1500/6, oder den dritten Theil seines ursprünglihen Vermögens. Aus folhen Vorkommnissen geht die bestehende Erbitterung der Land- wirthe hervor. Jn Irland haben wir gesehen, wie man eine land- wirthschaftliche Bevölkerung vollständig zu Grunde richten kann. England “hat durch seine Freihandelspolitik und Goldwährung das vor Generationen blühende Irland vollständig ruinirt. Jch möchte nicht, daß man unsere östlichen Provinzen, welche den Kern Preußens bilden, mit deren Söhnen Friedrih der Große seine Kriege geführt hat, den Weg Irlands gehen läßt. Unser Mißtrauen gegen neue Handelsverträge is dur unsere Erlebnisse bezüglih des öster- reichischen einigermaßen gerechtfertigt. Was haben wir unter dem neuen Purs niht Alles gegen die Landwirthschaft erlebt! Das muß wiederholt aufgezählt werden, damit man sieht, daß an der Noth der Landwirthschaft eine
ewisse Schuld auch die Negierung trifft. Die - Maul- und
laucnfeuche, eine Folge der Erleichterung der Gecenzsperre, hat der deutschen Landwirthschaft Millionen gekostet. Man hat die amerika- nische Trichine freigegeben, die Zuckerexportprämien aufgehoben. Das leßtere hat man bei Abschluß des Handelsvertrages mit Oesterreich nicht verlangt, Oesterrei hat sogar seine Erportprämie auf 2 F[. pro Doppelcentner erhöht. Auch Frankreich hat eine hohe Exportprämie von 5 Fr. pro Doppelcentner, und wir werden mit unserem Noh- zucker voin Weltmarkt allmählich verdrängt. Bei Erwägung neuer Steuern infolge der Militärvorlage ist man glücklicherweise noch im leßten Moment von einer weiteren Vershlimmerung dieser Verhält- nisse zurückgekommen. Wie wenig die Interessen der Landwirthschaft gewürdigt werden, zeigt der Gedanke, daß beim Fortfasl des russischen Noggenimports Deutschland sich mehr und mehr an den Genuß von Weizen gewöhnen, und daß dies cin großer Culturfortschritt sein würde. Was soll denn aus den weiten Strichen in Deutschland wer- den, dié nur Roggen bauen können? Man scheint in den höheren Kreisen nicht diejemgen Kenntnissedes Landes zu haben, die meiner Meinung nah erforderlich sind. Auch ih bin der Meinung, daß daß bei dem abzu- schließenden Handelsvertrag die Berücksichtigung der rufsishen Valuta eine sehc bedeutende Nolle spielen muß. Aber angesichts der Interessen der Seestädte des Ostens trete ih einem solchen Handelsvertrage nicht absolut feindlih gegenüber. Auch unsere Industrie hat manche Vor- theile dur ihn. Je nah dem Stande der russischen Valuta müßte ein Zuschlagszoll erhoben werden. Wo nicht, ist die Landwirthschaft in der That verloren, denn die Unterwerthigfkeit der Valuta wiegt auch einen ziemnlich hohen Zoll mit Leichtigkeit auf. Noch besser wäre es, wenn Rußland die Goldwährung acceptirte, aber niht nach öster- reihidem Muster, fondern in reeller Weise. Oesterreih hat uns mit der Valutaregulirung noch nah dem Handelsvertrag das Fell über dic Ohren gezogen. Wir wünschen, daß die Negierung auf diefen Punkt ihre gauz besondere Aufmerkfankeit lenkt. Ich erinnere noch an die hohen ruffishen Exportprämien für Spiritus, die uns die Goncurrenz auf dem Weltmarkt unmöglih machen. Auch wenn die russishen Zölle immer in gleiher Weise erhoben würden, würde es für unsere Landwirthschaft nützlich sein. Vor allem aber wünfchen wir, daß das preußische Staats Ministerium seinen Einfluß darauf verwendet, daß unsere Delegirten auf der Brüsseler Münzconferenz cine andere Haltung annehmen als bisher. Kein Land hat cin Höheres Interesse daran, den Silberwerth wiederhergestellt zu sehen, als Deutschland im Interesse der Erhaltung der Landwirthfchaft. Dessen ungeachtet haben unsere Delegirten die allerfeindlichste Stellung dagegen auf dem Congreß eingenommen. Eine Wiederherstellung des Silberwerthes halte i niht nur für möglich, sondern auch im Laufe der Zeit für unausbleiblih. Möglicherweise spielt bei dem russischen Handelsvertrag auch der Export von oberschlesischen Kohlen eine Nolle. Es ist in Westfalen ein Kohlenring im Entstehen begriffen, der das ganze westfälishe Kohlenrevier umfaßt. Ich habe {on in der Presse auf die Gefahren eines solchen Kohlenringes hingewiesen ; diese Gefahr würde noch verstärkt werden, wenn die oberschlesische Kohle einen gesteigerten Export nah Nußland fände und dadurch tec Berliner Markt mehr für die westfälishe Kohle frei würde. Bei dem gesteigerten Gewinn der Grubenbesitzer würde daun cin Strike in Westfalen die Folge sein. Die Landwirthschaft käinpft um ihre Existenz. Allerdings ist thr kein Opfer zu schwer, um die Weh1 kraft des Vaterlandes aufrecht zu erhalten; unsere Gesinnung ist genau die alte, so monarchish und treu wie immer. Aber es giebt einen Punkt, wo \hließlih die Opfer- willigkeit aufhören muß. Es wird Sache der Regierung sein, daß dieses Stadium der Noth nicht eintritt für die Landwirthschaft. Das Wesentlichste dazu is eine andere Instruction unserer Dele- girten auf den Brüsseler Conferenzen, davon verspreche ih mir für die Landwirthschaft immer nochþ am meisten. Warum können wir von der Goldwährung nicht zurück ? Wenn es sich um die Frage handelt, ob die deutsche Landwirthschaft aufrecht erhalten werden soll oder die Goldwährung, dann i} mir ‘die deutsche Landwirtbschaft doch noch zehnmal lieber. Keine Production kann es aushalten, mit \steigen- den Arbeitslöhnen und stetig sinkenden Productenpreisen zu wirth- schaften. Dazu ist aber die Landwirthschaft durch die Goldwährung verurtheilt. Jch hoffe, daß die Staatsregierung diese Frage sehr ernsthaft zu Herzen nimmt und niht mehr von dem rein manchester- lien Standpunkt aus betrachtet, der zu meinem Bedauern beim Reichs-Schaßamt immer noch herrscht.
