1912 / 95 p. 6 (Deutscher Reichsanzeiger, Fri, 19 Apr 1912 18:00:01 GMT) scan diff

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gegangen, fie haben vom Diebstahl gelebt und haben in feiner Weise aus Not gehandelt. Sie würden auch nach der neuen Novelle wegen einfachen Diebstahls bestraft worden fein und nicht auf Grund der milderen Vorschrift über Notdtebstahl, welche die Novelle vorsieht.

Nun die Strafprozeßordnung! Der Herr Abg. Stadthagen hat die Frage, ob die Strafprozeßordnung wieder einzubringen wäre, verquickt mit einer ganzen Anzahl von Einzelfällen, und ih fühle mi doch verpflichtet, wenigstens auf einige dieser Fälle einzugehen und einige seiner Angaben richtig zu stellen.

Der Herr Abg. Stadthagen hat behauptet, daß in dem

sogenannten Fall Herrmann die Staatsanwaltschaft erst vor- gegangen sei, nachd:m die Verteidigung darauf in den Moabiter Prozessen gedrungen hätte, also erst im Februar 1911. Dem muß ih, obwohl die Sahe im preußischen Abgeordnetenhause erörtert worden ist, auch an dieser Stelle entgegentreten. Im Falle Herrmann is von vornherein alles geshehen, um zu ermitteln, von wem Herrmann den tödlihen Schlag erhalten hat. Die Untersuhung is keineswegs erst mehrere Monate nach dem Vorfall eingeleitet worden, sie hat vielmehr unmittelbar nah dem Ableben des Herrmann ihren Anfang genommen. Die Leiche ist obduziert worden; alle Zeugen, die sih damals haben er- mitteln lassen, sind vernommen worden, insbesondere auch die Witwe des Verstorbenen. Die Behauptung, die erste Vernehmung der Witwe sei erst im Februar erfolgt, also fünf Monate nah dem Tode ihres Mannes, is unrichtig; die Frau ist bereits am 10. Oktober 1910 durch die Polizei vernommen worden. (Hört! hört! rets.) Die Ermittelungen sind ohne jedes Ergebnis verlaufen. Unmittelbar nah dem großen Moabiter Prozeß, Ende Januar 1911, wurden fie wieder aufgenommen, da in diesem Prozeß einige Personen Bekundungen gemacht hatten, aus denen zu entnehmen war, daß es doch vielleicht noch mögli sein würde, die Täter zu ermitteln. Der Dezernert der Staatsanwaltschaft hat persönlih Nachforschungen angestellt und die einleitenden Vernehmungen vorgenommen. Im Laufe der Unter- suchungen sind, um die Sache aufzuklären, 27 Zivilpersonen und 230 Schußleute und Beamte, zumelst durch das Gericht, vernommen worden. Es ist eingehend und sorgfältig nah allen Beamten der Sqhugßmannschaft geforscht worden, die in der Nähe des Tatortes tätig gewesen sind. Ueber 200 Schußleute sind vor Gericht den in Betracht kommenden Zivilpersonen gegenübergestellt worden, ohne daß ein hinreichender Verdacht gegen einen der Beamten fich ergeben bätte. Das Gericht hat die von ihm vernommenen Zivilzeugen sowte mehrere Schutleute vereidigt. Die UntersuGung ist mit allem Nachdruck und aller Gründlichkeit geführt worden. Gs ist natürlich lebhaft zu bedauern, daß die Personen, die gegen den, wie ih heraus- gestellt hat, wohl bei dem ganzen Auflauf nicht beteiligten Mann den tödlichhen Schlag geführt haben seien es nun Beamte oder Nicht- beamte nit haben ermittelt werden können. Aber es liegt doch hier genau so, wie in unendlich vielen anderen Fällen. Wenn aus einer Masse von Leuten Steine geworfen werden und einen Beamten ver- legen oder tôten, so ist der Täter auch oft nicht zu ermitteln. Also nur niht immer nußlose und unbegründete Anklagen gegen die Organe der Rechtspflege, die ihre Pflichten in jeder Weise er- Füllt haben.

Dann hat der Herr Abg. Stadthagen den Fall eines Gewerk- \chaftssekretär Schabel erwähnt. Er hat behauptet, dieser set ipsissima verba verhaftet worden, weil er Sozialdemokrat sei. Das glaubt doch wohl Herr Stadthagen selbst nit, daß das die Begründung des Haftbeschlusses gewesen sei! Aber fo mußte man seine gestrigen Worte auffassen. Gs wird doch wohl zur Zeit der Verhaftung der begründete und dringende Verdacht einer strafbaren Handlung gegen Schabel vorgelegen haben ein Verdacht, der ja viel- leiht später wieder ausgeräumt worden sein mag. Daß das mit der Stellung Schabels als Gewerkschaftssekretär gar nichts zu tun hat, ift do selbstverständlich!

Dann die Prozesse im Ruhrgebiet! Da hat der Herr Abg. Stadthagen wirklich Dinge behauptet, die fo unerhört waren, daß ih ihm kaum nachdrüdlich genug entgegentreten kann. Gr hat behauptet, das Gerichtsverfassungsgesey und die Strafprozeßordnung seien für diese Fälle außer Kraft geseßt, und es seten Ausnahme- gerihte eingeseßt worden, obwohl doch Au3nahmegerihte nah vem Gerichtsverfassungsgeseß unstatthaft seien. Gewiß find Ausnahmegerichte unstaithaft. Wie lag aber die Sache? Leider is auch bei diesen Streikunruhen im Nuhrrevier eine Menge strafbarer Handlungen begangen worden, und diese mußten nah dem bei uns herrschenden Legalitätsprinz!|p verfolgt werden. Es gab also plöglich gegenüber den sonst im Ruhrrevier Hestehenden Verhältnissen eine große Anzahl von Straffachen mehr, die erledigt werden mußten. Was sollte geschehen ? Zur Erledigung dieser Dinge mußten Hilfsrichter bei den betreffenden Gerichten ein- gezogen werden. Seitens der Justizverwaltung wurden also die be-

treffenden Hilfskräste zur Verfügung gestellt. Der Herr Abg. Stadt-

hagen weiß als Jurist, daß, wenn bei einem Gericht ein neuer Richter oder eine Reihe neuer Richter eintritt, das Präsidium zusammen- treten und die neuen Richter verteilen muß; entweder weist es sie den alten Kammern als Hilfsrihter zu und ver- stärkt dadurch die Mitglieder der Kammern oder es werden neue Kammern gebildet. Naturgemäß müssen dann die Geschäfte auch anders verteilt werden. Nichts anderes ist im Ruhrrevier geschehen. Es find Hilfsrichter zugeteilt worden, die Geschäfte sind anders ver- tellt worden (Zuruf von den Sozialdemokraten: Aber wie!) und find nun zum Teil von neuen Strafkammern bearbeitet worden. (Zurufe von den Sozialdemokraten.) Das nennt man doch nicht Aus- nahmegerihte. (Zuruf.) Das wissen Sie ganz gut, Herr Abg. Stadthagen. Ausnahmegerichte find ganz etwas anderes! (Wiederholte Zurufe von den Sozialdemokraten.) Oas ist Präsidialsache, welche Sachen: einer Kammer zugewiesen werden, Herr Abg. Stadthagen! i

