1912 / 103 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 29 Apr 1912 18:00:01 GMT) scan diff

Kerung durch eine kleine Minderheit in Zukunft noch weiter gefallen läßt. Solhe Reden mögen da aehalten werden, wohin sie gehören und wo fie ein Echo suhen und finden, nämlich in sozialdemokratishen Volksversammlungen. Stürmische Zwischenrufe von den Sozialdemokraten. Präsiden t:

ch bitte, den Redner nicht immerzu zu unterbrehen.) Ein gebildetes Parlament ist nah seiner ganzen Vergangenheit nicht auf den Ton und den Inhalt dieser Reden gestimmt. (Zuruf von den Sozial- demokraten : Gebildet ?) Es war wenigstens in vollem Umfange ge- bildet, bevor die sechs Abgeordneten bier eingetreten sind. Das Ansehen des Parlaments verlangt es gebieterish, daß derartige Aus- \chreitungen unterbunden werden. Anläßlich des ergarbeiterstreiks ist wieder mit dem alten Mägchen, mit der „Zentrumsorganisation“ der d ra Gewerkschaften operiert worden. In schwerer Stunde haben die chriitlihen Gewerkschaften die Ghre der deutshen Arbeitershaft gerettet. (Lärm bei den Sozialdemokraten und Zurufe: Stréikbreher! Großer Lärm. Präsident: Abg. Liebknecht, ih habe ausdrüdcklih gesagt, ies Zwischenrufe nur vom Play aus gemacht werden dürfen.) Die christlichen Geroerkschaften haben fi troy der schlimmen Beschimpfungen, tro des Terroriómus ebenso entschieden wie erfolgreih gegen die Diktatur der Brutalität gewehrt, die von den sogenannten freien Gewerkschaften und ihren radikalen sozialistischen Hintermännern und Drahtziehern ausgeübt wurde. Es war nur ein Schrei der Entrüstung über diesen frivolen Streik, in den die Arbeiterschaft mit vollendeter Kopflosigkeit hinein- geiagt wurde. (Abg. Hoffmann: Sie wollen wohl noch Zedlitz Ü

ertreffen !) ( mit einer zers{metternden Niederlage für die Sozialdemokratie geendet.

Jn ohnmähtiger Wut sucht sich jeßt die Sozialdemokratie an den éhristlihen Gewerkschaften zu rächen. Mit fortgeseßten Beschimpfungen und Verleumdungen werden in der Presse und in den Versammlungen bei jeder Gelegenheit die Zentrumspartei und die christlicen Gewerk- schaften übershüttet, namentlich aus Anlaß unserer Stellung zum Bergarbeiterstreik. Dos läßt uns aber kühl bis ans Herz. (Abg. S offent Judaslohn! -— Präsident: Es kann uur immer einer sprechen, nit sechs zugleih!) Wir richten uns nach ‘dem Say, den ter alte Parlamentarier Waldeck einstma!s gesagt bat: Mögen Sie Schmähungen auf Schmähungen, Beleidigungen auf Beleidigungen häufen, die Höhe unserer Verachtung erreichen Sie niemals.

Minister des Junern Dr. von Dallwiß:

Meine Herren! Herr Abg. Hammer hat bei Besprechung der Verhältnisse der Vorortgemeinden von Berlin die Anregung gegeben, ob es nicht möglich set, im Wege der Geseßgebung eine Regelung zu treffen, welche die Stadtwerdung der größeren Ber- liner Vorortgemeinden gegenüber dem jeßigen Zustand erleichtern Fönnte. Es handelt sich um etwa sech8 Gemeinden, welche mehrfach teils in Petltionen an dieses hohe Haus, teils in Eingaben an die Auf- fidhtsbehörden dem Wunsche Ausdruck gegebcn haben, das Stadtrecht zu erlangen, und zuglei ihre Bereitwilligkeit erklärt haben, auf das Recht zu verzihten, demnächst nah erfolgter Stadtwerdung aus dem Kreise auszusheiden. Es handelt sich meines Wissens um Steglitz, Liikterfelde, Friedenau, Pankow, Weißensee und Rein!ickendorf. Der Gemeinde Steglitz ist im Jahre 1909 bezw. 1910 mitgeteilt worden- daß ihrem Antrage auf Stadtwerdung erst dann flattgegeben we1den könne, wenn sie sich mit dem Landkreise, dem sie zurzeit angehört, geeinigt habe, in welcher Weise cine Auseinanderseßung über die beiderseitigen Rechte und Pflichten nach erfolgter Stadtwerdung erfolgen könne. Die anderen beteiligten Gemeinden sind erft in neuester Zeit in gleihem Sinne versiändigt worden, weil bis vor kurzem infolge mehrfacher Anregungen Erwägungen darüber geschwebt haben, ob es cventuell möglich sein werde, den Wünschen dieser Gemeinden dun eine Aen- derung des § 4 der Kreisordnung ohne Schädigung der beteiligten Landkreise Rechnung zu tragen.

Dieser Weg scheint mir indessen nicht gangbar zu sein. Die be- teiligten Gemelinden find nicht willens, dauernd auf das Recht, aus dem Kreise auszuscheiden, zu verzichten, sondern sie wollen den Mo* ment des Ausscheidens von der Tatsache abhängig machen, daß sie eine bestimmte, über die in ter Kreisordnung vorgesehene Grenze hinausgehende Bevölkerung8zahl erlangen. Wollte man nun den ersten Absaß des § 4, wonach eine Landgemeinde, wenn sie 95 000 Einwohner erreiht hat, zur Stadtgemeinde gemacht werden kann, für den Kreis Teltow und für den Kreis Niederbarnim beseitigen, so würde es lediglih in das Ermessen des Ministeriums gestellt sein, ob und wann ein Ausscheiden aus dem Kreise erfolgen solle; ih glaube, das würde nicht den Wünschen der Gemeinden entsprechen.

Der Verzicht, den die Landgemeinden jeßt in ibren Anträgen aus- gesprochen haben, der Verzicht auf das Ret, aus dem Kreise nah erfolgter Stadiwerdung auszuscheiden, kann für die Gemeinden nicht verbindlich sein; denn sowie aus einer LUndgemeinde, die diesen Ver- ziht ausgesprochen hat, eine Stadtgemeinde mit einer neuen Ver- tretung entstanden ist, ist sie nicht mehr an die Beschlüsse gebunden, welche die frühere Landgemeinde gefaßt hat. (Sehr richtig! rechts.)

