1893 / 67 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 18 Mar 1893 18:00:01 GMT) scan diff

dur Unfall erwerbéunfähiz gewordene Arbeiter mit seiner Familie, bezw. die Hinterbliebenen des getödteten Arbeiters in den meisten Fällen, längere oder kürzere Zeit, in größerem oder geringerem Maße der Armenpflege anhcimfielen. Von dieser Last ift die Armenpflege befreit.

(Sehr richtig !)

In Bezug auf die Invaliditäts- und Altersversicherung, aus deren Gebiet damals, als der Aufsatz geshrieben wurde, zunächst nur eine verhältnißmäßig kleine Zahl von Altersrentéèn in Betracht kam, be- richtet der Verfasser, daß dieser Zweig der Arbeiterversiherung den ftärksten Einfluß auf die Armenpflege auszuüben versyrehe. Es wäre von Seiten der städtishen Armenverwaltung mit der Versicherungs- anstalt Berlin das Abkommen getroffen worden, daß jeder Fall der Festseßung einer Altersrente aus dem Weichbilde von Berlin dcr städtishen Verwaltung mitgetheilt wi:d. Die städtishe Verwaltung ist diesen einzelnen Fällen nachgegangen; sie hat ermittelt, wie viel Almosenempfänger unter den Altersrente - Berechtigten sich befinden und hat ermittelt, daß unter einer Anzahl von 104 zur Kenntniß der Armendirection gelangten Altersrentenempfängern 47 als Almosenempfänger notirt waren. Man hat die Verhältnisse dieser Leute nah der Nichtung hin geprüft, ob neben der Alterérente noch eine weitere Fürsorge der Stadt Berlin einzutreten habe: Da hat si herau83gestellt, daß unter den 47 Almosenempfängern 11 solche waren, bei denen die Almosen ganz abgeseßt werden kennten ; bei 9 Personen ist das Almosen nicht abgeseßt, weil die Rente nur mit Hinzurehnung des bis dahin gewährten Almosens einen auskömm- lichen Unterhalt für die betreffenden Personen und ihre Familie ge- währte, und bei 25 Personen ift das Almosen ermäßigt worden.

Sie sehen also, meine Herren, es ist ganz unleugbar, was eigentlich für jeden überlegten Beurtheiler von vornherein klar sein müßte, daß unsere socialpolit\{che Gesetzgebung auf die Belastung der Gemeinden mit der Verpflichtung zur Armenfürsorge einen recht erheblichen Ein- fluß üben muß.

Nun ist zwar die Thatsache richtig, daß das Armenbudget der Gemeinde Berlin nicht geringer geworden is. Aber, meine Herren, worin hat das seinen Grund? Das beleuhtet der Verfasser au schr flar. Einmal hat es seinen Grund in der Zunahme der Bevölkerung, die von Jahr zu Jahr in ganz erheblihem Maße steigt, fodann in dem fehr anerkennenswerthen Bestreben der Commune, die an sich in ihrem Armenbudget durh die socialpolitishe Gesetz- getung entlastet wird, die Armenpflege von nun an inten- fiver zu leisten, den Almosenempfängern und den bis dahin Unterstüßten mehr zu geben, als bisher. Und wenn weiter nihts durch die focialpolitishe Gesetzgebung erzielt worten wäre, dann müßte man cs, und vor allen Dingen müßten dies die Social- demokraten thun, mit ganz besonderer Freude begrüßen, daß der standard of life nit bloß der Unterstüßungébedürftigen, fondern auch indirect der arbeitenden Klassen überhaupt auf ein höheres Niveau gehoben wird. (Bravo! rets; Zuruf links )

Nun hat der Herr Abg. Hahn, dem ih sehr dankbar dafür bin, daß er seine Autführungen auf die Vorlage concentrirt und die weiter- gehenden Wünsche der conservativen Partei bei dieser Gelegenheit nicht weiter verfolgt hat, gemeint, daß aus der Thatsache, wonach in Berlin in einem bestimmten Zeitraum nur 1300 Altersrentenempfänger vor- handen gewesen wären, während die Provinz Brandenburg deren 12 000 aufwiese, mit Nothwendigkeit der Schluß zu ziehen fei, daß dur das Alters- und Invaliditätsgeseß das platte Land gegen- über den großen Städten in ganz erheblichem Maße höher belastet erscheine. Jh kann diesen Schluß Nat T lte treffend erachten. Denn das platte Land zahlt für seine Altersrentenempfänger, es möge deren viel geben oder wenig, nit einen Groschen, sondern es zahlt allcin für seine versichherungs- pflichtigen Arbeiter die laufenden Beiträge. Ob diese 12 000 Alters- rentenempfänger auss{ließlich ihrem Berufe nach der Landwirthschaft angehört haben, oder ob sie aus den Städten nach dem platten Lande verzogen sind, das ist vollständig gleichgültig. Denn sobald die Alters- rente festgestellt ist, zahlt niht derjenige Bezirk, in dem der Alters-

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rentenempfänger seinen Wohnsitz hat, die Nente, sondern die Rente wird vertheilt auf alle diejenigen Versicherungêanstalten, in deren Bezirk der Altersrentenempfänger während der ganzen Dauer seiner Beschäftigung thätig gewesen - ist. Ich gebe I V O e wo vir In im Uebergangs» stadium befinden, vielleiht die Versicherunzsanstalt des Wohn- ortes um deswillen etwas stärker belastet sein tann, weil es außerordentli {wer ist, diejenigen Bezirke zu ermitteln, in dencn vor zurückgelegtem siebzigsten Lebensjahre der Mann beschäftigt ge- wesen ist. Aber die Thatsache steht fest, daß nah Zurülegung des Uebergangéstadiums die Versicherungéanstalten antheilig an der Alters- und Invaliditätéversicherung betheiligt sind, und daß es wenig darauf anktommt, wo der betreffende Altersrentenempfänger seinen Wohn- fiß hatte.

Ich schreibe nun die höhere Ziffer der ländlichen Alterêrenten- empfänger ledigli*chß dem Umstande zu, daß die Leute auf dem platten Lande alter werden (febr richtig ! rets), das Leben ist dort gesünder (hört! hört! rechts), die Beschäftigung ist zuträglicher (sehr richtig!) und die Leute con- serviren sich besser, als die Arbeiter in der Stadt. Das geschieht nit bloß vermöge der Arbeit ; sondern auch aus manchen anderen Gründen, die ih hier nit andeuten will, werden städtische Arbeiter früher abgängig. (Sehr richtig!) Das aber nur nebenbei.