Die Verteilung erfolgt bei den einzelnen Gerichten in völlig ver- schiedener Weise. Als ich vor etwa 20 Jahren einmal nah Beuthen fim, wurden bei der einen Strafkammer Körperverlegungen, bei einer anderen nur Diebstähle abgeurteilt : die Verteilung der Sachen war nxch Matecien erfolgt. Hier in Berlin ist es anders, hier werden die Strassachen nah dem Anfangsbuchstaben der Namen der Angeklagten unter die Strafkammern verteilt. Darin hat das Präsidium voll- ständig freie Hand; weder der Herr Justizminister noch ein Dber- landesgerichtspräsident sind in der Lage, auf die Beschlüsse des Präsidiums einzuwirken und Sie würden sehr dagegen opponieren,

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Also von Ausnahme- (Doch! bei den

wenn eine solhe Einwirkung versuht würde. gerihten kann natürlich gar niht die Rede sein. Sozialdemokraten.)

Dann, meine Herren, is über ungerechifertigte Ver haftungen geklagt worden. Ein Nachweis dafür, daß irgendetine Verhaftung ungerehtfertigt erfolgt wäre, ist nicht erbracht. Daß unsere Gerichte im allgemeinen sehr vorsichtig in der Vornahme von Verhaftungen sind, is dem Herrn Abg. Stadthagen aus den Kom- missionsberatungen über die Strafprozeßentwürfe bekannt. Daraus aber, daß die Gerichte da, wo sie Fluchtverdaht anuehmen, auch zur Verhaftung schreiten, kann man den Gerichten auch dies ist Teine Justizverwaltungssahe doch gewiß keinen Vorwurf machen. Daß jemand verhaftet oder als fluchtverdächtig erklärt worden wäre, ledig- li weil er ein Streikender wäre, ergibt sicherlich kein einziger Haft- befehl. (Zurufe von den Sozialdemokraten.)

Dann, meine Herren, zum § 216 der Strafprozeßordnung ! Darin steht ih will den Wortlaut vorlesen :

Zwischen der Zustellung der Ladung und dem Tage der Haupt- verhandlung muß eine Frist von mindestens einer Woche liegen. Gewiß, meine Herren, „muß“! Herr Abg. Stadthagen hat nur vergessen, den zweiten Absay zu verlesen. (Sehr richtig! und Heiter-

keits rechts.) Da steht:

Ft diese Frist nicht eingehalten worden, so kann der An- geklagte die Aussezung der Verhandlung verlangen, solange mit der Verlesung des Beschlusses über die Gröffnung des Hauptverfahrens nit begonnen ist.

Also hier ist gerade vorgesehen, daß diese Frist unter Umständen fürzer bemessen wird, troß des „muß“ im ersten Absay. Aber nun bemängelt Herr Abg. Stadthagen wetter, daß man die Angeklagten sogar einen Revers habe unterzeichnen lassen, worin sie auf die Frist verzichteten. Das ist im Geseß zwar nicht ausdrücklih vor- gesehen, aber die Kommentatoren der Strafprozeßordnung Herr Stadthagen kennt zweifellos den Kommentar von LWwe sehr genau erklären übereinstimmend einen Verzicht auf diese Frist für durhaus zulässig. (Sehr richtig !) Gerade mit Rücksiht auf diese Auslegung des § 216 hatte übrigens die Neichstagskommission in den Entwurf der neuen Strafprozeß- ordnung eine ausdrücklihe Bestimmung aufgenommen, wonach der Angeklagte auf diese einwöchhige Frist verzichten kann.

Was die Strafprozeßreform betrifft, so hat die Reichsleitung nicht die Absicht, den Entwurf der Strafprozeßordnung wieder vorzu- legen. Die Herren, die das wünschten, werden aus den Ausführungen anderer Herren entnommen haben, daß eine Vorlegung des Entwurfs in der Gestalt, wie er in der vorigen Periode eingebraht worden ist, aussihtslos wäre. Er könnte nur in einer neuen, völlig veränderten Form vorgelegt werden, nicht aber etwa so, wie er in der Neichstags- kommission gestaltet worden ist. Daß die Straßprozeßordnung im vorigen Jahre nicht zustande gekommen ist, bedaure ih sehr. Gine große Zahl der Herren weiß, daß ih bis zum leßten Ende bemüht war, das Gese noh zur Verabschiedung zu bringen. Im wesentlichen ist das Neformwerk daran gescheitert ih erinnere an den Beschluß des Seniorenkonvents, die Sache niht mehr auf die Tageéordnung zu seßen —, daß die meisten Parteien die Empfindung hatten, wir könnten in der damals noch zur Verfügung stehenden kurzen Zeit ein so großes Werk nicht zustande bringen, wenn wir uns niht vonvorn- herein über alle wesentlihen Punkte einig wären. Allerdings waren die streitigen Punkte, wie z. B. die Frage der Zuziehung von Laien in der Berufungsinstanz, des Umfangs der Beweisaufnahme nah 8 232 des Gntwurfs, die Frage der Grweiterung der cImmunität der Parlamentsmitglieder, von hoher Bedeutung.