Eine Möglichkeit, auf geseglihem Wege eine Regelung herbei- zuführen, die das Stadtwerden dieser Landgemeinden ohne Benach- teiligung der Kreise garantiert, würde ferner tarin gefunden werden Fönnen, daß § 4 Absay 4 der Kreisordnung, der die Auseinander- feßung zwischen ausscheidenden Stadtçcemeinden und den Landkretsen betrifft, den Bedürfnissen der Kreise Teltow und Niederbarnim ent- sprechend abgeändert werden könnte. Augenblicklih bezieht sich Absaß 4 des § 4 der Kreisordnung nur auf die Auseinandersegung über das Vermögen, über die Aktiva und Passiva, und über Leistungen für gemeinsame Zweke. Damit würde den Interessen der Kreise nicht gedient sein, da es si um die Auseinandersezung über Einrichtungen, Institute usw. handelt, die durch den Absahÿ 4 § 4 ter Kreisordnung gar nicht erfaßt werden. Es müßte daher, um die Landkreise vor finanziell ruinösen Folgen dur ein elgenmächtiges Ausscheiden der Stadt gewordenen Landgemeinde - zu bewahren, eine anderweite Regelung der Auseinandersezungsbedingungen getroffen werden. (Sehr ridtig!) Ich glaube aber nit, daß eine solhe anderweite Regelung dann nur im Rahmen - eines Spezialgeseyes für die beiden be- teiligten Kreise erfolgen Fönnte, sondern es würden die Auseinanderseßungsgrundsäße der Kreisordnung überhaupt einer Revision unterzogen werden müssen. Daraus würde fich eine Revision der Kreisordnung ergeben, die nah meinem Dafürhalten ‘im Interesse nur einiger weniger Vorortgemeinden der Stadt Berlin nicht gere{ht- fertigt wäre und die auch niht notwendig ist, da e3' bisher bereits in mehreren Fällen ih nenne nur die Gemeinden Lichtenberg und Wilmersdorf gelungen ist, dur freie Vereinbarung der damaligen Landgemeinden Wilmersdorf und Lichtenberg mit den beteiligten Landkreisen ihre Stadtwerdung und ihr demuächstiges Ausscheiden aus dem Kreise im voraus zu regeln und zu ermöglichen. Jch sehe nidt r:.cht ein, worum dieser Weg ni&t au künftig für die hier in Frage stehendén scchs Landgemeinden gangbar sein soüte.

Der Herr Abg. Hammer hat sich dann über Mißstände aus- } gesprochen, die seiner Ansicht nah bei den Sparkassen bestehen |

Die Interpellationen haben im Reichstag und im Landtags

und darin gipfeln, daß l\seitens einzelner Sparkassen in unlauterer

Weise kleineren Banken und kaufmännishen Geschäften durch Reklame Konkurrenz gemaht wird. Er glaubte, daß es möglich \cin würde, im Aufsichtwege eine solche unlautere Reklame der Spar- kassen zu beseitigen oder einzushränken, namentlich aber, daß der Anschluß der Sparkassen an cinen Revisionéverband geeignet wäre, eine solidere Gebarung hierin herbeizuführen. Jch gebe zu, daß der Anschluß soldher Sparkassen an einen Revfsionsverband wobl geeignet sein wird, den ven dem Herrn Abg. Hammer gerügten Mißständén, die ih durchaus anerkecune, abzuhelfen. Geseßliche Mittel, in diesem Sinne einen Zwang auf die Sparkassen auszuüben, stehen aber den staatliden Aufsichtsbehörden niht zu. Wir können nur und tun das auch regelmäßig bei Sparkafsentagen usw. im Wege der Ueber- redung dur geeignete Natschläge dahin wirken, daß die Îleineren Sparkassen si den überall bestehenden Revisionsverbänden arscließen, und daß sie auch von einer Art der Reklame absehen, die mit der Würde der Sparkassen nit vereinbar ift.

Die Durchführung des von dem Herrn Akg. Hommer erwähnten Erlasses, in welchem den Beamten aufgegeben wird, sich nicht in einer Weise zu betätigen, die eine Konkurrenz mit kaufmännischen Betrieben darsiellt, wird kontrolliert. Es findet eine Kontrolle statt darüber, daß die Beamten sich während der Dienststunden nicht mit dem Ver- triebe von Wuren beschäftigen, da zu diesem Zwecke, zum Verkauf und zur Lazerung von Waren nicht die Diensträume und dienstlide Ein- rihtungen in Anspruh genommen wezden.

Die sonstigen Autführungen des Herrn Abg. Hammer, soweit fie Anregungen enthielten, betreffen Materien, welde zum Nessort des Handelsministeriums, nicht zu dem des Ministeriums des Innern gehören. Er hat angeregt, die Bedürfnisfrage bei Wan der- lagerbetrieben und bei der Erteilung von Hausiergewerbe- scheinen usw. einzuführen und bezüglih der Sonntagëruhe im Handelsgewerbe andere Einrichtungen zu treffen. Das alles gehört nicht zu meinem Ressort. Da wir aber unter Um- ständen bei derartigen organishen Aenderungen kcteiligt sein können, bin ih gern bereit, mir diese Wünsche zu notieren. (Zuruf des Abg. Hammer.) Das gehört zum Ressort des Handelsministeriums, und ße tun das in ihrer Eigenshaft als dem Handelsministerium untergeordnete Behörden.

Der Herr Abg. Bell hat ausgeführt, daß der Schuß der Be- amten gegen ungerechtfertigte Zwangspensionierung nicht in der Weise bestehe, wie dies scitens des ehemaligen Finanzministers Exzellenz von Bitter seinerzeit in beiden Häusern des Landtags zuge- sagt worden sei. Exzellenz von Bitter habe damals ausdrücklich erklärt, daß die Erreichung des 65. Lktensjahres eine Präsumption für die Dienstunfähigkeit nicht darstellen solle, daß vielmehr auch fünftig nur ausg- nahmêweise Beamte, die das 6b. Lebentjahr erreicht haben, gegen ihren Willen pensioniert roerden würden, wenn, wie das bisweilen der Fall sein könne, ältere Herren sich über den Grad ihrer Dienstunfähigkeit selbst nicht im klaren seien und aus diesem Gcunde es unterlassen sollten, rechtzeitig Anträge auf Pensionierung zu stellen, obwohl fie tatsächlich dienstunfähig seien.

