1893 / 167 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 15 Jul 1893 18:00:01 GMT) scan diff

werden; es ist aber Far, daß das mit der dreijährigen Dienstzeit viel

langsamer oder viel kostspieliger ist. Wenn ih ein Bataillon .von 600 Mann habe und ih habe da die zweijährige Dienstzeit, so ent- Iasse ih jedes Jahr 300 Mann; habe ih aber ein Bataillon von 600 Mann und habe die dreijährige Dienstzeit, so entlasse ih nur 200 Mann, also mein Beurlaubtenstand wächst viel langsamer mit der drei- jährigen wie mit der zweijährigen Dienstzeit. Nun giebt es ein Mittel dagegen: das ist eine Etatserhöhung im Frieden, also ih müßte die Bataillone statt auf 600 Mann auf 900 seßen. Da könnte ih zu derselben Zahl von 300 Mann kommen. Es liegt auf der Hand, daß die Kosten in demselben Verbältniß steigen würden. Also, wenn wir unsern Zweck der Steigerung der Wehrkraft mit der drei- jährigen Dienstzeit hätten erreihen wollen, so würden wir genöthigt gewesen sein, viel höhere Anforderungen an Sie zu machen, wie wir factish gemacht haben. Das war der eine Grund.

Dann aber kam hinzu, daß der gegenwärtige Zustand unserer Vnfanterie niht mehr befriedigend war. Jh muß mich hier auh wiederholen, weil der Herr Vorredner der vorigen Periode nicht bei- gewohnt hat. Es ist damals hier und in der Commission ein- gebend zur Sprache gebracht worden, daß wir allmählich aus der dreijährigen Dienstzeit zu cinem System von Nothbehelfen gekommen waren. _ Man nahm Anstand, -die Kosten zu erhöhen, man erkannte aber zugleich an, man brauche einen stärkeren Beurlaubtenstand. Also zu was kam man? Zuerst entließ man mehr Dispositionsurlauber. Mit jedem Dispositionéurlauber mehr entferne ich mich einen Schritt von der dreijährigen Dienstzeit. Das reichte aber auch nit, man {uf die Ersatreserve, Leute, die 10, 6 und 4 Wochen dienen anerkannt eine überaus bedenkliche, im Verhältniß zur Belastung der Bevölkerung wenig nüßende Maß- regel. Das war der zweite Nothbehelf.

Nun kam man zum dritten Nothbehelf im Jahre 1888. Man stellte das zweite Aufgebot wieder her und rangirte es in die Feld- Armee ein. Das if auch damals {hon hier erwähnt worden. Das war eine Maßregel, die ans{cheinend große Resultate ergab. Man sagte, wir haben damit als Bundesgenossen eine vierte Großmacht gewonnen ; denn wir haben 700 000 Mann mehr. Man sagte: wir werden eine Million rechts, eine links und eine in der Mitte aufstellen können. Gewiß, das war politis ein s{heinbar durchschlagendes Motiv; aber fein Soldat wird glauben können, daß die auf diesem Wege ge- wonnenen 700 000 Mann das fein würden, was wir jeßt auf unserem Wege mit der zweijährigen Dienstzeit an Erhöhung des Beurlaubten- standes gewinnen würden. (Bravo! links.)

Abg. Gröber“ (Centr.): Der Abg, Graf von Bismarck sollte sich doh fagen, daß „bei der ursprünMchen NRegierungévorlage noh mehr Socialdemokraten in die Armee gekommen wären als bei der jeßigen. Der Reichskanzler mag sih beim Abg. Grafen Bismarck be- danken für die Unterscheidung, welche er zwischen der echt conser- vativen Gesinnung derjenigen, welhe im Sinne des Hochseligen Kaisers Wilhelm I. für die dreijährige Dienstzeit sind, und derjenigen gemacht hat, welhe wohl in demokratischer Gesinnung, um dh bei der großen Masse populär zu machen, für die zweijährige Dienstzeit sind. Redner geht dann auf die Ausführungen des Regierungscom- missars ein, welhe ihn und seine Freunde in ihrem \chließlichen Votum nicht wankend machen könnten.

Abg. Bebel (Soc.): Dem Abg. Grafen von Bismarck wird es ebensowenig gelingen, den Siegeslauf der Socialdemokratie zu hemmen, wie es seinem Vater gelungen ist. Er hat die Befürchtung aus- aesprochen, daß bei der zweijährigen Dienstzeit die Armee durch die Socialdemokratie „verseucht" werden könne. Weder das System des Fürsten Bismarck, noch das jeßige, noch ein anderes wird den Ent- wickelungsgang der Socialdemokratie hemmen. Jemehr sie sich ent- faltet, umsomehr kommt fie auß in der Armee zur Geltung, Dos l au) legt [hon der Fall, Auf der äußersten Seite dieses Hauses sind sechs Mitglieder vor- handen, welche mit dem Unteroffiziersrang in die Reserve übergetreten ind. Bei einem großen süddeutshen Regiment kamen die Feldwebel in die größte Verlegenheit, als sie die Mannschaften zu Gefreiten vorschlagen follten, denn alle wirkli intelligenten Soldaten in diesem Regiment sind Socialdemokraten. Uebrigens hat ja au. der Vater des Abg. Grafen Bismarck einmal anerkannt, daß alle intelligenten Leute, welche keine Möglichkeit haben, im Lande weiter zu kommen, der Socialdemokratie în die Arme getrieben werden. Ein nord- deutshes Pionier-Bataillon besteht zu °/10 aus Socialdemokraten, welche bei den legten Wahlen dafür gesorgt haben, daß unsere Genossen dort überhaupt eine Wahlversammlung ab- halten konnten. Bei der zweijährigen Dienstzeit wird es auh nicht anders werden, Sie müßten denn die Socialdemokraten todtshlagen, was allerdings der Fürst Bismarck einmal empfohlen hat. Sechzehn- bis zwanzigjährige Leute dürfen nah unserem Gesetz cinem politischen Verein nicht angehören; daß es aber fo viele junge Socialdemokraten giebt, liegt daran, daß mit zunehmender Zahl der focialdemokratischen Familienväter auch die Zahl der jungen Anhänger unserer Partei zunimmt. , | : Damit schließt die Dkscussion. ebenso der Rest des Art. II.

Bei Art. 1II liegt keine Wortmeldung vor.

