1912 / 66 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Thu, 14 Mar 1912 18:00:01 GMT) scan diff

_Abg. Klose (Zentr.): Die Seuche hat im vorigen Jahre einen Umfang angenommen, wie sie ihn bisher vos niht gehabt hat. Was an Vieh, das die Seuche shon überstanden hat, später noch eingegangen ift, läßt fih gar niht abshäßen. Diese Schädigungen treten insbesondere die kleinen Besißer; denn es ist statistisch na- gewiesen, daß im Verhältnis der kleine Grundbesiß viel mehr Vieh züchtet als der Großgrundbesißk. Den Einwand eines Regterungs- vertreters, daß die Staatskasse die Kosten für die Fleishbeshau nicht übernehmen fönne, weil fie zu boch seien, halte ih niht für \ti- haltig; wir müssen unbedingt an dieser Forderung festhalten.

Direktor im Neichsamt des Innern von Jonquières: Jch habe s{on in der Budgetkommission darauf hingewiesen, daß die Freigabe der Erforshung der Maul- und Klauentéudie anz erheb- liche Gefahren hinsihtlich einer Weiterverbreitung der Seuche mit sich bringen würde, und ich halte mich für verpflichtet, hier im Plenum noch einmal besonders auf diesen Punkt hinzuweisen. Falls die Resolution angenommen werden sollte, muß ih erklären, daß die verbündeten Negierungen sih ihre Stellung vorbehalten. Was den Wunsch nah anderweitiger Regelung der Kostenfrage bei den Maß- nahmen zur Bekämpfung der Seuche und der Entschädigungsansprüche betrifft, so werden alle diejenigen, die an der Verabschiedung des Viehseuchengeseßes mitgewirkt baben, ehrlih gesprochen, sich jelber zugestehen müssen, daß Wünsche nah dieser Richtung leider unerfüll- bar sind. Es ist ganz ausgeschlossen, bevor das Geseß einmal in Kraft getreten ist, in dieser überaus hwierigen Materie eine Aende- s eintreten zu lassen. Die itéuer :Aubführüngövorschtiften zum Viebseuchengeseße sind gemäß den Bestimmungen des Geseßes, bevor sie dem Bundesrat vorgelegt worden sind, den - Interessenten im weitesten Maße zugängig gemaht worden. Soweit wirtschaftliche und Verkehrsinteressen Berücksichtigung finden konnten, ist es ge- schehen. Gegenüber der strengen Bekämpfungsmethode im Winter sind, wie thh glaube annehmen zu können, während der Weidezeit von allen Regierungen Erleichterungen zugestanden worden, und erst mit dem Eintritt des Winters hat wieder das s{arfe Bekämpfungs- verfahren Plaß gegriffen. ‘Die strenge Bekämpfung, die wir im Winter durchgeführt haben, hat auch Erfolge au zuweisen gehabt. Am 31. August v. J. waren noch über 38 000 Gehöfte verseucht, und diese Zahl ist im Laufe des Winters bis auf 4670 zurückgegangen. Es ift dringend wünschenswert, daß nah wie vor mit der größten Strenge verfahren wird, und daß die Interessenten die leider unver- meidlichen Lasten willig auf sih nehmen, in der Erkenntnis, daß es sih um das Interesse der Gesamtheit und ihr eigenes Interesse handelt. Die Hoffnung, daß das Reichsviehseuchengeseß am 1. April dieses Jahres in Kraft treten könne, wird sih leider niht erfüllen lassen, wir boffen aber bestimmt, daß mit dem Einsebßen des wirk- lichen Frühjahrs die neuen Bestimmungen in Kraft treten können. inen ganz bestimmten Termin kann ih beute noch nit angeben.

Abg. He ck (nl.): Jch beschränke mih auf wenige ergänzende Bemerkungen zu der Rede meines Fraktionsgenossen Wamhoff. Der NRegierungsvertreter hat gemeint, es sei mcht angezeigt, der Er- forshung des Krankheitserregers einen zu weiten Naum anzuweisen. Gerotß Lu man da nicht ins Uferlose gehen; aber es könnte immer- hin “mehr gesehen. Das bisherige Resultat is in Kürze: der Erreger is nicht gefunden, eine hinreichende ITmmunisierung auch niht. Die Anwendung des Löfflershen Mittels is unverhältnis- mäßig teuer, die Kosten stellen sih bis auf 50 #4 auf das Haupt Vieh. Neuerdings hat ein Dr. Zille einen Kokkus entdeckt, der der Er- reger der Maul- und Klauenseuche sein soll; seine Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, sie sollen ebenfalls aus Neichsmitteln gefördert werden. Zu den größten Unzuträglichkeiten führen die Ab- wehrmaßregeln beim Viehhandel zwischen Hessen und Preußen; auch bei Ueberführung von Vieh aus einem seuchenfreien Bezirk in einen andern seuchenfreien Bezirk ift eine doppelte tierärztlihe Untersuhung nötig. Oft müssen die Trans orte stundenlang an der Grenze warten, bis der beamtete Tierarzt erscheint, die Kosten werden dadurch ver- doppelt und verdreifacht. Die Leute sind der Meinung, daß hier nit ‘die Grenze zu entscheiden hat,. sondern daß der nähste Ttier- arzt zuständig sein soll Und genügen muß, damit die Kosten der Unter- suhung aúf ein möglichst geringes Maß zurückgeführt werden. Die ganze Materie bedarf dringend reiögeleßtider Negélung, bamit diese ledigli zum Nachteil der Bevölkerung aus\{lagende Ver- fehrsers{werung aufhört.

Abg. Ahlhorn (fortschr. Volké{p.): Der durh die Maul- und Klauenseuche direktangerihteteSchaden ist ungleich geringer, als der durch die von der Negiérung und den Behörden angeordneten Abwebrmaßregeln, die gut gemeint sein mögen, aber vom Volke niht verstanden werden, und nach ter Meinung des Volkes mehr schaden als nüßen. Jst die Seuche einmal im Lande, dann foll man nicht zu unklugen Vtaßnahmen greifen. Der Absaß des Viehs wird unnötig ershwert und verteuert. Das E Birkenfeld, zu Oldenburg gehörig, kann davon ein Lied singen.

