständen, denen auch noch die besonderen Umstände bei der Zuckersteuer und der Kaliabgabe hinzutreten, so ist das durchaus nihts Ungewöhnlihes. Es ist aber vor allen Dingen auch nihts Unsolides, wie man aus den Worten des Herrn Vorredners entnehmen fonnte. Der Herr Vorredner wollte mir doch eigent- lich den Vorwurf machen, ich versuche, einen Teil der ficher zu er- wartenden Einnahmen zu eskamotieren und der Schuldentilgung zu- zuführen. (Heiterkeit.) Dieser Vorwurf ist hinsihtlih meiner Ab- sicht durchaus unbegründet. Und wie es mit der Wirkung meiner angeblichen Absicht sieht, darauf werde ih mir jeßt einzugehen er- lauben.

Meine Herren, der Herr Vorredner geht aus von dem Saße: wir wollen durchaus die gefseßlihe Schuldentilgung, aber auch, wenn wir einen Mehrbedarf nötig haben, niht mehr. Bei dem ersten Sate möchte ih den Herrn Vorredner nun recht dringend bitten zu verharren ; denn dann wird er unbedingt dahin kommen, an dem, was wir Ihnen vorschlagen, eisern festzuhalten und keinerlei Streckung der Einnahmen oder Rückübertragung von Ausgaben auf die Anleihen vorzunehmen. Wie steht “es denn? Ich muß die Schilderung, die vielleiht gestern niht genügend hervortrat, wiederholen und etwas unter- streichen, um Ihnen ein tatsächlihes Bild unserer Finanzlage zu geben. Wir stehen augenblicklich so, daß wir innerlich vollständig balancieren, daß unsere Einnahmen und Ausgaben vollständig gleih sind. Es ist uns vermöge der Uebershüsse gelungen, außerdem die beiden Schulden- tilgungsbeträge, die die Etats von 1910 und 1911 ausfeßten, wirklich zur Tilgung der Neichs\huld zu verwenden, nämlih 32 Millionen Mark für 1910 und 89,7 Millionen für 1911. Denn wtr haben unsern Schaßanweisungsfonds um ungefähr 70 bis 80 Millionen Mark vermindert: wir haben ferner 40 Millionen Mark vier- prozentige Schaßanweisungen eingelöst, und wir haben endli an Schuldverschreibungen über die Neubegebung hinaus 4 Millionen Mark angekauft. Ich bitte die Zahl, die die Herren in der Anleihe- denkschrift finden und die weitaus höher ist, nicht überschäßen zu wollen. Wir haben cine große Anzahl von dreiprozentigen Neichsshuldver- schreibungen angekauft und wieder vierprozentige ausgegeben. Der Nennwert drückt sich in der Denkschrift aus, während ich Ihnen hier die tatsächlihe Verbesserung nenne. Es ist also ein Betrag von un- gefähr 124 Millionen Mark, um den sih unsere Reichsschuld tat- sählich vermindert hat. Hierbei rehne ih aber die hon gestern er- wähnten 80 Millionen Mark nicht mit, die wir vor kurzem als Anleihe begeben haben. Denn diese halte ih gewissermaßen in Neserve, um sie zur Einlösung von Schaßanweisungen zu verwenden, die erst am 1. Juli d. J. fällig werden. Wollen Sie auch diese ab- ziehen, so würde unsere gesamte sogenannte Schuldentilgung überhaupt recht gering ausfallen.

Nun stimmt das Gesagte au ganz genau überein mit den Be- rechnungen, zu denen Sie selbst gelangen können, wenn Sie sih den Etat und die Uebershüsse ansehen. Ich habe das gestern eingehend ausgeführt, will es hier aber nohmals rekapitulieren.

Im Jahre 1910 hatten wir eine Anleihe von 190 Millionen Mark, darunter waren an nichtwerbenden Beträgen 158 Millionen ; wenn wir also eine rihtige Schuldentilgung und nicht bloß Abschreibungen von nihtwerbenden Ausgaben vornehmen wollten, so müßten die Uebershüse 158 Millionen Mark betragen. Nun haben sie in der Tat nur 117 Millionen Mark ausgemacht. Es kommt aber noch hinzu der Betrag für den Verkauf der Kriegs \chiffe an die Türkei, und außerdem kann man noch in Gegenrechnung stellen die 23 Millionen Teuerungszulagen, die auch