Fans bemerkt der Abg, Graf - von Bismarck-Schön- “hau]en (b. k. F.): Ich wollte bloß mein Bedauern darüber aus- drücken, daß der Reichskanzler durch meine Unterbrehung gereizt worden ist. Ich habe ihn nur deshalb unterbrochen, weil der Neichs- kanzler mi augenscheinlih total mißverstanden hatte. Jch wollte meine Bemerkung lieber glei einshieben, weil erfahrungsmäßig per- fönlihe Bemerkungen nachher in der Presse nicht wiedergegeben werden. In Bezug auf die Schießauébildung verweise ih dem Herrn Reichskanzler gegenüber auf Seite 21 des Berichts der Militär- commission. Es steht da, daß die militärischen Berichte . . (Präsident “t A Herr Abgeordneter, das ist keine persönliche Be- merkung.

Abg. Graf von Bismarck: Aber eine Richtigstellung.

Präsident von Leveßow: Sie haben nur das Wort zu einer

persönlichen E, |

Abg. Graf von Bismarck liest weiter. Aus dem Citat ist zu

entnehmen, daß die Schießübungen bei den gemachten Versuchen über- stürzt worden sind. A Königlich preußischer Bevollmächtigter zum Bundesrath, Major Wachs: Die Ueberftürzung der Schicßübungen erklärt sich natur- emäß aus Folgendtem: Man hatte bei einem Versuchs-Bataillon er- heblich LeTE Quantitäten von Patronen zu vershießen. Das Bataillon aber glaubte mit diesem, erheblich größeren Munitionëquantum in der vorgeschriebenen Zeit nicht fertig zu werden. Infolge dessen wurde der Dienst verschärft, und fo ist allerdings eine gewisse Veberstürzung bei diesem Bataillon in Bezug “auf die Schießausbildung eingetreten. Andererseits is bei den übrigen Bataillonen constatirt worden, daß au bei Verkürzung der Dienst- zeit bei einem entsprechend bemessenen Munitionsquantum die Schieß- ausbildung in durchaus zufriedenstellender Weise durchgeführt werden kann. Cs kommt bei der Schießausbildung weniger auf. das Maß os an, als auf die Art, wie die Ausbildung durch- geführt wird.

Darauf werden ohne Debatte Art. TIT und TV genehmigt. Nach Art. Y soll das Geseh auf. Württemberg Anwendung finden, vorbehaltlich - der Vereinbarung zwischen den Militär- - verwaltungen Preußens und Württembergs wegen der Ueber-

S 2 wird angenommen,

führung des Fuß - Artillerie - Bataillons Nr. 13 auf den preußischen Etat.

Nach einigen kurzen Bemerkungen der Abgg. Payer und Grgber und des Königlich württembergischen Kriegs- Ministers Freiherrn Schott von Schottenstein über diese Frage wird auch Art. Ÿ genehmigt. /

Damit ist die zweite Lesung der Militärvorlage beendet. f |

5 Es folgt die Jnterpellation der Abgg. Auer und Ge- nossen:

Sind dem Herrn Reichskanzler die Aeußerungen bekannt ge- worden, welche nah den bis heute unwidersprohen gebliebenen Be- richten der Presse der Polizei-Präsident Feichter in Straßburg im pie in amtlicher Eigenschaft gegen elsaß-lothringishe Staats- angehörige sih erlaubte? Und wos gedenkt der Herr Reichskanzler auf diesen Vorgang hin, falls er sih bewahrheiten sollte, gegen den Polizei-Präsidenten von Straßburg im Elsaß zu thun ?

Abg. Bebel (Soc.) stellt den Sachverhalt dar, wie er in social- demokratishen Blättern berihtet worden ist, unter Verlesung der ein- zelnen Zeitungsartikel; er berichtet über die et des Fedelta- Vereins und die O der Mitglieder des\elben seitens des Polizei-Präsidenten. Derselbe habe den Bericht über seine Aeuße- rungen als falsch bezeichnet, in Straßburg aber glaube man allgemein an die Nichtigkeit des - Berichts, weil ähnlihe Aeußerungen {on früher gefallen sein follen.. Man berichtet, daß solche Acußerungen in der von dem Polizei - Präsidenten frequen- tirten Wirthschaft „Zur dicken Marie“ wiederholt gehört worden sind. Der Polizei-Präsident soll überhaupt aus Wirthschaften oft in sehr angeheitertem Zustand herausgekommen sein. Die Be- theiligten halten ihre Mittheilungen vollständig aufrecht. Solche Aeußerungen machen aber einen Beamten unfähig, sein Amt auch nur eine Stunde noch weiter zu führen, vorausgeseßt, daß die Aeußerungen sih als richtig wiedergegeben herausstellen. Die Zustände in Elsaß- Lothringen sind bald niht mehr erträglih; die Erbitterung ist auch bei den Wahlen zum Ausdruck gekommen. Die Elsaß- Lothringer, welche vor 22 Jahren zu Deutschen gemacht sind, müssen sih auch G Deutsche fühlen; jeßt fühlen sie sich nur -als Deutsche zweiter Klafse.

Staatssecretär Dr. von Boetticher:

Meine Herren! Ich kann mich bei der Beantwortung der Interpellation sehr viel kürzer fassen, als es der Herr Interpellant zur Begründung seiner Anfrage gethan hat.

Wenn die Interpellation zunächst dahin geht, gerelt u seben wunsdt, ob - der Hexr Kenntniß habe von den Aeußerungen, die der Poslizei- Präsident Feihter ausweislich eines Neferats in der „Köl- nischen Volkszeitung“ vom 29. Juni d. J. gegenüber einer Depu- tation aus der Mitte des Fedelta-Vereins gethan haben soll, fo habe ih darauf mitzutheilen, daß, als dem Herrn Reichskanzler der Bericht der „Kölnischen Volkszeitung“ bekannt wurde, er sofort nah Straßburg das Ersuchen gerichtet hat, ihn über die Richtigkeit der in diesem Neferat aufgestellten Behauptungen zu unterrihten. Meine Herren, es geschah dies niht aus dem Grunde, weil man etwa Miß- trauen in die Action der Straßburger Behörden gegenüber einem, sofern die Behauptung richtig ist, unzweifelhaft äußerst ver- werflichen Vorgehen des Polizei-Präsidenten seßte, sondern es geschah um de8willen, weil man darauf gefaßt sein mußte, taß diefer

daß sie fest- Reichskanzler

‘fensationelle Vorgang demnächst zur Besprehung im Neichstag ge-

langen werde, und diese Vorausseßung hat sih ja auch erfüllt.

