1893 / 282 p. 9 (Deutscher Reichsanzeiger, Sat, 25 Nov 1893 18:00:01 GMT) scan diff

zu entrichtende Abgabe erheblich erhöht. Für den Verkehr von und nah den Häfen der Ostsee und der Nordsee wird nach den angestellten Ermittelungen \{chon der Saß von 30 Z für jedes Connossementsexemplar eine Belastung zur Folge haben, die außer Verhältniß steht zu den in diesem Verkehr üblichen niedrigen Fracht- säßen. Dieser Verkehr besteht zum großen Theil in dem Versand von einzelnen Stügutcolli, für welche der Frachtsaßz in vielen Fâllen 3 M. fü. die einzelne Sendung nicht erreiht. Die Zahl der Connossemente hat für die Reise eines Schiffs von Hamburg nah Norwegen 905, für ein anderes Schiff 714 betragen, unter denen sih 560 bezw. 280 Connossemente mit Frachtbeträgen bis zu 3 M befanden. Hierzu kommt, daß für die Versendungen nah rufsishen Häfen den dortigen Zollvorschriften entsprechend die Ausstellung einer größeren Anzahl von Exemplaren eines Connossementes, in manchen Fällen bis zu ses Exemplaren, erforderli ist. Es erscheint deshalb geboten, für diesen

ceverkehr auf kurze Entfernungen den gleichen Stempelsaß, wie für die Flußschiffahrt zur Anwendung zu bringen. Der Verkehr mit Seeschiffen von und nah den Rheinhäfen, z. B. zwischen Köln und England, oder Köln und Bremen, wird selbstverständlih dem Verkehr von und nah den Nordfechäfen gleih zu behandeln fein.

Die Vorschrift in der Spalte „Berechnung der Stempelabgabe“ foll bewirken, daß, wer jeder einzelnen Wagen- oder Schiffsladung beziehungsweise jeder Einzelsendung ein Frachtpapier beigiebt, in Bezug auf die Abgabenpflihht nit ungünstiger gestellt wird, als der- jenige, welcher für mehrere Wagenladungen nur einen Frachtbrief aus- stellt beziehungsweise mehrere einzelne Sendungen zv einer Sammel- ladung vereinigt.

Die Befreiung des Gepäcks der Reisenden endlih (Ziffer 2 der Befreiungen) is vorgesehen, weil dessen Belaftung mit dem Fracht- stempel eine, wenn auch geringe Vertheuerung des Personenverkehrs bedeuten würde, die nicht beabsichtigt wird. Indeß soll sih die Be- freiung nur auf das Neisegepäck im engeren Sinne beziehen, also das, was in Nücksiht auf den §8 30 der Verkehrsordnung von den Eisenbahnen zu den Neisebedürfnissen gerechnet wird, namentlich Koffer, Mantel- und Reisesäe, Hutschachteln, kleine Kisten und dergleichen. Gepäkscheine über größere handelsüblih verpackte Kisten, Tonnen, Fahrzeuge und andere niht zum Reisebedarf zu rechnende Gegenstände, die ausnahmsweise als Neisegeväck zugelassen werden, würden auf Grund dieser Vorschrift von der Stempelpfliht nicht frei zu lassen sein.

Zu Artikel 11, §8 29m bis 29r des Gesetzes.

Diese Bestimmungen sind im wesentlichen den für den Quittungs- stempel erlassenen glei: die strengere Bestrafung der den Güter- iranêport berufsmäßig ausübenden Personen, Schiffer, Spediteure 2c. (S 29 p), dürfte fich aus deren größerer Verantwortlichkeit recht- fertigen. Falls auf Grund des ‘§ 29 o in Verbindung mit § 33 Absay 2 nur eine Ordnungsstrafe verhängt worden ist, findet die Bestimmung des § 29 p nicht Anwendung.

Die Vorschrift des § 29 m Absay 2, wonach im Eisenbahn- und Postverkehr niht der Aussteller, sondern der &Frachtführer die Abgabe zu entrihten hat, ift aus Zwemäßigkeitsgründen aufgenommen worden und liegt ebenso im Interesse der Neichskasse, wie in dem des verkehrtreibenden Publikums.

Der Eisenbahn- und Postverwaltung ist dabei, um jedes Miß- verständniß auszuschließen, noch ausdrüdcklich daéselbe Neht zur Ein- ziehung des Stemyelbetrags vorbehalten, das ihr in Ansehung der Fracht- und sonstigen Kosten zusteht. Hieraus folgt weiter, daß der- jenige, von welhem die Verwaltung den Stempel einzieht, für den Betrag nur dieser gegenüber aufzukommen hat und in seinem etwaigen NRückgriffsanspruch gegen Dritte niht beshränkt werden foll.