Sculdentilgungen für vergangene Jahre waren. Man kann also mit vollem Recht sagen: wir haben im Jahre 1910 dasselbe, was wir noh an nihtwerbenden Ausgaben im Extraordinarium hatten, dur UVeberschüfse getilgt. Im Jahre 1911 haben wir, wie ih geftern aug. einanderseßte, 217 Millionen Mark außerordentlihe Ausgaben und davon 183 Millionen Mark Ausgaben nihtwerbender Natur. Wir müssen also einen Uebershuß von über 180 Millionen Mark haben, um wieder zu demselben Ziele wie 1910 zu gelangen, nämli zu dem Ziel, die Schuldentilgungsbeträge tatsächlich zur Schuldentilgung zu verwenden. Diese Rechnung, meine Herren, läßt ih überhaupt nit bestreiten. Wenn wir aber im Jahre 1912 nicht auch sehr günstig abschließen, so werden wir in die Lage kommen, diefe Schulden- tilgung wieder ins Stocken geraten zu lassen. Das würde ganz sicher geshehen, wenn dasjenige, was der Herr Vorredner an Einnahmestreckung vorschlägt, in Jhrer Budgetkommission ins Werk geseßt werden sollte. Es kann aber auch ohne dies eintreten; denn nahdem wir ungefähr 80 Millionen Mark mehr an Zöllen und Steuern eingeseßt haben, und da im Jahre 1912 die Konjunktur, gewinne des Jahres 1911 in Wegfall kommen, ist es mit Bestimmt- heit vorauszusehen, daß das Aufkommen von 1912 ketneêwegs so weit wie 1911 über die Schäßung oder auch nur in beträhtlihem Maße über die Schäßung hinausgehen wird.

Nun sagt der Herr Vorredner, wenn ih ihn recht verstanden habe: „so war es aber gar nicht gemeint, wir hatten ja 1909 voraus- gesehen, daß wir die nächsten fünf Jahre noch Anleihen von erheb- liher Höhe aufnehmen würden, und da ist es mir niht recht, daß wir diese Anleihen nicht aufgenommen haben.“ Der Herr Vorredner möchte also s{leunigst wieder alles Gewonnene redressieren und neue Anleihen aufnehmen. Meine Herren, kennen Sie zufällig die Finanzpolitik des Mr. Carstone in Bleakhouse von Charles Dickens? Dieser Herrr deduziert folgendermaßen : Ih war im Begriff einem Ziegelarbeiter 5 Pfund zu leihen; dazu bin ih nicht ge- fommen aus Gründen, die hier nicht interessieren —, und deshalb habe ih diese 5 Pfund gespart. Nun werde ih eine Neise nah London machen, mich dort vergnügen und per Extrapost wieder zurüd- fahren; das kostet mich 4 Pfund, und ich habe dann 1 Pfund mehr, als ich ursprünglich im Vermögen hatte. (Heiterkett.) Meine Herren, darauf kommt das Rezept ungefähr heraus. (Sehr gut! links.) Es heißt also: im Jahre 1909 haben wir die Befürchtung gehegt, daß wir noch Anleihen im Gesamtbetrage von 3 und mehr hundert Millionen machen würden, diese Absicht ist niht gelungen (Heiterkeit links), unsere Vorsäße von 1909 erfordern nun- mehr, daß wir das schleunigst nahholen und wieder in die Anleihe gehen. (Abg. Speck: Das habe ih ja gar nicht gesagt!) Der Herr Abg. Speck hat empfohlen, dasjenige, was wir nun glücklich aus dem außerordentlichen in den ordentlihen Etat gebracht haben, wieder herüber zu verpflanzen und die Anleihe danach zu vermehren. Gr hat ausgesprochen, ih hätte ja auch im Jahre 1909 und 1910 schon gesagt, daß wir vorläufig niht in der Lage seien, die Ausgaben für den Kanal vom außerordentlihen Etat zu ent- fernen; jeyt sei das geschehen, und das stehe im Widerspruch sowohl mit den Vorsäßten von 1909 wie mit meinen eigenen Aeußerungen; demnah müßte die Uebertragung auf den ordentlißhen Etat wieder rückgängig gemacht werden. Daneben wünscht er noch einige andere Posten zurückzuführen und damit die Anleihen insgesamt wiederum um 82 Millionen Mark zu vermehren. Meine Herren, ih erlaube mir doch zu fragen: wie stimmt denn das mit der Bemerkung des Herrn Abg. Speck überein, es sei der Finanzreform gelungen, die Anleihen unausgeseßt zu reduzieren? Davon hat er besonders ge- \sprohen. Er hat gejagt, ein Erfolg der MNReichsfinanz- reform sei, daß die Anleihen fortdauernd gesunken seten von 200 auf 150, dann auf 100 und jeßt sogar aus 44 Millionen Mark; das sei ein hervortretender Erfolg der Entwicklung, die im Jahre 1909 angebahnt sei. Aber wenn jeßt der Herr Abg. Speck 82 Millionen Mark wieder vom ordentlichen auf den außerordentlichen Etat des Reichs übertragen will, dann ist dieser Erfolg allerdings mit ziemlicher Geshwindigkeit wieder verloren gegangen, dann befinden wir uns wieder auf einer Anleihe von 126 Millionen Mark, d. i. mehr als wir im vortgen Jahre gehabt haben. Das ist es, meine Herren, worauf ich mir erlauben wollte, hre Aufmerksamkeit zu lenken. Sie können diese Absichten in einer Form zur Ausführung bringen, wie Sie wollen; Ste können die UVeberschüsse zur Bestreitung von Ausgaben der nächsten Jahre ver- wenden; Sie können die Einnahmen erhöhen, um in den Etat für 1912 noch mehr hineinzubringen; Sie können das, was wir auf das Ordinarium übertragen haben, wieder auf die Anleihe zurüd übertragen; Sie können die Anleihe direkt vermehren : welche Form Sie aber auch immer wählen, es kommt alles nur darau] hinaus, daß wir ordentlihe Ausgaben, die wir zu bestreiten haben, durch Anleihe bestreiten. Soweit das nicht der Fall ist, wird niemand lieber als die Schatverwaltung bereit fein, die günstigen Ergebnisse auch des gegenwärtigen Neichs- haushalts dazu zu verwenden, die ‘neuen Ausgaben zu bestreiten. So- weit dies aber nicht der Fall ist und ih glaube nahgewtesen ¡u haben, bis zu welchen Grenzen es nicht der Fall ist —, dürfen wir n das frühere Verfahren niht wieder verfallen. :