Der Polizei-Präsident Feichter war an dem Tage, als die Auf- forderung zu einer Aeußerung über den Vorgang erlassen wurde, auf einer Urlaubsreise von Straßburg abwesend, und erst einige Tage später nah seiner Nückkehr konnte er den von ihm verlangten Bericht erstatten. Nun lautet dieser Bericht ganz anders, als wie die Angaben des Referats in der „Kölnischen Volkszeitung“. (Hört! hört! und Bewegung.) Ja, meine Herren, warum wollen Sie denn nicht abwarten, bis ih die Darlegungen des Herrn Feichter Ihnen mitgetheilt habe? Weshalb wollen Sie denn abweichen von dem Grundsaß „eenes Mannes Rede und wenns auch vier sind ist keene Nede, man foll sie billig hören beede ? Sie dürfen sich darauf verlassen, daß bei der Regierung garkein Zweifel darüber be- steht und au nicht bestehen kann, daß, wenn die Thatsachen, welche die „Kölnische Volkszeitung“ behauptet, erwiesen werden, das Verfahren des Polizei - Präsidenten Feichter durchaus nicht zu recht- fertigen ist und eine \{harfe Neprimande verdient. Allein, wir sind nicht in der Lage, jemanden ungehört zu verurtheilen, wir haben vielmehr die Verpflichtung, wenn eine Beschuldigung gegen einen öffentlichen Beamten erhoben wird, zunähst den Beamten darüber zu vernehmen und demnächst zur Klarstellung des behaupteten Vorgangs das Geeignete zu veranlassen. Jch glaube kaum, daß! auf irgend einer Seite dieses Hauses, wenn die Herren an ihren eigenen Busen schlagen, dieses Verfahren als ein ungerechtfertigtes oder zweckwidriges wird bezeihnet werden können.

Also, meine Herren, es ist ein Bericht des Polizei-Präsidenten Feichter erfordert. Aus diesem Bericht ergiebt sich nun, daß der ganze Hergang seiner Erinnerung nah (Lachen) Ja, er kann doch nihts Anderes sagen, als woran er sich erinnert (Sehr gut! Heiterkeit), daß der ganze Vorgang seiner Erinnerung nach sich anders abgespielt hat, als es in der „Kölnischen Volkszeitung“ behauptet wird, und vor allen Dingen bestreitet er positiv, daß er die Schimpfworte gebraucht habe, die ihm im Referat der „Kölnishen Volkszeitung“ in den Mund ge- legt werden. Ich werde Ihnen nicht den ganzen Bericht verlesen. Sie werden mir, wie ih vorausseße, das Vertrauen schenken, daß ih Ihnen von den wesentlihen Erklärungen, die in diesem Bericht ent- halten find, nihts vorenthalte, und ih werde mi deéhalb darauf beshränken, Ihnen nur einige Stellen und zunächst einen Passus zu verlesen, aus welhem si ergiebt, daß allerdings zwei Schimpfworte gefallen sind, aber nicht in dem Sinne, daß der Polizei-Präsident Feichter diese Schimpfwoorte gegen einen Reichstags - Abgeordneten oder gegen einen Neichetags-Candidaten gebraucht hätte, sondern daß sie wieder- gegeben find als das Urtheil, was man dem betreffenden Neichstags- Candidaten gegenüber in der Bevölkerung aus\sprehen wird und bereits ausgesprohen hat. (Bewegung.) Jch referire ja bloß, meine Herren (Heiterkeit) ; also ih theile Ihnen nun mit, was in diesem Bericht an thatsählich erheblihen Bemerkungen über den Hergang und an resümirenden Bemerkungen enthalten ist.

Der Polizei-Präsident sagt:

Wenn ein Verein oder eine Partei einen Candidaten, wie den Abbó Müller-Simonis hier nannte ih zum ersten Male dessen Namen unterstüßt, der noch zu jung ist und zu wenig in Deutsch- land sih aufgehalten hat, um die deutshen Interessen voll zu ver- stehen und zu vertreten, der sich troß seiner in den öffentlichen Versammlungen bewiesenen mangelnden Kenntniß in der deutschen Sprache als deutschen Neichstags-Candidaten vorstellte in Versamm-

e

lungen, wo auf die deutsche Regierung in den heftigsten Ausdrüen ges{mäht wurde, dann begeht sie die größten Fehler. desverräther“, ein

es ist kein {chönes Wort, aber cs muß heraus Schweinehund, hier gebrauchte ih gerade dieses Wort, weil ih eg thatsählich nach den Wahlen wiederholt gehört batte, heißt eg dann im deutschgegnerishen Lager und bei den sogenannten deut, {en Chauvins, ist in Straßburg aufgestellt, ein Mann, wie die Wahlzettel der Gegenpartei sagen, der in Rom ausgebildet wurde und erst seit einigen Jahren hierher zurückgekehrt ist.

Neben diesem Passus ‘möchte ih noch mit Bezug auf eine Bemerkung

tes Herrn Interpellanten dahin, daß der Polizei-Präsident Feichter

die fkatholische Kirhe und deren Diener in einer ganz unzuläfsigen

Weise, um es milde auszudrücken, geschmäht habe, folgenden Sah ver-

lesen. Es heißt in dem Bericht :

Den Ausdruck „\{warze Pfaffen“ Habe ih ebenfowenig als eigene Kritik wie überhaupt den Auédruck „Pfaffen“ benugt. Es ist das cin Wort, das ih von Kindheit an hasse und mich ärgere, wenn es von anderen gebraucht wird.

(Heiterkeit.) Und endlich verlese ih das Resums, welches der Polizei- Präsident Feichter über den weitläufigen Inhalt seines Berichts am Schluß dieses Berichts gegeben hat. Er sagt:

Ich muß mi aber zum Schluß dahin zufammenfassen, daß eine weitere Erörterung, wie die geschilderte, nicht stattgefunden, taß insbesondere Ausdrücke, welche eine persönliche Beleidigung des Candidaten Abbé Müller-Simonis, des Pfarrers Wöhrel tn Neu- dorf und der Herren Canonikus Guerber, Winterer und Simonis enthalten könnten, überhaupt von mir nit gebrauht worden sind. Wo ich aber, entschuldigt dur die Aufregung der leßten Zeit und befonders auch durch die gereizte und erregte Haltung der Deputation, die heftigen und unparlamentarishen Ausdrücke gebrauchte, verhielt id) mi nur referirend (Heiterkeit) oder wie am Schluß ohne Beleidigung einer bestimmten Person. Alle entgegenstehenden Behauptungen der Vorstandsmitglieder kann ih nur theils als mißverstanden und übertrieben, theils als vollständig erfunden bezeichnen. Solch grobe ind gemeine Schimpfworte führe ih nicht im Munde. Ich glaube für mich bezüglich des Verkchrs mit dem Publikum das Prädicat eines höflihen und zuborkommenden Beamten Lachen links) auf Grund meiner langjährigen Beamtenlaufbahn beanspruchen zu können.