Abg. Dr. Enneccerus (nl): Der Abg. Arendt hat zum Be- weise dafür, daß die nationalliberale Presse sih an der, wie er es uenut, Agrarierbetße betheiligt hätte, auf die „Weser-Zeitung“ und die „Nationalliberale Correspondenz“ hingewiesen. Die „Weser-Zeitung“ ist fein nationalliberales Blatt; der Abg. Arendt hat sie selbst als in der Mitte stehend zwischen der freisinnigen und der nationalliberalen de bezeichnet; die nationalliberale Fraction is in keiner Beziehung ür die „Weser-Zeitung“ verantwortlich. Die „Nationalliberale Correspondenz“ hat nicht den Antrag, wie er heute vorliegt, sondern die Art des Vorgehens ves Abg. Arendt als eine Art „Faschings- scherz“ bezeihnet. Jh habe keine Verpflichtung, für dieses Wort einzustehen; aber der Abg. Arendt selbst hat sich genöthigt gesehen, jenen Antrag vom vorigen Mittwoch zurück,uziehen. Das Interesse der Landwirthschaft ift zu all und jeder Zeit von meiner Fraction mit vollständig gleicher Wärme vertreten, wie von irgend einer anderen Partei. Das follte man am wenigsten im gegen- wärtigen Moment bestreiten, wo die von meiner Partei stets befür- wortete Aufhebung der Grundsteuer zur Ausführung gelangt, nicht zum wenigsten auf unser Andrängen. Der Unterschied is nur der, daß bei uns vorwiegend der mittlere, bei Ihnen der Großgrundbesißtz vertreten ist. Insofern können zwischen uns in gewissen Fragen Diffe- renzen entstehen, aber wo cs \sich um unzweifelhafte und berechtigte Interessen der Landwirthschaft handelt, werden wir von denselben Grundlagen ausgehen. Hält der Abg. Arendt eine Rede wie die seinige für geeignet, ein Zusammenstehen der Parteien zu fördern und zu kräftigen? Die Anwesenheit der Minister hielten wir für noth- wendig gegenüber dem früheren Antrage Arendt, der ein ares Tadelsvotum enthielt. Der Antrag liegt jeßt in anderer Form vor. Der Antrag enthielt früher eine Kritik des Reichstags; der Abg. Arendt hat felbst erklärt, daß er deswegen seinen Antrag zurückgezogen habe. Die Grundlagen des Reichs müssen erschüttert werden, wenn die Autorität des einen Hauses gegen die des an- deren Hauses auëêgespielt wird. Deshalb war der Antrag Arendt uns unannehmbar. Wir sehen den neuen Antrag als eine durch- greifende Aenderung an. Wir werden für diesen Antrag stimmen, weil wir darin keine Erklärung gegen einen etwa abzuschließenden Handels- vertrag sehen. Die ausgiebige Wahrung der Interessen der deutschen Industrie und Landwirt schast ist auch unser Wunsch.
Abg. Freiherr von Minnigerode- Rossitten (conf.): Dem ¿FasNingsGers" egenüber fann ich wohl daran erinuern, | daß wir regelrechten Aschermittwoch heute en: Was die Liberalen an den Agrariern gesündigt haben, wird ihnen heute Es heimgezahlt, Es darf uns nicht verübelt werden, wenn ein etwas shärferer Ton sich geltend macht; das ist die Folge der bittersten Nothwendigkeit, denn unsert Existenz steht in Frage. Der Reichsregierung schwebte vor ein paar Jahren das Ideal einer Verbilligung der Volfks- ernährung vor. Die Erfahrungen der leyten Jahre haben ihre Hoff- nungen zerstört. 1892, ein Jahr nah den unerhört hohen Preisen, bäben wir cine sebr lebhafte Depression der Preije gehabt. Wo ist
. gehandhabt worden ift.
ist nicht mehr nöthig. Wir haben in der leßten Zeit mancher
nun die Verbilligung des Brotes? Auf die Preisbildung des Brotes wirken do noch ganz andere Factoren ein als der Getreidepreis. Beim Bâcckergesellenstrike machten die Bäckermeister darauf aufmerksam, daß, wenn die Taernigeg der Gesellen durchgehen würden, sie ge- wungen fein würdén, die Preise des Brotes um die Hälste zu er- höhen, Die hohe Verschuldung der Güter und der Arbeiter- mangel, auf die der landwirthschaftlihe Minister hinge- wiesen hat, fiyd gewiß in hohem Maße vorhanden. Aber woher rühren diese Etschehnmgen ? Aus dem wesentlichen Rückgang der Preise der landwirthschaftlihen Producte. Bedenklih macht die Art und Weise, wie allem Anschein nah die Enquête seither Der Abg. Vopelius hat vielleicht aus der Schule geplaudert. Soviel dürfte wohl feststehen, daß die einzelnen vernommenen Herren. nur nah dem gefragt worden find, was man speciell wissen wollte. Man hat nur nach dem Export gefragt, nicht nah dem inländischen Consum. Die Gruppe der Herren , - die den russischen Handelsvertrag zu fördern berufen i}, zeigt viel mehr internationalê als nationale Gesichtépunfkte und das fann uns weder erbaulih noch vertrauensvoll stimmen. Es ist jener unbegrenzte Freihandelsstandpunkt, dec unserem Lande bis 1879 zu fo großem Unheil gereiht hat. Nach den O des Staatssecretärs von Marschall steht fest, daß die Verhandlungsbasis mit Rußland der zur Zeit geltende Conventionaltarif bilden soll. Das Weitere bleibt abzuwarten. Daß ein Zollsaß von 3,50 nur auf Kosten der Landwirthschaft eingesührt werden kann, liegt auf der Hand, und das lat die Landwirthe nit nur beunruhigt, sondern auch erbitiert. Der jeßige Versuch, den legalen Gurs unferer 20-Markstücke dur) einen Ukas auf cinen Minder- werth herabzudrücken, giebt einen Vorgeschinack dessen, was wir von einem Vertrage mit Rußland zu erwarten haben. Daß wir mit dem russischen Import auch einen Import von Viehfeuchen bekommen werden, ist mir sehr wahrscheinlih. Danzig und Ksönigs- berz haben fein fo großes Jnteresse an Rußland. Beide Städte haben ein genügendes Hinterland. Sie sollten niht einer Taube nahlaufen und den Sperling mißachten.- Ihr Hiuterland ift ihnen sicher, der Verkehr mit Rußland ist ungewiß, namentlich wegen der Währnngsverhältnisse. Das i} der Kernpunkt der Sache. Es ist ganz falsch, daß nur Gelehrie etwas von der Währungéfrage verstehen. An der russishen Grenze zieht cin Mann mit seinen Gänsen die Straße einher. „Johann, wie gehen die Geschäfte?“ „„Schlecht.““ „Was kosten die Gänse?“ „„3 4("*" „Wie kommt das?" „„Der Rubel teht hoh.