Fn einer Kritik meiner gestrigen Bemerkungen habe ih gele]en, ih hätte die Schilderung der früheren Finanzverhältnis|e möglichst dunkel gehalten, um die eigene oder die gegenwärtige Finani- verwaltung auf diesem Hintergrunde um so heller erstrahlen zu lassen. Meine Herren, nichts liegt mir ferner. Ich bin fest davon überzeug!, daß auch wir Fehler begehen, Fehler gröberer und kleinerer Art, und ih freue mich, daß unsere Nachfolger in der Lage sein werden, von unseren Fehlern zu lernen. Aber wir müssen unsererseits aué den Fehlern der Vergangenheit au lernen, aus den Fehlern, dere! Folgen mit Flammenschrift an unserer finanziellen Wand stehen, (Bravo! rets, im Zentrum und bei den Nationalliberalen.)

Abg. Graf Wesstar p (dkons.): Die finanzielle Entwicklung un das Steuersystem des Neiches läßt sih nicht betrachten losgelöst von den Finanzen der Einzelstaaten und der Gemeinden. Dieser Auffassung des Schaßsekretärs pflichten wir bei. Das Neich nimmt in dem d samtsystem die Stelle ein, die auf die Verbrauchssteuern an ewiesen Ist ohne die überhaupt kein moderner Staat auskommt. Im Wahb- kampf ist dieser i sehr oft gänzlich vergessen worden. M Schwierigkeiten für das Neich ergeben sih aus der Kombination die! Neichssteuersystems mit dem Reichswahlreht; damit sind die #Finanjzl des Reiches, denen zwei Jahrzehnte lang die nötigen Ginnahmeque verschlossen wurden, zuleßt in eine so bedrängte Lage gebracht worde!

(Schluß in der Zweiten Beilage.)

Zweite Beilage

zum Deutschen Reichsanzeiger und Königlih Preußischen Staatsanzeiger.

(Schluß aus der Ersten Beilage.)