Nun, meine Herren, hat der Polizei-Präsident Feichter sofort, nachdem er von dem Referat der „Kölnischen Volkszeitung“ Kenntniß erlangt hatte, einen Strafantrag bei der Staatsanwaltschaft gestellt, und die Staatsanwaltschaft hat diesem Strafantrag nicht allein Folge gegeben, sondern der Untersuchungsrichter hat au die Voruntersuchung eingeleitet. Jch bin nun außer Zweifel, daß diese Voruntersuchung ein Ergebniß, und zwar ein zuverlässigeres Ergebniß liefern wird, als dasjenige ist, welches bei heutiger Lage der Sache hier im Reichstag zu gewinnen ist. Meine Herren, es stechen hier Behauptung und Gegenbehauptung einander gegenüber: es wird behauptet und bestritten, und nur cine gerihtlihe Untersuchung ist im stande, festzustellen, was an den den Polizei-Präsidenten Feichter gravirenden Behauptungen richtig ist.

Auf die Anführung, welche der Herr Interpellant heute über den Rahmen der Interpellation hinaus vorgebracht hat, daß der Polizei- Präsident Feichter den Wirthëhausbesuch liebe, daß er frühmorgens in angeheitertem Zustand aus dem Wirthshaus herauszukommen pflege, daß nicht allein bei der vorliegenden, sondern au bei anderen Gelegenheiten es sich als seine Gewohnheit gezeigt habe, die Leute, mit denen er verhandle, brutal zu behandeln, auf diese Anführungen kann und werde ich unter keinen Umständen ein- geben. Hätte der Herr Interpellant mir gegenüber vorher von diesen Behauptungen irgead etwas verlauten lassen, so würde ih in der Lage gewesen sein, mich zu informiren und heute eine Er- klärung abzugeben. Die Berichte, welhe mir aus Straßburg vorliegen, konnten sich nur auf den Gegenstand der Interpellation be- ziehen. Jch bin also außer stande, mich über die neuen Thatsachen, die heute vorgebracht sind, zu äußern, und beschränke mich darauf, Lie Hoffnung auszusprechen, daß diese Behauptungen in die Kategorie derjenigen gehören, welche auch früher hon nicht selten vorgebracht, demnächst aber niht nachzuweisen gewesen sind. (Sehr richtig! rets.)

Nun hat aber jedes Ding in der Regel zwei Seiten, und o unerfreulih diese Sache ist unecrfreulich sowohl, wenn die Be- hauptungen der „Kölnischen Volkszeitung“ festgestellt werden, weil dann einen Kaiserlihen Beamten mit Net der Vorwurf eines unzulässigen Verhaltens gegenüber dem Publikum trifft; unerfreulich auch, wenn die Behauptungen niht nachgewiesen werden, weil \ich dann ergiebt, daß ein weitverbreitetes Preßorgan, ohne weitere Prüfung lediglich auf die Mittheilung einzelner, wenn au ver- trauens8würdiger Personen, sich nicht enthalten hat, {were Beschuldigungen gegen einen Beamten vorzubringen —, so, sage ih, hat doch auch diese Behauptung noch eine Lichtseite, wenigstens für mich. Sie zeigt mir nämlih, daß die christlißhe Mahnung „Liebet eure Feinde und thut wohl denen, die euch verfolgen“ bei der Social- demokratie an Boden zu gewinnen s{heint. (Heiterkeit.) Denn, meine Herren, das Statut des Fedelta - Vereins, das ja auch der Herr Vorredner angeführt hat, enthält unter der Aufzählung der Pflichten der Mitglieder die Pflicht, Thron und Altar zu \{üßen, eine Lebensaufgabe, die sich bisher die Socialdemokratie meines Wissens noch nicht gestellt hat. (Heiterkeit.) Sodann aber steht darin zu lesen, daß die Mitglieder des Fedelta-Vereins die weltliche und geistlihe Obrigkeit untêrstüßen und derselben besonders hilfreiche Hand in dêr Zurückdämmung der alles überfluthenden Socialdemokratie leisten sollen.

Meine Herren, mehr kann man von der Socialdemokratie nicht verlangen, als daß sie sih heute dieser ihrer Gegner annimmt. (Große Heiterkeit.)

Auf Antrag des Abg. Guerber (b. k. F.) tritt das Haus in die Besprehung der Jnterpellation ein.

Abg. Guerber bestreitet, daß in den Versammlungen der elsässishen Protestler die Regierung geschmäht worden sei; er habe den Versammlungen oft selbst beigewohnt und auch Polizeibeamte seien zur Ueberwachung dagewesen und hätten doch nihts Bedenkliches berichtet. In der A des Wahlkampfes mag ja manches passiren, aber nah dem Wahlkampf sollte doch ordentlichen, ehrenwerthen Männern nicht in \folcher Weise entgegengetreten werden. Die vier ehrenwerthen änner treten vor die Oeffenkt- lihkeit und denken, man wird doch auf ihre Mittheilungen Werth legen. Da wird der Spieß umgedreht, und die

Leute werden unter Anklage gestellt ; sie werden dadurch mundtodt ge macht und als S{hufte hingestellt. Dazu kommt nun die Unter-

rückung des Vereins Fedelta und die Androhung, alle anderen ähn-

den Vereine ebenfalls zu unterdrücken. Das leßtere ift eigentlich das wichtigste. Die Elsässer haben einen s{önen Vorrath von Schimpfwörtern, aber so moderne Worte wie Schweinebande kennen wir niht. Die vier Leute haben folche Worte jedenfalls nicht gekannt ; sie müssen sie gehört haben, sie konnten sie nit ihrem eigenen Wort- haß entnehmen. Die Schmähungen gegen die Neichstagzcandidaten haben uns nit getroffen, wir fürchten aber, daß die Würde der Regierung durch folhe Beainte sehr \{chlecht gewahrt wird. Dem aufgelösten Verein ist garkein Vorwurf zu machen; denn ein Polizei- beamter hatte ausdrülich erklärt, daß der Verein sich mit den Wahlen beschäftigen könne, und nachher wird er -+wegen tiefer Be- handlung der Wahlen aufgelöst. (Präsident von Leveßow bittet den Redner, nicht weiter auf die Vereinsangelegenheit einzugehen, \on- dern bei den Acußerungen des Polizei-Präsidenten zu bleiben.) Solche Borlommnisse sind rur mögli, weil Elsaß-Lothringen immer noch unter der Dictatur steht. Es wäre reihlich an der Zeit, diese Aus- nahmegeseßgebung zu beseitigen, solche Auftritte würten ih dann uicht mehr ereignen.