An diese Bemerkungen möchte ih, obwohl ih innerlih den Wunsch habe, mich auch nur auf das zu beschränken, was in der Novelle enthalten ist, doch noch einige fernere Worte über das Princip anknüpfen, nah dem man die öffentlihe Fürsorge für Unter- stüßungsbedürftige regelt. Ich bin der Meinung, daß, wenn, wie ih vorhin s{hon andeutete, unsere socialpolitishe Gesetzgebung ihre Sqhuldigkeit gethan haben wird, wir uns über das Princip sehr leiht verständigen werden, und ih glaube und hoffe sogar, daß wir dann zu dem von dem Herrn Abg. Dr. Baumbach bezeichneten radicalen Princip seines politishen Freundes, des Herrn Abg. Nickert, werden übergehen können, das heißt, daß wir dazu gelangen, daß jeder Unter- stützungébedürftizge da untcrstütt wird, wo die Nothwendig- keit seiner Unterstüßung bervortritt. Ich verkenne garnicht die Schwierigkeiten, die die Durchführung dieses Princips hat, und verkenne namentli au nit das Gewicht der Bedenken, die der Herr Abg. Dr. Vaumbach hervorgehoben hat, indem er tarauf hinwies, wie s{wer es sein werde, einen Schuß gegen das Bestreben, ten Unterstüßungsbcdürftigen abzuschiebcn, zu

gewinnen. Allein, meine Herren, denken Sie sich einmal die Sache so regulirt, daß, wozu man ja în Preußen son durch ein neueres Gesep übergegangen ist, ein großer Theil der zu ver- forgenden Unterstütungsbedürftigen auf weitere Verbände gewiesen wird; nehmen Sie an, daß wir sämmtliche Blinde, sämmtlihe Taubstummen, sämmtliche Idioten, sämmtliche Irre den Provinzial- und Landarmenverbänden zur Fürsorge über- weisen ; nehmen Sie dann weiter an, daß wir die Leistungspflicht des einzelnen Armenverbandes begrenzen, etwa dahin, daß wir vorschreiben: Keine Gemeinde ist verpflichtet, für einen Armen mehr als einen be- stimmten Betrag im Jahre aufzuwenden, ih will einmal sagen 50 M oder 100 Æ, und daß wir alles Uebrige, was darüber hinaus noch nothwendig ist, au dem weiteren Verband überlassen, dann wird das Bestreben der einzelnen Gemeinden, sich den zu Unterstüßenden abzuschieben, ihn fern zu halten, sehr viel geringer werden.

Ich will niht weiter in die Details dieses Gedankens eingehen ; aber ih glaube, wenn man sämmtliche Unfallinvaliden, sämmtliche Arbeits- invaliden, sämmtliche alten Leute, sämmtliche Kranken von dem Arnien- budget ferngehalten hat, so bleibt nur noch ein geringes Nesiduum übrig, von dem ih mir nicht denken kann, daß die Gemeinde dann noch ein größeres Interesse daran besißt, der Sucht zum Abschieben nachzugehen. (Zuruf rechts.) Ich bin dem Herrn Abgeordneten dankbar dafür, daß er mi darauf aufmerksam maht: Kommt es dazu, daß, wie es ja im Plane unserer socialpolitischen Gesetzgebung liegt, demnächst auch die Fürsorge für die Wittwen und Waisen in Angriff genommen und durchgeführt wird, dann wird das Ziel, das ih im Auge habe, um so leichter und um fo sicherer zu erreichen sein.

Meine Herren, man hat und namentlich scheint das ein Ge- danke der socialdemokratishen Partei zu sein man hat es als er- strebenswerth bezeichnet, die Armenpflege zu centralisiren. Man hat, um derja ganz unzweifelhaften Verschiedenheit in der Belastung der Gemeinden abzuhelfen, gesagt, man solle die ganze Armenlast entweder zur Reichs- fache machen oder man sollte sie do wenigstens den einzelnen Staaten zu- weisen. Ja, meine Herren, ich glaube doch nit, daß dieser Gedanke, wenn man ihm näher tritt, auf Beifall in weiten Kreisen stoßen wird. Gerade bei der Armenfürsorge und ich spreche da aus eigener Er- fahrung, denn ih bin in meinem Leben auch Armenpfleger gewesen gerade bei der Armenfürsorge kommt es auf nichts mehr an, als auf die Erforshung und Beurtheilung der individuellen Verhältnisse des einzelnen Mannes, der unterstützt werden soll. (Sehr richtig !)

Es genügt nicht, daß ih als Armenverband mir sage: wenn einer nicht mehr arbeiten kann, so erhält er an täglicher Unterstüßung an diesem Ort 1 A und an jenem Ort 1,50 Æ oder wieviel sonst, wahrscheinli wird es weniger sein, sondern es kommt darauf an, daß man ganz genau prüft: wie sind die Verhältnisse des Mannes, wieviel Ae Dat @œ& u ernen u wie viele zu forgen? Das fann man niht sMablonenhaft machen, namentlih nit gegenüber dem Umstande, daß doch auch unter den Almoscnempfängern noch eine ganze Reihe von Leuten sind, die in der That ihren Verdienst ne suchen können und auch finden. Also, man muß bei der Frage, wie man unterstützen soll, und in welchem Um- fange man unterstützen soll, wenn man seine Aufgabe als Armenpfleger ge- wissenhaft auffaßt, in die individuellen Verhältnisse der Leute hineinsteigen. Und weil man das muß, weil man der Gefahr, die cs haben wün de, wenn man schablonenmäßig auf diesem Gebiete vorgeht, begegnen muß, deshalb bin ih der Meinung, daß man an sich die Armenpflege niht genug localisiren kann. Man muß die Entscheidung darüber, ob ein Unterstützungsfall vorliegt, und wie dabei zu verfahren ist, der Localbehörde überlassen. Die Last kann man nachher für gewisse Kategorien auf weitere Schultern legen.