Dadurch sind ihm aber au Finanzvorlagen nötig geworden von tem Umfange und einer Größe wie nie zuvor, und daraus allein erklären sich auh die großen Erschütterungen, die die Bewilligung zur Folge gehabt hat. Die Volkswirtschaft hat die neue Belastung mit einem Aufschwung beantwortet; aber erschüttert wurde das politische Leben, es trat eine Zerklüftung der bürgerlichen Parteten und ein großes Anwachsen der Demokratie ein, und gerade diejenige Partei erfuhr den größten Machtzuwachs, die die Grundlagen unseres Verfassungs- und Staatslebens negiert und erschüttern will. Der Grund dieser Erschütterung war die Ablehnung einer Steuer; wäre die Erbschaftssteuer angenommen worden, die Finanzreform wäre noch unpopulärer geworden, als fie ist. Die Erschütterung war die Wirkung der Größe der Steuerlast, die übernommen werden mußte. Der Etat für 1912 zeigt, wie die Finanzreform die Gesundung der Finanzen herbeigeführt hat. Die Finanzretorm hat sehr viel mehr ach.lten, als fie damals versprochen hat; das Defizit von 1909 war ichon zu Beginn von 1911 beinahe abgezahlt, es braucht damit nicht bis 1913 gewartet zu werden. Der Ueberschuß von 1911 ist in seiner Höhe noch nicht recht bekannt, seine Verwendung dagegen ist geseßlih festgelegt. Von Einfluß darauf wird ein Betrag von 34 Millionen sein, der für das Defizit von 1909 niht mehr ver- wendet zu werden braucht. Wir können uns mit den Vorschlägen, die § 4 des Etatsgeseßes für 1912 in dieser Beziehung mat, nur einverstanden erklären. Durch die Ueberschüsse der beiden Jahre 1910 und 1911 is also die vollständige Abbürdung des Defizits von 1909, die Reduzierung der Schulden von 1910 und 1911 und eine Reihe weiterer sehr erfreulicher finanzieller Maß- nahmen ermögliht worden. Bei den Einnahmen, vor allem bei den Zöllen und Steuern, die nunmehr 1600 Millionen bringen, tritt der Erfolg der Finanzreform klar zutage. Noch am 4. Dezember teilte der Abg. Gothein die Zahl von 230 Millionen als Ergebnis der Neichsfinanzreform mit, er hatte sih dabei nur um 160 Millionen ver- rechnet. Man hält uns immer entgegen, es handle sich gar niht um das Quantum, fondern um das Quals; tch erwidere hier nur, daß es fih für die Nationalliberalen so lange auch um das Quantum gehandelt hat. Diese Gefundung der Finanzen beruht nicht nur auf dem wirtschaft- lichen Aufschwung; der hätte dem Reiche fast gar nichts genüßt, wenn wir die Finanzreform nicht gehabt hätten. Uebxr die zwischen dem Schaßset.etär und dem Abg. Speck aufgetretene Meinungsverschteden- heit wird in der Budgetkommission näher zu reden sein. Daß der Ueberschuß der Postverwaltung in den beiden leßten Jahren si so erheblich vergrößert hat, ist erfreulich; die vorgesehene starke Beamten- vermehrung werden wir auf ihre Notwendigkeit genau zu prüfen haben. Die Verstärkung des ordentlichen einmaligen Etats in Ver- bindung mit der Entlastung des Anleiheetats bedeutet ja zweifellos eine große Reserve. So zeigt der Etat im ganzen einen großen Fortschritt zur Gesundung unserer Finanzen. Gerade vor dem Hervortreten neuer Forderungen gibt der Etat ein klares Bild von den guten Wirkungen der Finanzreform, und wie weit wir damit gekommen find. Wenn neue Bedürsnisse auf- treten, werden wir bei aller Billigung der Grundsäße des Neichs\chaßsekretärs doch zu prüfen haben, ob an der Ueber- tragung von Ausgaben aus dem Extraordinarium tn das Ordinarium in gleihem Maße wie bisher festgehalten werden kann. Jeden- falls hat die Reform der bisherigen Schuldenwirtschaft ein Ende gemacht; die Jahre 1910 und 1911 und der Etat von 1912 sind aufgebaut auf dem, was die Neichsfinanzreform geschafen hat. Nun zu dem Abg. Frank. Wir werden der Sozialdemokratie nicht ver- wehren, positiv mitzuarbeiten, wenn es auf der Grundlage des bürger- lihen Verfassun,slebens und der bestehenden Gesell\chaftsordnung geschi ht, aber die Vertretung des Reichstags glauben wir ihnen nicht anvertrauen zu können, und wir haben recht getan, eine Mitwirkung in einem Präfidtum -abzulehnen, in dem ein Sozialdemokrat sitzt. Auch der Reichstag ist eine Institution, die verfassungsmäßig auf monarchisher Grundlage errichtet ist; einer Partei, die das nicht anerkennt, die in ihrem Programm die Nepublik fordert, föônnen ‘wir nicht ein solhes Recht einräumen. Die Hoff- nung des Abg. Frank, daß die Erfolge der Sozialdemokratie in England auf ernste #Friedensbestrebungen hinwirken würden, fann ih jedenfalls nit teilen. Was die bevorstehende Nüstungsvorlage angeht, fo haben allerdings die Vorgänge des verflossenen Jahres den klaren Beweis erbracht, daß wir unsere Nüstung stets scharf zu er- halten haben, und daß wir zu diesem Zwecke alles nußen müssen, was die wirtschaftliche Kraft des Volkes zur Verfügung stellt. Wir halten ursere Flotte niht für einen Luxus und müssen uns das Urteil darüber, was bier Luxus, was hier notwendig ist, durchaus selbst vorbehalten. Wir Konservative werden neuen Nüstungsvorlagen gegen über, unserer \cts geübten selbstverständlihen nationalen Pflicht folgend, bereit sein, alles zu bewilligen, was uns von den Sach- verständigen als unbedingt erforderlih dargetan wird. Wir werden auch die Deckung beschließen, über die wollen wir uns aber heute nicht den Kopf zerbrechen, im übrigen ist unsere ablehnende Haltung ja bekannt, und es hat sih daran nihts geändert. Für die tnnere Politik foll nach Zeitungsartikeln der Abg. Bassermann den Grundsaß aufgestellt haben, daß eine, um es kurz zu sfagen, demokratische Politik getrieben werden müsse. Wir sind nicht dieser Meinung und glauben auch nicht, daß die Regierung sih auf diesen Standpunkt stellen muß. Wenn die Regierung überhaupt das Verhältnis der ab- geg benen Stimmen zugrunde legen wollte, so könnten doch bloß die- jenigen Parteien in Betracht kommen, die auf monarhischer Grundlage \tehen. Aber mir haben ja , doch keine parlamentarische Regierung, sondern eine Kaiserliche Regierung. Ich will nicht so weit gehen wie das Dichterwort „Mehrheit ist Unsinn ; Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen" ; das Wort „stets“ scheint mir etwas zu weit zu gehen. Es fann vorkommen, daß auch die Menge Verstand hat, aber nur dann wenn sie von wenigen verständigen Leuten in langdauernder, gewissenhafter wahrhaftiger Weise bearbeitet worden ist. Aber wenn ¡i mir die Agitation ansehe, die es ermögliht hat, aus 34 Millionen 44 Millionen fozialdemokratishe Stimmen zu schaffen, fo beweist diese Agitation, daß die Zahl unmöglich entscheiden kann. Die Thronrede hat deshalb mir Recht scharf den Gegensatz zur Sozialdemokratie an die Se gestellt, Das. feste Gefüge des MNeichs und staatliher Drdnung unverändert zu erhalten, ist auch nach unserer Ansicht die Hauptaufgabe des Tages. Solcher staatlichen Ordnung widerspriht der Koalitionszwang und der Streikzwang, der Boykott und der Terroris8mus, der von der Sozialdemokratie gegen unorganisierte Arbeiter und Unternehmer geübt wird. Es wird uns gesagt, daß das bestehende Net genüge, um dagegen mit Erfolg einzuschreiten. Genügt es, dann wird es nicht in dem Sinne angewandt, wie es angewandt werden müßte. Dem Arbeiter, der durch den Streikterrorismus um sein Brot ge- bracht wird, oder noch seine Knochen zu Markte tragen muß, dem Unternehmer, der auf dieselbe Weise sih in seinem Betriebe gestört sieht, denen ist es egal, ob die Geseye genügen und nicht richtig angewandt werden, oder ob sie niht genügen. Wir müssen immer wieder die Forderung stellen, daß so oder so diesen unerhörten Dingen ein Ende gemacht wird, und wir wissen uns in dieser Forderung mit weiten Kreisen niht bloß der Unternehmer, sondern auch mit dem reihsdeutschen Mittelstandsverband und mit einem großen Teil der Indufstriearbeiter einig, die alle nah Schuß vor dem sozial- demokratishen Boykott und dem sozialdemokratischen Terrorismus