enn eine Kuh aus Frankenthal nach Kirchen-Sulzbah verkauft wird, muß fie zweimal die preußishe Grenze passieren und wird weimal tierärztlih untersucht, bei der Ankunft auf oldenburgishem oden wird fle zum dritten Mal untersuht. Sie wird jedesmal esfund befunden, dennoch findet §8 Tage später noch eine vierte Unter- Kidbung statt. Æso viermal untersuht, viermal gesund befunden; Kostenpunkt 40 4! Arme Kuh, armer Landmann! Es besteht ferner cine Verordnung, wonach preußis{ches Vieh nur am Freitag ins Oldenburgische hineingebraht werden darf; die für Ausnahmen erforderlihe Genehmigung der Regierung wird meistens nicht erteilt, macht aber 10 # Sporteln. Anderseits können die Oldenburger das Vieh ungehindert nach Preußen führen. Nun haben die preußi- schen Bauern dort zum Teil auch Ländereien auf oldenburgischem Boden; sie können ihr Land nicht bewirts{aften, Solche Fälle follen aud) zwishen einzelnen Regierungsbezirken in Preußen vor- fommen. Solche Maßregeln find nur dazu angetan, dên armen Bauern unnötig das Geld ‘aus der Tasche zu ziehen. Diese Beispiele zeigen; daß man den Absaß von Vieh im Grenzverkehr unnötig er- {wert und verteuert bat. Erfreulich is es, daß die Regierung Mittel in den “Etat einftellt zur Förderung des Absatzes. Es ibt aber fkoftenlose Mittel zu diesem Zwede; die Rezierungen Feriuchen sich nur darüber zu ‘einigen, daß das Attest des Tier- arztes in dem einen Bundeéstaat ‘auch ‘in dem anderen Bundes- taat Gültigkeit hat. Die Bundéshoheit der einzelnen Staaten wende man nicht ein, weun es sich um fo tief einschneidende Fragen handelt. Wenn ein Tierarzt die Maul- und Klauenseuche an einem T'er niht erkennen kann, fo hat er seinen Beruf verfehlt. Ich kann mir nicht denken, daß cin oldenburgischer Ochse s{hwerer zu untersüchen ist als - ein mecklenburgisches Kalb. Die [egensreiche Wirkung des neuen Viehseuchengeseßes wird wesentlich davon abhängen, wie die Verwaltungsbehörden es anfäfsen. Gehen fie so rüdcksichtslos vor wie in der leßten Zeit, dann wird die Erbitterung unter der Landbevölkerurg noch steigen.

Abg. Behrens (wirtsch. Vgg.): Wir slimmen allen NReso- [lutionen zu, die Maßregeln zur Bekämpfung der Maul- und Klauen seue fordern. Unnötige Härten bei der Bekämpfung der Maul- und Klauenseuche müssen natürlih vermieden werden. Wie die Maß- régeln jeßt angewendet werden, müssen mitunter die Schafherdên den Hungertod sterben, weil se niht auf die Weide getrieben wetden dürfen. Leider gibt man auf das Urteil der sachverständigtn Löndtvirte bis jeßt sehr wenig. Das Geseh foll mik dem „Beginn des Frühlings“ in Kraft treten. Was he1ßt- „Beginn des Früh- linas“? Die Landwirte müss n doch wissen, woran sie find; sie dürfen niht verhindert werden, ihre Tiere auf die Weide treiben zu lassen. Die Strafen, die verhängt werden, sind mitunter doch ziem- li drakonisch. Dadurch wird cine große Mißstimmung unter den Landwirten hervorgerufen. Man sollte nit jeden kleinen Fall an die große Glocke bringen und die gesetzlichen Bestimmungen möglichst loyal anwenden. J kann nur unterstreichen, was der Abg. Ablhorn gesagt hat. Dieselben Schmerzen bringe ich auch bezüglich der bayerischen Pfalz zum Ausdruck, wie er es ia bezug auf Oldenburg getan hat. Es ver- geht cinem der “Appetit- an unseren verschiedenen Vaterländern, wenn eine solhe Kleinlihkeit bei unseren Behörden vorkommt. Die obligatorishe Viehveisiherung würde bei den kleinen Bauern nmchckcht sehr viel Freude ‘erregen. Sie find so überlastet, däß fie die

kostspïelige obligatorische Viehversiherung kaum übernehtnen könnten. Ohne einen erheblichen Reichszushuß oder einen Zuschuß. der Bundes- staaten wäre eine solhe Versicherung jedenfalls nicht denkbar. Die Kosten der tiérärztlihen Untetsuhung und Atteste sollten jedenfalls nah dem Antrage Bassermann - auf die Staatékasse übernommen werden. Die Regierung möchte ich noch bitten, die Bestrebungen des Pomologenvereins um Förderung der Gemüsezucht kräftig zu unter- stüßen. Das Gemüse wächst sich immer mehr zu einem Kultur- produkt der kleinen Landwirtsdaft aus. Ein großzügiger Gemüsebau kann dadur am besten sichergestellt werden, wenn bei den künftigen Handelsverträgen dieser Zweig unserer Landwirtschaft besonders ge- \hüßt wird. Unser Gemüfebau ist dann wohl in der Lage, unseren Gemüsebedarf zu decken.

Abg. Werner - Hersfeld (d. NReformp.): Alle Redner sind sich darüber eintg gewesen, daß die Beobachtungsbezirke im einzelnen viel zu groß sind. Ich kann dies auf Grund mir gewordener Mitteilungen nur bestätigen. Die Strafen halte auch ih für viel zu hoch, die Gefängnisstrafen für kleine Versehen sind oft geradezu Hbhorrend. Sobald der Tierarzt erkannt hat, daß die Seuche erloschen ist, müßte auch die Sperre aufgehoben werden; das geschieht aber in manchen Gegenden leider nicht. Die Land- wirte werden dadurch verhindert, ihr Feld rechtzeitig zu bestellen. In Hessen besteht deswegen eine große Erbitterung. Es kommt darauf an, daß der Erreger der Maul- und Klauenseuche entdeckt wird, und da meine ich, daß die für diefen Zweck in den Etat eingestellte Summe zu gering ift. Man wird die Krankheit viel leichter bekämpfen können, wenn man den Exrreger kennt. Auf welche Weise die Seuche über- tragen wird, darüber sind sih die Gelehrten nicht einig. Mêir wird geschrieben, daß hauptsächlich durch den Verkauf von Ferkeln die Seuche übertragen wird. Wir treten für die Resolution der Zentrumspartei und der fretsinnigen Partei ein. Den wirtschaftlichen und Verkehrs- interessen muß seitens der Behörden in der Tat mehr als bisher Rechnung getragen werden. A

Abg. Graf O ppersdorff (b. k. F.): Im allgemeinen sind wir seit dem vorigen Jahre in der Bekämpfung der Maul- und Klauen- seuche niht fklüger geworden. Uebrigens is es ein Irrtum, an- zunehmen, daß für jeden Bundesstaat ein neues Attest des Tierarztes notwendig ist, nach den neuen Bestimmungen gilt dies niht mehr. Auf die Sperre können wir nicht verzichten, wie die Abnahme der Zahl der verseuhten Gehöfte im leßten Winter gezcigt hat, aber ihre Härten müssen nach Möglichkeit gemildert werden. Ich möchte einen Appell an die möglichste Gewissenhaftigkeit aller Viehbesißer richten und einen Appell an die Gerechtigkeit der Behörden, die die Strafen zu verhängen haben. j

Abg. Wallenborn (Zentr.) bittet die Regierung, dahin zu wirken, daß bei der Festseßung der Entsädigungsansprüche die Inter- essen und Wünsche dér beteiligten Landwirte entsprechend den von den verschiedenen Parteien niedergelegten Resolutionen berücksihtigt werden mögen.