Staatssecretär Dr. von Boetticher:

Meine Herren! Auf die allgemeine Lage in Elsaß-Lothringen einzugehen, habe ih wirkli keine Veranlassung. Ich habe mich viel- mehr streng an die Interpellation zu halten, und ih habe um fo weniger Anlaß, mi darüber auszusprechen, als ih ja an si den Schmerzensschrei aus diesem Munde begreifen kann. Ich theile aber seinen Schmerz nicht, sondern bin der Meinung, daß die Elsaß- Lothringer alle Ursache haben, mit ihrem Loose zufrieden zu sein. (Lebhafte Bewegung.)

Nun, meine Herren, würde ih das Wort auch nicht zum zweiten Mal erbeten haben, wenn mir nicht eine Aeußerung des Herrn Vor- redners doch einer Berichtigung bedürftig zu sein hien. Der Herr Vorredner hat dem Polizei-Präsidenten Feichter einen Vorwurf daraus gemacht, daß er die Urheber des Neferats in der „Kölnischen Volks- zeitung“ vor das Forum des Gerichts gezogen hat, und er hat dabei die Meinung ausgesprochen, daß damit diese Perfonen mundtodt gemaht und als Schufte hingestellt werden sollten. Ih) verstehe nit, wie man durch einen - gerichtlichen Prozeß mundtodt gemacht werden kann. Im Gegentheil, in einem gerihtlihen Prozeß hat man ja allen Anlaß und alle Ge- legenheit, um den Standpunkt, den man vertritt, au) geltend zu machen und die Vorwürfe, die gemacht worden sind,. zu widerlegen. Aber die Sache hat noch cine andere Seite, meine Herren. Keiner von den Herren, die angeblih durch den Polizei-Präsidenten Feichter beleidigt worden sind, hat weder bei der vorgeseßten Behörde noch bei dem zuständig-n Gericht einen Strafantrag gegen den Polizei- Präsidenten Feichter gestellt. (Zuruf.) FJawohl, das ift actenmäßig; es ist weder eine Beschwerde über den Polizei-Präsidenten Feichter erhoben, noch is ein Strafantrag, wozu doch der Anlaß gegeben war, gestellt worden. Wenn mir jemand in dieser Weise, wie sie dem Polizei-Präsidenten Feichter zur Last ge- legt wird, mit Liebens8würdigkeiten kommt, so bin ih in meinem vollen Recht, ihn vor Gericht dafür zu belangen. Das haben die Herren nit gethan. Was bleibt nun, frage ih, dem Beamten, der in dem Zeitungsreferat seiner Meinung nach zu Unrecht bezichtigt wird, Anderes übrig, als seinerseits die Initiative zu ergreifen und den Antrag auf gerihtlihe Untersuchung zu stellen? Das ist doch das ganz natürliche und das einzig gegebene Mittel! Also man kann unmöglich davon sprechen, daß dies ein Verfahren sei, was darauf abzielt, die Gegner mundtodt zu machen ; sondern der Polizei: Präsident Feichter hat, in- dem er zu seiner eigenen Ehrenrettung eine gerichtliße Unter- suchung beantragte, nicht allein von feinem Rechte Gebrauh gemacht, sondern au im dienstlihen Interesse das Nichtige gethan. Denn, meine Herren, wie ich {hon vorher gesagt habe, stellt sih heraus, daß die Vorgänge sih so abgespielt haben, wie es in der „Kölnischen Volkszeitung" berichtet ift, so muß vom Standpunkt der vorgesetzten Behörde, vom Standpunkt der Disciplin aus dem Polizei-Präsi- venten Feichter ein {chwerer Vorwurf gemacht werden, und ih zweifle gar nicht daran, daß auh ohne Anregung von hier aus die elsässische Verwaltung und namentlih der Kaiserlilße Herr Statthalter das JShrige thun werden, um ein unzulässiges und ungehöriges Verfahren mit der entsprehenden NReprimande zu versehen.

Also, meine Herren, ich bitte die Auffassung aufzugeben, als ob der Polizei-Präsident Feichter, lediglih um die Wahrheit zu unterdrücken die gerichtlihe Untersuchung beantragt hat; im Gegentheil, er hat es gethan, um die Wahrheit ans Licht zu ziehen. (Zurufe.) Ja, meine Herren, weshalb wollen Sie noch dazu gegenüber jemanden, der nicht hier ist, der sih nicht vertheidigen kann, in einem Fall, in welhem Aussage gegen Ausfage steht, ohne das Ergebniß der s{hwe- benden Untersuchung abzuwarten, sih nur auf die eine Seite stellen Und gegen die andere Partei nehmen? Seien Sie doch überzeugt, daß darauf hingewirkt werden wird, daß, wenn die Thatsache sich bestätigt, mit der erforderlichen Correctur nicht gezögert werden wird. An dieser meiner Erklärung sollten Sie sih wirklich genügen lassen und sollten abwarten, ob diese Erklärung sh demnächst bewahrheiten wird. Dann wird es immer noch Zeit sein, der Regierung einen Vorwurf zu machen. Für jeßt licgt ein Anlaß zu einem solhen Vorwurf nicht vor.

Abg. Dr. Bachem (Centr.): Es handelt fich_ nicht mehr um eine Straßburger Angelegenheit, sondern um eine Frage von allge-

„meiner Bedeutung, die auh das Centrum betrifft; denn es handelt

sih um eine directe Stellungnahme der Behörden ge en die Arbeit der kirchlich-socialen Vereine der Katholiken. Die Betheiligten haben keinen Antrag gestellt; aber wenn ein öffentliches Interesse vorliegt, kann ja der Staatsanwalt aus eigener Initiative einschreiten. Die Abgg. Guerber, Simonis und Winterer haben es wohl nicht nöthig, {ih gegen cin Schimpfwort eines Polizei-Präsidenten vor dem Gericht Necht zu holen. Der Candidat Muüiller-Simonis hat eine Privatbeleidi- gungsklage bereits angestrengt, der Sühnetermin ist auch bereits fruchtlos verlaufen. Erst nachher ist gegen die vier Herren, welche in diesem

rozeß als Zeugen fungiren, die Strafklage erhoben worden. Der

olizei-Präsident ist dabei der einzige Zeuge. Kann man da etwas

nderes sagen, als daß die Leute mundtodt gemaht werden sollen ? Es fommt alles darauf an, welche Verhandlung zuerst stattfindet: ob der Polizei-Präsident Feichter oder die vier Herren zuerst als Zeugen vernommen werden. Die ganze Sache war nicht angethan zu einem gerichtlihen Verfahren; eine weise Regierung hätte das ver-