Dem Gedanken, daß die Strafprozeßreform hinter die Straf- rechtsreform zurückgestellt werden müßte, hin ih damals entgegen- getreten. Die Strafprozeßreform, die wir im vorigen Neichslag vor- nehmen wollten, reite in ihren Anfängen bis in das Jahr 1883 zurück, und da war natürli der Wunsch berechtigt, zunächst diese Reform zu Ende zu führen. Daß so viele Herren, hauptsächlich Ver- treter der Wissenschaft, sh im Laufe des vorigen und des vorvorigen Jahres dahin äußerten: die Strafprozeßreform müsse im Hinblick auf den Stand der Vorarbeiten für das neue Strafgeseßbuch zurückgestellt werden, war damals nicht richtig. Jeßt aber liegt die Sache anders. Jeßt müßte erst ein neuer Entwurf aufgestellt, von Anbeginn neu ausgearbeitet werden. Nunmehr hat der Standpunkt, daß erst die Strafrehtsreform und dann die Strafprozeßreform vorgenommen werden müsse, Berechtigung gewonnen. Jeßt eine neue . Straf- prozeßordnung auszuarbeiten, ehe man die Gestaltung des neuen Strafgeseßbuchs übersehen kann, wäre unzweckmäßig. Alle Herren, die in gesetzgeberishen Arbeiten erfahren sind, werden mir darin zustimmen. Diese beiden Dinge gleichzeitig auszuarbeiten und gleihzeitig dem Hause vorzulegen, ist nicht mögl:ch. Denken Ste, meine Herren, an die Zivilprozeßordnung, an das bürgerliche Geseßz- buch! Derartige Dinge können nur nacheinander erledigt werden.

Es bleibt also nur übrig, sich zu fragen, können wir einige Materien auf \trafprozessualem Gebiete vorwegnehmen? In dieser Beziehung ist heute hingewiesen worden auf das Jugendrecht sowie auf die Frage der Ginführung von Tagegeldern für Schöffen und Geschworene. Zu der leßten Frage haben die verbündeten Regierungen bisher keine Stellung genommen. äIch glaube aber nah den Vorgängen in den Landtagen der Einzelstaaten annehmen zu können, daß die Gelegenheit dazu \sich demnächst ergeben wird.

Ueber die Vorwegnahme des Jugendrehts scheinen die Auf- fafsungen auseinander zu gehen. Der Herr Abg. Dove und der Herr Abg. van Calker haben sih dafür, der Herr Abg. Belzer dagegen aus- gesprochen. Ich glaube kaum, daß wir, wenn das Strafrecht noch eine längere Rethe von Jahren auf sih warten läßt, mit der Regelung des Jugendstrafverfahrens so lange warten können. Den Herren wird bekannt sein, daß in ten meisten deutshen Großstädten durch die &Fustizverwaltung zugunsten der jugendlichen Angeklagten Einrichtungen getroffen worden sind, die bisher praeter legem laufen. Diese Be- stimmung zu geseßlichen Vorschriften zu erheben, würde mir an- gezeigt erscheinen. Hoffentlih kommen wir in Laufe der Zeit zur Vorlegung eines Entwurfs, der {ih allerdings auf das Verfahren gegen Jugendliche beshränken und nicht auf Fragen des materiellen Strafrehts erstrecken dürfte; Teile aus dem materiellen Strafrehte vorwegzunehmen, halte ich nicht für ratsam.

Scließlih möhte ih noch auf eine Frage eingehen, die vom Herrn Abg. Stadthagen gestern und heute vom Herrn Abg. Dove berührt worden ist, auf die landesgesebßlihe Cinführung eines

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Arbeitszwanges in Preußeu. Der Herr Abg. Dove hat mig gebeten, meinen Einfluß dahin geltend zu mahen und zwar möglichst \{leunig —, daß der in Preußen dem Landtage vorliegende Gesetz entwurf niht verabschiedet werde, weil dieser Entwurf nach - feiner Meinung mit den reich8geseßlihen Bestimmungen in Widerspru steht. Die Instanzen * des Reichs sind {on mehrfach in der Lage gewesen, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Die Netchsjustiz verwaltung ist stets davon ausgegangen, daß gegenüber den reis. geseßlihen Vorschriften die zwangsweise Unterbringung der Landes, gesezgebung zwar insoweit entzogen ist, als ihre Anwendung alz Strafe, als Zufügung eines Uebels zum Zweck der Sühne gesetz, widrigen Verhaltens angesehen wird. Andererseits unterliegt es na der Auffassung der Reichsjustizverwaltung keinem Zweifel, daß die hier in Betraht kommenden reihsre#tlihen Vorschriften in den 88 361 und 362 des Reichs\trafgesepbuchs die Landesgesey- gebung nicht hindern, die Verwaltung zu ermächtigen, durch Anwendung von Zwangsmaßregeln auch der hier in Nede stehenden Art auf die Erfüllung einer geseßlichen Unterhaltspflicht hinzuwirken, soweit sie dur das öffentliche Interesse geboten wird. Die für Preußen vor: geschlagenen Vorschriften entsprehen im wesentlihen den Geseßen, wie sie auch in einer Reihe anderer Bundesstaaten bestehen und in Preußen selbst bis zur Einführung des NReichsstrafgeseßbuchs bestanden haben. Daß es fi kei diesem Gesege nicht um die Verhängung von Strafen, nicht um ein Uebergreifen der durch das Strafgeseßbuch be- gründeten und vorgeschriebenen Zuständigkeit des Reichs handelt, ist {hon bei der Beratung des Strafgeseßbuchs im Reichstage aus dem Hause heraus wie von den verbündeten Negierungen ausdrücklich an- erkannt worden. Das gleiche ist wiederholt der Fall gewesen bei den Verhandlungen "über die Geseßentwürfe, die in der Folgezeit zum Zweckte der Abänderung des Reich3geseßes über den Unterstüßzungs- wohnsiß und zur Ergänzung der {hon erwähnten Strafvorschriften dem Reichstage vorgelegt worden sind. In diesem Sinne haben si nicht nur Vertreter einzelner Parteien ausgesprochen, vielmehr enthält der Kommissionsberiht Drucksache Nr. 272 für 1892/1893 die Konstatierung des vollen Einverständnisses der Kommission mit den Vertretern der verbündeten Regierungen darüber, daß landes geseßlihe Vorschriften, welche der polizeilichen Zwangs8gewalt Mittel gegen pflihtvergessene Familienväter an die Hand geben, neben dem Strafgesezbuh fortbestehen. Und in der Sizung des Reichstags vom 17. März 1893 war es ein Redner der äußersten Linken, der den damals vorgeschlagenen Verschärfungen der Bestimmungen des Straf- gesezbuch3 mit dem Hinweis auf die in Frage stehenden Gesetze anderer Bundesstaaten begegnete und auf die Möglichkeit hinwies, durch Einführung einer entsprehenden landesgescßlichen Regelung auch für Preußen die Abhilfe zu hafen. Die jegt in Preußen den geseßgebenden Körperschasten unterbreiteten Vorschriften enthalten nichts der Entrourf ist auch im Neichsjustizamt geprüft worden —, was Anlaß geben könnte, die Zuständigkeit des Reiches anders zu beurteilen, als dies bei den früheren Gelegenheiten übereinstimmend von den verbündeten Regierungen und dem Reichstage geschehen ft,