“ Das kennt jeder Grenzbewohner, und Sie werden wohl auch rieben, daß bei niedrigem Nubelcurs der Einkauf günstiger ist. Aber dieser Gäujetreiber hat mir . doch zu denken gegeben. Es giebt ganz verständige Leute auch unter ganz untergeordneten Verhältnissen. Il) habe mir gesagt: 8 war kein Gelehrter, auch kein Schreiber, s war nur ein {lichter Gänfetreiber. Den offenkundigen Verhältnissen gegenüber sollen wir s{weigen. Ausgepovert — das war das richtige Wort, das der Fürst Bismarck in die Welt s{leuderte, als er die Schußzollpolitik einleitete. Wenn früher von dem Getreidezoll von l M. als Compensation8object ODesterreih gegenüber die Nede war, so muß ih bemerken, damals gab es feine Schußzölle, fondern nur & nanzzôlle. Keinem Menschen ist es aber je eingefallen, die Schuß- zölle als Compensfatiensobject zu betrahten. Damals hieß es: Deutschland für Deutschland und kein Tummelplay des Ausk!andes. Jetzt scheinen wir vor ciner Nückwärtsrevidirung zu stehen. Der Reichskanzler hat von dem Beunruhigungsbacillus gesprochen. Ist die weitere Verfolgung dieser Handelspolitik etwa ein Beruhigungs- bacillus? Ich bedauere, daß der Minister der Auswärtigen Angelegen- heiten, trotzdem das Haus es verlangt hat, nicht hier ist; ich würde ihn persönli fragen: Sie wollen. dem Lande die Last der (Setreidezölie au weiter auferlegen und troßdem ein neuer Handels- vertrag? “Wir wollen der Regierung deutlich machen, was wir wirthschaftlich und s\taatlih für nethwendig halten. Wir wollen ausgiebigen Schuß der Landwirthschaft und der In- dustrie Rußland gegenüber. Der “Antrag Nickert auf Tages- ordnung bezeichnet ehrlich und fnapp, was die Landwirthschaft von den Freisinnigen zu crwarten hat. Eine Modificirung dieses Mrags
el (&rfahrungen machen müssen. Es ist noch nicht lange her, da wurde im Reichstage von einem Zweigespann von Bimetallismus und Antisemitismus gesprochen. Wenn nach der Tivoli-Versammlung {on bekannt gewesen wäre, wie die Landwirthe sih jeßt zum russischen Handelsvertrag stellen, dann wäre das Anathema über die Agrarier vielleicht damals auch verhängt worden. Wenn man fo etwas erlebt, dann muß man sagen: Wer die Zügel des Regiments führt, der muß auch die Zeichen der Zeit erkennen; das nennt man regieren ! Wir stechen vor {weren Zeiten und müssen immer wieder die Frage aufwerfen: Wem nügt der russishe Handelsvertrag, wem nüyen die anderen Handelsverträge? Der landwirthschaftliche Minister sagt, wir sollen tragen, was uns auferlegt ist. Wir wollen uns aber nichts mehr auferlegen lassen, wir wollen nicht auf zehn Jahre unter diese Luftpumpe, aus der wir niht weg kommen können. Wir sind feine Fatalisteu, sondern Vertreter einer sehr guten Sache: der Inter- essen des thatkräftigen deutschen Landmaunes, der nicht mehr willens ist, sich \tillshweigend s{ezren zu lassen. Daß es sich dabei um das Wohl und Wehe der Landwirthschaft, Preußens und des Reichs händelt, darüber if untex Wissenden kein Zweifel.
Abg. Szmula (Centr.) weist darauf hin , daß der Arbeiter- mangel, wenn auch nicht allein, so doch zum theil von den Pulen- ausweisungen herrührt, die Maßregeln, welche getroffen sind, reichen E aus, Der Minister ist darüber nicht informirt. Er meiut, die Arbeiter, die über die Grenze kommen, müßten am 1. November zu- rüdck, weil dann die Sachsengänger zurückkommen. Abex die Sachsen- gänger verjubeln ers ihre Ersparnisse, wenn sie zurückkommen, und treten nit gleich in Arbeit. Die Zulassung der Arbeiter von jenseits der russishen Grenze macht viele Scherereien auf dem Landrathsamt. Von dem österreichischen Handelsvertrage haben allerdings die In- dustriellen in Oberschlesien wenig Vortheil gehabt, eher Nachtheile ; denn die Zollermäßigung ift eine fo geringe, daß die Ausfuhr deutschen Eisens nach Oesterrei nicht möglich ist. Etwas Anderes wäre es, wenn die Kohleapreife für unsere Industrie heruntergeseßt würden; darauf ist aber der. Handels-Minister niht eingegangen. Wenn die obers{lesische Cisenindustrie nicht vollständig latte foll, müssen wir ihr die russishe Grenze öffnen, allerdings unter Schonung der Interessen der Landwirthschaft. Wir werden dem Abschlusse eines Handelsyertrags zu -widerstreben nicht im stande sein, {on damit die Gefahr aufhört, daß man bei Ueberschreitung der Grenze an- geschossen wird.
Minister für Handel und Gewerbe Freiherr von Berlepsch:
Aus den Ausführungen des Herrn Vorredners werden Sie viel- [leiht entnommen haben, daß die Stimmung der deutshen Jndustric dem Abs{luß von Handelsverträgen gegenüber doch niht eine fo durchaus ablehnende ift, wie es scheinen könnte, wenn man ih -an die Worte hält, die wir von den früheren Herren Vorrednern gehört haben. Selbstverständlih is das Maß des Interesses an dem Ab- {luß eines Handelsvertrages ein sehr verschiedenes und bestimmt durch das eigene Interesse. Daß die oberschlesishe Industrie ¿- B. an dem Abschluß eines Handelsvertrages mit Rußland ein anderes Interesse hat, als die Industrie, die ihre Waare nach Süddeutschland, nach England uny Belgien absétt, das liegt fsar auf der Hand, und je nah diesem Interesse wird sich der Anspruch an das Opfer richten, welhes man von anderen Be- theiligten verlangt, fowohl von der Landwirthschaft, wie auch von anderen Industriezweigen. Denn das ist gar nihts Seltenes, daß beim Abs{luß cines Handelévertrages si nicht bloß widersprechende Inter- essen von Landwirthschaft und Industrie gegenüberstehen, sondern — und das ist viellcicht noch häufiger — widersprehende Interessen
Ä
zwischen einzelnen Industriezweigen. Jh erinnere an die vielbesprodene Frage der Spinner und Weber, die bei den leßten Handelsvertrag: verhandlungen cine \o erheblihe und bedeutende Rolle gespielt hat. Wenn aus den Ausführungen der Herren Vorredner nunmehr ge- folgert worden, daß auch die deutsche Industrie sih aus dem Abschluß der Handelsverträge mit Oesterreih-Ungarn, Belgien, Schweiz und Italien nihts mache, fo halte ih diesen Schluß für durchaus fals. Die Frage muß meines Erachtens anders gestellt werden, nämlich fo: Ist die deutshe Industrie durchaus zufrieden mit diesen Verträgen? Wenn Sie diese Frage so stellen, so antworte ih Jhuen mit Nein; sie ist niht durhaus mit diesen Verträgen zufrieden, und dem stimme nit nur ih zu, sondern ih bin ganz fest überzeugt, wenn ter Herr Neichskanzler heute an meiner Stelle stände, so würde er Ihnen genau dieselbe Antwort geben; er würde sagen: ich bin deshalb mit diesen Verträgen nicht zufrieden, weil ih gewünscht hätte, wir wären zu ihnen gekommen ohne so viele Concessionen und mit mehr Vortheil. (Hört! Hört!) Es fragte sich eben nux, ob die Verträge so zu haben waren, und weil die Meichsregierung zu der Ueberzeugung kam, daß Verträge ohne das Maß von Con- cessionen, was angeboten werden mußte, nicht zu haben waren, {loß sie den nit befriedigenden Vertrag, und weil die preußische Regierung mit der Reichsregierung derselben Ansicht war, so trat sie der Meichss Handelspolitik bei und, wie ih fest überzeugt bin, in Uebereinstimmung mit der preußischen Industrie.