‘hüten sollen, die Regierung hätte unparteiisch die Sache in die Hand

nehmen follen. Jeßt haben wir uns mit der Sache zu beschäftigen und ih bedauere das nicht, solche eclatanten Fälle müsfen fofort im Reichstag besprochen werden. Jch halte dafür, daß der Bericht zu 95 9/0 Wahrheit enthält, und freue mich, daß derStaatss\ecretär Dr: vonBoetticher, wenn der Bericht sih als wahr herausstellen follte, eine Reprimande in Ausficht gestellt hat. Ich hoffe, daß es ß niht um eine gewöhn- lihe Neprimande handelt. Ein Mann, der |i zu folchen Aeußerungen hinreißen läßt, kann niht mehr die Stellung eines Polizei-Prasidenten ausfüllen. Die Schimpfworte sind vielleiht aus einer gewissen Auf- regung zu erklären, aber nit die Aufdeckung der geheimen Gedanken, die ein Beamter sonst zu vershweigen pflegt, namentli die Drohung,

daß die anderen katholishen Vereine ebenfalls aufgelöst werden ollen. Die Bestrebungen der katholischen Vereine verdienen aber die Föôr- derung der Regierung, weil sie allein der Socialdemokratie entgegen- treten. Auf diesen Punkt weiter einzugehen, wird Nedner durch den P Dee G Leveßow E

g. Dr. Gnneccerus (nl.): Ih sprehe weder für, noch gegen Herrn Feichter; ich überlasse die Sache dem Gericht und der Neichs- regierung, denen der Vorredner sie au überlassen sollte. Jch be- streite, daß der Reichstag in der Lage is, auf Grund einer Zeitungs- nachriht ein Urtheil auézufprehen, daß 95 %/9 des Berichteten richtig ist. Ih muß Widerspruch dagegen erheben, daß die MNeichsregierung den Gerichten hätte in die Arme fallen, die Sache ihrerseits prüfen sollen. Das wäre das Allerverkehrteste gewesen; die Negierung hätte fich dem Vorwurf der Parteilichkeit ausgeseßt. __ Abg. Bueb (Soc.) führt aus, daß der Polizci-Präsident erstlih eine Disciplinarunterfuchung gegen sich selbst hätte beantragen können, daß er außerdem die , Kölnische Volkszeitung“ felbst hätte verflagen müssen. Von dem Höflichen Lon des Polizei- Präsidenten Feichter pfeifen die Spaßen in Straßburg {on von dem Dache. Dieser Ton ist überhaupt in Elsaß-Lothringen der allgemein übliche, nament- lih gegenüber den Socialdemokraten, ja er wird als nothwendig bezeichnet gegenüber der Sonderstellung des Rei4'slandes. Auch wenn der Verein, um den es sih handelt, uns bekämpft, so werden wir ihn do gegen Ungerechtigkeit zu hüten suchen.

Darauf wird die Besprechung geschlossen. pellation ist damit erledigt.

Es folgt die zweite Berathung des Nachtrags-Etats und des Anleihegeseßzes, welche von der Budgetcommission berathen sind. Referent bezüglih des Nachtrags-Etats ist Abg. von Podbielski, bezüglich der Anleihe Abg. Hammacher. Beide Vorlagen werden ohne Debatte in zweiter Lesung genehmigt.

Schluß 51/5 Uhr.

Die Jnter-

Columbische Weltausstellung.

Die Feier des „Deutschen Tages". -

Nachdem es jeder der auf der Ausstellung vertretenen Nationen von tem Prôsidium freigestellt worden war, einen Tag zu einer natio- nalen Feier für sih auszuwählen, hatten die Deutschen sich für den 15. Juni, den Tag der Thronbesteigung Kaiser Wilhelm?s 11. ent- schieden. Der Gedanke, bei dieser Gelegenheit daran zu erinnern, daß das deutsche Element cinen Hauvtbevölkerungstheil Amerikas bildet, war wohl vornehmlich die Veranlassung zu dem gewaltigen F eft - umzuge, der von deutsh-amerikanishen Verbänden und Vereinen aller Klassen gebildet, in Darstellungen aus der ges{ichtlihen Ver- gangenheit Deutschlands einen stolzerfüllten Hinweis auf die Größe und kulturhistorishe Bedeutung des ehemaligen Vaterlandes darbieten follte, obne daneben Pen auch der geschihtlißhen Entwickelung der neuen Heimath zu vergessen. Bei der folgenden Schilderung legen wir den auéführlichen, mit zahlreihen Abbildungen geschmückten Bericht der „Jllinois-Staats-Zta.“ zu Grunde.

Schon um die achte Morgenstunde \trömten, während die Sonne von einein wolkenlosen Himmel herniederstrahlte, Hunderte und Tausende in den Hauptstraßen von Chicago zusammen, durch die der Zug seinen Weg nehmen follte. Die breite Michigan Avenue und der weite Parkplay vor derselben waren zum Sammelpunkt für die Theil- nehmer und die unendliche Reihe der Decorationswagen und Kutschen bestimmt, und von hier erfolgte, nahdem der Festmarschall Herr Frank Wenter die Anordnung bewältigt hatte, gegen 104 Uhr der Aufbruch.

An der Spitze des Zuges ritt, ein \rohes Reiterlied s{metternd, die als preußishe Gardes du Corps uniformirte Kapelle des Musik- Directors Herold. Aller Augen fesselten diese herkulischen Gestalten in den wuchtigen Kanonenstiefeln, den s{chneeweißen Waffenröcken und dem \silberstrahlenden Helm, dessen Spiße der die Flügel breitende Adler krönt. In einiger Entfernung hinter der Kapelle folgte der Festmarschall mit seinem Stabe. Lauter Jubel empfing ihn ebenso wie die Ehrengäste, die dann zu Wagen folgten. Jeder der Chrengäste hatte ein Mitglied des Exrecutiv- Comités als Begleiter. So fuhr der Festpräsident E. G. Halle mit dem deutschen Gesandten Dr. von Holleben, Herr Charles H. Waker mit dem g L Geheimen Negierungs- Nath Wermuth; als Begleiter des deutshen Konsuls in Chicago Herrn Bünz war Herr William Vocke ausersehen, während Herr Harry Rubens dem Festredner des „Deutschen Tages“ Herrn Karl Schurz zur Seite saß. Den Schluß der langen Reihe von Wagen bildeten diejenigen der Aldermen von Chicago, des Deutschen Preß- clubs und der Deutschen Gesellschaft.

Nunmehr rückte die erste Division des Zuges heran. In breiten zweireihigen Zügen marschirten die 24er und 82er Veteranen von Illinois strammen Schritts vorbei. Diese Colonne ergrauter Krieger verfehlte nicht ihren nachhaltigen Eindruck auf die Zuschauer. Die Division wurde durch die Veteranen des Cavallerie-Uniform tragenden Custer Camp und andere deutsch-amerikanishe Veteranen abgeschlossen.