Er hat ferner wenn ih ihn recht verstanden habe au3ge- führt, daß insofern eine Abweihung von der Praxis, wie sie nah dem Gesetz vorgesehen ist, in neuerer Zeit stattgefunden habe, als niht nur seitens des nächsten Dienstvorgeseßten die Bescheinigung der Dienst- unfähigkeit erteilt werde, sondern unter Umständen auch von dem vorgeseßten Minister. Er hat dem Wunsche Ausdruck gegeben, daß diese letztere Praxis nicht weiter fortgeführt werde, und daß auch im übrigen in Zukunft diejenigen Zusicherungen innegehalten werden möchten, die seitens des Herrn Finanzministers Exzellenz von Bitter seinerzeit bei Erlaß des Pensionsgeseges im Sahre 1882 abgegeben worden sind. Ich kann dem Herrn Abg. Bell versichern, daß inner? halb meines Ressorts lediglih im Sinne der Zusicherungen verfahren wird, die setnerzeit der Finanzminister Exzellenz von Bitter im Fahre 1882 diesem hohen Hause gemacht hat. Wir haben eine große Anzahl von älteren tüchtigen Beamten, die das 65. Lebensjahr längst überschritten haben, und es wird nicht daran gedacht, diese Herren zwangsweise gegen ihren Willen zu pensionieren, wenn und so lange sie noch trgend wie ihren Dienstobliegenheiten genügen können. In einzelnen Fällen ist es selbredend vorgekommen, daß über das Maß der Dienstfähigkeit bei einzelnen Herren Zweifel obwalteten, und daß da unter Umständen au zu einer Zwangspensionierung geschritten werden mußte; das sind aber Ausnahmefälle geblieben, di: roohl- begründet waren, während sonst im allgemeinen das 65. Lebentjahr nit den Anlaß zur Penfionierung gibt.

Desgleichen kann ich mitteilen, daß jedenfalls innerhalb meines Nessorts in der Praxis die Uebung nie durchbrochen ist, daß die Be- \{einigung von ter nächst vorgeseßten Dienstbehörde ergeht, niht von dem den Verhältnissen ferner stehenden Nessortminister.

Der Abg. Bell hat ferner danach gefragt, wie weit die Ange- legenheit, betr. die geseßlihe Regelung der Einwirkung der Armenunterstüßung auf öffentliche Rechte gediehen sei. Ih möchte darauf hinweisen, daß di-fe Frage in Preußen erheblih kom- plizierter liegt als im Reiche. Während es \ch im Reiche ledig- lih um die Wirkung auf das Reichstagswahlreht handelte, und nur vereinzelte andere Wahlvorschtisten, handelt es sih in Preußen nit nur um das Wahlrecht zum Landtage, sondern auch zu allen kommunalen Körperschaften, um das Wahlrecht zu Kreistagen, Pro- vinziallandtagen, zu den Stadtverordnetenvertretungen, ferner zu einer Unzahl von sonstigen öffentlichen Korporationen, Genossenschaften, Stiftungen und Anstalten, deren lüdenlose Feststellung allein [ch-:n sehr große und umfangreiche Ermittlungen notwendig gemacht und zu sehr weitshihtigen Verhandlungen zwischen den beteiligten Ressorts Anlaß gegeben hat. Ich mache darauf aufmerksam, daß ferner die Nückwirkung auf das Recht der evangelischen und katholischen Kirchen- gemeinden und der Synagogengemeinden ebenfalls in Frage steht, und daß alle diese Verhältnisse sehr verschiedener Art eine sorgfältige Prüfung über die Wirkung einer Aenderung ‘der bestehenden Be- stimmungen erforderlih machen würden. Es ift daher bisher nodh nicht möglih gewesen, die Vorverhaydlungen über diese Frage abzuschlicßen; sie sind zurzeit noch in der Schwebe. Jch möchte aber darauf hinweisen, ‘daß speziell für den Einfluß der Ärmenunterstüßung auf das Lanttagäwahlrecht in Preußen in- sofern ein welt geringeres Bedürfnis zu einer Aenderung obwaltet, als es seiner Zeit im Neich der Fall war, als jeßt sc{hon bei uns in Preußen Armenunterstüzungen - das Wahlrecht nur dann beeinflussen, wenn sie zur Zeit der Wahl erteilt werden, während das beim Wahlrecht zum Reichstage {hon dann der Fall war, wenn die Armen-

unterstüßungen im Laufe des leßten Jahres vor den Wahlen erfolgt waren, und av, wenn fie noch n icht erstattet waren. Jn allen tiesen Fällen hat in Preußen die gewährte Armenunterstühung nicht den mindisten hindernden Einfluß auf die Ausübur g des Wahl. rechts, sodaß eln gleihes Bedürfnis wie es feinerzeit im Reiche ver- gelegen hat, für Preußen nit. wohl anerkannt werden fann. :

Der verr- Abg. Dr. Bell hat dann die etwaige Aenderung der 88 10 und 11 des Prefgeseßes berührt und auszeführt, daß es zwar niht angängig sei, auf derartige Bestimmungen über bie Negelung des Plakatwesens völlig zu verzichten, daß" indes eine zeit- gemäße Aenderung doch wohl erwünscht sei. Jch gestatte mir, darauf zu erwidern, taß infolge eines früheren Beschlusses dieses hohen Hauses seitens meines Ressorts Ermittelungen darüber angestelUt worden find, 06 eine Aufhebung oder Aenderung der §§ 10 und 11 des preußischen Preßgeseyes vom Jahre 1850 angängig und wünschenswert ci oder niht. Diese Berichte lauten derartig verschieden, daß eine Ent- schließung darüber, ob eine Aenderung in die Wege zu leiten sei, bisher noch nicht hat getroffen werden können. An eine Aushebung oder wesentlihe Aenterung wird man, glaubE ih, nicht beran- gehen können, weil dies ledigli tem Zwecke dienen würde, auch das Plakatwesen in den Dienst der politischen Agitition zu stellen; hierfür aber liegt ein Bedürfnis nicht vor, da unsere Preß- geseßgebung, unsere Vereins- und Versammlungsgeseßgebung 2. genügend Mittel zur Verfügung stellen, um die politische Agitaticn in ausgiebigster Weise zu betreiben.