Meine Herren, als die großen Vertragsverhandlungen im Jahre 1891 begannen, hat eine eingehende Anhörung unserer Industrie statt- gefunden, nit eine etwa nur sporadische, nicht eine oberflächhlihe : es find niht etwa nur \pecielle Fragen aufgestellt worden, sondern die generelle Frage ist gestellt worden: wie stellt sich die deutsche Industrie gegenüber dem Zeitpunkt vom 1. Februar 1892, wo, wie bekannt, die meisten Handelsverträge ablicfen, und was verlangt die Industrie in ihrem Interesse, was f\oll geschehen ? Zur Antwort auf diese Frage habe ih in meinem Ministerium 17 der ersten Vertreter unserer deutshen Industrie versammelt gehabt, die Vorsißenden unserer größten wirthschaftlichen Bercine, die Vertreter einzelner ganz hervorragend großer Firmen. Die hier ver- sammelten Herren, die ih ganz unzweifelhaft als die völlig [egiti- mirten Vertreter der deutschen Industrie ansehe, haben cinftimmig geantwortet — ih war in der Lage, diese ihre Willensmeinung in eine Resolution oder einen Saß zusammenzufassen — sie haben ein- stimmig geantwortet: Die deutsche Industrie bedarf in ihrer jeßigen Lage unbedingt des Exports, sie kann ohne den Erport nit mehr existiren, und um diesen zu erhalten, bedarf sie unerläßlich nothwendig der Handelsverträge, weil sie auf einem anderen Wege niht dazu fommen fann. Sie richtete daher die Aufforderung .an die Regierung, daß sie zunächst mit den befreundeten Staaten Oesterreich, Italien und der Schweiz in Verhandlungen eintrete, um Verträge mit ihnen abzus{ließen. Meine Herren, ih bemerke dabei, wenn wirk: lich die deutshe Industrie auch damals \{chon der Mei- nung gewesen wäre, daß fie solhe Verträge nicht wolle, wenn die Landwirthschaft irgend ein Opfer bringen müsse; bei dieser Versamm- lung wäre es ganz unzweifelhaft zum Ausdru gelommen. Das ist aber nit ges{hehen und das ift cinfah deshalb nit geschehen, weil die Herren sich dort versammelt hatten in der Absicht, ihre eigenen Juteressen kundzugeben, und diese ihre eigenen Interessen führten sie zu deim Wunsche, einen Handelsvertrag zu bekommen. Daß sie dabei genau so wie der Herr Vorredner und wie andere Industrielle der Meinung waren, daß möglichst ‘wenig die Interessen der Landwirth- schaft ges{hädigt werden sollen, so ist’ das eine ganz — ich möhte sagen — selbstverständlihe Sache. Es handelt si{ch nur darum, wie groß das Maß der Opfer ist, die beansprucht werden, um für sih einen Vortheil zu haben. Jch glaube die Behauptung aufstellen zu dürfen, daß die ganze deutshe Industrie niht der Meinung gewesen ist, Daß dur den bei dem Abschluß der österreihisch-ungarischen und anderer Handelsverträge concedirten Getreidezoll-Nahlaß von 1,50 A die deutsche Landwirthschaft in dem Maße geschädigt werden würde, daß die Industrie auf den für sich verlangten Vortheil verzichten müßte.
Meine Herren, es ist mix außer jedem Zweifel, wenn heute noch die deutsche Industrie vor die Frage gestellt würde, ob sie solhe Ver- träge {ließen will, wie wir sie haben, oder ob sie keine Verträge hließen und in ein System des Zollkrieges kommen will — vor dem wir damals standen — daß sie heute ganz sicher dieselbe Antwort wieder geben würde, die sie mir damals ge- geben hat.
Nun sind von dem Herrn Abg. Arendt einige einzelne Fälle er- wähnt worden, aus denen man {ließen sol], daß die deutsche Industrie mit den Verträgen in keiner Weise zufriedengestellt is, daß eine all- gemeine Unzufriedenheit mit dem ganzen Werk vorhanden ist. Das Beispiel, was der Herr Abgeordnete angeführt hat -— es war die Nähmaschinenfabrikation — ist deshalb doch, meine Herren, nicht ganz zutreffend, weil er uns die Zahlen nicht genügend und in aus- führliher Weise gegeben hat, um die es sich handelt. Er meinte, die. Nähmaschinen hätten einen Schutzoll von 3 #Æ in Deutschland und cinen Schußzoll von 30 Fl. in ODesterreih. So liegt die Sache nicht, meine Herren; das Gestell der Nähmaschinen hat einen Schußzzoll von 3 s. bei uns und hat einen Schußzoll jegt von 6 Fl. in Oesterreich, nicht von 30 Fl. Der Schutzoll von 30 Fk. bezieht sich auf die übrigen Bestandtheile der Nähmaschinen und der beträgt bei uns 5 H Die Zoll- reduction, die stattgefunden hat, von 30 auf 25, bezieht sih niht auf die ganze Nähmaschine, sondern auf die einzelnen Theile, und ih bemerke, daß unter diesem Zoll von früher 30 Fl. auf das Gestell ‘und, wenn ih nicht irre, von 8,50 Fl. auf die übrigen Bestandtheile der Näh- maschinen, immerhin Deutschland etnen Import im Werthe von einer halben Million von Nähmaschinen nah Oesterreich hatte, daß also wenn auch die Zollreduction nicht sehr erheblich war, immerhin darauf zu rechnen ist, daß der Import sich verbessert. Ich erwähne das aud) nur, um damit zu beweisen, daß es nicht immer gerathen ist, di Einzelheiten eines vor einem Jahre im Reichstag abgeschloffenen Zollvertrages hier cingehend zu besprechen.