Abg. Dr. Bell (Zentr.): Die Erklärungen des Ne- gierungsvertreters über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vieh- jeuchengéseßes sowie über die Entschädigungeansprüche werden in weiten Kreisen namentlich der kleineren Besißer eine große Ent- täushung hervorrufen. Der Negtierungsvertreter {eint auf dem Standpunkt zu stehen: „Es muß doch Frühling werden.“ Derjenige, der dem öffentlichen Wohle seine Privatinteressen opfert, muß nach einem auch in das allgemeine Landre&ßt aufgenommenen L Ee dafür vom Staate entschädigt werden. Der obligatorishen Vieh- versicherung, die von der sfozialdemokratischen Partei oder von ibrem agrarishen Flügel beantragt wird, könnte höchstens auf dem Wege der Landesgefeßgebung nähergetreten werden.

Nachdem fodann noch der Abg. von Morawski (Pole) die Resolution Brandys begründet hat, ist die Redner- liste erschöpft.

Dié Resolutionen Bassermann, Brandys, Schaedler und Blunck sowie die von der Budget- kommission vorgeschlagene Resolution werden fast einstimmig, die Resolution Albrecht, betreffend die obligatorishe Vieh- versicherung, mit geringer Mehrheit gegen die Stimmen der gesamten Rechten, des Zentrums und einiger Nationalliberaler und Fortschrittler angenommen.

Y Der Nest „Allgemeine Fonds“ wird ohne Diskussion be- willigt.

Von den Ausgaben für die „Reichskommisfariate“’ werden diejenigen „für Ueberwachung des Auswanderungswesens“ ohne Diskussion genehmigt.

Zu den 6500 / Ausgaben f fommission liegt folgende Reso nossen (Soz.) vor :

„Die verbündeten Regierungen zu ersuhen, dem Reichstag einen Geseßzentwurf vorzulegen, der die Reichsfschul- kommission zu einem selbständigen Reichsamt für das Shul- und Bildungs8wesen des Deutschen Neiches ausbaut.

Abg. Schul z - Erfurt (Soz.): Der Neichstag hat sich heute fast den ganzen Tag mit dem Wohle der deutschen Rinder beschäftigt; es wird danach niht unangebracht sein, sich auch mit dem Wohle der deutschen Kinder zu beschäftigen. Ich habe volles Verständnis für gesunde Mäuler und Klauen des deutschen Rindyiehs, nehme aber an, daß mindestens tasselbe Interesse bei den Mitgliedern des Reichstags für die Gesundheit und das Wohl der Kinder vorhanden ist. -Was es mit der Neichs\{hulkommission auf fich hat, ift wohl selbst manhem Kollegen unbekannt: in unseren Akten ist kaum etwas darüber zu finden, auch ift es keine selbständige Behörde, sondern dem Bundesamt für das Heimatwesen, also einer Behörde angegliedert, die ih vor- wiegend mit dem Armenwesen zu befassen hat. Ich möchte empfehlen, daß dieses verborgen blühende Veilchen au von Zeit zu Zeit Berichte heraus- gäbe. Aufgabe der Kommission ift es, die Berechtigung der Schule zur Er- teilung des Meifezeugnisses für den Einjährigendienst zu überwachen. Diese leßtere Einrichtung ift eine der unerfreulihsten Erscheinungen des deutshen Schul- und Lehrwesens, die nur das eine Gute hat, daß fie den Kausalnexus zwischen Schule und Heer und die einzige Verbindung des Neiches mit den Einzelstaaten auf einem Unterrichts- gebiete herstellt, denn das Heer ist MNeichs)ache, die Schule Landessahhe. Wie das Heer Reichssache ist, muß auch unser ganzes Schulwesen Neichs\sahe werden. Die Einrichtung des einjährig- freiwilligen Dienstes hat eine lange Geschichte; die Anschauungen darüber haben im Neichstage wie bei den Regierungen wiederholt gewechchselt, nur daß wir noch immer nicht das schon 1874 ver- \prochene Gesetz haben, welches die Vorbedingung für die Berechtigung zum ‘Einjährigendienst regeln sollte; nur die DeichaiWulkötumiisian wurde eingeseßt. Alle späteren Anregungen aus dem Hause, daß dies Geseß endli crlafsen werden sollte, find erfolglos geblieben. 1908 ließ endlich die Regierung durch den Kriegsminister erklären, daß eine reihsgeseßlihe Negelung nicht angebraht sei. Jn Preußen sind. Bestrebungen am Werke, den Absolventen der Mittelschulen die Berehtigung zum einjährig - freiwilligen Dienst zu geben. Wir unserseits find für Abschaffung dicses ganzen Privilegs. Die Herren dcr Schulkommission sollten sich gutachtlich darüber äußern, ob diese Einrichtung überhaupt noch am Platze ist. Für militärishe Zwecke ist die Einjährig-Freiwilligen-Vor- bildung unzulänglich und finnlos, für Schulzwedke verwüstend. Dies Privileg wirkt wie ein Pfahl im Fleish der Schulorganisation, es wirkt \{chädlich \scwohl auf das Bolksschulwesen wie auf das höhere Schulwesen. Haben die fremden Sprachen irgendwelhe Be- deutung für den einjährig-freiwilligen Dienst? Im Frieden jeden- falls nicht, kommt es aber zu einem Kriege mit Rußland, so fehlt den Einjährigen die Kenntnis des Nussishen. Die ECinjährig- Freiwilligenbildung ift keine abgeschlossene. Am schlimmsten find die armen - Gymnasialsekundaner daran, die üÜberflüssigerweise auch “die alten Sprachen treiben müssen. Die Knaben müssen eine: endlose Qual bei diesem Studium erleiden, das für das spätere