Berlin, Freitag, den 16. Februar

E

rufen, wie es auch die nationalliberale Partei in der sächsischen Kammer, wie es auch die Hamburger Bürgerschaft getan hat. Es wird keine Ruhe sein, bis diefe Forderung erfüllt ist. Auch dem Mißbrauch der Straße zum revolutionären Cinerxerzieren der Massen muß entschieden und energisch entgegengetreten werden. Seit */, Jahren hat die sozialdemokratishe Parteileitung hier etwas Nuhe gegeben. Der Zweck ist klar und durhsihtig ; die 44 Millionen abgegebener soztaldemokratisher Stimmen erklären dieses Schweigen vollauf. Dieser Zustand wird aufhören, sobald die Sozialdemokratie sich sier glaubt, daß dieser * Reichstag vielleiht doch eine längere Lebensdauer hat, und daß die Wähler niht noch in diesem Jahre wiederum an die Urne berufen werden. Die Aufrecht- erhaltung der staatlihen Ordnung ist die Grundlage, auf der allein alle übrigen Staatszwecke verfolgt werden können. Mit Recht stellt die Thronrede ferner die Grund]äße der sozialen Fürsorge in den Vordergrund, aber wir sind hier der Meinung, daß der Begriff Sozialpolitik bisher zu eng gefaßt war, daß er niht nur die Sorge für die Arbeiter, sondern daß er auch alle diejenigen Maßnahmen in sich begreift, die nötig sind, um eine ge- rechte und zweckmäßige Zusammenseßung der staatlichen Gesell- schaft herbeizuführen. Wir halten dafür, daß heute Sozialpolitik hauptsählich für den Mittelstand, für die zahlreihen mittleren und fleinen selbständigen Erxistenzen getrieben werden muß. Wir haben noch über 2 Millionen mittlere und kleine selbständige Cristenzen im Gewerbe, über 3 Millionen in der Landwirtschaft, und diese 5 Millionen ernähren 13 Millionen der Bevölkerung. Aber dieser Mittelstand ist auch besonders wertvoll als Zwischenschicht zwishen dem Großkapital und der besißlosen Masse der hand- arbeitenden Klassen. In dieser Mittelschicht sind auh ethishe Werte vorhanden, deren Verkümmerung eine {were Verkümmerung des ge- fsamten Volkslebens bedeuten würde. Der Mittelstand ist der Jung- brunnen und Gesundbrunnen des Volkes. Auf setn Gedeihen muß ganz besonders Wert gelegt werden. Das it gleichzeitig eine Hebung auch der arbeitenden Klassen, denn es ermögliht ihnen, sich selb- ständig zu machen. Die Sozialdemokratie aber will, daß dieser Mittel- stand vernichtet wird, daß er zum besißlosen Proletariat herabsinkt. (Lachen links.) Troy Ihres Lachens bleibe ih bei meiner Behauptung. Wir wollen dem Mittelstande helfen, desbalb verlangen wir vor allem eine wirksame Handwerkerpolitik und haben entsprehende An- träge gestellt. Auch die Wirtschaftépolitik ist Mittelstandspolitik, die Nahrvngsmittelversorgung des Volkes wird vorwiegend vom land- wirtschaftlichen Mittelsiande wahrgenommen. Wir würden die Nahrungémittelversorgung dem eigenen Volke nehmen, wenn wir den Schuß der Landwirtschaft aufgäben. Im schärfsten Gegensatz stehen wir aber auf dem Gebiete der Auffassung des Staatslebens gegen die Sozialdemokratie. Die Sozialdemokratie ist diejenige Partei, die die Aufrihtung der Republik in Deutschland zum Ziele hat. Jn der Agitation war es ja zum Teil nicht so; haben wir doch hören müssen, daß es sozialdemokratishe Wanderlehrer gibt, die auch je nach Betürfnis ihre Versammlungen mit einem Kaiserhoch eröffnen. Das i|stt doch wohl der Höhepunkt der Heuchelei. Aber mag die Zahl der Republikaner groß und angewasen sein, wir halten fest an unseren monarchishen Grundsäßen. Das wird uns oft in Gegensaß bringen zu der Mehrheit des Neichs- tages und auch zu den liberalen Parteien, die nur die Schrittmacher für diese Republikaner sind. Wir halten auch fest an den verfassungsmäßigen Grundlagen und den da gegebenen Zuständig- keiten, wir balten fest an den‘ Redbten des Bundesrats und der verbündeten Regierungen, die mcht dem Reichstage verantwortlich sind, sondern die ihren einzelnen Parlamenten verantwortlich sind, und vor allem halten wir unbedingt fest an dem Rechte des Königs von Preußen in seiner Eigenschaft als Deutscher Kaiser, an seinem Rechte, den Reichskanzler nah seinem Ertnessen zu ernennen. Die leßten Vorgänge haben uns nit in der Ueberzeugung bestärken können, daß der Niichstag größere Erfolge erzielen würde, wenn er einmal vor einem vetantwortlihen Reichsministeriuum stände. Für unser deutsches Volk ift nur möglich eine starke Monarchie auf christ- licher Grundlage !