Abg. Holt chke (dkons.): Ich begrüße es mit großer Freude, daß das Luft\schiffreht endlih geregelt werden foll. Ueber einen Gesetzentwurf wegen genügender Gnt\chädigung für Zeugen und Sah verständige s{chweben, wie der Staatssekretär ausführte, Er- örterungen. Es wäre sehr erwünscht, wenn ‘dieser Entwurf bald fertiggestellt würde. Eine Kommission beschäftigt fich gegenwärtig mit einem Entwurf zu einem Strafgesezbuh, der wahrscheinlich im Fahre 1917 dem Reichstage vorgelegt werden wird. Zu den Kom- missionen sollen Sachverständige zugezogen werden. Ich möchte nun den Staatssekretär bitten, daß außer den erwähnten auh nod aus anderen Berufsständen derartige Fachleute herangezogen werden mödhten. Daß die Regierung die Strafprozeßordnung nicht mehr vorlegen will, halte ih für sehr rihtig. Denn bei der Beratung sind zwishen den einzelnen Parteien und zwischen dem Reichstage und der Regierung derartig shwerwiegende Differenzen hervorgetreten, daß es mir unmöglich scheint, eine derartige Projzeß- ordnung überhaupt durhzuführen. Die Einbringung der Ra novelle, die ja von allen Parteien gewünscht wird, Kali ih für sehr geboten, und zwar mit all denjenigen Verbesserungen, die der Entwur] enthält. Ich denke da an das Jugendreht und an die Einführung des beshleunigten Verfahrens. Damit ist niht ausgeschlossen, daß aud noch andere wichtige Gegenstände mit hineingearbeltet werden. Id halte eine folhe Novellengeseßgebung für vollständig rihtig, zumal ja auch andere Länder es tun. Die allgemeinen Grundlagen unseres Rechtes liegen fest. Deshalb kann man ruhig auf dem Wege der Novellengeseßgebun weitergehen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch einen Wdlellen Punkt erwähnen, Man liest in leßter Zeit häufig in den Zeitungen von Zusammen- stößen zwischen dem Vorfißenden und der Verteidiaung, befonders wenn Anträge der Verteidiger abgelehnt werden. Ja, es ist }ogat vorgekommen, daß tnfolgedessen Verteidiger erklärt haben, sie legen ibr Amt nieder. Das sind Zustände, die doch geeignet ind, das Ansehen der Justiz herabzuseßen. Ich bitte darum den Staats\ekretär, ob er nicht dahin wirken möchte, daß in der Zukunft solhen Vorkommnissen vorgebeugt wird. M dieser Beziehung freut es mich, Bezug nehmen zu können auf eint Anweisung der Berliner Anwaltskammer, die sih gegen die Neklame- sucht mancher Rechtsanwalte wendet. Dann möchte ich fragen, ob ih das Geseß über die Gntlastung des Neichsgerichts bewährt hat. Wir sind ja keine Freunde von unnüßer Gesetzgebung. (s find aber in leyter Zeit Nachrichten gekommen über vermehrte Tat!'g° feit der Spione, sowohl bei uns wie im Auélande sind deshalb 1 leßter Zeit viele Verurteilungen erfolgt. Man muß nun den Ein- druck haben, daß das Ausland die Spione strenger bestraft als wir. Es fragt fich, ob unser gegenwärtiges Gefeß ausreicht. Sollte ein NVerschärfung der Strafen nach unserem Gese nicht möglich sein, 10 muß in dieser Beziehung ein dementsprechendes geschaffen Wee Für die Resolution, die Reisekosten und Tagegelder für Schöffen un Geschworene vorsieht, werden wir eintreten. Was nun die Resolution meiner Partei anlangt, so ist allgemein anerkannt, daß die Schm und Schundliteratur die größte Gefahr be)onders für die Jugend \ deutet. Die Gefahren, die für unser Volksleben hier vorhanden i sind außerordentlih groß. Hier ist nötig, daß die Ge]eßgt Li eingreift. In diesem Punkte können alle Parteien zufammenlte Die Angriffe des Abg. Stadthagen auf die Gerichte waren v unerhörten Schärfe. Der Staatssekretär hat sie ja {on enn entkräftet, aber ih muß doch noch auf einen Punkt eingehen. U der Abg. Stadthagen den Gerichten vorgeworfen hat, daß sie Lee oder unbewußt die Arbeiter s{härfer bestrafen, fo muß gerade Hter Vorwurf auf das entschiedenste zurückzewiefen werden. nser H dd stand ist dod aus dem Mittelstande unseres deutschen Volkes het 4 gegangen. Man wird unter den Nichtern selten Leute e dem Adel, dem Großgrundbesit, der Großindustrie oder e stande finanz angehören. Wenn nun die Richter aus dem Mi hiciter bervorgeben, so find sie auch am besten in der Lage, mit den S ihnen der Bevölkerung Fühlung zu nehmen, die über oder unter 4 j stehen. Ich kann nur aussprechen, daß wir volles Bertraute

unserer Nechtsprehung haben.

(Schluß in der Zweiten Beilage.)

Zweite Beilage

zum Deutschen Neichsanzeiger und Königlih Preußischen Staatsanzeiger.