Nun hat der Herr Abg. Stolle das s{lägt au in dieses Kapitel die Bemcrkung gemacht, diese Novelle werde keine weiteren Erfolge haben, als daß eine Armenlast, die jeßt in der Hauptsache von den Gemeinden und den Gutébezirken ich bemerke ihm dabei, der Gulsbezirk trägt eben so gut feine Armenlast wie die Gemeinde, unter Umständen noch mehr; der Herr Abgeordnete befindet si also im Irrthum, wenn er bloß die Gemeinden im Osten als verpflichtet hinstellte getragen werde, daß also die Armenlast vom Osten auf die Städte und die Industriestätten des Westens übertragen werde, und er findet darin eine Unbilligkeit.

Nein, meine Herren, das ist keine Unbilligkeit. Gerade der Um- stand, daß man zu der Ueberzeugung gekommen ist, cs sei eine Unbillig- keit, wenn nah der bisherigen Gefeßgebung eine Person, die feit Jahren, seit Jahrzehnten von ihrer Gemeinde getrennt ist, noch der Gemeinde zur Last fällt, mit der sie wirthschaftlih bis dahin gar- keine Beziehung gehabt hat gerade dieser Umstand hat den Anlaß dazu gegeben, jeßt cine Correctur vorzunehmen. Gerade die bisherige Gesekgebung hat cine Unbilligkeit erzeugt (sehr richtig! rets), und diese Unbilligkeit will man aus der Welt schaffen. Der Fall, den gestern der Herr Abg. von Schalscha anführte mit der zum Ammenberuf übergegangenen Person (Heiterkeit) der Herr Abgeordnete hat sich etwas in der Zahl geirrt, es sind nur 26 Jahre in maximo, aber das thut nichts zur Sache weist gerade darauf hin, daß es principiell nothwendig ist, eine Nemedur eintreten zu lassen gegenüber cinem Zustande, bei dem das Kind dieser Person, welches niemals in der betreffenden Gemeinde gewesen ist, in derselben auc nicht das Licht der Welt erblickt hat, doch vielleicht sein ganzes Leben lang von der Gemcinde unterstüßt werden muß, aus der seine Mutter vielleiht bercits mit dem sechzehnten Jahre herausgegangen ist. Also ih glaube, meine Herren, wir werden diesen Einwand des Herrn Abg. Stolle nit als einen zwingenden und zutreffenden anerkennen Tönnen,

Was nun die einzelnen Paragraphen und Abschnitte unserer Novelle anlangt, so sind ja dazu von den verschiedenen Herren Be- merkungen gemacht worden, und ih glaube, man fann im allgemeinen die Erörterung dieser Bemerkungen auf die Verhandlung in der Commission, der Sie ja die Vorlage übergeben werden, verweisen.

Ich will nur das Eine {on jeßt bemerken: wenn es sich um die Wahl des Termins handelt, von welchem aber der selbständige Erwerb und Verlust des Unterstüßungswohnsitzes für zuläfsig erklärt werden soll, fo glaube ich, muß man doch im allgemeinen die Thatsache zum Ausgangspunkt der Entscheidung nehmen, daß der jugendliche Arbeiter im Durchschnitt nicht bereits mit demn sechzehnten Jahre scine Heimath ver- läßt, um anderwärts sih feinen Unterhalt zu suchen, sondern daß dies in der Negel und ih glaube, die Negel müssen wir hier zum Maßstabe nehmen erst in cinem spätern Momente geschieht. Ein Cardinalpunkt ist das freilich nicht, und ih fann mir denken, daß,

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wenn cs der Wunsch des Neichstags ift, hier cine andere Ziffer einzu- seßen, der Bundesrath demnächst in dieser Beziehung auch keine Schwierig- keit machen wird. Das aber möchte ih doch hervorbeben, daß, je höher man diese Ziffer greift, um so mehr die beabsichtigte Wirkung des Gesetzes ver- loren geht. Jh fann deshalb von meinem Standpunkt aus nit empfehlen, daß man die Ziffer der Vorlage nach oben hin verändert. (Sehr richtig!) Eine Bemerkung, die auch gestern bei der Discusston gefallen ist, möchte ih au noch mit einem Worte streifen. Däs ist die, man müsse doch darauf sehen, daß der jugendliche Arbeiter fo spät als mögli seine Heimath und seine Familie verläßt. Gewiß ift vas erstrebenswerth, aber ih glaube nur niht, daß die Neigung, ' die Familie zu verlassen, auf die Bestimmungen dieser Novelle, sie mögen lauten wie sie wollen, irgend welchen Einfluß ausübt. (Sehr richtig!) Der jugendliche Arbeiter, der fortgehen will aus seinem Vaterhause, denkt garniht daran, wo, wann und wie er dereinst cinmal im Fall der Verarmung unterstüßt werden wird. Ihm wird die Thatsache an sich genügen, daß er überbaupt unterstüßt wird, wenn er arbeitsunfähig wird, und die Frage der Regulirung der Last wird ihm ziemlich gleich- gültig sein.

Gegenüber dem Wunsch, der zu 111 unserer Novelle dabin laut geworden ist, man möge nit bloß dic land- und forstwirthschaftliden Arbeiter in den § 29 des Geseßes vom 6. Juni 1870 cinbeziehen, sondern man möge auch für alle anderen Personen, die nicht der Krankenversiherung unterliegen, cine dreizehnwöchentliße Fürsorgs- pflicht des Aufenthaltsorts \tatuiren, will ih nur bemerken, daß ich diesem Wunsche keinen Widerstand entgegenseße. Jch glaube, tarauf wird man im Bundesrath wohl einzugehen bereit sein.