Nun, meine Herren, gestatten Sie mir noch kurz einen Punkt zu berühren, den ih berühren muß, um nit eine Art von. Legende u ' fommen zu lassen. Das betrifft nämlich den Verlauf einer Enquête, die kürzlich stattgefunden hat zu den s{chwebenden Handelévertrags' verhandlungen mit Nußlaud. Es ift hier geäußert worden: wenu wir hören, daß die Verhandlungen fo geleitet worden, wenn wir hören, daß in parteiisher Weis ua einer bestimmten Richtung hin gefragt wird, wenn dic einzelnen Interessenten niht im allgemeinen gefragt
Jein, die Frage zu \tellen: wollt ihr “Handelsvertrag mit Rußland haben, wenn die landwirthschaftlichen
wérden, wie sie“ sih überhaupt zu dieser Frage stellen, so kann man sich ja nit wundern, daß eipe derartige Enquête Mißstimmung her- vorruft und als eine solche nicht angeschen werden kann, die irgend einen Erfolg hat. Meine Herren, diese Enquête is vom Reich veranstaltet, die betreffenden Persönlichkeiten, Sach- verständigen, die von dieser Commission zu hören waren, sind zum theil von Einzelstaaten, zum theil vom Reich bezeihnet worden. Ich selbst habe, soweit mir preußische große industrielle Vereine in Frage zu sein schienen, sie dem MNeich be- zeichnet, und infolge dessen sind diese Vereine aufgefordert worden, \sachverständige Personen zu bezeichnen, die von der Enquêtecommission gehört werden sollten. Meine Herren, diese Enquêtecommission, die einzelne Sachverständige vernommen hat, konnte garnicht dazu da überhaupt cinen
Zölle um so und fo viel herabgeseßt werden? Davon konnte garkeine Rede scin, das wäre meines Erachtens der allerungeschickteste Weg gewesen, den man hätte einschlagen können, wenn man auf diefe Weise hätte zu der Ueberzeugung kommen wollen, was die deutshe Industrie von dem Handelsvertrage Hält. Wenn man folche allgemeinen Fragen stellt, kann man nicht einzelne Sachverständige hören, sondern dafür sind die großen Körperschaften, die über das ganze Reich vertheilt sind in den Handelskammern, in Fachverbänden unserer Industrie, in so ausreihendem Maße vorhanden, daß es an der richtigen Quelle für diese Frage in keiner Weise fehlen kann, und es ist kein Zweifel, daß über diese Frage die Industrie in völlig deut- liher Weise ihre Stimmung zum Ausdruck gebracht hat.
Wir sind uns darüber nit zweifelhaft: diese Enquête, meine Herren, konnte und follte nur den Zweck haben, über einzelne be- stimmte Positionen des Tarifs Nachricht zu haben, über die Fragen : unter welchem Zollsaß ist die und die deutsche Industrie noch in der Lage, in das und das Ausland zu exportiren? Das wär der einzige Zweck der Unternehmung; und Sie werden mir zugeben, daß, wenn das so ist, die Sache denn do cin etwas andcres Bild gewinnt und man nicht hätte sagen sollen: hier ist in einer einseitigen Nichtung (Unruhe rechts) verfahren mit dem Bestreben, Ant- worten zu kriegen, die man gewissermaßen vorher vorbereitet hatte. (Oh! rechts.)
Also, meine Herren, die Vorwürfe, die damit gegen die Enquête- commission des Reichs gerichtet sind, halte ih für völlig ungerecht- fertigt.
Sie wollen mir gestatten, hiermit die weitere Bemerkung zu verknüpfen, daß ih es bedauere, daß dex Vorsitzende oder der Leiter dieser Commissioa hier namentlich genannt und einer ziemlich bitteren Kritik unterzogen worden ist. Meine Herren, der betreffende Beamte is ein Reichsbeamter und is nicht in der Lage, sich hier zu vertheidigen; auch niht einmal feine vor- gesetzten Behörden sind es, denn die Neichsbehörden können hier im Hause ja ihre Beamten nicht vertheidigen. Also ih kann mein Bedauern darüber niht unterdrücken. Im übrigen will ih nur das erwähnen, daß dieser selbe Beamte, soweit mix bekannt ift, seit über zehn Jahren im Auswärtigen Amt alle Ver- handlungen über Handelsverträge geführt hat, die überhaupt vorgekommen sind (lebhaste MRufe rechts: leider!), daß er durhaus nicht etwa eine Persönlichkeit is, die man neuerdings sich ausgesuht hat, um freihändlerishen Asptirationen zu huldigen, sondern daß dieser betreffende Beamte unter der ausgesprochensten Herrschaft des Schußzzolls gerade so Verwendung gefunden hat wie jeßt. (Lebhafter Widerspruch rechts.) — Seit 10 Jahren! habe ih mir gestattet zu bemerken. (Lebhafte Zwischenrufe rechts. Glocke des Präsidenten.)
Meine Herren, es is ferner auch noch ein anderer Neichs- beamter hier genannt worden, nämlich der frühere General-Konsul in St. Petersburg und jeßige General-Konsul in Antwerpen. Er ist so nahe mit einer Bemerkung in Verbindung gebracht, daß ih kaum anders kann, als fie auch als auf ihn gezielt zu erachten. Es ift nämlich gesagt worden : ein polnischer Bauer versteht mehr vom Nubel- curs — ich bin leider in dem Moment nicht anwesend 'ge- wesen, so ist es mir aber gesagt worden — (Zuruf) — aber dem ähnlich! (erneuter Zuruf.) — Dann kann ich nur be- merken, daß eine Anzahl von Herren - hier im Hause den Eindruck gehabt haben, als ob diesem Beamten des Neichs eine jedenfalls unter der eines pelnischen Bauern stehende Kenntniß der Rubelcursverhältnisse vorgeworfen worden ist. (Widerspruch.) — Meine Herren, wenn der betreffende Herr Nedner es in Abrede stellt, fo bin ich selbstverständlich sehr gern bereit, das als richtig anzu- nehmen. Ich halte mih aber do für verpflichtet, da der Vorgang vielleicht cinen ungünstigen Schein auf den betreffenden Beamten werfen fönnte, meiner Ueberzeugung dahin Ausdruck zu geben, daß dieser in Frage stehende Beamte cine der zuverlässigsten und sichersten Quellen des Deutschen Neichs über auswärtige Handelsbeziehungen ist.