Berlin, Freitag, den 19. April

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(Schluß aus der Ersten Beilage.) Abg. Laczewsk i (Pole): Leider müssen wir uns auch in diesem Jahre über die Nechtsprehung gegcnüber den Polen beschweren. Œs sind die Gerichte angerufen worden gegen die Be! öffentlichung von Bildern, die angebli den öffentlichen Frieden gefährden sollen, aber selbst die russische Zensur unbeanstandet passiert haben. Jn einem Falle wurde ein Vater’ während des Schulstreiks wegen Wider- standes gegen die Staatsgewalt verurteilt, weil er sich weigerte, etn zu Bett liegendes Kind zur Schule holen zu lassen. Bei den veutschen Richtern besteht gegen uns Polen eine gewisse politische Befangenheit, wie die Auslegung des Vereinsgeseßes beweist. Auf Grund dieses Geseßes sid Hunderte und aber Hunderte von Prozessen gegen uns geführt worden. Die Gerichte haben sich dabei in Abhängigkcit \egen lassen von den Verwaltungébehörden, vom Landrat. (Der Redner beruft sich zum Beweise namentlich auf Fälle aus Schweß und Pelplin.) Durch solche Urteile verscherzt man sich das Vertrauen des Voikes; fie sind nur verständlih in Gegenden, wo die Nichkter das Volk nicht verstehen und die Dinace durch die gefärbte Brille einer gewissen Presse ansehen. Cine Aenderung der Strafprozeßordnung ift diingend notwendig durch eine entsprehende Novelle, die dem Laienelement einen größ ren Einfluß auf die Rechtsprechung sichert. Polen und Katholiken werden jeßt geflissentlih bei der Auswahl der Schöffen und Geschworenen aaen : Abg. Mertin (Np.): Der Abg. Stadthagen hat- sih wieder maßlcser Uebertreibungen in bezug auf seine Vorwürfe gegen unseren Nichterstand schuldig gemacht. Alle Jahre bekommen wir {were Bor- würfe gegen die Richter zu hören, die Richter werden entweder als verbrecherisch oder als unfähig hingestellt. Die von dem Abg. Stadt- hagen angeführten Fälle find von uns unkontrollierbar, denn die Presse, auf die er seine Angaben stüßt, ist doch nicht ohne weiteres zuverlässig. Ich kann nur das bestätigen, was der Abg. Holt\chke gesagt hat, daß unsere Richter allein nah Recht und Gerechtigkeit urteilen. Die Fälle aus dem Nuhrgebiet lassen sih ebensowenig nachprüfen. Daß harte Urteile gefällt sind, muß zugegeben werden. Die Richter sind doh auch Menschen, und auch Laienrichter haben scharfe Urteile gefällt. Es ist hier doch immer auch von den Sozialdemokraten eine \chnelle Justiz gewünscht worden. Diese liegt doch auch im Interesse der Angeklagten selbst, und nun beklagen Sie sich über diese schnelle Justiz! Der Abg. Stadthagen sagte, die Leute seien gezwungen worden, einen Nevers zu unterschreiben. Es ift son gesagt worden, daß diese Neverse geseßlich zulässig sind. Mit der Verhaängung der Untersuchungsbaft sollte man allerdings sehr vorsichtig sein, denn wir wissen doch wohl alle, welche feelishen Qualen mit der Haft verbunden sind. Wenn also jemand an der Verkürzung der Fristen interessiert , so ist es der Angeklagte. Es ist geradezu eine Wohltat für thn, wenn thm bei der Eröffnung des Verfahrens gesagt wird: Du kannst auf die Frist verzichten. Solche Fälle kommen sehr oft vor, und nun fommt der Abg. Stadthagen und tut fo, als wäre ein großes Unrecht esd Die fehr interessanten Ausführungen des Abg. Dr. van Calfer batten allerdings mit dem Reichstage und dem Neichsjustizamt nicht viel zu tun; sie waren aber so erfreulich, daß man sich freuen muß, daß ein Professor so etwas Vernünstiges sagen kann. Die fonfervative Resolution findet unseren Beifall, zu threr Begründung ist nah den ausführlichen Darlegungen des Abg. Holtshke nichts mehr hinzuzufügen. Das neue Moment der Kinematographen ist von ganz besonderer Wichtigkeit. Der Kinematograph ist eine glänzende, auch für unterrichtlihe Zwede epohemachende Erfindung; aber die unsägliche geistige Leere der Programme und die obskonen Dar- itellungen fordern zum \chärfsten Widerspruh heraus. Die Polizei jat ja {on manches getan, aber es muß der Sache ganz energi)ch uf den Leib gegangen werden. Die Forderung der Diäten “für Schöffen und Geschworene unterschreiben auch wir. Die Laienrichter brauchen nur gesunden Menschenverstand; sie haben als solche weder mit Bildung, noch mit Besiß etwas zu tun; es steht damit also nicht \0, wie es der Abg. Stadthagen darzustellen beliebt. Mit Recht ist hingewiesen worden auf die außerordentlich große Üeberfüllung, unter der der Anwaltsstand zu leiden hat. Kommt auc nur eine kleine Gr- höhung der Gebühren, so werden sich die Assessoren in Massen auf den Anwaltsstand stürzen, und es wird eine weitere ÜUeberfüllung ein- treten, die keinesweas erwünscht sein fann. Was die kleine Straf- geseßbuchnovelle betrifft, so bin ih erstaunt, daß der Staatssekretär sich die Nosinen aus dem Kuchen so gern herausnehmen lassen will. Be- züglich der Jugendgerichte folgen wir durchaus den Ausführungen, die der Abg. Dr. Belzer gemacht hat. Bei der Besprechung der Wohnungsnot ist als Allheilmittel das Erbbaurecht hingestellt worden. Ich kann diese Auffassung nicht teilen. Die Erhöhung der Zeugen- gebühren haben auch meine Freunde immer angestrebt; sie ist not- wendig, weil das Vergnügen, Zeuge oder Sachverständiger zu sein, mit der Zeit immer geringer geworden ist. Ein Auswuhs unseres Prozeßverfahrens sind und unberechtigtes Mißtrauen in die Bevolke- rung tragen die Sensationsprozesse. Ein Teil der Schuld liegt, wie ih sehr ungern sage, an dem Verhalten gewisser Verteidiger in diesen Prozessen. Nach den Erfahrungen der leßten Prozesse kann ih nie- mand mehr übelnehmen, wenn er von dem Gedanken, die Ordnungs- strafen geaen die Verteidiger in solchen Sensationsprozessen zu be- seitigen, Abstand nimmt. Das Schlimmste sind aber die Auswüchse der Berichterstattung über diese Prozesse. Die Art und Weise, wie solhe Prozesse nicht als ernste Dinge, bei denen es ih um Leben, Ghre und Freiheit des Angeklagten handelt, geschildert werden, sondern als Spektakelstücke, ist geradezu abstoßend. Gewiß bemüht sich die Presse selbst, Wandel zu schaffen, so hat noch jüngst der Verein Ber- liner Presse einen dahingehenden Beschluß gefaßt; aber geholfen ist damit niht. Der eingetretenen Verwilderung muß entgegengearbeitet werden. Wir wollen, daß alle Prozeßbeteiligten die Würde und die Bedeutung des Gerichtsverfahrens empfinden sollen; dann wird die Justiz bleiben, was sie sein soll: ein fundamentum regnorum und die Grundlage aller \staatlihen Ordnung. Hierauf wird um 614 Uhr die Fortsezung der Beratung

auf Freitag 1 Uhr vertagt.

Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten. 50. Sißung vom 18. April 1912, . Vormittags 11 Uhr. (Bericht von Wolffs Telegraphiscchem Bureau.)

Ueber den Beginn der Sißung, in der die zweite Beratung des Etats der Eisenbahnverwaltung für 1912 bei den dauerndenAus gaben fürdie Besoldungen (32265800046) fortgeseßt wird, ist in der gestrigen Nummer d. Bl. berichtet worden. : i

__ Abg. Dr. S hroede r - Cassel (nl.): Der Minister hat einmal gejagt, es werde hier ein Füllhorn von Beamtenwünschen ausgeschüttet. gh muß au beute ein folhes Füllhorn ausschütten. Gine ganze Anzahl von Beamten wünscht, den Wohnungsgeldzuschuß der mittleren Beamten zu erhalten, also aus der Klasse der Unterbeamten in die Klasse der mittleren Beamten erhoben zu werden. Diese Wünsche 1nd zum großen Teil berechtigt, aber die Erfüllung liegt nicht in der Vand des Parlaments, sondern in der der Verwaltung. Im eiche wird dies allerdings durch den Etat bestimmt, aber niht în Preußen.

Wir können diese Wünsche nur der Regierung zur wohlwollenden Prüfung ans Herz legen. Ferner sind zahlreiche Wünsche wegen der Besoldungsördnung felbst an uns herangetreten. Die Lademeister sind in der Befoldungsordnung gegenüber anderen gleichartigen Be- amtenklassen \{lecht weggekommen, und ih habe mih deshalb schon früher threr Wünsche angenommen. Die Bureaugehilfen wünscen eine shnellere Anstellung. Jm vorigen Jahre hat der Minister die Frage, ob nun wirkli, wie zugesagt worden 1/t, nach der neuen Besoldunasordnung jeder Beamte wenigstens eine Gehaltserhöhung um 200 Æ erbalten habe, bejaht; dabei wurde allerdings voraus- geseßzt, daß hineing-rechnet werde, was schon 1206 an Gehalts- erböhungen eingetreten war. Tatsächlih ist es aber durch die Ein- ziehung der Stellenzulage so gekommen, daß viele Beamte keine solche (rhöhung erhalten haben, ja, daß sogar in einzelnen Fallen eine Neduktion eingetreten ist. Die Anstellung der Werkführer wird in den verschiedenen Direktionsbezirken verschieden gehandhabt; in einem Bezirk sind \chon Werkführer, die seit 1908 im Dienst sind, ange- stellt in anderen warten noch die Werkführer von 1906 darauf. Auch die Dienstzeiten der Handwerker werden bei der Pensionierung vyer- schieden angerechnet; die Dienstzeit vor der Anstellung wird zum Teil nicht angerechnet, obwohl die Handwerker \chon vor der Anstellung die Beiträge für die Arbeiterpensionskassen gezahlt haben. Bezüglich der Petitionen der Beamten um Gehaltsaufbesserungen halten auch meine Freunde daran fest, daß an der Besoldungsordnung von 1909 nicht gerüttelt werden darf; es kann fich höchstens darum handeln, einzelne Härten und Ünebenheiten zu bejeitigen. Aus der großen Zahl der uns vorgetragenen Einzelwünsche bringe ih zunächst diejemgen der Eisenbahntelegraphisten zur Kenntnis des Hauses. Dieser auf dem Aussterbeetat stehenden Beamtenkategorie ist teilweise eine neue Laufbahn eröffnet worden, für die sie eine Prüfung abzulegen haben. Eine Anzahl von ihnen, die von der Zulassung zur Prüfung aus- geschlossen wurden, sollte noch machträglich dazu zugelassen werden; sie fühlen die Kraft, die Prüfung zu bestehen. Andere, welche die Prüfung bestanden haben, werden jeßt auf lhr zu hohes Alter ver- wiesen und von der Uebernahme troß der bestandenen Prüfung aus- geschlossen. Das hätte man ihnen vorher eröffnen sollen, man durfte thnen aber niht nachträglih damit kommen. Cine Anzahl von Zug- führern beschwert si darüber, daß sie 15—16 Stunden Dienst und nach 7—8 Stunden NRuhezeit wieder 15—16 Stunden Dienst haben, und daß ihnen Zugverspätungen unter 2 Stunden überhaupt nicht ange- rechnet werden. Auf gewissen Bahnstreken wird dem Fahrpersonal noch der dienstfreie Sonntag genommen, weil das Personal nicht aus- reiht: da muß dur Vermehrung des Personals Abhilfe geschaffen werden. Zahlreihe Bahnhofsvorsteher beklagen den Wegfall der Stellenzulage, die sie vor 1908 bezogen haben; die Verwaltung ver- wandelt jeßt häufig Bahnhöfe dritter in solche vierter Klasse, wo- durch dem Bahnhofsvorsteher die Stellenzulage verloren geht, obwohl am eigentlichen Arbeitébetriebe. niht das geringste geändert wird. Bei den Hilfs\chaffnern sind die Anstellungsverhältnisse na den ver- {chiedenen Direktionsbezirken verschièden; hier muß eine Einheitlichkeit erreiht werden. Die CEisenbahnobersekretäre klagen über ihre ungünstige Stellung in der Besoldungsordnung; die gleichen Be- \{hwerden kommen aus dem “Kreise der Betriebss\ekretäre. Ueber die Gewährung von Stellenzulagen müssen feste Grundsäße geschaffen werden. Die Besoldung der technishen Hilfskräfte ist gegenüber den etatsmäßig angestellten“ Beamten eine sehx, {hlehte. Auch die aka- demis vorgebildeten technischen Hilfskräfté, die auf Privatdienstver- trag angestellt find, erheben lebhafte Klagen. Man könnte auf den Gedanken kommen, daß alle diese Wünsche nur auf die Begehrlichkeit der Beamtenschaft zurückzuführen sind. Das glaube ich nicht, es liegen vielmehr Fehler der Besoldungsordnung vor. Es sind damals eine ganze Reihe von Beamtenklassen zusammengeworfen worden, die nicht zusammengehören. Cs wäre besser gewesen, wenn wir diesem Vereinfachungssystem “nicht zugestimmt hatten. Dann kommt die Defklassierung zahlreicher großer Orte hinzu, die außerordentli ungünstig gewirkt hat. Ueber die Lohnfrage haben wir uns im vorigen Jahre eingehend unterhalten. Wie das neue Lohnbere- nungésystem wirkt, kann man jeßt noch nit sagen. Ich hoffe, daß der Minister dafür sorgt, daß diefes System keine Benachteiligungen mit sich bringt; die Handwerker stehen ihm mit ziemlihem Mißtrauen gegenüber. Jn den Arbeiterausschüssen n auch über Lohnverhält- nisse in einzelnen Fällen gesprochen werden Tonnen. Es ift ein alter Wunsch der Arbeiter, daß die Arbeiterausshüsse sich miteinander in Verbindung seßen und ihre Wünsche austauschen können. Ich bitte den Minister, diesem Wunsche nachzukommen. Nach zehnjahriger Dienstzeit dürften die Arbeiter nur durh Entscheidung der Direktion entlassen werden föonnen. Auch die Wünsche der Kolonnenführer bedürfen dringend der Berücksichtigung, weil die Anforderungen an die Kolonnenführer immer größer werden. Daß Schlosser von einer Betriebswerkstätte in ‘die andere zwangsweise verseßt werden, dürfte überhaupt niht vorkommen. Wenn auch noh viele Wünsche vor- banden sind, so muß man im großen und ganzen doch sagen, daß die preußische Cisenbahnverwaltung sih ihrer Beamten und Arbeiter an- nimmt, und daß sie besser gestellt sind, als in anderen Staaten.