Der Hauptanlaß, der mich bewogen hat, jeyt das Wort zu er- greifen, war die Beshwerde, die der Herr Abg. Dr. Vell namen& seiner Partei erhoben hat in bezug auf die angeblih nicht- paritätishe Behandlung des katholishen Volksteils bei der Annahme von Anwärtern und bei der Besepzung der Beamtenstellen. Ich kann dem Herrn Abg Dr. Bell die Versiterung geben, daß innerhalb meines Ressorts und ich bin überzeugt, daß dasselbe auch bezüglih der anderen Ressorts Geltung hat die Frage der Konfession bei der Annahme eines Anmâärters zum Beamten oder bei ter demnähstigen Beseßung von Beamten- stellen niht die mindeste Rolle spielt. Solange ih die Ehre habe, an dieser Stelle zu stehen, habe ih nod in keinem Falle mi dadur leiten lassen, ob der eventuell in Fragc fommende Beamte der evangelischen oder katholischen oder einer sonstigen Konfession angehört. (Crneute Heiterkeit im Zentrum.) Ich habe mir im vorigen Jahre bereits auszuführen erlaubt, daß i mich ledigli von sahl:chen Gesichtspurkten leiten lassen wolle, und ih glaube, dies auh durhgeführt z1 haben. Es freut mich aber, daß ich gerade zufällig der Herr Abg. Dr. Bell \prah auh vom Zufall, der in diesen Dingen eine g'oße Relle zu spielen pflege in der Lage bin, dem Herrn Abg. Dr. Bill mitteilen zu könn- n, taß bei den Affsesscrenprüfungen in meinem Ministerium in den leyten Wochen oder Monaten ib glaube, nicht weniger als drei katholische bürger- lihe Referendare die Prüfurckumit „gut“ bestanden baben, und ih glaube, der Hoffnung Ausdruck geben zu Ennen, daß, wenn di: se Fälle sich häufiger wiederholen, demnächst auch eine Reihe böhrerer Stellen mit Katholiken beseyt sein werden (Heiterkeit), in einem Maße, das die Wür sche des Herrn Abg. Bell zu befriedigen geeignet sein dürfte. (Heiterkeit)

Nuu hat der Herr Abg. Dr. Bell seine Ausführu? gen einleitend begründet mit dem Hinweis auf Ausführungen, die Herr Abg. Dr. Friedberg ih glaube, bei der ersten Lesung des Etats und au bereits im vorigen Jahre gemaht hat. Soweit ih mich entsinne, hat Herr Abg. Dr. Friedberg zu meinem Bedauern geglaubt, an der Auffassung festhalten zu sollen, daß die Beseßunz vakanter höherer Verwaltungéstellen in Preußen nah parteipolt1ishen Gesichts- punkten erfolge, und zwar, wie er sagte, aus\chli: ßlih mit ftreng konservativen Persönlichkeiten. Herr Abg. Frhr. v. Zedlig ift dem nit beigetreten, bat aber, wenn ih mich recht entsinne, unter Bezug- nahme auf die Ausführuvgen des Herrn Abg. Dr. Friedberg sich dahin geäußert oder es zur Sprache gebracht, daß na2ch den ihm zugegangenen Informationen bei der Annahme von Anwärtern für den höheren Nerwaltungsdienst nicht lediglich nah Tüchtigkeit und Fôhigk: iten ge- schen werde, daß vielmehr auch die soziale Stellung des Vaters in diesen Fällen eine zuweitgehende Rolle spiele. Eine Begründung dieser Behauptung habe ih nit gehört. (H-iterkeit.) Aber der Herr Abg. Dr. Friedberg hat, wenn ih nit irre, damals Bezug genommen auf eine von mir im vorigen Jabre in diesem hohen Hause vorgetragene Tabelle und hat der A sicht Autdruck gegeben, daß die Angaben dieser Tabelle geeignet seien, seine Be- hauptung zu begründen. (Sehr richtig! bei den Natio: alliberalen.) Fch glaube, daß Herr Dr. Friedberg sich hier in einem Irrtum be- findet. Herr Abg. Dr. Friedberg hatte {hon im vo:igen Jahre die- selbe oder annähernd gleihe Beschwerden erhoben, 1nd zwar hatte er, wie er sih darals auszudrücken beliebte, gerügt, daß die höheren Stellen für „parteiamtlih konservativ abgestempelte Personen” rese:viert seicn. Demgegenüber und gegenüber der weiteren immex wiede: kehrenden Behauptung, daß bei der Annahme von Anwärteru für den höheren Verwaltungédienst agrarish-konservative Kreife be» vorzugt würden, ergibt sich aus der bon mir vorgetragene Tabelle, welhe den Beruf des Vaters uno damit das soziale Milieu ersehen läßt, aus dem die im Jahrs 1910 amtierenden Beamten hervorgegangen sind, daß eine Bevor- zugung agrarisch-konservativer Ki eise tatsächlich nicht stattgefunden baben kann. Denn wenn um mi an die beiden im Vordergrunde des Interesses stehenden Kategorien zu balten und mich darauf zu be- schränken im Jahre 1910 von den damals amii-renden Landräten nur 3109/6 und von den Assefsoren nur 18 9/0 landwir1 schaftlichen Familien entstammten oder Familien entstammten, die irgendwie an der Landwirtschaft beteiligt waren, während der ganze N f aljo der überwiegende Bruchteil beider Beamtenkategorien, kommerziellen, Gelehrten- und Beamtenkreisen entstammte (hört, hôit !), so ergibt sich meines Dafürhaltens daraus klipp und klar, daß bereits vor dem Jaÿre 1910 eine Bevorzugung agrarischer, mithin derjenigen Kreise nit stattgefunden hat, die im allgemeinen als besonder® lonservativ gerichtet bezeichnet zu werden pflegen.

(Schluß in der Zweiten Beilage.)

(Heiterkeit im Zentrum.)

(Schluß aus der Ersten Beilage.)

Nun hat Herr Abg. Lohmann im vorigen Jahre aus den der Vollständigkeit halber in der Tabelle enthaltenen Angaben über den Geburtsadel gefolgert, daß, weil von den im Jahre 1910 amtierenden Landräten etwa die Hälfte, von den Assessoren aber nur etwa ein Drittel dem Geburtsadel angehörten, eine Bevorzugung adliger Assessoren bei der Auswahl zu Landratss\tellen stattzufinden pflege. Ganz abgesehen davon, daß Herr Abg. Lohmann damit das Beweis- thema vollkommen vershoben hat denn aus der Angehörigkeit zum Geburt8adel, aus der Führung eines Adelsprädikais läßt ih doch niht ein Rükschluß auf die parteipolitischen Ansichten des Trägers des Namens machen, hat aber Herr Abg. Lohmann dreierlei übersehen :