Nun, meine Herren, komme ih noh auf den Art. 2 der Vor- lage, der von socialdemokratisher Seite lebhaft angegriffen worden d es ist das die armenpolizeilihe Bestimmung, welche sih gegen denjenigen richtet, der, obwohl er in der Lage ih be- findet, Personen, zu deren Ernährung er verpflichtet ift, zu unterhalten, \ich dieser Unterhaltungspflicht troß dev behördlihen Aufforderung ‘und mit tem Effect entzieht, daß die öffentlihe Fürsorge für seine Angehörigen eintreten muß. Ich muß sagen, ih verstehe es nicht, daß hiergegen ein Einwand gerade von focialdemokratisher Seite kommt. Meine Herren, von Polizeiwillkür tann da doch wahrlich nicht die Nede sein. Der Paragraph besagt: „Wer in dèr Lage ist“; also der Richter is feinerscits in der Lage zu prüfen, niht bloß ob der Mann gesund ist, fondern ob er au jonst durch die Verhältnisse, in denen er sich befindet, in die Lage gefeßt ist, für seine Angehörigen Sorge zu tragen. Und das wollen Sie nicht, Sie wollen diesen Mann nicht dazu genöthigt wissen, daß er für die Seinigen sorgt! Sie vergessen dabei, daß auch nah Ihren Grund- säßen abgesehen natürlich von dem glücklihen Zustand, in den die Bevölkerung demnächst durch den socialdemokratischen Staat verseßt werden wird, wo es bekfanntlich feine Familie mehr giebt, daß fo lange, bis diefe Glücfseligfkeit eingetreten sein wird, der Familien- vater doch die Pflicht hat, für die Seinigen zu sorgen. Nicht wahr, Herr Stolle, das geben Sie mir zu? (Zuruf.) Gut! Und Sie wünschen auh niht, daß er durch Indolenz, Faulheit und Bosheit sich dieser Pflicht entzieht und nun die Fürsorge für die Seinigen auf Anderer Schultern wälzt, die nicht dazu verpflichtet find. Das wünschen Sie doch auh niht? (Zuruf.) Wenn Sie mir nun diese beiden Bordersäße zugeben, dann müssen Sie diesen Paragraphen mit großer Freude begrüßen, denn dieser Paragraph will eben, daß, soweit das dur) Geseß möglich ist, cin Zwang auf den böswilligen und nah- lässigen Familienvater ausgeübt und daß feine Fürsorgepflicht nicht auf Schultern gewälzt wird, die mit derselben absolut nichts zu thun haben, dur eine solche Abwälzung aber zu Ausgaben genöthigt werden, zu denen Sie und Ihre Parteigenossen au beitragen müssen! (Sehr richtig! rech1s.)

Wenn endlich der Herr Abg. von Schalscha seine besondere Freude iber- Art. 3 der Vorlage ausgesprochen hat, so hat er mich ganz be- sonders glücklich gemacht, und ich werde dafür sorgen, daß diesem Wunsche, die Benußung unserer Gesetze möglichst zu erleihtern, auc ferner Rechnung getragen wird. (Bravo!)

Abg. Molkenbuhr (Soc.): Die Abäuderung des Gesetzes wird von allen Seiten als nothwendig erkannt. Wenn also die Anschauung allgemein ist, daß das bestehende Gesetz seine Mängel hat, fo sollte doch eine grundlegende Aenderung erfolgen. Man begnügt sich aber mit einigen kleinen Modificationen. Das kbkecstehende Geseß belastet gerade die allerärmsten Gemeinden in ungeheuerliher Weise, während die wohlbabendsten so gut wie garnicht von der Armenlast berührt werden. Dieser Umstand hat die meisten und die berehtigsten Klagen hervorgerufen. Die bloße Herabseßung des Alters genüge nicht, die Lasten müßten auf breiteren Schultern vertheilt erden Der Staatssecretär Dr. von Boetticher bestreitet die Durchführbar- teilt dieses Gedankens; “aber gerade die Vertheilung der Last auf die Gesammtheit würde doh die Widerwärtigkeiten beseitigen, welcbe sich im Gefolge der Abschiebungsversuche der Ortsarmen- verbände gezeigt haben. Erfreulich ist, daß cinige Redner direct zu- gegeben haben, daß die Lage der industriellen Arbeiter eine sehr ge- drückte ist; denn das muß doch der Fall sein, wenn sie noch schlimmer daran sind, als die Landarbeiter des Ostens. Der Abg. von Schalsha hat uns nun das Kunststück vorgerechnet, daß der Ar- beiter auf dem Lande eine große Einnahme aus seinen Naturalbezügen hat. Rechnen die Landwirthe auch ihre (Setreideernte zu den Berliner Marktpreisen? Und wovon das Schwein, welches täglih cin Pfund &leish giebt, so fett geworden ist, hat er niht gesagt. Jh vermuthe, cs hat einen guten Theil des Noggens aufgefrcssen, der uns vorber als GCinnahme aufgerehnet worden war. Mit folchen Nechnungen lann man do im Ernste leinen Eindruck machen. Die Vorlage will nun das Einschreiten des Strafrichters hon dann, wenn der Arbeiter fähig" ift, durch Arbeiten seine Familie zu ernâhrèn und si ‘dieser Pflicht entzieht. Wie aber, wenn er keine Arbeit bekommt ? Wie will der Nichter feststellen, 00 er N genügend darum bemüht hat oder niht ? Der Arbeiter kann also in Corrcctionshaft fommen, ohne daß ihn eine Schuld trifft. Geht der Arbeiter, um Arbeit zu nehmen,. aus seinem Wohnort, von seiner Familie fort, und nimmt etwa Arbeit bei der Herstellung des Nord- Ostsee-Kanals, so fann er in den meisten Fällen von dem niedrigen Lohn nichts erübrigen, nichts nah “Hause schicken, und verfällt dann unter Umständen ebenfalls der Corrections- haft. (Es kommt dazu, daß die Correctionóhaft an sih eine unwür- dige Art der Strafe ist; der Arbeiter wird mit Vagabunden und wirklich arbeitss{heucn Individuen zusammengesperrt. Gegen diese Art der Polizeibestrafung sind wir stets gewesen und werden uns auch ferner en1schieden dagegcn erflären. S ; ___ Abg. Freiherr von Pfetten (Centr.) protestirt gegen den Vor- stoß des Abg. Dr. Baumbach gegen ein verbrieftes bayerisches Neservatreht; er hofft, daß der übrige Neichstag si hliten werde, die Gefühle der Bayern in derselben Weise zu verletzen.

__ Abg. Dr. Baumbach (dfr.): Ich hatte mir sofort gedacht, daß ich bei den Herren aus Bayern Anstoy errege; die Herren sind in Bezug auf ihre Neservatrechte sehr penibel. Selbstverständlich habe ich nichts davon gesagt, daß das bayerische Heimathrecht verfassungs- widrig sei. Es ist dieses Neht nicht in Einklang zu bringen. mit dem System im übrigen Deutschland; es verträgt fich nit damit...