ür die Reichss\chu!l lution Albreht und Ge-

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Leben gar keine Bedeutung hat. Realshulen gibt es in ländlichen Bezirken und kleineren Städten nicht; sie kommen also für weite Bezirke "niht in Betraht. Der Abg. Dr. Oertel ist in seiner „Deutschen Tageszeitung“ für Beibehaltung des Prniteas eingetreten weil die Abschaffung dieser Einrichtung vom Mittelstande als eine \chier unerträglihe Härte empfunden werden würde. Er verlangt daß nur diejenigen, die eine bestimmte Anstalt absolviet habey zum Reserveoffizier befördert werden. Das wäre also ein neues Privileg. Wenn zum Cinjährig- Freiwilligendienst die höhere Bildung berechtigen foll, so kann dies doch nur die militärische Bildung sein und hierin zeigt sih sehr oft, daß mancher Zweijährige zehnmal so gescheit ist wie ein Einjähriger. Mancher Reserveoffizier bietet au für die Gemeinen eine dauernde Quelle des Amüsements. Er ist ver; lassen, wénn er nicht einen altgedienten Sergeanten oder Feldwebel hinter sich hat. (Zurufe: Ausnahmen!) Jch gebe zu, daß es Einjährige gibt, für die das nicht zutrifft, ih nehme sogar alle Mitglieder dieses Hauses aus, Wenn eine wirklich gute Bildung zu einer kürzeren Dienstzeit be, retigen soll, dann muß man dies generell durchfüh1en und bessere Schulen schaffen, sie auf das Niveau der Realschulen bringen. Dann könnte man das ganze zweite Dienstjahr ersparen, dann könnte jeder Schüler den Marschallstab im Tornister tragen. Allerdings hat die Reichs- \hulkommission einen engen Zweck, aber die Negierung wie das Haus haben sih hier in der Debatte niht \treng an deren Kompetenz gehalten, Bei diesem Titel hat namentlich der Abg. Dr. Oertel recht oft und gern, so über die Nechtsprehung, gesprochen. Er sagte, da 1eze sih sein altes Schulmeisterherz. Dies muß thm hierbei mindestens ebenss stark flopfen, wie bei der Maul- und Klauenseuchedebatte. Alle Parteien haben das Bedürfnis gehabt, im Neichstage über Schulfragen zu reden, Wir Sozialdemokraten wollen ständige Gelegenheit haben, über diese Fragen zu reden, deshalb verlangen wir reihsgeseßlihe Mege- lung des Schulwesens. Auch der Deutsche Lehrerverein hat diese Forderung erhoben. Die Kompetenz, in das Schulwesen der Einzel: staaten in bestimmter Weise einzugreifen, darf das Reih aus der dringenden Not nehmen, in der sich das Schulwesen hier und da in den Einzelstaaten befindet. Die Buntscheckigkeit auf dem Gebiete des Schulwesens steht der wirtshaftlihen Entwicklung Deutschlands und der Freizügigkeit hindernd entgegen. Am meisten leiden darunter wicder die Arbeiter, besonders wenn mehrere Bundesstaaten wie in Thüringen eng beisammen liegen. Hier müßte ein Reichsshulamt die Be stimmungen einheitlih regeln. Insbesondere müßten Méinimal- bedingungen aufgestellt werden. Nach oben wollen wir keine Schranke stellen, aber wir wollen verhindern, dos geistig und körperlich normale Menschen wider ihren Willen an ihrer vollen Entfaltung gehindert werden, Diese Forderung ift eine im wahrsten Sinne des Wortes patriotische, und es liegt auch im Interesse der Landesverteidigung, einen möglidht intelligenten Nachwuchs heranzuziehen. Sodann muß der Schul. besuch unentgeltlich gemacht werden. Die Arbeitserziehung if wissenshaftliher Sozialisinus und an demselben Tage und aus der- selben Ursache geboren wie dieser. Auch eine Reichs\chulstatistik ift dringend erwün|cht. Dem RNeichsshulamt müßte ein Reichesc{ulrat aus Lehrern und Eltern angegliedert werden. Die Hauptarbeit eines solchen Reichs\hulamts würde die Vorbereitung eines Neiché- \hulgeseßes sein. Schließlih müßte ein Reichsunterrihtsministerium geshaffen werden. Das alles kann niht von heute auf morgen ge- schehen, aber Schwierigkeiten sind uns keine Pes und wir werden nah einem Worte Bis8marcks nicht erlahmen, nicht ruhen un nicht rasten, bis dieser rihtige Gedanke, der sih einmal der Oeffint- lihkeit bemächtigt hat, verwirkliht worden ift. Hierauf wird Vertagung beschlossen.

Schluß 61/2 Uhr. - Nächste Sißung Donnerstag 1 Uhr. (Jnterpellation, betreffend den Bergarbeiterstreik im rheinisch-westfälischen Kohlenrevier. Fortseßung der heutigen Beratung.)

Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 30. Sißung vom 13. März 1912, Vormittags 11 Uhr. (Bericht. von Wolffs Telegraphishem Bureau.)

Ueber den Beginn der Sißung ift Nummer d. Bl. berichtet worden.

Es wird die zweite Beratung des Staatshaushalts- etats für das Rechnungsjahr 1912 bei dem Etat für das Haus der Abgeordneten fortgeseßt.

Zu diesem beantragt die Kommission Resolution:

„die Königlihe Staatsregierung zu ersuchen, einen Gese entwurf vorzulegen, durch welchen das Recht der Präsidenten beider Häuser des Landtages zur Vertretung det Fiskus und die Nechtsverhältnisse der Beamten det Herrenhauses und des Hauses der Abgeordneten neu geregelt werden".

Der Abg. von Brandenstein (kons.) beantragt: „Das Haus der Abgeordneten wolle beschließen, eine besondere Kommission von 14 Mitgliedern einzuseßen, um die Fragen, ob und wie a. das Necht der Präsidenten beider Häuser des Landtages zur Vertretung des Fiskus, b. die Rechtt- verhältnisse der Beamten des Herrenhauses und des Hauses der Abgeordneten neu zu regeln seten, ciner nochmaligen Prüfung zu unterziehen und über da? Ergebnis \chriftlichen Bericht zu erstatten“.

__ Abg. Strosser (kons.): Wir- müssen rechtzeitig daran denken, für eine Erweiterung unserer Baulichkeiten vorzuforgen. Wenn dies jeßt nicht geschieht und das Gelände des Reichsmilitärfiskus in andere Hände übergeht, kann es vielleiht zu spät sein. Die Königliche Staatsregierung muß deshalb bald in Verhandlungen mit dem Neiché- fiskus eintreten, damit, wenn später einmal neue Baulihkeiten für das Abgeordnetenhaus nötig sein follten, uns ein Play zur Verfügung steht. Es kommt auch in Betracht, daß uns tatsächlich ein Garten fehlt, in dem man etwas Luft {chöpfen, wo man etwas Erholung finden kann. Wir tagen hier im Abgeordnetenhause sehr häufig bis tief in den Sommer hinein. Das Herrenhaus hat bekanntlich seinen Gaiten an den sitzungsfreien Tagen uns nit zur Verfügung gestellt. Um ]o mehr müssen wir Wert darauf legen, einen eigenen Garten zu besipen. Im Festsaal hängt ein Bild unseres R iner Präsidenten Kröcher, in dem man ihn aber beim besten Willen nit wieder erkennen tann. Da ift es nötig, P wir ein Bild dort hinhängen, eat unseren früheren verehrten Präsidenten wirklich lebensgeirel arstellt.

Abg. Graf von Strachwiß (Zentr.): Von den beiden hohen zollernshen Abgeordneten kann der eine, der auch zugleih Reicht tagsabgeordneter ist, auf Grund seiner Reichstagsfa rkarte in jeuft Heimat zurückfahren, niht aber der andere, der nur preußischer Abgt- ordneter ist. Unsere Freifahrkarte gilt nur innerhalb Preußens, und nah Hohenzollern muß man bekanntlich erst durch Württemberg hw durch. Obwohl das Bild unseres früheren Präsidenten von einen namhaften Künstler hergestellt ist, if es doh ganz ten daß man ihn darin wiedererkennt. Dieses Bild muß beseitigt werden und ein anderes von A langjährigen Präsidenten von Krö! angefertigt werden, das für uns eine Freude und für das Haus eint Zierde dauernd bleibt. '

in der gestrigen

folgende

(Schluß in der Zweiten Beilage.)