Erstens, daß ein recht erhebliher Bruchteil der Landräte gar niht aus den Kreisen der Berufsbeamten entnommen wird, sondern auf Grund des geseßlich den Kreistagen eingeräumten Vorschlagsrechtes durch Wahl der Kreise zum Landrat designiert wird, und daß natur- gemäß in solhen Fällen sehr häufig Angehörige angesessener Familien, vielfah auch solcher Familien, die adlig find, in Vorshlag gebracht zu werden pflegen. Zweitens, daß der verhältnismäßig starke Prozentsaß von nicht adligen Affsessoren im Jahre 1910 unmög- li. bereits im Jahre 1910 in der Zusammenseßung der Land- râte zum Ausdruck kommen konnte, daß das vielmehr erst cine Reihe von Jahren später der Fall sein wird, frühestens in 6 oder 7 Jahren. Und drittens, daß bis vor 15 oder 20 Jahren die Angehörigen kaufmännischer und gelehrter Kreise sich überhaupt fehr seltem dem Verwaltungsberufe zuzuwenden beliebten, weil ihnen weniger abhängige oder sonst mehr zusagende Berufe besser paßten- teilweise au), weil gerade die jüngeren Herren aus dem Westen, die diesen Kreisen angehörten, es vielfah vorzogen, niht zur Verwaltung überzugehen, in der Befürchtung, daß fie eventuell im Laufe der Jahre in den ihnen weniger zusagenden freudloseren. Osten versetzt werden könnten.

Meine Herren, daß die inzwishen in dieser Beziehung ein- getretene Wandlung ih bemerke, daß \sich in neuerer Zeit tat- \ählih erheblich mehr Angehörige aus kaufmännischen und gelehrten Kreisen der Verwaltunzskarriere zuwenden, als dies vor 15, 90 Jahren der Fall war in den höheren Verwaltungsstellen erst allmählih, erst im Laufe der Jahre in die Erscheinung treten kann, das liegt ja auf der Hand. Und darum scheinen mir überhaupt so allgemeine Klagen und Beschwerden, wie fie bei der ersten Lesung und heute erhoben worden sind, in der Tat sehr geringen praktischen Wert zu haben und belanglos zu sein für die Beurteilung der Tat- sache, ob die icßige Praxis den Wünschen, die in diesem hohen Hause geäußert worden sind, entspricht oder nicht. Ich habe im vorigen Jahre ausdrücklich erklärt, daß ih mich bei der Besezung vakanter Stellen lediglih von sahlichen und objektiven Gesichtspunkten leiten lassen würde, und {{ch glaube nicht, daß irgendwelhe meiner Maß- nahmen Anlaß zu der Annahme gegeben haben können, daß ih diesen Grundsay verlassen hätte. (Bravo! bei den Konservativen.)

Nbg. Dr. von Woyna (freikons.) : Meine politisGen Freunde stimmen dem Minister völlig darin bet, daß es keinen Nuyen hat, fo allgemeine Beschweden über die Bevorzugung einer Konfeision vorzubringen. Das Vorwärtskommen hängt eben von der pexrfön- lihen Tüchtigkeit ab. Der Geschichtéschreiber unsirer Zeit wird kon- statieren . müssen, daß die Regierung immer mehr vor der Herr- {haft der Demokratie zurückweiht. Er wird auch feststellen, daß eine Reile ‘von Dynastien in Europa ein Entgegenkommen zeigt, welches alle monarhischen Männer mit Besorgnis erfüllt. Um. so mehr kann für Preußen konstatiert werden, daß die preußische Regierung dem äußersten Flügel der Demokratie eine nicht mißveiständlilhe Absage gegeben hat. Der Beifall, den der Abg. Dr. Friedberg gestern iben hat, muß ihm gezeigt haben, daß wir den altpreußifchen Liberalismus gern haben. Ich erinnere an denz früheren Führer von Bennigsen, der mit seiner maßvollen ArtWem Liberalismus die besten Dienste geleistet hat. Wenn der Abg. von Zedliy gestern den Vergleich mit dem Sprihwort: „Der Hehler ist so gut wie der Stehler“ gezogen hat, so lag es ihm durchaus fern, irgendwelche Beleidigungen gegen die Fortschrittlihe Volkspartei auszu- sprechen. Ich bitte, daß die Herren diese Erklärung entgegennehmen. Bei tem Volke ist gar niht ein so großer Sturm nah dem Wahl- recht vorhanden. (Abg. Hoffmann: Haben Sie eine Ahnung von dem Volke!) Das Volk interessiert sih vielmehr für die VBer- waltungsreform. (Abg. Hoffmann: Anders als sonst in Menschenköpfen . . . !) Wer sich in Preußen anständig beffinmt, kann in Preußen ruhig seinen Geschäften und seinen Vergnügungen nalgehen; wer sich aber nicht anständig benimmt, den trifft die Hand der Obrigkeit. (Abg. Hoffmann: Siehe Eulenburg!) Das Polizei- und Gendarmeriepersonal bedarf einer besseren Ausbildung. C werten große Kosten dadur entstehen, aber wir dürfen nicht davor zurückscheuen, wenn es sich um Beamte handelt, denen das Wohl und Wehe unserer Bürger anvertraut ist. Die Verwaltung muß eine Vorbildung der Beamten berbeiführen, wenigsiens wie in England, damit das Publikum im Schutzmann seinen besten Freund, feinen besten Shüßer sieht. Es gehört dazu auch ein entsprechend ta und organisiertes Mufsihtswesen. Für die Gendarmerie haben wir die trefflihe Ein- rihtung, daß Offiziere aus der Armee genommen werden; es fragt si aber do, ob dieses System nicht au einer Entwiclung fähig ist. Die Offiziere, die für die Gendarmerie übernommen werden, müssen diesen Beruf als Lebensberuf ansehen. Die kommunalen Polizeibeamten müssen aber auch einer forgfältigeren Aufsicht unterstellt werden. Es müssen Vorschriften für die kommunale Polizei erlassen werden, die ihre sichere Vorbildung gewährleisten; dann muß eine Aufsicht dur geeignete tüchtige staatliche Polizeibeamte herbeigeführt werden. Die Grundzüge über die beabsichtigte Verwaltungsreform müssen weiten Kreisen des Publikums bekannt gegeben werden, damit die Kritik einseßen karn. Es fann doch nur erwünscht fein, wenn das Staatsministerium über die Stimmung weiter Kreise des Volkes orientiert ist. Das Interesse an diesen Verwaltungsfragen ist ein“ allgemeines. Bei der Beratung des Eisenbahnetats habe ich darauf hingewiesen, daß alles danach drängt, \ich zu organisieren und bezahlte Berufsvertreter anzustellen. Da at es fich, ob es nit angezeigt ist, wieder mehr zur berufs- ständigen Vertretung zurückzukommen. Alle Redner haben sich mit der Stellung der Sozialdemokratie beschäftigt. Ich habe aber die Hoffnung verloren, durh Reden noch etwas zu erreichen. Was den Herren gesagt ist, war das Aeußerste, was in parlamentarischer Form gesagt werden konnte. (Sur, von den Sozialdemokraten : Parla- mentarishe Form ?) Ue ee wir die Sozialdemokratie ihrem

Sthicksal, ihre Gtube wird sie [ih selbst graben,

Zweite Beilage : zum Deutschen Reihsanzeiger und Königlih Preußishen Staatsanzeiger.