Reichskanzler Dr. von Bethmann Hollweg:

Meine Herren, ih will mich jeßt nicht zu Fragen der inneren Politik äußern.

Die Herren Abgeordneten Dr. Frank und Speck haben Bezug genommen auf die Aeußerungen, die der englische Premtierminister gestern im Unterhause über die wechselseitigen Beziehungen von Eng- land und Deutschland gemacht hat. In Uebereinstimmung mit diesen Aeußerungen will ih mcinerseits hier folgendes erklären.

Der englishe Kriegsminister Lord Haldane hat bei seiner hiesigen Anwesenheit, wenn auch ohne Ermächtigung zu bindenden Abmachungen, so doch im Auftrage des englischen Kabinetts, die Punkte, an denen sich die Interessen der beiden Länder berühren, mit uns durchgesprohen, um eine Grundlage für vertrauensvolle Be- ziehungen herzustellen. (Bravo!) Die Ausfprache, die von uns leb- haft begrüßt worden ist, hat in mehrfahen eingehenden und offenen Unterhaltungen stattgefunden und wird fortgeseßt werden. (Bravo !) Ich hoffe, das hohe Haus wird mir darin beipflihten, daß ih in diesem Stadium der Angelegenheit weiteres nicht erklären kann. (Sehr richtig!) Ich habe aber niht zögern wollen, dem Reichstage Mitteilung zu machen von der Tatsache der Besprehungen und von ihrem Ziel. (Lebhafter Beifall.)

Abg. Dr. Jun ck (nl): Wir werden unsererseits niht davor zurückschrecken, aus dem Wahlkampfe die Konsequenzen für das Reichs- wahlrecht zu ziehen. Leider ist die Zigarrenkiste als Wahlurne noch immer nicht überall vershwunden. Was die Wahlkreiseinteilung be- Trt, 0 liegt ja ein bezügliher Antrag vor. Wir sind un- bedingt der Ansicht, daß das jetzige System zu einer direkten Ungerechtigkeit geworden is, und daß man mindestens in den roßen Wahlkreisen zu einer Verhältniswahl übergehen muß. Der

ahlfampf ist so heftig gewesen, daß es zweifellos zu einer großen Zahl von Wahlprotesten kommen wird. Es wäre vielleicht qut, die Wahlprüfungen einem unabhängigen Gerichtshofe zu übertragen.