Das erhalte ih aufrecht und erinnere nur an berühmt gewordene Falle, wie den Fall Hutten, der zu einem besonderen Act der bayerischen Gescßgebung führte. In Bayern besteht nah wie vor die Forderung des Verehelichungszeugnisses und die Heimathsgebühr, beides im Wider- spruch mit dem sonst geltenden Reichsreht. Herr von Riedel hat übrigens vor Jahren in einem Briefe an Lasker ausgesprochen, er fei überzeugt, daß das bayerische Reservatrecht in diesem Punkte unweigerlih fallen müsse. Es sollte mir leid thun, wenn diese Vorausfage des Herrn von Ricdel nicht eintrifft ; wenn der Neichs- edanke in Bayern nicht fo gestärkt ist, daß dieser innere Widerspruch eseitigt werden fann. J ;

Abg. von S cal scha (Centr.) wendet sich gegen den Abg. Molken- buhr. Cs komme darauf an, wie theuer oder wie billig man sich auf dem Lande ein Lebensbedürfniß verschaffen könne, und wie theuer sih das- selbe in Berlin stelle. Auf dem Lande habe das Geld einen bedeutend höheren Werth, als in Berlin. Der Unternehmergewinn falle auf dem Lande ¿u einem viel größeren Theil als in der Stadt den Arbei- tern zu. Die Lieferung eines Schweinestalles garantire auf dem Lande auch da, wo die Wohnungen gute sind, noch nicht, daß die Leute die Schweine niht doch in die Stube nehmen. Der Nuten aus den Schweinen werde allerdings durch das Oeffnen der Grenze sehr be- einträchtigt, daran aber seien die verbündeten Negierungen Schuld ; diese sollten es sih doch lieber zehnmal überlegen, ehe sie auf dicse Weise den Leuten die Schweinepreise verderben und der Maul- und Klauenseuche Vorschub leisten. Die Behandlung der Arbeiter in den Städten sei vielsach eine viel brutalere wollte er nicht sagen, aber lieblofere, als auf dem Lande. Nachtbeile der Naturallöhnung könne er nicht anerkennen. Das Geld zu Zwecken der Unfallversicherung bleibe zum größtên Theil in den Taschen der Beamten; das ergebe sih daraus, daß 19 des Geldes Nente und 89 Verwaltungskosten seien.

Staatssecretär Dr. von Boetticher:

Nur eine kurze Bemerkung in Bezug auf- den von dem Herrn Vorredner zuleßt besprohenen Punkt. Wenn der Herr Vorredner meint, daß das Geld, welhes zu Zwecken der Unfallversicherung zusammengebracht wird, zum großen Theil in den Taschen der Beamten bleibe, so glaube ih, geht er doch etwas zu weit. Wenn er diese Be- hauptung durch den Hinweis darauf zu unterstüßen sucht, daß in feiner Berufsgenossenshaft von dem ganzen Sollauffommen eines Jahres nux ein Neuntel für Renten ausgegeben sei, während die Verwaltung aht Neurt.l gekostet habe, so vermag ih zwar in diesem Augenblick die Nichtigkeit dieser Thatsache, die ih indessen bei näherem Zusehen vielleiht etwas anders gestalten dürfte, nicht zu controliren. Ih brauhe aber nur darauf hinzuweisen, daß unsere Unfallversicherungsgeseßgebung bekanntlich auf dem Umlazeprincip beruht Sr Una! Tinto) und | daß zur Zeit für die Deckung der Renten erst ein verhältnißmäßig geringer Betrag aufzubringen is. Wenn der Herr Vorredner die Güte haben will, noh einige Jahre zu warten (Heiterkeit), so wird das Verhältniß zwischen Nentenbedarf und Verwaltungskostenbedarf in seinem Sinne ein sehr viel günstigeres geworden scin. Ob die Last für ihn dadurch eine geringere werden wird, ist allerdings eine andere Frage.

Die zweite Frage, die der Herr Vorredner noch an mich richten wollte, ist ausgeblieben. (Heiterkeit. Zuruf.) Bei der Altersrente stellt sich das Verhältniß auch nicht fo ungünstig, wie der Herr Vorredner annimmt. Da haben wir bekanntli das Princip der Kapitaldeckung, und nach den bisherigen Erfahrungen betragen die Ver- waltungskosten nur einen geringen Bruchtheil des Gesammtbedarfs.

Vebrigens kommt es auch fehr darauf an, wie man die Verwal- tung einrichtet, und es fehlt nicht an Beispielen, wo die Verwaltung in einzelnen Berufsgenossenschaften und Bersicherungéanstalten fo billig eingerichtet ist, daß von einem Mißverhältniß zwischen den Ver- waltungéfosten und dem Rentenbedarf uxmöglih gesprochen werden darf. Wenn der Herr Vorredner selbst in seinem Kreise darauf hin- wirken wollte, daß das jeßt von ihm beklagte Verhältniß günstiger wird, fo werde ih ihm meinerseits sehr danken. (Heiterkeit.)

Abg. von Schalscha (Centr): Jch werde der Aufforderung des Staatssecretärs, zu warten, bis die Verhältnisse sih günstiger gestaltet haben, entsprechen, bitte aber auch ihn dringend, zu warten, dann werde ih seine Zufriedenheit mit ihm Det '