Berlin, Montag, den 29. Ayril

Abg. Dr. Lohmann (nl.): Es leiden wohl alle Parteien unter dem Uebermaß, mit welchem Beamtenwünshe zur Sprache gebracht werden. Die Tatsache, daß die Beamten ihre Wünsche durch bezahlte Vertreter formulieren lassen, führt dazu, daß diese Wünsche oft über das Ziel hinaus\schießen. Ueber das Verhalten von Beamten und Land- räten sind mir zahlreihe Beschwerden zugegangen. Der Landrat Dr. von Engelmann in Wohlau ist ganz einseitig für die Konservativen öffentlich aufgetreten, er hat den Beamten den Dank für das energische Ein- treten für den konservativen Kandidaten ausgesprochen. Der Abg. Dr. Bell hat si mit der Wahlrechtsfrage beschäftigt. Es steht absolut fest, ist auch nit durch Tintenstrôme hinwegzubringen, daß das Zentrum sich gewehrt hat gegen die Verbindung von direkter und geheimer Wahl. Vom N wurde damals erklärt, man sei da- gegen angesihts der vollen Bestimmtheit der Konservativen und der Haltung der Negierung. In der Kommission ist das Zentrum für die gleihe Wahl eingetreten, weil es wußte, daß keine Mehrheit dafür vorhanden war; im Plenum ist das Zentrum gegen die Verbindung von geheimer und direkter Wahl gewesen, weil eine Mehrheit vorhanden war! So ist die Taktik des Zentrums darauf gerihtet gewesen, die Wahlrehtsvorlage zum Fall zu bringen, aus Dank den Konservativen gegenüber. Die Regierung h1t damals erklärt, daß sie die Wahlrechtsvorlage nicht an- nebmen würde, wenn die direkte und geheime Wahl verbunden werden. Aber bei der Etatsberatung 1910 hatte Freiherr von Zedliy schon gesagt, daß die Vorlage nicht zustande kommen würde, weil das Zentrum ten Konservativen keine Schwierigkeiten bereiten will. Er sagte: man könne annehmen, daß dem Zentrum jeßt die Nehnung präsentiert wird für die M die man von konservativer Seite ihm im Neiche gewährt hat. Damals hat das Zentrum gegen diese Aeußerung nicht protestiert. Der Minister sagte, die Haltung der fortschrittlihen Volkspartei sei gecignet, die Wahl- reform zurücfiushieben. Ich war über - diese Aeußerung erstaunt. Jch stehe mit meiner Fraktion auf dem Standpunkt, daß wir möglichst bald zu einer Reform kommen müssen, wenn wir eine maß- volle Reform haben wollen. Sonst kommen später viel radikalere Reformen. Wenn wir das Reichstagswahlreht einführen, dann würde die Sozialdemokratie in derselben Weise Cinfluß erhalten wie im Reichstage. Dann würde der ganze Liberalismus an die Wand gedrückc. Es ist nicht liberal, ein Wahlreht einzuführen, welches von vornherein dazu führt, den Liberalismus auszuscheiden. Warum tritt die fortschrittlice Volkêpartei nicht für das allgemeine Wahl- recht in den Kommunen ein? Einmal wurde sogar von fretsinntiger Seite geantwortet : Ja, dort handelt es sich um Vermögensrechte ! In der Kritik der Haltung der Sozialdemokraten stimmen wir mit den anderen Parteien überein. Wie kann aber der Abg. Lieb- fnedt \sih über den Terrorismus biklagen, da doh gerade seine Partei zugegeben hat, daß sie im öffentlihen Leben Terrorismus ausübt und ihn auch billigt. (Abg. Dr. Liebknecht: Was?) Fawohl, die sozialdemokratishe Partei ist die einzige Partei, welche zugegeben hat, bei den Wahlen Terrorismus geübt zu haben, und er- flärt hat, daß sie ihn auch weiter üben will. (Zurufe von den Sozial- demokraten.) Abg. Hirsch, gerade Sie sind es gewesen. Im 31. Oktober 1908 haben Sie gesagt : Wir haben Terrorismus geübt und werden ibn auch weiter üben, wix sind nur die gelehrigen Schüler der Konservativen! Der Abg. Bebel hat aber im Re!hst1ge aus- drücklich erklärt, wenn Terrorismus ausgeübt sein sollte, so mißbillige er das auf das entsciedenste. Abg. Hirsh, Si- haden ih in direkten Gegensaß zu dieser Erklärung gestellt. (Zurufe bei den Soztaldemokraten.) Zur Bekämpfung des Schmußes in Wort und Bild brauchen wir nicht ein Ausnahmegeseß, es müssen nur die be- stchenden Geseze verständig angewandt werden. Ich freue mich, daß bei der Staatsanwaltschaft in Berlin, und zwar im Moabiter Kriminal- gericht, eine Zentrale zur Unterdrückung des Schmuges in Wort und Bild eingerichtet ist. Ih empfehle den Abgeordneten einen Besuch in dieser Zentrale; sie werden sih wundern, welche Unsumme von Schwuy in Wort und Bild dort zusammengetragen ist, daß einen ordentlich ein Ekel überkommt. Es it zu begrüßen, daß dur das Wirken dieser Zentralstelle die höchst bedenklichen Annoncen immer mehr vers&wunden sind. Ih möchte die Regierung bitten, das Unternehmen nah allen Kräften zu fördern. Die Abnahme der Geburten steht im Zusammenbang mit der Verbreitung dieser unsittlicen Schriften. Die Abnahme der Geburten auf evangelischer Seite ist größer als auf katholisher. Das hängt damit zusammen, daß der ktatholishe Volksteil îch die Presse mit derartigen Annoncen mit allen Mitteln vom Leibe hält. Wir werden aber in den verlassensten Gegenden damit übershwemmt. Die Zunahme der Kultur hat leider eine Abnahme der Geburts- ziffern zur Folge; in Berlin werden sogar {hon oft Chen mit der auédrücklihen Absicht geschlossen, Kinder überhaupt nicht zu bekomnien. In der Finanzreform glauben wir, h die Konservativen nicht dem Wohle des Staates gedient haben. Nach ter Finanzreform haben wir zur Versöhnung beizutragen gewünscht, und wir haben bei den Ctatsberatungen Redner vorgeshickt, die auf unserem äußersten reten Flügel fiehen und sich eines gemäßigten Tones befleißigen, wie Herr Dr. Heinze, aber die Konservativen haben Herrn Hahn vorgeshickt. Den Aeußerungen der „Kreuzzeitung“ über unsere vor- g.strige Sigung und das Verhalten unseres Vizepräsidenten Dr. Krause müssen wir natürli sehr \keptisch gegenübeistehen. Es ist unerhört, wenn die „Kreuzzeitung“ schreibt, daß der Präsident von Erffffa den von dem Vizepräsidenten Dr. Krause versäumten Ordnungéruf gegen den Abg. Dr. Liebkneht hätte nahholen müssen. Wir sind im übrigen bereit, die politisen Gegensäße nah Möglichkeit zu überbrüdcken.