Nun, meine Herren, ift noch ein Punkt, wenn Sie mir gestatten wollen, mit wenigen Worten darauf einzugehen, der in gewisser Be- ziehung mich auch persönlich berührt. Es ist uämlih von dem Herrn Abg. Vopelius in der Sitzung vom 9. Februar bemerkt worden, daß, wie er von einem Herrn aus Oesterreich, dessen Namen er uns leider nicht genannt hat, gehört habe, der Vertreter des preußischen Han- dels-Ministers in den Verhandlungen in Wien nah Möglichkeit ver- sucht habe, die Positionen der cutshen Industrie günstig zu ge- stalten, daß èr aber bei feinen Concommissarien keine Gegenlicbe in diesen Bestrebungen gefunden habe. Ich fürchte, dieser Herr aus Oesterreih hat dem Herrn Abg. Vopelius doch nicht ganz richtige Dinge erzählt. Meines Erachtens kann er sie ihm nicht erzählt haben. Denn das halte ih doch für eine unmögliche Sache, daß in Gegen- wart der österreihischen Commissare die anwesenden deutschen Commissare sih streiten über das Maß, das au Concessionen gegeben werden soll. Das wäre sehr traurig, wenu das so gewesen wäre, und ich glaube mit Sicherheit behaupten zu dürfen? daß die Commissarien des Neichs sich derartiger Dinge vor den Oesterreichern, coram Austria, nicht haben s{uldig machen können.
Meine Herren, der preußische Handelsminister hat überhaupt einen Vertreter bei diesen Verhandlungen im eigentlihen Sinne des Wortes niht. ‘Die Commissarien, die dort gewesen sind, sind allesammt Neichscommissaxien, und sie haben allé miteinander den Instructionen der Reichsregieruxg bei den Handel3vertragöverhandlungen zu folgen. Das kaaga auch gar uicht anders sein, Wohin ‘follte es führen, wenn der preußische Handels-Minister seinen Vertreter etwa anders ünstxuirte wie die Reichsregierung den ihrigen oder wie die sückchssche
Regierung den ihrigen — dena ein sächsisGer Commissar war bei den Verhandlungen au zugegen — oder die bayerishe den ihrigen. Hinter den Coulissen können sich die Herren oft gezankt haben, daß will ih niht bestreiten, daß sie verschiedener Meinung über ver- schiedene Säße gewesen sind; es wäre wunderbar, wenn das nicht der Fall gewesen wäre — aber daß das zu Tage getreten wäre vor den österreichishen Commissarien , daß unsere Commissarien vor ihnen verschiedene Anshauung über die anzuwendenden Säße des Tarifs geäußert hätten, das glaube ich nicht.
Nun wollen Sie mir noch geskatten, einige Worte zu sagen zu dem Antrage des Herrn Abg. von Eynern, der ja au für mi eine ganz besondere Beziehung hat, dem Antrage nämlich, daß die König- liche Staatsregierung aufgefordert werden foll, vor und bei Abschluß der Handelsverträge \sich mit den Interessenteu und Sachver- ständigen der Landwirthschaft und Industrie ausreihend in Beziehung zu seßen. Der betreffende Antrag hat eine gewisse Achnlichkeit mit dem Hauptantrage, der uns beschäftigt, und man könnte, wenn man wollte, daraus lesen, daß der Antragsteller und die Herren, die ihn untershrieben haben, der Meinung sind, daß diese Anhörung von Interessenten und Sachverständigen bisher doch nicht in ausreihendem Maße stattgefunten hat. (Sehr vichtig! rechts.) Ich habe, meine Herren, “bereits bei einer früheren Gelegen- heit — ih glaube, es war im vorigen Jahre in diesem Hause — mir erlaubt zu bemerken, daß dieser Vorwurf niht zu- trifft, und ih habe mir auch gestattet, den Weg mitzu- theilen, den die preußische Negicrung damals eingeschlagen hat bei ten österreichishen Vertragsverhandlungen, um sich die nöthige Sachkennt- niß in den vorliegenden Fragen zu verschaffen. Jh gestatte mir kurz zu wiederholen, was ich damals ausführte. Es lag, wie bekannt ist, ein außerordentlih umfangreihes Material zur Beurtheilung der Fragen in dec Unterfuchung des „Deutschen Handelstags“ vor, die niht lange vor Beginn der Verhandlungen abgeschlossen waren. Dieses Material war sorgfältig fortgeführt. Als dann die Hauyt» verhaudlung vor sih gehen follte, berief ih cine Conferenz — ih habe das Protokoll hier, und um ganz gewissenhaft und sicher zu sein, will ih noch mal nachsehen — eine Versammlung von 17. Per- fönlichkeiten. Die größeren industriellen Verbände hatten darin ihre Vertretung gefunden, nicht alle waren der Einladung gefolgt, z. B. fehlte der Vorsißende des Verbandes der deutschen Glaswaaren- Industriellen, der auch eingeladen war, und der, wenn ih niht irre, damals eine andere Persönlichkeit war, als der Herr Abg. Vopelius. Im übrigen waren die Herren fast ausnahmslos dem Nufe gefolgt, und, wie gesagt, es waren die Vertreter fast aller großen wirthschaftlichßen Interessen anwescnd, die bei dieser Frage für mih maßgebend waren. Mit den Herren wurde die ganze Situation, wie sie sich am 1. Februar 1892 ergab, eingehend besprochen, und es wurde, wie ich mir vorhin schon erlaubte zu erwähnen, versucht, eine Verständigung darüber zu erzielen, in welchec Nicbtung die Industrie wünsche die deutsche Handelépolitik dirigirt zu schen. Das Votum ist abgegeben und diesem Votum ge- mäß war ih in der glülichen Lage, bei den weiteren Verhandlungen durchaus zu verfahren.
Um nun weiter über die speciéllen Fragen der Tarifyolitik genau orientirt zu sein, wurden die betreffenden mündlichen und s{riftlichen Verhandlungen fortgeführt. Meine Herren, in meiner Hand befindet sih ein Verzeichniß von 170 Adressen, cnthaltend Handelskammern, große wirthschaftlihe Vereine und Privatpersonen, an welche in solchen Fällen geschrieben wird, und so ist cs auch hier gesehen, wenn auch niht an alle, #\& doch jedenfalls an die größte Mehrzakbl, sie haben geantwortet mündlich und \chriftlich, die vorliegenden Fragen wurden bis in das eingehendste Detail erörtert; ih) wüßte in der That nit, wie man anders verfahren sollte, um sih eingehend erstens über das allgemeine Princivielle und zweitens über die Specialitäten eines Handelsvertrags zu informiren. Eins allerdings, meine Herren, haben wir vielleicht versehen: wir haben es nämlih nicht jedesmal in die Zeitungen gesetzt, wenn einer der Herren bei uns war und mit uns gesprochen hat. Vei den leßten Vertragsverhandlungen ist das ge-
, , C r A N g schehen, da ist in der Presse und in weiteren Kreisen bekannt geworden, daß eine Anzahl Industrieller nach Bexlin berufen sei, um über die Interessen ter Industrie befragt zu werden. Das {eint etwas be- ruhigt zu haben, Jch. kann aber die Versicherung geben, daß nicht das Mindeste mehr bei diesen Verhandlungen geschehen ist, als bei allen unseren Verhandlungen vorher meinerseits auch geschehen ift.