Abg, Freiherr von Pfetten (Centr.) lehnt es ab, den Neichs8- gedanken und seine Erstarkung in Bayern mit dem HeimathsprinctÞ in Verbindung zu bringen. Die Heimathsgebühr IDIELE 1E Den Einnahmen der Gemeinden Bayerns eine nicht unerheblihe Nolle. Abg. Stolle (Soc.) bleibt bei der Behauptung stehen, daß in Sachfen die socialpolitis@e Geseßgebung noch keine Entlastung der Gemeinden gebracht hat. Die Zahl der unterstüßten Armen habe gar nicht oder doch nur um 200 oder 300 auf 50 000 abge- nommen. Schließlich werde ja nur den Neichen dur die Versiche- rung die Armenlasft abgenommen, da zu den Beiträgen für die Altersversicherung die Arbeiter doch auch mit herangezogen werden. Krankenkassen seien {on lange vor dem Ieichêgeseße in viel größerem Umfange und m viel größeren Belastungen als nah dem Gesegze in Sachsen vorhanden gewesen. Die Cen- tralisation der Armenpflege sei keineswegs undurhführbar. Auch wenn der Staat etwas in die Hand nähme, müsse er individuali- siren können; ter Staat könne doch nah wie vor die Gemeinden für diesen Zweck in Anspru nehmen. Durch die Centralisation würden auch die Wohlhabenden und Reichen gleihmäßig zu den Kosten der Armenpflege herangezogen werden und so ein Gebot der einfachen Gerechtigkeit erfüllt. In dem HDeimathsrecht Bayerns er- blickde Nedner einen niht verfassungsmäßigen Zustand, denn dieses Heimathsreht widersprehe dem Art. 3 der Verfassung, der ein gemeinsames deutsches Indigenat aller Deutschen mit gleihen Rechten

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und Pflichten feststelle. Vie Heimathsgebühr sei außerdem ganz außerordentlich hoch, zumal in Bayern jeder Nihtbayer als Aus- länder zum doppelten Sah der Gebühr veranlagt werde. Die ver- bündeten Regierungen sollten mit dem Neichstage diesem unerträglichen Zustande cin Ende machen, in Bayern werde niemand solchen Zu- ständen mehr das Wort reden. Die Verathung der vorgelegten Novelle biete dazu die beste Gelegenheit,

Staatssecretär Dr. von Boetticher:

Mir ist vollständig unklar, auf welche meiner Aeußerungen si die leßte Ausführung des Herrn Vorredners beziehen soll; ich crinnere mich nicht, daß ih ihm den Vorwurf gemacht hätte, daß er nicht mit vollem Ernst an die Sache herangetreten wäre. Ich habe weder von ernsthafter noch von scherzhafter Behandlung der Materie gesprochen, sondern habe mi nur sachlich gegen seine Ausführungen gewendet und glaube sie auch, soweit es nur darauf ankam, widerlegt zu haben.

Ich verzichte übrigens darauf, noch cinmal auf die allgemeinen Ausführungen des Herrn Vorredners ein ugehen; wir werden uns darüber s{chwerlich verständigen, denn dicse Ausführungen sind dictirt

O s ) { von feinen focialdemokratischen Grundanschauungen, und in die kann ih mi nun einmal nicht hineinleben. Also wir werden es ihm über- lassen müssen, ob er in Bezug auf die vorliegende Novelle temnädchst in der Commission oder bei der zweiten Berathung Anträge zu stellen hat, und er fann si vetsichert halten, daß seine Anträge, wie alle Anträge von feiner Partei turchaus ernst genem.nen und objectiv werten behandelt werden.

Weéhalb ich noch cinmal um das Wort gebeten habe, das sind diejenigen Bemerkungen, die der Herr Vorredner über den Art. 2 unserer Novelle neuerdings gemaht hat, namentlich über die Frage, ob eine solhe armenpolizeilihe Vorschrift, wie sie Art. 2 vorsieht, nothwendig und angemessen sei. Jh kann ihm in dieser Beziehung sagen, daß, wenn auch vielleiht im Königreih Sachsen kein Bedürfniß bestehen mag, Leute, die die Pflicht der Unterhaltung ihrer An- gehörigen vernachlässigen, polizeilich mit Strafen zu belegen, doch ein folhes Bedürfniß beispielsweise für das Königreih Preußen und au für andere Bundesstaaten außer Zweifel ist. Jch habe hicr vor mir eine Denkschrift, welche aufgestellt ist auf Grund von Berichten der preußischen Verwaltungébehörden, und ih werde den Herrn Vorredner in feiner Anschauung am besten berichtigen können, wenn ih cinen Say aus dieser Denkschrift vorlese. Es heißt da:

Es besteht, den Berichten zufolge, kaum eine Meinungsver- schiedenheit darüber, daß die Behörden zur Zeit eigentlich machtlos sind gegenüber folhen Personen, welche, ohne arbeits- unfäh'g zu sein und für sich öffentlicher Unterstüßung zu bedürfen, bösliher Weise ihre Anhehörigen im Stiche lassen und dadurch das Eintreten der Armenpflege für die leßteren noth- wendig malen. Nach dem Bericht des Magistrats zu Berlin sind solcher Fälle, in denen infolge dessen zum großen Theil dauernde Unterstüßung gewährt werden mußte, im Jahre 1877 hierselbft niht weniger als ca. 600 vorgekommen. :

Sie sehen also meine Herren aus dieser Bemerkung, daß die Fâlle, in denen arbeitsfräftige und in der Möglichkeit zu arbeiten be- findlihe Personen ihre Angehörizen hilflos verlassen haben, sehr häufig sind, und ih glaube, ich habe Recht, wenn ich vorhin gesagt habe, daß auch die socialdemokratishe Partei allen Grund hätte, diesem Unfug und dieser Belastung der Steuerzahler, zu denen ja auch ihre Genossen gehören, entgegenzuwirken.

Was endlih die Bemerkung des Herrn Vorredners in Bezug auf Bayern betrifft, so mag er seine Bestrebungen, daß von dem bayerischen Neservatrecht in Bezug auf die Umgestaltung der Armen- geseßgebung fein Gebrauch gemaht werden möge, in Bayern fortseßen. Hier aber, meine Deren U O D Ot dazu. Das Reich ist gebunden dur Verträge; weder der Bundesrath, noch der Neichêtag wird jemals diese Verträge verletzen, und wenn eine Aenderung in Bezug auf die Berträge herbeigeführt werten soll, namentlich auf dem Gebiete der vorliegenden Materie, so wird die Initiative dazu lediglich von Baycrn ausgehen müssen. Er mag also in München seine Bestrebungen fortseßen; bei uns is nicht der Plat.

Abg. Freiherr von Hornstein (b. k. G.) hâlt die in der Novelle vorgeschlagene Negelung für verfrüht. Die \chwachen Seiten des Freizügigkeitsgeseßes seien gerade dur das Unterstüßungswohnsitz- geseß schärfer hervorgehoben worden. Man nehme in der Novelle auch feine Nüksicht auf die abweichende Gestaltung der Materie in den Reichslanden. Sonderbarerweise drang gerade die norddeutsche Landwirthschaft darauf, dieses hlechte Gese noch weiter zu ver- \hlechtern. Im ganzen deutschen Süden habe man fih in allen landwirthschaftlichen Vereinen gegen Verschärfungen ausgesprochen, wie sie hier vorgeschlagen wurden.