Zweite Beilage

zum Deutschen Reichsanzeiger und Königlih Preußischen Staatsanzeiger.

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6G.

(Schluß aus der Ersten Beilage.)

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Abg: Dr, Friedberg (nl): Bezüglich der vollen Freifahrt nah Hohenzollern ließe ih mich dem Vorredner voll an. Wir wünschen aber noh weiter, daß wir innerhalb des preußishen Staates überall hinfahren können. Es if sehr wichtig, daß die Abgeord- neten über lofale Verhältnisse auch außerhalb ihres Wahlkreises fich in ausreichender Weise orientieren können. Wir haben aud den Wunsch, daß die Staatsregierung sich wegen des Ankaufs des Nach- bargartens mit dem Reichsmilitärfiskus in Verbindung seßt, damit wir einen Erholungsgarten erhalten. Es liegt im Interesse tes preußischen Fiskus, rechtzeitig dieses Grundstück zu erwerben, sonst tann später eine direkte Gefahr für das Abgeordnetenhaus entstehen Die Porträts der Präsidenten können ruhig von verschiedenen Künstlern angefertigt werden, ih wäre deshalb auch dafür, daß cin neues Portrat von unserem leßten Präsidenten von einem anderen Künstler angefertigt wird.

__« Abg. Dr. Pachnicke (fortshr. Volksp.): Auch wir unter- stüßen die Anregungen des Abg. Strosser. Wir haben uns fonst mit den Wünschen zugunsten dieses Hauses immer zurückgehalten. Aber hoffentlih wird das Finanzministerium angesichts der Einigkeit des Hauses in diesen Wünschen das Nötige veranlassen, und Zwar recht bald. Bie Sessionen müssen früher eröffnet werden, wenn das Haus eine Arbeiten erledigen soll. Das Ende der vorigen Session bedeutete inen Zusammenbruch. Wir können auh diesmal den Etat nicht echtzettig fertigstellen, erst gegen Pfingsten. Dadurch verletzen wir Interessen der Verwaltung, anderjeits dürfen wir die Beratungen nicht überhasten. Wir werden einer Verlängerung der Session ent- gegen}ehen mussen, denn die Dinge haben ih geändert; wtr haben jeßt eine neue Partei im Hause, die das Nedebedürfnis hat und es muß erfüllen können. Alle Wünsche des Landes gewinnen in diesem Hause Gestalt durch die Jnitiativanträge, und alle diese Anträge verlangen eine liebevollere Behandlung, als sie bisher gefunden haben. Dazu brauchen wir Zeit, und die Regierung wird sich daran gewöhne1 müssen; wir brauchen Herbstsessionen, wenn wir nicht bis in den tiefen Sommer hinein arbeiten und die Dinge sahgemäß erledigen wollen. (Jin Fort\chritt wäre es, wenn die Freifahrkarten auf den ganzen Wahlkreis ausgedehnt würden, aber damit is das ganze Bedürfnis noch nicht befriedigt. Warum wird der Neichstag anders behandelt als die preußische Volksvertretung? Die Vertretung ciner Nation von 40* Millionen kann dieselbe Behandlung verlangen, die dem Reichstage zuteil wird. Wir haben das Recht der Kontrolle und der Kritik, und wenn wir dieses Recht ausüben wollen, so müssen si die Mitglieder des Hauses immer im Lande umsehen können, und diese =Znformationen dürfen niht fkünstlih erschwert werden. Freifahr- tarten zwischen Berlin und dem Wahlkreise wären nur eine Halbheit, wir verlangen Freifahrkarten für das ganze Land, nicht zu unserer Bequemlichkeit, sondern im Interesse des ganzen Landes. Einen wie großen Anteil wir an der Verwaltung des Landes haben, zeigt son unser Etat: der preußische Etat umfaßt 4 Milliarden, der Neichsetat nur 2,8 Milliarden. Die Stellung der Diener des Hauses muß verbessert werden; charity begins at home, wir müssen Sozial- politik zunächst im eigenen Hause üben. Die Diener müßten fest angestellt werden, wie es jeßt auch im Reichstage geschieht. Die Schwierigkeiten wegen des Verhältnisses zwishen Militäranwärtern und Zivilanwärtern werden sich überwinden lassen. Auch in der Stellung der Kellner in unserer Restauration besteht ein Unterschied un Vergleich mit dem Reichstage; dort bekommt der Kellner taglich 3 M4, hier nur 1 Æ. Die NReichstagsmitglieder werden mit den amt- lihen Drucksachen, Berichten der Gewerbeinspektoren, Neichsgesetß- blatt usw. besser versorgt, als die Mitglieder dieses Hauses. Es liegt nicht .an unserem Bureau, über unseren Bureaudirektor wird sich niemand beklagen, der Grund liegt vielmehr darin, daß sich das Haus noch nicht mit diesen Dingen beschäftigt hat. Wir brauchen z. B. die Berichte der Gewerbeaufsichtsbeamten, um diese kontrollieren zu konnen; es kann doch nit verlangt werden, daß wir für diese Druk- sachen noch Geld ausgeben sollen; ebenso müßte uns die Geseßsamm- lung zugestellt werden. In der Benußung der Neichstagsdrucfsachen haben wir auch Schwierigkeiten. In bezug auf die Rechtsftellung unseres Präsidiums und die NRechts\stellung der Beamten imme ih der Anregung des Herrn von Brandenstein gern zu. Wir müssen endlich zu klaren Verhältnissen kommen und die vormärzlihen Eier- schalen durchdringen. Dann wird das Parlament an Ansehen ge-

Man sagt, es sei \{wierig, wahrend der parlamentsfreien

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winnen. Zeit ein Präsidium zu haben; im Reichstag ist diese Schwierigkeit leicht gelo)t, der Präsident erläßt am Schlusse einer Session einfach eine Verfügung, wonach er während der Sommerpause von dem Bureau des Reichstages vertreten wird. Ich bitte, jeden Zug von Kleinlichkeit bei allen diesen Dingen zu vermeiden und ste so zu regeln, wie es der Würde der Vertretung eines Volkes von 40 Millionen entspricht.