ie Erfahrungen in Elsaß-Lothringen und England ermutigen dazu. Jedenfalls ist es kein illiberaler Grundsaß, diese Tätigkeit einem un- abhängigen Gerichtshofe zu übertragen. Das NReichstagswahlrecht ist ein Palladium, an dem wir festhalten wollen, wenn auch einzelne Be- stimmungen reformbedürftig sind, die eine Täushung der Wahl ermöglichen. Was den Etat selbst betrifft, so danken wir dem Schaßsekretär für seine klare Darlegung der Finanzlage des Neiches. Die von ihm aufgestellten Grundsäße billigen wir. Gr sprach von einer Gesundung unserer Reichsfinanzen, und der Abg. Speck sprach in hohen Tönen von den Verdiensten, die sih seine Partei um die Neichsfinanzreform erworben habe. Daß die Reichéfinanzen besser geworden sind, haben wir niemals bestritten. Die Kernfrage ist aber, ob die Art der Verteilung der neuen Steuern richtig war und den sozialen Verhältnissen ent- sprah. Wir bedauern, daß die Art der neuen Steuern dem NReichs- gedanken Abbruch getan hat. Das hat ih bei den Wahlen gezeigt. Durch das Fehlen eines sozialen Einschlages bei diesen Steuern

1912.