Abg. Hahn (dcons.) bestreitet, daß das Princip der Freizügigkeit durch die Einführung eines Einzugsgeldes durhbrohen wird. Die bedeutende Differenz in Bezug auf die Festseßung der Altersrenten zwischen Brandenburg und Berlin könne nicht allein auf das höhere Alter der Leute auf dem vplcktten Lande zurückgefüh1t werden; letzteres erscheint dadurch unzweifelhaft als höher belastet, zumal eine Er- höhung der Prämien oder des Nisicos der Provinz nicht aus- geschlossen sei.

Staatssecretär Dr. von Boetticher:

Nur ein kurzes Wort.

Ich möchte niht gern, daß die Besorgniß, von der der Herr Borredner gesprochen hat, daß die Garantieverbände, welchen bei îì e: Alterê- und Inrvaliditätsversicherung im Falle der Unzulänglichkeit des Anstaltsvermögens die Haftung übertragen ist, nun au wirk- lich in Anspruch genommen werden würden, gerechtfertigt wäre. So liegt die Sache niht. Ich habe bereits bei der Etatéberathung mir auszuführen erlaubt, daß nah den bisherigen Vebersichten über die Geschäftsgebahrung der Versicherungsanstalten und über die Summe der bewilligten Renten begründete Hoffnung besteht, daß auch unter Festhaltung der bis jeßt turch das Geseß bestimmten Prämiensäße während der ersten zehnjährigen Periode eine Erhöhung oder cin Risico von Seiten der Provinzen ausgeschlossen erscheint. Wir haben sehr vorsichtig bei der Nedaction dcs Geseßes gerechnet, sodaß wir mit Sicherheit annehmen dürfen, daß die Lasten der Alters- und Invaliditätêversicherung auch durch die Beiträge, die nah dem Gesetz zu leisten sind, werden gedeckt werden.

Ubg. Dreesbach (Soc.): Es muß in Bayern allerdings dahin gewirkt werden, daß der Zustand beseitigt werde, wonach fein Nicht- bayer den Unterstüßungswohnsitß erwerben kann, wenn er niht dur Zahlung höherer Gebühren das Heimathsrecht erwirbt. Auch wir wollen jeden, der böswillig seine Familie verläßt, bestraft wissen; aber in den Motiven ist niht nachgewiesen, daß der jeßige Zustand nicht ermöglicht, diese Bestrafung herbeizuführen. Auch für Preußen reicht § 362 des Strafgeseßbuchs vollständig aus. Jedenfaus muß der Begriff Familienangehörige genau festgestellt werden.

Nach einer kurzen Bemerkung des Abg. Dr. Baumba ch (dfr.) wird die Debatte geschlossen und die Vorlage einer be- sonderen Commission von 21 Mitgliedern überwiesen.

Die Gescßentwürfe, betreffend die Abänderu ng derx Maß- und Gewichtsordnung, sowie betreffend die Be- gründung der Nevision in bürgerlihen Nechts- streitigkeiten, werden in dritter Berathung ohne Debatte unverändert endgültig genehmigt. Zu dem erstgenannten Geseh wird die Resolution Broemel-Merbach, betreffend die Einführung einer in das metrishe System passenden Bezeich- nung für 100 kom angenommen,

Schluß 43/4 Uhr.

Preußischer Landtag. Herrenhaus. 3. Sißung vom 17. März.

Der Erste Vice-Präsident Freiherr von Manteuffel eröffnet die Sihung mit folgenden Worten:

Meine Herren! Unser Zusammentritt nach einer mehr- monatigen Pause steht unter dem Eindruck tiefster Trauer über das Ableben unseres hochverehrten Herrn Präsidenten, des Herzogs von Ratibor, der auf dem Platze, den ih heute interimistish einnechme, 16 Jahre lang fast allen Sizungen des hohen Hauses vorgesessen hat. Daß der Zweite Herr Vice- Präsident und ih andem Sarge des verstorbenen Präsidenten dieses

hohen Hauses einen Kranz niederlegten, das entsprah wohl den

Wünschen aller Mitglieder dieses Hauses. Aber ih hielt cs

auch für geboten, ihm im „Staats-Anzeiger“ einen Nachruf u widmen, dessen Jnhalt Jhnen wohl allen bekannt ist. leine Herren, ih hoffe, daß ih auch hierin Ihren Wünschen entsprechend gehandelt habe. Diesem Nachruf möchte ih kaum noch etwas hinzufügen; denn betrauern wollen wir unseren hochverehrten Herrn Präsidenten von ganzem Herzen, nicht aber ihn loben; dies leßtere würde seinem Sinne zu wenig entsprechen. Aber das Eine muß ich hier doch noch einmal hervorheben: unseres verewigten Herrn Präsidenten echte Goites- furht, seine unwandelbare Königstreue, seine wahrhast patrio- tishe Gesinnung, seine unerschütterliche Gerechtigkeit, feine große Herzensgüte und seine persönliche Liebenswürdig- keit haben es bewirkt, daß seine Thätigkeit als Präsident diescs hohen „Hauses ‘eine so segens- reihe gewesen ist. Sie haben es auh bewirkt, daß alle Mitglieder dieses hohen Hauses in ihm cinen per- sönlichen Freund erblickt: haben, dem sie so lange sie leben ein treues Andenken bewahren werden. Sein Vorbild wird \tets ein segensreiches für uns alle, ja für das ganze Vaterland sein.

Ferner sind verstorben Herr von Gersdorf am 15. De- zember 1892, Graf von der Gröben- Ponarien am 7. Januar, Eugen Gans Edler Herr zu Puttliy am 29. Januar und Wirklicher Geheimer Rath Freiherr von Wilmowsky am 13. März 1893.

Das Haus ehrt das Andenken der Verstorbenen in der üblichen Vöeise.