__ Abg. Hoffmann (Soz): Wir verlangen auch, daß der frühere Präsident von Kröcher so ähnlich wie möglich dargestellt wird, damit Verwechslungen niht mehr vorkommen können. Vielleicht lassen sih diese dadurh vermeiden, daß der Präsident auf dem Bilde den § 64 der Geschäftsordnung in die Hand bekommt. Erholungs- pläße müssen für diejes Haus geschaffen werden, und zwar auch für die Berliner Mitglieder. Wir müssen einmal ebenso rücksichtslos gegen die Regierung sein, wie die Negierung gegen uns; dann werden wir auch früher einberufen werden. Unser Nedebedürfnis ist erklär- lich, wir vertreten ja 600 000 Wähler, und zwar gerade solche Kreise, denen immer Unrecht geschieht. Außerdem sind wir über 60 Jahre aus diesem Hause ausgesperrt gewejen und müssen nun alles nach- holen. Sie haben ja îin den 60 Jahren so viel Unheil angerichtet. (Präsident Dr. Freiherr von Erff a: Das dürfen Sie nicht sagen, das 1 eine Beleidigung des Hauses.) Sodann haben wir nicht so, wie Sie, die Minister an der Longe. Mit dem Essen hier 1m Hause können nur diejenigen zufrieden sein, die es zu Hause noch shlechter haben ; das kann nicht bestritten werden: das Essen ist hier miserabel. Im Reichstag bekommt der Restaurateur einen Zuschuß. Unjer Restaura- teur ist niht \{uld, worauf soll er sih denn einrihten? Von den 443 Abgeordneten sind meist 400 anwesend, und wenn dann einmal cin Ansturm kommt, kann der Restaurateur nicht darauf eingerichtet sein. Die Kellner find hier viel {blechter gestellt als im Reichstag, sie sind auf die Trinkgelder, die Almosen angewiesen und fahren recht \chlecht dabei. Meistens sind hier niht einmal 50 Mitglieder an- wesend, um einen Antrag auf namentlihe Abstimmung zu unter- stüßen. Unsere Diäten betragen täglih 15 Æ ja, das 1st eine unangenehme Sache, aber wir sind gewohnt, au die unangenehm|ten Sachen zu besprehen. Diese Diäten sind zu einer Beit festgeseßt, als die Hotelpreise, Lebensmittelpreise und alle anderen Preise ganz andere waren als heute. Solange wir Sozialdemokraten hier sind, sind die Preise in unserer Restauration wohl dreimal erhöht worden. Dazu herrscht in unserer Restauration Trinkzwang, und Kaffee wird nicht als Getränk gerechnet, und do sollten sih gerade die Mit- glieder dieses Hauses dem Alkohol möglichst fernhalten, damit sie dei den Beratungen ret klar sind. Die eifrigen Mitglieder des Hauses, die immer hier sind, werden durch diese Preise bestraft, fie müssen auch die Kosten tragen für diejenigen, die nicht hier sind; vielleicht beschließt das Haus einmal, daß die Diäten der nicht Anwesenden auf die An- wesenden verteilt werden. Es gibt ja Mitglieder, die N in der ganzen Session nicht sehen lassen, sodaß es, wenn fe einma erscheinen, heißt: Es ist ein fremder Mann im Dorf. Jch erinnere an den plöbßlichen Schluß der vorigen Session; da wissen die Diener gar

Berlin, Donnerstag, den 14. März

nicht, woran sie sind. Die Diener fliegen dann plöblih auf die Straße. Wir müssen die Diener mindestens so stellen, wie die Diener des Reichstags gestellt sind. Wir haben nur ein einziges Spreh- zimmer auf jeder Seite des Sißungssaales; überall leiden wir unter der Plaßbfrage. Da wäre der beste Naum zu schaffen, wenn das Herrenhaus überhaupt ganz beseitigt würde. (Präsident Dr. Frei- herr von Erffa: Jch bitte Sie, derartige Bemerkungen gegen das Herrenhaus zu unterlassen; das Herrenhaus ist mit dem Äbge- ordnetenhause gleichberechtigt.) Auch der Beleuchtung muß größere Aufmerksamkeit zugewendet werden; uns macht das ja nicht jo viel aus, denn wir sind selbst helle. Freifarten für Fahrten in ganz Preußen könnten rubig gewährt werden; man fürchtet anscheinend, daß wir zu viel im Lande umbhergondeln, aber wir fahren troßdem nicht weniger, als wir dann fahren würden, felbst wenn es in der Benzinkutsche vierter Klasse ist. Von größter Bedeutung ist, daß die Freifahr- karten auch außerhalb der Session gelten; denn dann fann der pflicht- getreue Abgeordnete sih am besten über alles orientieren, während der Session hat er in den Sißungen zu sein. Die Fretfahrkarten werden jeßt in engherziger Weise gehandhabt; es kann niemand die Fahrt unterbrehen. Recht niedlich ist die Hahnsche Nedeakademie, die hier im Hause eingerichtet gewesen ist. Den Herrn Professor der Bundesakademie mit Schnellpresse in allen Ehren, aber der Bund der Landwirte kann feine Kurse anderwärts einrichten, oder Gleiches für alle, dann kommen wir auch mit unserer Rednerschule. (Abg. von Pappenheim: Kommen Sie man!) Abg. von Pappenheim, wir berufen uns auf Sie, wenn wir demnächst diesen Untrag stellen. Für die Annahme des Antrages von Brandenstein sind auch wir; wenn man aber glaubt, daß man dadurch für den Hausrechtsparagraphen eine geseßlihe Grundlage schaffen kann, so irrt man sich; die rechtlihe Grundlage könnte böhstens durch cine Verfassungsänderung geschaffen werden.

Auch Dr. He ß (Zentr.): Auch wir treten für Erweiterung der Freifahrkarten ein. Zur gedethlihen Erledigung seiner Geschäfte muß entsprehend unserer Resolution vom vorigen Jahre das Abge- ordnetenhaus unbedingt vor Weihnachten einberufen werden. Jch muß sagen, daß die Nichterfüllung diefes Wunsches eine gewisse Nücksichts- lostgkeit gegen das Haus zeigt. Wir haben in verschiedenen unserer Sâle shonen künstlerishen Shmudck; es wäre zu begrüßen, wenn dieser in einem Sammelwerk zusammengestellt würde, sodaß die ausscheiden- den Mitglieder eine {one Erinnerung haben. Ich gehe sogar noch weiter. Auch künstlerische Reproduktionen auf Ansichtskarten würden ih siher einer großen Beliebtheit erfreuen.