Als erster Festwagen rollte jeßt der die „Columbia“ mit den ersten dreizehn Staaten darstellende heran. Auf der Spitze des pyra- midenförmigen Aufbaues der Thronstufen ruhte die erhabene alle- gorische Gestalt, welche in Fräulein Minnie C. Jones eine imponirende Erscheinung mit echt weibliher Würde und Lieblichkeit ver- einende Darstellerin fand. Um die Gestalt der Republik grup- pirten sih die dreizehn Staaten, personificirt von jungen Damen in shneeweißen Costümen mit silbernen Gürteln. RNeicher F laggenschmuck, Embleme und Guirlanden umrahmten die s{öne

Sruppe. Von der Plattform nach unten war der Wagen ges{müdckt mit den überleben8großen Porträts des Entdeckers, der Begründer, Kämpfer und Erhalter des großen Landes, Washington, Lincoln und Grant auf der einen Seite, Columbus an der Nücckwand und Jeffer- son, Jackson und Garficld an der anderen Seite des Wagens. Ueberall wurde derselbe mit Jubel begrüßt. : i

Sehr impofant nahm sih auch die zweite Abtheilung der ersten Division aus, welche die activen und passiven Turner Chicagos um- faßte. Unter den ersteren stahen die Fechter besonders hervor, während die activen, je 16 Mann breiten Einzellinien durch strammes Marschiren und jugendfräftige Ersheinung ofene und laute Be- wunderung erregten. Die activen Turner führten den wirkungs- vollen E hagen „Fretheitökrieg“ mit ih. Die Wagen- flähe war in einen von einer Anhöhe begrenzten Feld- lagerplaß verwandelt. Vor dem Zelt sah man George Washington mit seinen porträtgetreu e Tee nen Heerführern einen Kriegsrath abhalten; zwölf Continental-Soldaten stellten das Lagerleben dar. Die Flaggen waren alle echte Ueberbleibfel aus jenem Unabhängigkeits- krieg. Die passiven Turner hatten den leyten „Bürgerkrieg“ zur Dar- stellung gewählt: auf einem Berge eine eroberte Kanone, umgeben von Generalen und Offizieren, unten herum gruppirt Soldaten,

Dem Wagen des Rebellionskrieges folgte unmittelbar das „Blol- hausidyll“. Vieses Bild einer der ersten Ansiedelungen in German- town zeigte die tapferen Ansiedler nah des Tages Mühe sich der Nuhe hingebend: Pastorius mit seinen beiden Söhnen, eine Frau, einen Knecht und die Gestalten von Wm. Penn und Benjamin Franklin. Eine malerische Waldumgebung bildete den Rahmen für diese Scene.

Der Chicago-Schüßenverein und der Nord-Chicago-Schüpenverein gaben mit ihrem Aufzuge und einer die „Entwickelung des Schüßen- wesens" veranschaulihhenden Gruppe der ersten Abtheilung einen glän- zenden Abschluß. : : i i

Nach ‘den Schützen folgte eine lange Reihe von Equipagen mit den Damen vom Cleveland-Frauen-Verein, die sechsspännigen Wagen

(Tally-Hos) des Germania: Männerchors 2c. H i Dann begann ‘der Vorüberzug der zweiten Division: voran in

\tattlicher Haltung und Zahl die Kriegervereine mit einer Militär-

fapelle in Paradeuniform unter Leitung des Herrn Meinken. Ein lebendes Bild von ergreifendem Eindruck bot fogleich ihr erster Wagen, mit der Scene der „Bergung des verwundeten ¿Theodor

schienenen namens des Executiv-Aus\{hu}ses; Herr

Körner“. Unter einer Heuhütte sah man Körner gebrohenen Auges auf der Sänfte liegen; um ihn her standen die Lüßower Kameraden, von Schmerz und ges Schreken erfüllt. Den Darfstellern, Mit- gliedern dés Garfield-Lurnvereins, gelang es, die dem Bilde zugedachte Weihe durch Stellung, Geste und Miene vortrefflih ¿zum Ausdruck zu bringen. An dem unteren Theil des Wagens waren die Bildnisse Blücher's, Lüßow's, Schill’s und Jahn's angebracht.

_ Doch bald zog eine neue Scene den Blick auf sich. Von Ulanen mit flatternden Fabnen und Husaren escortirt und von Train-Mann- schaften geführt, nahte ein Wagen mit der vorzügli gruppirten Dar- stellung der oft erzählten und gemalten Episode „Nach der Schlacht von Nezonville“ : Kaiser Wilhelm 1., in einer Scheune ns, ums geben von Bismarck, dem Prinzen Carl, Noon und anderen Generalen, erbält von Moltke die Nachricht, daß nah blutigem Ringen die Slacht gewonnen is. Marketender-Gruppen und militärische Ge- stalten aller Art vervollständigten diese erste Abtheilung, gebildet von dem deutshen Kriegerverein, der deutschen Krieger-Kameradschaft, dem deutschen Landwehrverein, dem Süd-Chicago-Kriegerverein und dem deutschen Militärverein von Town of Lake. Zwischen diesen Vereinen und den folgenden Verbänden des Vereins deutscher Waffengenossen und des deutschen Kriegervereins von Elmhurst war der prächtigen Gruppe „Germania“ der Ehrenplaßz eingeräumt.

Doch aufgerihtet sah man Germania auf dem Thron, dessen Arme goldene Löwen-Sphinxe stüßten. Die Kaiserkrone schwebte über ihrem Haupt und die vielseitige geistige Bethätigung ihrer Kinder war in den Gestalten der neun Musen, die großen Geschihts-Perioden durch drei der mächtigsten Herrscher, Karl den Großen, Kaiser Barba- rossa und Wilhelm den Ersten personifizirt. Auch die großen Männer des Forshens und Wissens, die Bahnbreher der Welterkenntniß Kepler, Gutenberg, Humboldt und Ritter fehlten niht. Die Figur der Germania, in fammetnem und goldenem Purpurkleid, dem wallenden Hermelinmantel, dem reihen Shmuck des welligen Blond- haares und in s\tolzer Haltung repräsentirte Fräulein Gussie Guth sehr wirkungsvoll. Die Musen, von einer Reihe anderer s{höner junger Damen dargestellt, waren in duftige antike Gewänder der zartesten Farbentöne gekleidet.

War mit dieser Gruppe der Höhepunkt der decorativen Pracht erreicht, so bot die jeßt herannahende „Bülow-Kapelle“ unter ihrem Dirigenten Herrn Scheel ein ganz neues und reizvolles Bild. Das volle Orchester, wohl fünfzig Mann stark, trug hellblau-sammetne Rococo- coslúme und erregte mit seiner effectvollen Musik überall Jubel. Dem Orchester reihten sich in langen Schaaren die Gefangvereine Chicagos an. :

Cine geschlossene Hauptabtheilung dieser dritten Division bildeten der Schweizer Männerchor und die anderen Schweizervereine. Auch sie hatten einen s{chönen Festwagen gestellt: „Helvetia und die Schweizercantone“ mit der mächtigen Figur des Wilhelm Tell mit seinem Knaben. Die Personificationen der Cantone, die verschiedenen Typen der Trachten des Landes 2c. machten die Schweizergruppe zu einer der eindrucksvollsten und malerishsten im Zuge.