Ausgeschicden sind wegen Aufgeben des Amts, fraft dessen sie im Herrenhause saßen, Professor Dr. Fricdlän der- Königsberg und Ober-Bürgermeister K önig- Memel. Neu berufen sind der Ober-Bürgermeister zelle-Berlin, Professor Güterbock-Königsberg, Graf von der Gröben und der Herzog von! Natibor letztere beiden als Nachfolger ihrer Väter.

Jn einmaliger Schlußberathung werden darauf die Geseßentwürfe zur Ergänzung der evangelischen Kirchenverfassung der acht älteren Provinzen und betreffend die Aufhebung der Stolgebühren in der evangelisch-reformirten Kirche der Provinz Hannover sowie der Rechenschaftsberiht, betreffend die Consolidation preußischer Staats-Anlcihen, genehmigt.

Schluß 3 Uhr.

Haus der Abgeordneten. 54. Sißung vom 17. März.

Jm weiteren Verlaufe der Sißung, über dere: Beginn bereits in der Nummer vom Freitag berichtet worden ist, ge- langen Petitionen zur Berathung.

Der frühere Eisenbahnbremser Wolff Il. in Breslau und Genossen bitten um Abänderung des Geseßes vom 18. Juni 1887, betreffend die Fürsorge für im Dienst ver- unglücte Beamte. Die Petitionscommission beantragt, diese Petition der Regierung als Material zu überweisen.

Abg. Halber stadt (dfr.) beantragt die Ueberweisung zur Be- rücksichtigung und begründet dies damit, daß das Fahirversonal der Cisenbahnen bezüglich seiner Pensionirung viel \{lechter stehe als die übrigen Eisenbahnbeamten.,

Geheimer Ober-Regierungs Nath Gerlach erwidert, daß die Regierung cs zwar an Wohlwollen gegenüber ihren Beamten nicht fehlen lasse, daß aber eine Aenderung dieser Geseßgebung mit großen Schwierigkeiten verknüpft sei. In besonderen Fällen unterstüße die Berwaltung auch verunglückte Beamte aus dem Dispositionsfonds. Die Negierung könne nur die Annahme des Commissionéantrages empfehlen. E

Nachdem sich noch Abg: Lehmann (Centr.) für den Commissionsantrag erklärt hat, wird dieser angenommen.

Ueber die Petition des Hauptzollamts- Assistenten Nem us in Strasburg wegen Abzugs einer Versicherungsprämie bei der Feststellung seines einkfommensteucrpflihtigen Einkommens geht das Haus ohne Debatte zur T agesordnung über.

Die Petition des Mühlenbesißers Hattemer zu Hatters- heim wegen Erlassung ciner auf seiner Mühle ruhenden Ab- gabe wird der Negierung zur Erwägu ng dahin überwiesen, daß dem Petenten die Hälfte dieser Abgabe von 27677 M erlassen werde.

Es folgt die Petition des Apothekers Friederici in Friedenau um Zulassung der Feuerbestattung.

Die Petitionscommission beantragt den Uebergang zur Tagesordnung, während die Abgg. Goldschmidt und Pr. Langer hans beantragen, dic Petition der Regierung zur Berücksichtigung zu überweisen.

Abg. Goldschmidt (dfr.): Die Petition um facultative Zu- lassung der Feuerbestattung darf nicht von dem Standvunkte der Sympathie für die Feuerbestattung aus beurtheilt werden, sondern lediglih nach sanitären und wirthschaftlichen Gesichtspunkten. Es ift bedauerlih, daß die Erfabrungen der Hamburger ¿Cholera: Epidemie so wirkungslos an unseren Behörden vorübergegangen zu fein scheinen : denn die Neichsregierung hat sih der Feuerbestattung ablebnend gegenübergestellt. Db der Bacillus in der Erde wirkl{ abstirbt, steht noch dahin, durch Feuer wird er aber sicher zerstört. Auch die mit den Kirhhöfen verbundenen Uebelstände in großen Städten weisen auf die wenigstens facultative Einführung der Feuerbestattung hin, die in anderen Ländern längst zugelassen ist. Neligiöse Ge- sichtspunkte soll man hier aus dem Spiel lassen: denn was ha die Auferstehung der Seele damit zu thun. ob der Körper unter der Erde modert oder durch Feuer zerstört witd. Selbst ver- schiedene Stellen der Bibel weisen auf die Zulassung der Feuer- bestattung hin. Jn England hat die Kirche si mit der Theilnahme an Feuerbestattungen hon - befreundet ; dort sind aud die Crema- torien in so weihevoller Weisc ausgestattet, daß fie nh zu einer feierlihen Bestattung wohl eignen. Friedrih der Große, der doch auch einen christlihen Staat regierte, wünschte, daß seine Asche in ciner Urne în Rheinsberg aufbewahrt werde. Irgend ein Grund gegen die facultative Feuerbestattung liegt nah keiner Richtung vor.

Abg. Weber- Genthin (nl.) beantragt, die Petition der Regie- rung zur Erwägung zu überweisen.

Abg. Mi es (Centr.) spricht sich aus ästhetisGen und religiösen Gründen gegen die Zulassung der Feuerbestattung aus, die mit einer alten christlihen Sitte brehe. In sanitärer Beziebung erreichten die Crematorien bei Epidemien ihren Zweck doch nicht, da sie viel zu langsam arbeiteten, um {nell genug alle Leichen beseitigen zu können. Bom ästhetishen Standpunkte dei die Verwesung eines Körpers unter der Erde nicht grauenhaster als der Vorgang bei der Zerstörung im Verbrennungsofen. Nedner legte dann eingehend die religiösen Gründe dar, die zur Verwerfung dcr Feuerbestattung führen müßten, und citirte eine Neihe von Urtheilen hervorrageuder Männer für die Feuer- bestattung, um zu beweisen, daß alle Freunde der Feuerbestattung keine strenggläubigen Christen gewesen seien.

Abg. Dr. Langerhans (dfr.): Jch protestire entschieden gegen die Ueberhebung, mit der uns bier Mangel an Christeuthum und Glauben vorgeworfen wird. Wir Freunde der Feuerbestattung baben niemals unsere Mitmenshen lebeudig verbrannt. Uceber unseren Glauben werden wir feinerzeit Nechenschaft ablegen, aber nit dem Borredner und seinen Freunden. Es ift unerdört, daß bei uns in

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