Wenn die Herren also den Antrag für nöthig halten, so be- deutet das für mich nichts mehr, als daß ih in Zukunft genau dasfelbe thun werde, was ih bisher schon gethan habe.
Abg. Dr. Meyer- Berlin (dfr.): Die freisinnige Partei hat bis jeßt noch nicht Gelegenheit gehabt, ibre Stellung zur Angelegenheit klar- zulegen ; nichtsdestoweniger bat der Abg. von Minnigerode versucht, den Beweis zu führen, daß unsere Gesinnung wieder eine verwerfliche ift. Er hat uns von neuem den Vorwurf nicht erspart, daß wir uns niht von nationalen, fondern von internationalen Gesichtspunkten leiten Jassen und einen Mangel an nationaler Gesinnung an den Tag legen. Worin besteht dieser Mangel? Die Haltung, die wir einnehmen, kann ih furz dahin“ präcisiren: Wir wollen der Regierung. in diefem Augenblick, wo sie in Verhandlungen stebt, feine N bereiten. Wenn sich hierin ein Mangel an nationaler Gefinnung ausdrückt, so wäre es also ein Erforderniß nationaler Gesinnung, einer Regierung, die in internationalen Ver- handlungen begriffen ift, Steinte in ‘den Weg zu werfen. Ob diese Definition „ sich als die richtige erweisen wird, is mir sehr zweifelhaft. Wir “wissen nicht, ob der Vertrag mit Rußland überhaupt zu stande kommt. „Wird er dem Neichstage vorgelegt, dann wird es Zeit sein, eine Krit? zu iben. Der Reichstag hat die Befugniß „und die Pflicht, einen Vertrag, von dem er mehr Nachtheil als Vortheil erwartet, zu bérwerfen. Jh bin überzeugt, daß der Reichstag bei cinem nachtheiligen Inhalt des Vertrags denselben ver- werfen wird, daß er ihn aber annehmen wird, wenn ér findet, daß die Vortheile die Nachtheile überwiegen. Seit Jahrzehnten wünscht das deutsche Volk lebhaftere Handelsbeziehungen mit Rußland, Hier handelt es sih nit um gewöhnliche Grenzverhältnisse, sondern um eine Grenze zwischen dem Weltverkehr und einem Lande, das sich bisher vom Weltverkehr absonderte. Die Geschichte der preußischen Handelspolitik von Dr, Zimmermann zeigt, daß die preußische Re- gierung hon feit 1818 eine Erleihtererung der Handelsbeziehungen zu Nußland erstrebt, daß aber alle Versuche bisher am Widerstande der russischen Regierang s{eiterten. Jett ist endlich die ru}siscze Regierung aa In Vertragsverhandlungen einzutreten, und wenn man jeßt sagt: wir verwerfen den russishen Handelsvertrag noch ebe wir ihn kennen, fo ist das mit Necht als Faschingsscherz bezeichnet. Ihr Ansturm gegen, die Negierung wird an deren Haltun scheitern, und wenn die Regierung den Handelsvertrag abschließt, fo wird fie auch siegreich bleiben und der Reichstag ihn annehmen. Die Regierung thut „hter nicht was sié will, sondern was die Nothwendigkeit der De G E Wfdringt, Wir waren in eine Lage gekommen. iu der jede“ Regierung Handelserleichterungen mit dem Auslande anbahnen
muß. Mein handelspolitisher Standpunkt ist ein völlig anderer, als der der Regierung indessen lege ich mir die nothwendige Reserve auf und - gehe au niht auf Einzelheiten ein. Den th des österreihishen Handelsvertrags darf man nicht nah dem positiven Nupen ermessen, den er bisher brate, und ih gebe gern zu, daß nach diesem Maßstab vielleiht wenig Gutes für den Vertrag zu fagen wäre. Jch messe vielmehr den Werth dieses Vertrags an dem un- ermeßlihen Schaden, den er verhütet hat. Der 1. Februar 1892 war ein fritisher Tag erster Ordnung, weil damals eine große Anzahl be- stehender Handeléverträge abliefen und im weiteren Verlauf des Jahres 92/93 auch andere abliefen — mehr als 100 Handelsverträge ingen ihrem Ablaufe entgegen —, so wäre Europa in einen Zu- fand völliger Vertragslosigkeit, völliger Handelsfeindseligkeit geräthen, bei dem von einem gesicherten Export und vielleiht überhaupt von einem Export keine Rede sein könnte. Deshalb mußte die Re- ierung auf neue handelsfreundlihe Verhältnisse hinwirken. Die Regierung hätte sogar noch viel größere Concessionen machen können, um noch viel größere-Cönckssionén zu erreichen. Aber daß fic so viel hon erreicht Bat: zeigt immerhin von einer diplomatischen Geschicklich- keit, die wir voll anerkennen. Es zeugt ferner von diplomatischer Geschicklichkeit, Rußland von - dem Standpunkt abwendig zu machen, den es bisher nah allen Seiten vertreten hat. In constitutionellen Staaten erörtert man einen Gegenstand, über den man diplomatish verhandelt, im Parlament nicht. Ju England hält es jede Oppyosi- tionspartei für ihre Pflicht, die Discussion über einen Gegenstand sofort abzubrechen, sobald die Regierung darauf hinweist, daß der- felbe fih im Stadium diplomatischer Erörterungen befinde. hr Verhalten können Sie damit vielleiht rechtfertinen, daß Sie keine Oppositionspartei sind; ob aber die Regierung hierüber ebenso denkt, ist mix zweifelhaft. Wenn in einem Parlament Aeußerungen gethan werden, auf die si eine fremde Regierung zu Gunsten ihrer Ansichten bezichen kann, so schadet das der einheimishen Regierung. - Wir wollen unsere Regierung nicht ören und gehen auf Einzelheiten nicht ein, in denen wir Ihnen entgegentreten müßten. Ein Handelsvertrag mit Nußland fann nur von Regierung zu Regierung zu stande kommen. Unsere Regicrung ift zweifellos von allen Wünschen unterrichtet und wird dieselben möglich wahrnehmen, aber zul-tt muß jede Einzelheit sich höberen Gesichtspunkten unterordnen. Wir unterdrücken unsere abweihende Ansicht, so lange die - diplomatischen Verhandlungen s{weben. Sie machen den eifrigen, aber jedenfalls erfolglosen Versuch, diese Verhandlungen zu ören. Nur für den Antrag auf einfahe Tagesordnung können wir stimmen.