Abg. Dr. Pachnicke (fortshr. Volksp.): Der Minister sagte, ih hâtte die Kritik gegen die Landräte verallgemeinert und einen ehrenwerten Stand bintangeseßt. Jch habe aber nicht generalisiert, sondern gerade spezialisiert und mich nur an die Fälle gehalten, mögen sie lange oder fkurze Zeit zurückliegen, in welchen Beweis- material vorlag, und eine Parteinahme der Beamten nachgewiesen war. Jh bedauere, daß der Minister diese Fälle nicht mit Entschiedenheit behandelt hat. Väterlihe Milde klang aus seinen Worten, er war bemüht, die Beamten zu retten, aber nicht das von den Beamten gefährdete Recht. Wenn gegen die Herren nit energisch vorgegangen wird, werden fie nur ermutigt, in ihrer einseitigen Parteinahme fortzufahren. Von allen Seiten, mit Ausnahme der Rechten, hallt dem Minister fort- gesezt die Klage entgegen, daß bei den Beamtenstellen konservative und agrarishe Kreise bevorzugt werden. Kann der Minister das alles für einen SIrrtum ansehen? Üeber das Wahlrecht erklärt der Minister mit Bestimmtheit: Den Zeitpunkt für die Reform bestimmt die Re- gierung! Welchen Grund zur Selbstberrlichkeit hat denn diese Regierung, die bei der damaligen Reformvorlage der Mehrheit des Hauses so bereitwillig gefolgt ist. Warum will sie jeßt der Stimmung der Mehr- heit nicht folgen ? Der Mikerfola der jeßigen Regierung nach dem Fürsten Bülow ist gerade das Anwachsen der äußersten Linken, die immer mehr zunehmende Nadikalisierung der Massen. Der Zentrums, redner imputiert uns, daß wir jeßt die Reform nur wollen aus partet- Po Gründen wegen der bevorstehenden Neuwablen. Nein, für uns liegt nur der sachliche Grund vor, daß diefe Wunde am Volks- körper fih endlih einmal schließen muß, und daß son die nächsten Wahlen - unter der Neureform ftattfinden mögen. Aus allen Er- klärungen des Zentrums weiß man immer noch nit, ob denn nun das Zentrum für die direkte und geheime Wahl stimmen wird oder

1912.