Abg. Dr. von Woyna (freikons.): Auch meine Freunde haben zablreiche Wünsche vorzubringen. Vor allen Dingen müssen diejenigen Beamten und Arbeiter, die in dem {chweren, verantwortungt- vollen Außendienst urrd in den Werkstätten beschäftigt find, berück- sichtigt werden. Wir sind zu der Ueberzeugung gekommen, daß ohne etne vorsihtige Aenderung der Befoldungsordnung diefe Frage nicht gründlih und dauernd geregelt werden kann. Vor allem wird eine Speztalrevision der Besoldung8ordnung für das Eisenbabnressort vor- genommen werden müssen. Das Bestreben, sch zu Verbänden zu- sammenzus®ließen, auch die Interessen dieser Verbände durch bezahlte Beamte vertreten zu lassen und damit unser ganzes öffentliches Leben zu beeinflussen, nimmt immer mehr zu. Wenn eine ähnliche Ent- wicklung auch bet unserem Beamtentum Platz greift, so würde das Staatswohl auf das \{werste gefährdet werden. Diese Ent- wicklung wollen die rehtsstehenden Parteien nicht mitmachen. Deswegen möchte ich davor warnen, daß die Eisenbahnverwaltung nach dieser Richtung der Entwicklung Vorschub leistet. Es ist nicht richtig, daß Beamte zu den Verhandlungen ihrer Ver- bände mit Freifahrtkarten auêgestattet werden, das paßt in die preußishe Beamtendisziplin niht hinein. (Abg. Hoff - mann (Soz.): Freifahrtkarten dürfen nur Abgeordnete haben !) Bei dieser Entwicklung wird die Beamtenschaft der Sozialdemokratie niht dauernd Widerstand leisten können. (Abg. Hoffmann: Haben Sie eine Ahnung!) Wir find doch hier nit in der polnischen Wirtschaft, Abg. Hoffmann! (Abg. Hoffmann: Da. gebören Sie hin) Wir. find im übrigen gern bereit, jeden berechtigten Wunsch der Beamten zu unterstüßen und zur Erfüllung zu bringen. Das gilt namentlih für die Beamten und Arbeiter des s[chwierigen Außendienstes und des shweren Werkstättendienstes. Die Dienstzeit im Außendienst darf nicht zu lang ausgedehnt werden, und es muß namentlich dur die Neuanstellung von Lokomotivpersonal die Verkürzung der Dienststunden ermöglicht werden. Die Eisenbahn- verwaltung ist bestrebt, alle Beamten mit Gerechtigkeit und Milde zu behandeln. Daß sih alle Ungerechtigkeiten beseitigen lassen, ist in einem solchen riesigen B triebe kaum möglih; das wäre nur im goldenen Zeitalter möglich. Wir müssen auch be- denken, daß die Löhne der Streckenarbeiter eine Rückwirkung auf die Löhne der Arbeiter auf dem Lande überh upt haben. Wir Land- wirte sind es ja schon „gewöhnt, teure Löhne bezahlen zu müssen. Es muß die notwendige Relation zwischen den Löhnen der Staatsarbeiter

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1912.

und der Privatarbeiter hergestellt werden. Keine Stellung wird so fehr auf dem Lande erstrebt, wie die eines Arbeiters bei der Eisen- bahnverwaltung. (Abg. Hoffmann: Weil die Grundbesißer noch \hlecht.re Löhne zahlen!) Dagegen sind die Löhne der Handwerker in den Werkstätten zu niedrig; so geringe Löbne können heute auch auf dem Lande nicht mehr gezahlt werden. Die einzelnen Wünsche der

Beamten und Arbeiter müssen sorgfältig geprüft werden. Ich möchte

von dem Abg. Schroeder wissen, welche finanzielle Wirkung die Er- füllung aller der Wünsche haben würde, die er heute vorgebracht hat. Wir wollen auch die Wünsche der Arbeiter nah Mög ifeit erfüllen, aber wir wollen es nicht der Sozialdemokratie nahmachen, die ins Blaue hinein Versprehungen macht. Unerfüllbare Wünsche können wir nicht berücksichtigen, denn wir müssen auch an die andere Be- völkerung deufen, die es bezählen muß. Es leben {on genug von der Staatékrippe. (Abg. Hoffmann: Die Agrarier !) A8 vernünftige und vorsichtige Finanzpolitiker müssen wir bei ten Wünschen des Abg. Schroeder auch an die Deckung denken. Solche Wünsche können nur dur eine organische Negelung erledigt werden. Wir beantragen deshalb, alle darauf bezüglichen Petiti onen der Ne- gierung niht bloß als Material, sondern zur Berücksichtigung zu überweisen. (Abg. Hoffmann: Für den Papierkorb!) Ich kann Sie nur bitten, diesem Antrage zuzustimmen.