Die vierte Division war vornehmlich aus den plattdeutschen Vereinen und Gilden, dem Hamburger Club und der Plattdeut|chen Vereinigung zusammengeseßt. Den leßteren folgte der Festwagen „Columbus auf der Santa Maria". Das Fahrzeug bot eine getreue Wiedergabe dieses Schiffes, auf dessen Verdeck Columbus mit der gesammten Mannschaft in einzelnen malerishen Gruppen zur Dar- tellung gebraht war. „Die deutshe Marine“ nannte der Hamburger Club das von ihm gestellte Bild, welches das Leben der Matrosen und der Bemannung eines Kriegs\chiffs veranschaulichte.

Die fünfte Division brachte noh zwei besonders imposante Decora- tionswagen, die zu den gelungensten des ganzen Festzuges gehörten. Die „Hermannsschlacht“, dargestellt von dem Orden der „Hermanns- söhne“, zeigte Hermann den Cherusker auf sich bäumendem, feurigem MRosse mit den germanishen Kämpfern im Teutoburger Wälde, neben ihm Thusnelda und zu Füßen Varus mit den besiegten Römern. Das andere Bild war vom Technischen Verein geliefert, dem es vor- trefflich geglückt war, „alle Gebiete der Technik“ auf einem Decora- tion8wagen zur Anschauung zu bringen. An der Spitze dieses Wagens ruhte die Dgs modellirte Figur der Technik; ferner sah man cine Fabrikanlage, ein Bergwerk, eine Hängebrücke, die Telegraphen- pfosten mit dem Gewirr der Drähte; kurz, es waren so ziemlich alle Zweige der Technik in großen Zügen zur Darstellung gebracht.

Die Landsmannschaften der süddeutschen Staaten, darunter beson- ders die Bayernvereine, waren in voller Stärke ausgerückt und führten ebenfalls einen Prachtwagen, die „Bavaria und den bayerischen Löwen“ darstellend, mit sih. Ueber der hehren Bavaria thronten die Genien der Malerei und Musik, der Industrie und Wissenschaft. Aus dem bayerischen Oberland waren zahlreihe Gestalten in Landestracht auf einem zweiten Wagen gruppirt, die Mädchen durhweg in bayerishen Landesfarben. Von bayerishen Vereinen marschirten in der ersten Abtheilung der Verein „Bavaria“ fowie die anderen Vereine der Bayern und Oesterreicher. Den zweiten Theil bildeten die Vereine der Badener und Aen Leßtere führten auf ihrem Decorationswagen das „Deutsche Zunftwesen“ mit der Würde und dem Humor der alten Zeit vor Augen.

Aus den Gruppenwagen der siebenten Abtheilung des Zuges ragte besonders die von dem Schwabenverein arrangirte „Burg Lichtenstein“ hervor, an deren felsigem Fuße Jäger- und Nittergestalten sowie vier anmuthige Schwäbinnen gruppirt waren. Eine „Wassermühle“ vom Trierer Bruderbund, „Vater Rhein“ vom Rheinländerbund und die „Dresdner Vogelwiese" vom Verein Saronia dargestellt, vervoll- ständigten den decorativen Theil dieser Abtheilung.

Den Beschluß machte die achte Division, zusammengeseßt aus Mitgliedern zahlreiher anderer Vereine, Logen und Clubs der ver- \chiedensten Art, und einem „Bacchus- und Gambrinus“-Schauwagen.

Der Umzua durch die Stadt nah dem Jackfon-Park erforderte ungefähr zwei Stunden Zeit. Wohl 25 000 Personen mit 24 Schau- wagen nahmen an dem imposanten Festzuge theil.

Um 3 Uhr begann alsdann die Feier vor dem Deutschen Hause. Letzteres war festlich ge{müdckt und vor dem Portal eine große Tribüne mit Rednerpult, gegenüber eine Tribüne für die Musik- und Sängerchöre errichtet. Nachdem der deutsche Gesandte Dr. von Holleben, die Mitglieder der Reichscommission, die Vorsteher der deutshen Ausstellungs-Abtheilungen, zahlreiche Ehrengäste aus Deutsch- land und Amerika sowie die Vertreter der Stadt Chicago und der Ausstellungsbehörden ihre Pläße auf der Tribüne eingenommen hatten,

ab der Festpräsident Herr E. G. Halle das Zeichen zum Beginn der Feier, welche mit dem Gesange des Liedes „Deutschland, Deutschland ber Alles", ausgeführt von einem gemishten Sängerchhor unter Leitung des Herrn G. Kaßenberger, eingeleitet wurde, in das die anze Versammlung einstimmte. Dann begrüßte Herr Halle die Er- f 1 Harry Rubens entbot in einer an den Gesandten und den Reichacommissar gerichteten Ansprache namens des gesammten Deutsh-Amerikanerthums Alt-Deutsch- land an diesem Ehrentage seinen Gesteaaruß, Nedner bat, den Gefüh des Stolzes und der Freude der Deutsh-Amerikaner d ar a r das Zu- standekommen der deutschen Ausstellung ae Offenbarung der ganzen Größe, Macht und Herrlichkeit deutsher Arbeit, deutscher Kunst und Wissenschaft im alten Vaterlande den weitesten Ausdruck verleihén zu dürfen.

Nachdem hierauf der Chor mit Orchesterbegleitung unter der Direction des O von Oppen die „Wacht am Rhein“ gesungen, nahm der deutsche Gesandte Dr. von Holleben das Wort zur Erwide- rung, welche nach der „Jllinois-Staats- Ztg.“ lautete: „Wenn ih auf den Gruß, der in so s{hönen und schwungvollen Worten uns dar- ge racht wurde, antworte, so nehme ich als Vertreter des deutschen

aisers und des deutschen Volkes das Recht in Anspruch, dem gast- lihen Lande Amerika meinen Dank auszusprechen. Die Deutschen Ame- rikas sind stets gute Bürger der neuen Heimath gewesen, ohne ihr altes Vaterland und ic Mutterhaus zu vergéssen und die guten deutshen Sitten zu verleugnen. Mit der Kraft E Kont i

erh van Zusammenwirkens von Regierung und Volk

mit der Tiefe deutschen Gemüths, mit dem Wissen deut