Abg. Lehmann (Centr.) bestreitet, daß die Petitionscommission lediglih aus Verlegenheit den Beschluß auf Ueberweisung als Material gefaßt hat. Die Commission hielt die Besprechung der Handel8vertragsverk andlungen nicht für ausgeschlossen ; aber sie wollte keine Entscheidung treffen, sie wollte aber auch der Regierung fede Stimme, die sih in dieser Frage kundgiebt, zugänglich machen. Heute ift durch die Zuziehung der Minister die Sachlage eine andere geworden, fodaß der Antrag der Commission keinen Werth mebr hat. Deshalb erklärt sich Nedner für den Antrag Dziembowski; Len Tadelsvotum hätten er und seine Freunde nicht zustimmen * önnen.
Ein Vertagungsantrag wird angenommen.
Persönlich bemerkt
Abg. Dr. Arendt: Der Herr Minister-Präsident hat eine Aeußerung von mir als Beleidigung der Landwirthe bezeichnet. Nach dem stenographischen Bericht (der Redner verliest die betreffende Stelle) hat die rechte Seite des Hauses bei meiner Ausführung : fehr richtig! gerufen. Das is wohl die beste Widerlegung der An- sicht, daß sie eine Beleidigung der Landwirthscbaft enthalten.
Abg. V opelius (freicons.): In Bezug auf meine Angaben über die Verhandlungen beim österreichischen Handelsvertrage, die der Herr, Handels-Minister bezweifelt hat, kaun ih nur wiederholen, daß, wen ein deutscher Regierungêvertreter bei den Verhandlungen zuerst eine Position lebhaft vertheidigt und sie dann fallen läßt, er damit feine Mitcommissare nicht unterstüßt hat.
Schluß 4/4 Uhr.
Literatur. Militärisches.
…_ Die Landwehr von 1813 bis 1893 von von Boguslawsfki, General-Lieutenant z. D. Berlin 1893. E. S. Mittler und Sobn. Preis 60 „§5. — Jn dem uns vorliegenden kleinen Schriftchen hat der Verfasser es unternommen, die Entstehung der Landwehr, ibre weitere Entwickelung und ihre Thätigkeit in Kriegszeiten einer ein- gehenden Betrachtung zu unterziehen. Er gliedert feine Arbeit in vier Abschnitte: 1) Die Landwehr der Befreiungskriege 1813 bis 1815. 2) Dic Landwehr nach Beendigung der Befreiungskriege bis- zur Reorganisation von 1860. 3) Die Landwehr der Reorganisation von 1860 in den Kriegen von 1866, 1870/71. 4) Die Stellung der Landwehr in der neuesten Zeit.
_Im ersten Abschnitt, die Landwehr von 1813 bis 1815, wird die Entstehung der Landwehr darauf zurückgeführt, daß im Jahre 1813 zur Erhebung Preußens und zur Befretung des Landes. die volle Auënußung der wehrfähigen Kräfte des preußischen Volks. erforderlich erschien, daß die Königliche Anordnung, freiwillige Jäger Detachements bei allen Truppentheilen zu bilden, und die Errichtung des „Königlich preußischen Freicorps“ unter dem Major von Lüßow diefem Zweck nicht genügte, und daß deshalb am 17. März 1813, gleichzeitig mit der Kriegserklärung, auf Grund eines Organisations - Entwurfs des Generals Scharnhorst die König- lihe Verordnung zur Errichtung der Landwehr erlassen wurde. Durch Anführung der Hauptbestimmungen diefer Verordnung wird dann nachgewiesen, daß die Landwehr von 1813 bis 1815 völlig anders zusammengeseßt und beschaffen war als die svätere Landwehr, und daß es deshalb durhaus nit angängig ift, diese beiden Eiurich- tungen in ihrer Thätigkeit und ihren Leistungen mit cinander zu ver- gleichen. Die damalige Landwehr wurde von den Ständen, die für jeden Kreis zu diefem Zweck einen Ausschuß bildeten, formirt, sie bestand aus Freiwilligen und aus durch das Loos Ausgehobenen im Alter von 17 bis 40 Jahren, die nicht im stehenden Heere gedient hatt enz die Offiziere wurden voin Aus\{uß gewählt, vom Könt Hestätigt, die höheren Offiziere vom König ernannt. Daß die in folber Weie aus nicht gedienten Maunschaften zuscmtmengeseßte Landwehr erst ge- rauimer Zeit bedurfte, um zu eiñer friegäbrauhbaren Truppe zu werden, wird bei dem heutigen so allgemeinen Verständniß für militärische Verhältnisse jedermann einleul@ten. Der Verfasser führt nun aber au noch aus, daß troß des brennenden Rachegefühls, das den preußischen Schaaren den für die Franzosen während der Befreiungs= kriege so oft unheilvollen ungestümen Angriffsgeist verlieh, man doch keineswegs fagen' könne, daß die Errichtung der Landwehr überall mit begeisterter Freiwilligkeit vor sih gegangen fei, daß f{on ia feinen Anfängen das Bild nicht den idealen Charakter babe, den die Nachkommen R überall aufgeprägt hätten. Eesifieinungent von Mißmuth, Widerfetlichkeit und Muthlösigkeit feien an vers schiedenen Stellen hervorgetreten, während allerdings au anderen Stellen, wie in der’ Grafschaft Mark, Tecklenburg und Ostfriesland die Mannschaften sih dur guten Geist ausgezeichnet hätten. Nach Gebühr gewürdigt werden aber auch die bei ihtung der Landwehr zu überwindenden Schtoierigkeiten. Bei manchen ompaguien gab es. nicht etnen einzigen gedienten Offizier und Unteroffizies, Bekleidung und Bewaffnung waren höchst * mangelhaft; viele von den im Auslande gekauften Gewehren gingen idt los, zahlreiche Wehrimtänner Es Tun ge A bewaffnet. Unter diesen Umständen brauc teLandwedr vier Monate, ebe sie fähig war, Felddienstzu thun, und. erft nah dem Waffenstillstande, alfo T lachten von Lüßén und Baußen, in Thätigkeît treten. Beim Wiederbeginn der Feindielig« keiten ‘waren jedóch 149 Bataillone, 113 Eseadrons Landy E 120604 Maun aufgestellt, eiue erstaunliche Leistung für die ver armten altpreußischen Provinzen, welche die unter dex d tion und unter Gäimbetta in Frankreich ausgeführten