Abg. Dr. Wagner - Breslau (freikons.): Der Ueberweisung des Antrages von Brandenstein an. eine Kommission stimmen wir zu. Bezüaglih der Freifahrkarten ift es unbedingt nötig, daß sie nicht ur für den Wohnort des Abgeordneten, sondern auch nah seinem Wahlkreise gelten. Prinzipiell stehen wir auf dem Standpunkt, daß die Freifahrfarten für ganz Preußen gewährt werden, auch nah der Vertagung des Hauses. Ein notwendiges Korrelat dazu wären allerdings die Anwesenheitsgelder; es könnte dann auch ihre Höhe geregelt werden. Wer nicht als Schlemmer hier in Berlin eristieren will, kommt auch mit den 15 Æ aus. Allerdings steht auf unseren Freifahrscheinen, daß man die Reise nur unterbrehen darf in der Absicht, daß man nach Berlin weiterfahren will. Ich habe diese Bestimmung einmal auch nit ganz erfüllen können. Als i von Breslau abfuhr, ereignete ch ein Eisenbahnunfall, meine Kleidung war so mitgenommen, daß ih genötigt war, in einem Wagen vierter Klaise mit den Arbeitern zurückzufahren. Eigentlich habe ih da auch einen Verstoß begangen. Dem Wunsch, daß uns der Militärfiskus das Nebengrundstück überlassen möge, kann 1ch ohne weiteres bei- treten. Jch habe noch eineit weitergehenden- Wunsch, den der Präsi- dent dieses Hauses an den Militärfiskus weiterbefördern möchte. Durch das Grundstück Königgräßer Straße 121, wo der „Hofjäger“ eingerichtet is, der si, wie 1ch gehort habe, auch in Abgeord- netentreisen einer gewissen Beliebtheit erfreut (Widerspruch), ja ge- wiß —, entsteht eine starke Rauchentwicklung infolge der niederen Bauart des Hauses. Auch da müßte Abhilfe geschaffen werden. Die beiden Haltestellen der Straßenbahn in der Leipziger Straße vor dem Hause liegen Jo eng zusammen, daß es mit Gefahr verbunden ist, den Damm zu überschreiten. Jch möchte dem Polizeipräsidenten zur wägung geben, ob nmcht die beiden Haltestellen etwas auseinander- gezogen werden könnten. Das Essen im Hause genügt den Ansprüchen im Durchschnitt vollkommen. Der Trinkzwang bezieht sich ja nur auf die Diners, das Diner kostet ohne Getränke statt 150 M 1,70 M, das tonnte geändert werden. Allerdings ist der Restaurateur in einer \{wierigen Lage, vielleicht Éönnten die Herren, die essen wollen, fich vorher in eine Liste cinzeihnen. Der Vervielfältigung von Ge- maälden, die hier im Hauje hängen, stehe ich auch freundlih gegen- über, selbs in der Form von Ansichtspostkarten. Wir hatten solche früher {hon von einzelnen Teilen des Hauses, die allerdings in der Ausführung viel zu wünschen übrig ließen. Was das Bild unseres Präsidenten anbetrifft wir haben ihn vor einiger Zeit im Festsaal des Hauses aufgehängt —, so feblt ihm das Charakteristishe, die eigentümlihe Schroffheit, die von seiten des Abg. Hoffmann ihm bös ausgelegt worden ist. Er macht auf dem Bilde den Eindruck eines wohlwollenden älteren Herrn, es fehlt auch der uns so carakteristisce Ausdruck der Schalkhaftigkeit, die binter der jovialen Grobheit ver- borgen war. Vielleicht gewährt Herr von Krocher dem Maler noch einige Sißungen, damit das nahgeholt wird. Für alle Abgeordneten können natürlih die NReichstagsdrucksachen nicht zur Verfügung ge- stellt werden, es wäre aber gut, wenn dem Abgeordnetenhause etwa 40 Exemplare überwiesen würden. Wenn ein Abgeordneter seine Freifahrkarte einmal zu Hause gelassen hat, so ist das auch nicht so \{limm; wenn er nicht genügend Geld bei sich hat, so pumpt ihm auf seine Erkennungskarte jeder Gisenbahnbeamte das Fahrgeld.

Abg. von Brandenstein (kons.): Ich kann auf die vorher- gegangenen Reden nicht eingehen, weil ih während derselben nicht hier war; soweit eine Antwort nötig ist, wird ein anderer meiner Freunde antworten. Jh will nur meinen Antrag begründen. Das Haus hat wiederholt diefen Wunsch ausgesprochen, der in meinem Antrag niedergelegt ist; der Minister hat zwar früber ein Bedürfnis nicht anerkennen fönnen, aber eine Prüfung zugesagt, wenn das Haus an diesem Wunsche festhalte. Es wird vor allen Dingen nötig sein, einen schriftlichen Kommissionsbericht über diese Frage festzustellen, und dies zu veranlassen, ist der Zweck meines Antrags; wir beantragen, für diesen Zweck, da alle anderen Kommissionen schon genügend beschäftigt sind, eine besondere Kommission einzuseßen. Es fragte sch 3. B,, wer als Besißer dieses Hauses den Fiskus zu vertreten habe; das Gericht hat in einem Falle entschieden, daß der Minister des Innern dafür zuständig sei. Das ist naß Lage der geltenden Gesetzgebung allerdings richtig, aber es fönnté doch nochmals die Frage der Stellung des Präsidenten zugleih mit der Frage der Stellung der Beamten von Grund aus geprüft werden. :

Abg. von dem Hagen (Zentr.): Wir stimmen dem Antrage von Brandenstein zu. Der Etat wird diesmal nicht, wie der Abg. Pachnike meint, erst kurz vor Pfingsten, sondern {on Endè April fertiggestellt werden können. Der Restaurateur bat besondere Schwierigkeiten bei der wechselnden Anwesenheit der Mitglieder, fi auf das Mittagessen einzurichten. Das würde ihm erleichtert werden, wenn der größere Teil der Mitglieder auch im Hause essen würde.

Abg. Win ckler (konf.): Nach allen diesen Reden scheint es, als fehle es überhaupt an der Fürsorge für dieses Haus, aber das ist nicht rihtig. Gegen die Diener wid dur(aus nicht mit fol@&er Vârte verfahren; zwischen dem Endtage der Session und der Ent- lassung der Diener bleibt immer eine gewisse Frist, außerdem ist man

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bemüht, wenigstens die älteren Diener auch während der fessionsfreien Zeit anderweitig zu beschäftigen: nur ein kleiner Teil bleibt übrig, der beshästigungslos wird. Wir können nur dankbar anerkennen, daß für den größeren Teil gesorgt wird, und fönnen das- selbe auch nur für die Zukunst wünschen. Es wird immer ein Vergleih zwischen diesem Haus und dem Neichstag gezogen ; wir find aber das ältere Parlament und brauchen doch nicht alles nachzumachen, wie es im Reichstag ist. Ich habe niemals das Gefühl gehabt, mih im Reichstag wohler zu fühlen als hier, eher das Gegenteil. Die Abgeordneten bekommen {hon eine Fülle von Drucksachen, ih bezweifle, ob sie alle gelesen werden. Es wurde {hon einmal vor Jahren gewünscht, daß uns bier dic Neichstags- drucksachen zur Verfügung gestellt werden; damals beschäftigte sich gerade im Reichstag eine freie Kommission mit der Frage, wie die Druckfachen eingeschränkt werden könnten. Welcher Abgeordnete bat denn die Näumlicbkeiten dafür, daß er cine solche große Bibliothek jahraus jahretn aufstapeln fönnte, z. B. die umfangreihen Berichte der Gewerbeinspektoren? Wir werden mit Drucksachen so überschwemmt, daß eber eine Beschränkung als eine weitere Ausdehnung nötig ift. Wir könnten vielmehr dem unbekannten Erfinder des Papierkorbs für seine Erfindung danken. Für den hohenzollerns{chen Abgeordneten, der die Fahrt durch Württemberg nah Hohenzollern bezahlen muß, könnte die Regierung eine Vereinbarung mit der württembergischen NRe- gierung treffen, aber dem Wunsche einer weiteren Ausdehnung der Frei- fahrfarten fann ich mich im Namen meiner Freunde nicht anschließen. Unser Etat kann niht immer rechtzeitig fertiggestellt werden, aber einer Verlängerung der Session mit Rücksicht auf die Sozial- demokraten kann ih nicht das Wort reden, nachdem der 09. Hoff mann erflärt hat, daß setne Freunde den Beruf in ih fühlten, alles das nachzuholen, was fie in 60 Jahren nicht hätten sagen können. Wir sollten hier lieber die Zeit möglichst ausnuten und multum, nicht multa liefern.