sind die Früchte langer sozialer Arbeit verloren gegangen. Deshalb ware eine Beseitigung mancher dieser Steuern notwendig, z. B. des Scheck- und Quittungsstempels, der Liebesgabe usw. Im übrigen sind wir angesihts der von der Thronrede angekündigten neuen Aufgaben zu einer gewissen Zurückhaltung gezwungen Der Schabsekretär spra ausdrücklich von der noch nit ganz vollendeten Gesundung deèr Finanzen. Darin hat er recht; das Ziel ter Finanzreform, daß nur werbende Ausgaben auf Anleihen übernommen werden, ist noch nit erreiht. Wir halten an dem Grundsaß fest : keine Ausgaben ohne Deckung. Sollte es zu neuen großen Ausgaben kommen, fo werden wir um die Erbanfallsteuer niht herumtommen. Für Heer und Marine gibt es keine andere Steuer als eine direkte Reichs- steuer. Cs follte ein Ebrenpunkt der Besitzendèn sein, das Volk nicht mit indirekten Steuern für solche Zwecke zu belasten. Hierbei möchte ich auf meinen Lieblingsgedanken einer Reichs- besteuerung der entfernt-ren Verwandten zurückkommen. Wie oft kommt es vor, daß man förmlih nach Erben sucht. Derartige Erb- schaften müßten an das „gemeine Wesen“, wie man sagt, zurücfallen. Was die angekündigten Forderungen für Heer und Marine anlangt, so liegt es uns fern, mit übertriebenem Chauvinismus die Etn- bringung dieser Vorlagen zu fordern. Die Verantwortung dafür trägt der Reichskanzler. Kommen die Vorlagen, so werden wir sie eingehend prüfen, und wir werden bewilligen, was im Interesse dés Heeres und des Ansehens des Reichs notwendig ist. Daß diese Entschließung wesentlich beeinflußt wird durch unser Verhältnis zum Ausland, ist klar. Ein besseres und herzliheres Vertältnis zu England wünschen auch wir, wenn wir auch die Erinnerung an Marokko nicht so leiht verwinden fönnen. Ueber die finanzielle Seite Marokkos hat sih der Staatssekretär in beredtes Schweigén gehüllt. Wir wollen abwarten, was uns sein etwaiger Naäch- tragsetat zumutet. Der Wert der Congoerwerbung " ist “dem deutshen Volke nicht recht klar geworden. Für uns sind die neuen Erwerbungen jedenfalls nicht dadurch wertvoller geworden, daß unsere französischen Kollegen das Abkommen als ungünstig für Frank- reich hingestellt haben. Erfreulich ist, daß eine gewisse Entspannung eingetreten ist. Wir wünschen, daß die eingeleiteten Verhandlungen mit England zu einem günstigen Ergebnis führen, und daß man künftighin _in England auf die Empfindungen des deutschen Volkes mehr Nücksicht nimmt, als es der englische Minister getan hat, der sagte, die Flotte sei für Deutschland ein Luxus. Die Bemerkung dér Thronrede, daß die Entwicklung nicht stillsteht, muß auch auf die innere Politik übertragen werden. Das Volk hat éin Necht darauf, über seine Geshicke mitzureden. Es mehren sih die Stimmen, die da meêinen, es sei elne Forderug des Tages, daß das Band zwischen Fürst und Volk um fo enger gé- {lungen werde, wenn beide Teile einträhtig zusammen arbeiten. Wir werden deshalb unsere bekannten Anträge wieder einbringen und rechnen dabei au auf die Mitwirkung des Zentrums. Es war nicht sehr shön, daß seinerzeit über die Verfassung8anträge so lange ver- bandelt wurde, ohne daß etwas dabei herauskam; das war die Schuld des Zentrums. Die Sozialdemokraten sollten unsere Anträge dur Ucbertreibungen nicht gefährden wie z. B. durch den Antrag, daß zur E die Zustimmung des Reichstages notwend sein soll. Wenn ein Reichskanzler. Verantwortlichkeitsgeseß praktis auch wenig zur Anwendung kommen würde, so würde es zum mindesten dazu beitragen, das Gefühl der Verantwortlichkeit zu \chärfen. Das Antra, srecht bei Interpeßationen, das Einbringen kurzer Anfragen an dîe Regierung sind weitere Forderungen. te Kunst des Anfragens in Fragen auswärtiger Politik und die Kunst der Pg gung hierbei muß allerdings gelernt werden. Je mehr Rechte der Neichstag hat, um so mehr werden sih die Parteien zusammenballén, und um fo mehr wird die jebige Zerklüftung aufbören. Das deutsche Volk will in der Sczialpolitik nicht stillstehen, das ist die Forderung des Tages. Die furchtbare Tatsache, daß sih mehr als 4 Millionen unserer Volksgenofsen zu einer Partei bekannt haben, deren Endziel, ohne mich ver- leßend ausdrücken zu wollen, mit unseren Grundsäßen nicht ver- einbar ist, legt uns den Zwang auf, auf dem Wege der Sozidl- politik nicht {till zu stehen. Meine Partei steht nahezu cinmütig auf dem Standpunkt, daß die Wahl eines sozialdemokratischen Bize- präsidenten notwendig war. Eine Partei, die über 4 Millionen Stimmen hinter sih hat, muß gezwungen werden, mitzuwirken än der ordnungsmäßigen Führung der Neichstagsgeschäfte. Unsere Entscheidung ist uns um fo leichter gewesen, als nach der Wahl des Abg. Spahn die Gefahr bestand, daß sich ein Präsidium bilden würde, das wir grundsäßlich nicht haben wollten. Uns war versichert worden, daß der foztaldemokratishe Vizepräsident die Anforderungen erfüllen werde, die an ihn gestellt werden müssen. Das hochbedeutsame Werk der Reichsversicherunysordnung hat auch in den Wahlen die Feuerprobe bestanden. Es bleibt uns aber noch mandes zu tun übrig, Ich erinnere an das Erfinderreht der Angestellten, an die Konkurrenzklausel, an die Vereinfachung des sozialen Nets der Angestellten. Der große Gedanke der Arbeitskammern muß wieder aufgenommen werden. Gbensfo sind wir für volle Koalitionsfreiheit, allerdings müssen wir einen Zwang zur Koalition unbedingt mißbilligen. Freilih.über- shäßt man die Macht des Geseßes, weil es vielfah an Beweisen für die Verleßung der Koalitionsfreiheit mangelt. Jedenfalls kann diese Frage nur im Rahmen der gemeinen Strafgeseßzgebung gelöst werden, nicht auf dem Wege eines Aus- nahmegeseßzes. Unsere Nechtsprehung sollte von sozialem Empfinden etragen sein. Ferner treten wir für einen Schuß des Mittel- tandes ein. Unstre ganze Geseßgebung und vor allem auch die Negierung follte mehr Vertrauen zur Bevölkerung haben. Dies gilt namentlich in bezug auf die Reform des preußischen Wahlrechts. Im Abgeordnetenhause ist dafür längst eine Mehrheit vorhanden, und der Reichskanzler sollte daran denken, daß der Zuwachs ver sozial» demokratischen Stimmen zum großen Teile auf die Nichtertüllun jenes Verlangens zurückzuführen ist. Die Regierung mag fi danach prüfen, ob ihr Kurs ein richtiger war. Wir können die Parteien, die bereit sind, mit uns zu arbeiten, nur dringend bitten, ihre Forderungen niht zu überspannen. Der Abg. Speck hat eine beweglihe Mahnung wegen des Zufammenwirkens an uns gerichtet. Das Zentrum hat es doch bisher niht ver|chmäht, mit den Sozial- demokraten, wenn es ihm paßt, zusammenzugehen, und daß Sie (zum Zentrum) niht zusammen mit einem Sozialdemokraten im Präsidium sitzen wollen, kann doch nicht auf natürlicher Abneigung beruhen. Die Au'forderung zum gemeinsamen Vorgehen sieht im Widerspruch mit Jhrem Verhalten bei der Präsidialwahl, damit, daß Sie den Abg. Spahn gezwungen haben, von dem Präsidium zurückzutreten. Man bestrebt si, die Kluft zwischen rechts und links zu vertiefen. Die nationalliberale Partet hat aber immer an dem Schutz der nationalen Arbeit festgehalten, an dem Schuy der Land- wirtshaft und der Indust ie im Hinblick auf die Not- wendigkeit einer selbständigen Landwirtschaft. Die bekannte Rede des Abg. von Heydebrand hat nun wie eine Bombe gewirkt. fann nur erklären, daß wir uns jede weitere Erhöhung der Getreide- zôlle unbedingt verbitten müssen; wir wollen von einem „lückénlosen Ba der do auf eine Besteuerung bisher unbesteuerter Gegen- tände hinausläuft, De wissen. Für unser ganzes deutshes Völk und das Ansehen des Reichstages wird es entscheider.d sein, ob sh dieser Reichêtag als arbeitsfähig erweisen wird, ob er in der Lage sein wird, die großen nationalen Aufgaben zu erfüllen. Möge män es uns durch Mäßigung ermöglichen, an diesen nationalen Aufgaben im liberalen Sinne mitzuwirken.

L L S Lt Ar I N A mee TI Ari