nicht. (Nufe im Zentrum: Abwarten!) Solcke Dptimisten, Abg. von Zedliß, sind wir nicht gewesen, daß wir sofort die. Durch- sex.ung des Neichêtagswahlrehts für möglich hielten. Der Minister tut so, als ob nur die Vorlage von 1908 dem Wortlaut der Tbronrede entsprochen habe. Die Regierung ist do aber mit den grundsäßlichen Aenderungen derselben in diesem Hause \{ließlich einverstanden gewesen. Der Abg. Graf von der Groeben verwies auf unsere Erfolge bei der Hauptwahl von 1912. Wir haben dabei 300 000 Stimmen gewonnen, die Konservativen sind daaegen zuröckgegangen. Immer enger wird das Verhältnis zwischen der Rechten und dem Zentrum, aber das Zentrum hat ja daëselbe getan wie wir, es bat in vielen Kreisen das hat selbst die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ nachgewiesen akiiv oder passiv die Sozialdemokraten unterstüßt. Die Rechte sollte ibre Empörung gegen uns also auh auf das Zentrum aus- dehnen. Auch das Zentrum hat Wahl!bündnisse mit den Sozialdemokraten abgeschlossen, der Zentruméabgeordnete Jaeger hat im Reichstage oft davon gesprochen, als er das zweite Wahlbündnis seiner Partei mit den Sozialdemokraten von 1905 erwähnte. Die national- liberale Partei hat in Süddeutshland auch den Großblock mitge- macht. Warum richtet man also seine Angriffe immer nur gegen uns? Der Führer der Konservativen, Herr von Heydebrand, hat aber seine Partei in eine Zwangslage gebracht; die konservative p hat 1909 den Bülowblock gesprengt, dur diese Shwenkung ist eine neue Situation en!standen. Dazu kam die Königsberger Stichwahl- politik des Herrn von Heydebrand, in der soviel Kautschuk und joviel Dynamit zusammengemisht war, daß niemand auf diese Stich- wahlbedingung eingehen fonnte. Wer folche Bedingungen stellt, kann sich nicht wundern, wenn niemand darauf eingehen will. Was ist es denn für ein Unterschied, ob man direkt oder indi: ekt die Sozialdemokratie unterstüßt. Das Zentrum hat den liberalen Kandidaten gegenüber in den Stichwahlen strikte Wakhlenthaltung proklamiert. Das war indir:kte Unterstüßung der Sozialdemokratie. Und das konservative Zentralwahlkomitee hat den Wählern in den- selben Fällen Stimmenenthaltung empfohlen, und dasselbe hat der Bund der Landwirte getan. Die Konservativen und die Freikonser- pativen sind mitshuldig daran, daß den Sozialdemokraten der Weg ins Parlament eröffnet wurde. Freiherr von Zedliß hat selbst den Wahlaufruf unterschrieben, daß kein Mitglied der Volkspartei gegen die Sozialdemokraten zu unterstüßen fei. Ob direkte oder indirekte Unterstüßung, lediglich auf den Erfolg kommt es an. Ja, man hat sogar den Landrat von Mealgzahn mit seiner politischen Parteinahme verteidigt. Bei der Wahl in Nordhausen sind 50 9% der konservativ-antisemitishen Wäh!erschaft zur Sozialdemokratie übergegangen, und es ist zu veimuten, nicht zur Ueberrashung der Führer. Der Abg. von Zedliß hat im „Tag“ geschrieben, der Ein- tritt der Sozialdemokratie in das Parlament fei politis gar kein Fehler. Würde ih mi der Redeweise des Abg. von Zedlig anschließen, so würde ih sagen: Hehler oder Stehler, das bleibt egal. Aber ih will den parlamentarischen Ton niht vershlehtern und bleibe bei dem Saß, der es auch ausdrüdt: ob direkte ‘oder indirekte Unterstüßung, das ist egal. Wir wollen sehen, wie si die Herren Konservativen bei der Stichwahl in Varel. Jever ver alten werden; da werden sie zetgen können, ob es thnen Ernst ist mit der Be. kämpfung der Sozialdemokratie. (Zwischenrufe rechts.) Der Abg. Schuiße-Pelkum sagt, es sei ja ganz gleihgültig. Also diele indirekte Förderung der Gefährdung des Staats ist ihm gleichgültig! Der Abg. von Zedliß bezweifelt die nationale Gi sinnung der Volkepartet. Sie werden aber dur ihre eigene Stichwabltaktik geschlagen. Der Abg. von Zedliß hat Waffen aus dem Arsenal der Volksversammlungen gebraucht: Wir sollen unfer Vaterland nicht lieben. Abg. von Zedlis, wir sind zu stolz dazu, uns gegen diesen Vorwurf zu verteidigen. Wir sind deuts, nur fagen wir dies vielleicht nicht so oft wie andere. Wildenbruh saat, man ist am deutschsten, wenn man am wenigsten davon spriht. Wir baben unseren Patriotismus im Herzen, wenn er uns auch nichts einbringt. Auf welche Parteien mußte \sich der große Bismark stügen, um seine Pläne dur(zubringen? Auf die Stimmung der bürgerlichen Parteien. Das war damals, als die Parole bieß: Deutschlands Einbeit unter Pieußens Führung. Da war es der Nationalverein, der diese Bewegung unterstügte. Aber die Konservativen haben noch nicht eingelenkt in die Bahnen des Fürsten Bismarck. Bismarck beklagt sich in seinen „Erinnerungen“ darüber, wie die Konservativen versagt haben und wie die Errichtung des Reiches die Spuren der konservativen Mitarbeit t: âgt. Diesen Pfeil, uns die nationale Gesinnung abzusprechen, hätte der Abg. von Zedlitz in seinem Köcher behalten sollen. Und wenn wir die Vorfrucht der Sozialdemokratie sein sollen, dann sind Sie es au, meine Herren vom Zentrum. Lassen Ste doch so alte Ladenhüter aus der parlamentarischen Debatte beraus. Soll ih weiter auf CEinzelbeiten eingehen? (Lebhafte Rufe: Nein! Nein!) Ich nchme Rücksicht auf die Zeit des Hauses. Auf das, was der Abg. Hammer sagte, will ih mi nit einlassen. Im Reichsvereinsgeseß steht ausdrücklich geschrieben: Die Zulä)sigkeit weiterer Ausnahmen regelt die Landesgeseßgebung. Wie kann da der Abg. von Zedliy derartige Aeußerungen über den ersten Teil des fozialdemoktatishen Antrags tun, daß er einen Verstoß gegen das Reichsgeseß bedeute. Die Aus'chreitungen der Sozialdemokratie miß- bill'gen wir, au um der Sache willen. Gegen solche Ausschreitungen gibt es in allen Parlamenten Handhaben. Die Anwendung muß aber gleihmäßig und unpartetlish erfolgen. Die leitenden Gedanken für die Geschäftsordnung sind: die Würde des Parlaments und seine Arbeitsfähigkeit! Aber auf der anderen Seite: auch Schuß der Minderheit! Was an der Geschäftsordnung geändert werden soll, muß fühl und nüchtern überlegt werden und mit besonderer Vorsicht vor- bereitet werden. Das darf nidt mit Ungerechtigkeit und mit Rach- sucht gemacht werden, wir dürfen niht ab irato handeln. Darum empfehle ih kühle Ucberlegung und genügende Besonnenheit. Nur fo kann dem Parlament ein Dienst geleistet werden.

Akg. Strosser (kons.): Ehe ih auf die „Objektive“ Behandlung der Geschäftsordnung hier eingehe, und ehe ih von der Mohrenwäsche spreche, die der Vorredner an seiner Partei vorzunehmen gesucht hat, möchte ih zunädst noh einige andere Fragen besprechen. In der Be- fämpfung der Unsittlichkeit in Wort und Bild stehen wir durhaus auf dem Standpunkt des Abg. Dr. Lohmann. In der Frage der sogenannten Volfks- oder Familienbäder ist auch in der Budget- kommission kein Zweifel gewesen, daß auf diesem Gebiete sehr erheb- lihe Mißstände zutage getreten find, die dringend der Abhilfe bedürfen. Es ist bei dieser Gelegenheit auch auf eine Petition über diese Frage hingewiesen worden. Ich möchte der Regierung ans Herz legen, gegen die außerordentli bösen, unsittlihen Ver- hältnisse, die teilweise in diesen Badeänstalten herrschen, ein- zuschreiten und vor allen Dingen den fogenannten „wilden“ Bädern entgegenzutreten, wo diese Uebelstände in geradezu verstärktem Maße auftreten. Ich will nihts gegen Volksbadeanstalten einwenden, unser Volk foll baden können. Aber die Freibäder sind nicht billiger. Eine ganze Anzahl von sogenannten Familienbädern kostet meistens 50 Pfg. obne Wäsche und ohne alles andere, also von einer großen Billigkeit kann nicht gesprochen werden, zumal die Fahrkosten hinzu- fommen. Es ist bedauerlich, daß man von Jahr zu Jahr die Auto- mobilfrage besprechen muß, ohne daß irgendeine Abhilfe erreicht wird. Wenn diese Frage auftaucht, wird immer gesagt, die Frage gehört eigentlih nicht Bierber, Bringt man sie beim Eisenbahns ministerium zur Sprache, dann heißt es, Polizcimaßregeln sind Sa des Ministers des Innern, und wenn man sie hier zur Sprahe bringt, dann heißt es, das gehört zum Eiscnbahkministerium.