Abg. Dr. Arendt (freikons.): Die Einrihtung im Reichstage mit der Freifahrkarte und den Anwesenheitsgeldern hat sich ebenfogut bewährt, wie sich in diesem Hause die Freifahrkarte in Verbindung mit den Diäten s{lecht bewährt bat. Wir werden auf die Dauer mit unferer jeßigen Diätenordnnng nit auskommen können. Es bieß seinerzeit hei der Beratung der Anwesenheitëêgelder im Reichstag, daß es unwürdig set, daß sih die Neichstagsmitglieder in dieser Weise kon- trollieren laffen, aber es fommt doch \ch{licßlich. auf die Form der Kontrolle an, und die Sache ist doch im Neichstag immer noch besser als in diefem Hause. Hier hat sich ein Schwänzsystem durch die Freifahrkarten herausgebildet. (Widerspruh und Zuruf.) Nein, der Besuch dieses Hauses hat sich nicht gebessert, sondern verschlechtert. Die Art unserer Freifahrkarten. is ganz bureaukratisch geordnet. Cs ist auch eine unzulässige Beschränkung, daß die Karten nur zwischen Berlin und dem Wohnort des Abgeordneten gelten. Viele Abgeordnete wohnen gar nicht in ibrem Wahlkreise und können also die Karte niht zur Fahrt in ihren Wahlkreis benußen, und die Berührung mit dem Wahlkreise ist doch gerade die Hauptsache. Der Abgeordnete foll sich über das ganze Land informieren; ist denn das ein solher Schade, wenn er es tun will, daß man so eng: berzig sein muß, thm die Fieifahrt vorzuenthalten? Es muß aud verlangt werden, daß die Frei'ahrkarte nicht nur für die einzelne Session ausgestellt wird, sondern für die ganze Legislaturperiode ; es fommt nmcht darauf an, daß einer einmal ein paar tausend Kilometer fährt, sondern darauf, daß wir immerfort Gelegenheit haben, nah Westen oder Osten zu fahren, wie es nötig ist. Der Reichstag hat bei seiner Diätenordnung nicht genügend Rückficht auf das Abgeordnetenhaus genommen, es haben fh große Schwierig- keiten herausgestellt. W-r zugleih im Neichstag und in diesem Hause sißt, bekomnit hier. Diäten, wenn er im Reichstage s{chwänzt; der preußtshe Staat muß es also bezahlen, wenn einmal ein Reichs- tagsmitglied vergißt, fih dort in die Präsenzliste einzutragen. Diese Art der Nückversicherung ist doch unangebraht. Die Fretfahrkarte halte ih für nötig, aber die notwendige Konsequenz find die Anwesen- heitsgelder statt der Diäten. Es ist besser, daß man si kontrollieren laßt, als daß man Diâten nimmt für die Tage, die man in der Heimat ift. Der Neichstag ist durch die Anwesenhbeitsgelter immer beschlußfähig, während er früher vielfach nicht arbeitsfähig war. Wir müssen unsere Freifahrt- und die Diätenordnung der Ordnung im Reiche anschließen, wenn wir auch niht genau dieselbe Form wählen.

Abg. Hoffmann (Soz.): Dem, was der Abg. Arendt be- züglich der Freifahrkarte sagte, timme ich vollkommen zu; es fommt ja sehr selten vor, daß wir übercinstimmen. Gegen Ansichtékarten von den fünftlerishen Bildern aus dem Hause habe ih nichts ein- zuwenden, zumal dann das Volk einmal auch gute Ansichten von dem Hause bekommt. Das Diätensystem vom Reichstag dürfen wir auf keinen Fall auf den Landtag übertragen; wenn da jemand wegen menschlicher Bedürfnisse einmal bei der namentlihen Abstimmung niht im Saal ist, werden ihm nach diesem System die Diäten ab- gezogen. Der Abg. Wagner meint, mit 15 4 könne man qaus- tommen, wenn man fein Schlemmer ist. Aber es gibt do auch Abgeordnete, die niht vermögend sind und die nicht für ihre Person allein zu sorgen haben, sondern auch für ihre Familie forgen müffen.

Abg. Bus chch (Zentr.): Mich wundert, daß kein Vertreter der Regierung zu der Erweiterung der Freifahrkarten Stellung genommen hat. Jch bin einigermaßen enttäui\cht darüber, ich würde mi fehr freuen, wenn ein Vertreter der Regierung das Wort ergreifen würde. (Untersftaatsfekretär Holt meldet sich beim Präsidenten zum Wort.) Ich flehe für meine Person auf dem Standpunkt des Abg. Arendt und würde mich freuen, wenn die Frage im Sirne des Abg. Arendt geregelt würde. Aber wir werden wohl na der Nede des Vertreters der Negterung zu der Ueberzeugung kommen, daß wir nicht weiter kommen, wenn wir nicht selbst einen Beschluß fassen.

Unterstaatssekretär Holy: Vie Regierung sieht die gegen- wärtige Regelung des Freikartenwesens niht als einen Abs{luß an, der niemals verbessert werden könnte, fie steht aber anderseits auf dem Standpunkt, daß man, da diese Angelegenheit erst momentan dur Beschluß der vorigen Session geregelt ist, erst abwarten muß, wie sich die Regelung der #Freilarten bewährt bat, und ob weitere Aenderungen im Sinne der Vorschläge der leßten Redner not- wendig sind. Die Staatsregierung hat daber niht die Absicht, gegenwärtig die Initiative für eine anderweitige Regelung zu ergreifen.

Abg. Dr. Pachnicke (forts{r. Volksp.): Ich weiß niht, was für Erfahrungen da zu machen find. Ob das jevige System sch bewährt hat, weiß man nah einer Session genau so wie nah dret oder vier.

Abg. Hoffmann (Soz.): Ih möchte nur fragen, ob es richtig ift, daß jemand, der eine Freifahrkarte nach Siegen hat, nicht in Bitterfeld aussteigen darf, um sich die dortige Schnellbahn anzusehen.

Unterstaatssekretär Holt: Die Beantwortung dieser Frage gehört nicht in mein Ressort, das ist Sache des Ministers der öffent- lichen Arbeiten.

Abg. Macco (nl.): Darüber, daß der vom Abg. Hoffmann angeführte Fall in der Budg: tkommission behandelt worden ist, habe ih dem Abg. Hoffmann nichts mitgeteilt.

Abg. Hoffmann (Soz.): Mir genügt es, daß der Fall fch ereignet hat, und daß er wabr ist. Daß die Regierung aber keine Stellung dazu nimmt, ist äußerst bezeichnend.

Der Antrag Brandenstein wird darauf angenommen, damik ist die Resolution der Kommission erledigt.

Der Etat des Abgeordnetenhauses wird bewilligt.