Minister der öffentlihen Arbeiten von Breiten ba:

Meine Herren! Die drei Herren Vorredner baben sich in ein- gehender Weise mit der Lage der Beamten und Arbeiter der Staats- eisenbahnen {m allgemeinen und im einzelnen befaßt. Es hat mich gefreut, daß von thnen überetnstimmend festgestellt worden ist, wie die Staatseisenbahnverwaltung doch mit Erfolg bestrebt gewesen ist, die Lage ihres Personals dauernd zu verbessern und damit Zufriedenheit zu erzeugen. Es ist vielleicht nit ohne Interesse, wenn ich nur wenige Zahlen mitteile, die das wohl s{lagend beweisen.

Fch stelle die Jahre 1900 und 1910 einander gegenüber. JInner- halb dieser Jahre ist das Durchschnittseinkommen der gesamten Be- diensteten, also der Beamten und ‘der Arbeiter, von 1421 auf 1726 M“ gestiegen; das sind 375 #4 pro Kopf gleich 26,9 9/0. Der Etat für das Jahr 1912 sieht gegenüber dem Etat des Jahres 1910 an neuen Einkommensverbesserungen 27,1 Millionen Mark vor, und von diefen 97,1 Millionen Mark entfallen 19,7 Millionen auf die Bezüge der Arbeiter.

Herr Abg. von Savigny hat fich im Eingange seiner Nede mit den Organisationen un'erer Angestellten ich nehme an, daß er \owohl die Beamten wie die Arbeiter im Sinne gehabt hat befaßt (Abg. Dr. von Savigny: Speziell die Beamten !) und den Wunsch geäußert, daß die Verwaltung diese Organisationen als beretigte VFnteressenvertretungen der Angestellten der Staatseisenbahnen an- erkennen möge. Dieser Wunsch ist erfüllt, soweit fie sich auf den Boden der jeßt geltenden bürgerlichen Ordnung tellen. Auch hierin befinde ich mich ja durchaus mit dem Herrn Vorredner in Ueber- einstimmung; denn er hat sich ja mit einem Appell an die gesamten Beamten der Staatseisenbahnverwaltung gewendet, indem er sie unter Anerkennung der besonderen Berücksichtigung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage, wie sie dur die Staatseisenbahnverwaltung erfolgt, aufrief, gegen die Umstur,bestrebungen Stellung zu nehmen.

Herr Abg. von Savigny hat nun gewünscht, daß die Verwaltuvg mit diesen Organisationen innerhalb der gegebenen Begrenzung in persönlichen Verkehr trete. Ja, meine Herren, das geschieht ja im vollsten Maße; es geschieht von seiten der Verwaltungsbehörden, es geschieht von seiten des Ministers selber. Ih glaube, es gibt faum eine Organisation unserer Angestellten, die niht von mir schon empfangen ist, natürlich durch Abordnungen. Ich lege großen Wert darauf, mit den Vertretern der Beamten- und Arbeiterschaft persönlihe Beziehungen zu unterhalten. (Bravo! im Zentrum.)

Nun hat Herr von Savigny erneut einen Wunsch vorgetragen, der von ihm hier, glaube ih, {hon wiederholt vorgetragen worden {ft ; es ist die Frage der Einrichtung von Beamtenausshüssen. Ich bedaucre, daß ih mich in dieser Frage nicht auf seinen Standpunkt stellen kann. (Sehr richtig! bei den Freikonservativen.) So sehr ih geneigt und bestrebt bin, die Einrichtung der Arbeiteraus\chüsse weiterauszubilden, wie dies ja in großem Umfange im Laufe der leßten Fahre geschehen ist, und sie wirklich zu wiiksamen Vertretungen unserer Arbeiterschaft zu machen, so wenig bin ih der Auffassung, daß ein Be- dürfnis vorliegt, Beamtenaus\hüsse einzurihten. Die ganze Organisation der Staatseisenbahnverwaltung ist derartig, daß die unmitelbaren Vor- geseßten in unmittelbarste Berührung mit der unterstellten Beamten- schaft stehen. Die unterstelte Beamtenschaft ist jederzeit in der Lage, ihre Wünsche auf diesem ordnungsmäßigen, durch die Organisation gegebenen Wege zur Geltung zu bringen.

Dann bat sch Herr Abg. von Savigny ganz allgemein mit der Frage der Dienst- und Ruhezeiten unserer Betriebsbeamten die batte er wohl im Sinne befaßt. Meine Herren, die Frage der Dienst. und Ruhezeiten beschäftigt die Verwaltung unausgeseßt. Es wird unausgesett gebessert. Und wenn Sie die Anlagen unseres Be- triebsberichts eingehend durchsehen, werden Sie finden, daß wir uns alljährlih vervollkommnen; die längeren Dienstschichten nehmen ab und die kürzeren nehmen zu; das läßt sich unzweifelhaft nachweisen, Es sind nun aber neuerlich im Zusammenhang mit Anträgen und Bestrebungen, die bereits im Reichstage zur Verhandlung gekommen sind, Wünsche an mich herangetreten, die Dienst- und Ruhezeiten zu verbessern; es ist auch die Frage der höheren Bewertung des Nachtdienstes erörtert worden. Ih habe mich aus Anlaß all dieser Wünshe mit dem Herrn Präsidenten des Reichs- eisenbahnamtes in Verbindung geseßt, und dieser wiederum hat die gesamten deutschen Staatébahnen denn alles, was die preußische Staatseisenbahnverwaltung in die Wege leitet, hat Rückwirkung auf die übrigen deutschen Bahnen zu Verhandlungen aufgefordert, die zurzeit in vollem Gange sind. Jch hoffe, daß fie im Sinne der Antragsteller einen befriedigenden Ausgang haben werden. Nur gegen eine meines Ermessens extreme Forderung möchte ih hier Stellung nehmen; das ist die Forderung, die Dienst- und NRuhezeiten unseres Personals geseßlich festzulegen. Nah Auffassung der Verwaltung eignet si keine Materie weniger zur geseßlichen Festlegung als die Frage der Dienst- und Ruhezeiten. (Sehr richtig! rets.) Die

Schweiz ist mit der geseßlichen Festlegung hon in den 90er Jahren