Ín anderen Fällen z. B. bei vom Auslande eingehenden Transporten kann es erwünscht ersheinen, die Entrichtung der Abgabe nach der Aushändigung des Schriftstücks vorzuschreiben be- ziehung8weise zuzulassen. Aus diesem Gesichtspunkte ist die Bestim- mung des lezten Satzes im Absatz 1 dieses Paragraphen vor- geschlagen.

Ertrag.

Der Ertrag der Steuer läßt si etwa folgendermaßen shäßen:

Im Bereich der deutschen Eisenbahnen hat nach statistishen Er- bebungen die Zahl der im Laufe eines Jahres ausgestellten oder vom Auslande eingegangenen Frachtpapiere betragen :

für Erpreßgut (Gepäkscheine und Beförderungs-

E 2581 194 Stü, für Fahrzeuge (Gepätscheine, Beförderungs-

Ie Ba 29 824 für lebende Thiere (Gepäckscheine, Beförderungs-

Ie O 9,

r Güter (Frachtbriefe) A O0 L r Leichen (Frachtbriefe und Beförderungss\cheine) D Zusammen. . 94148781 Stud. Bon dieser Stückzahl ift bei Berechnung des Steueraufkommens ein erbebliher Bruchtheil für die Papiere, bei denen der Frachtbetrag eine Mark nicht übersteigt, abzusezen. Da jedoch andererseits die Zahl der ohne Ausstellung eines besonderen Frachtbriefs beförderten Wagenladungen und Einzelsendungen (bei Sammelladungen), sowie der vorstehend nit berücksihtigten, nit über Reifegepäck im engeren Sinne lautenden Gepätscheine der Zahl der stempelpflihtigen Schrift- stücke hinzutritt, auch für ganze Wagenladungen der doppelte Betrag der Steuer zu entrichten ist, wird die Einnahme immerhin auf annähernd 75 9% der aus der Gesammtstückzahl nah dem Einheits- faß von 10 „3 sih ergebenden Steuersumme oder rund 7 000 000 M. verans{lagt werden fönnen.

Unter Zugrundelegung des Verhältnisses zwischen der Tragfähig- keit der Schiffe und der Zahl der Connossemente nah den handels- statistishen Aufzeihnungen in Hamburg berechnet \ich ferner die Zahl der Connossemente für das Reich für die Aus fuhr seewärts auf rund 2950000 Stück, für die Einfuhr seewärts (mit Rücksicht darauf, daß der Verkehr mit deutshen Häfen bier niht in Betracht kommt, da die Connofsemente bereits bei der Ausfuhr dem Stempel unterlegen haben) auf rund 680000 Stü, zusammen auf 3 630 000 Stück.

Bei der Berehnung über die Zabl der Connossemente ist von der Annahme ausgegangen, daß bei der Ausfuhr für jeden Transport im europäischen Verkehr durchschnittlih zwei Connofsemente, im außer- europäischen Verkehr durchschnittlich vier Connossemente außer dem Capitänsexemplar ausgestellt werden. Bei der Einfuhr ist dagegen für jede Verladung nur ein Connossement in Nechnung gestellt, da von den mebreren im Auslande ausgestellten Exemblaren oft nur ines, nämli dasjenige, gegen welches der Schiffsführer die Waare auéliefert, im Inlande ausgehändigt werden wird.

Die Einnahme würde hiernach betragen :

1) für die Frachtvapiere im Eisenbahnverkehr . 7 000 000 2) für die Connossemente, binsichtlich deren nicht feststeht, in welhem Umfange sie dem er- mäßigten Satze unterliegen werden, etwa rund 1 000 000 ¿ Zusammen . 8 000 000

Unter fernerer Berücksichtigung der im Binnenschiffahrtsverkehr ausgestellten Latescheine, für deren Zahl sih au nur einigermaßen zuverlässige Anhaltspunkte nicht haben gewinnen lassen, kann dana die Gesammteinnahme auf mindestens 8 bis 9 Millionen Mark an- genommen werden.

VI. Allgemeine Bestimmungen. Artikel 1 Ziffer 5 und 6 (88 33 und 38 Absatz 2) und Artikel V des Gesetzes.

Zu Artikel I Ziffer 5 (8 33) des Gesetzes. Zuwiderhandlungen gegen das Gesey oder die Ausführungs- vorshriften, die mit feiner besonderen Strafe belegt sind, unterliegen biéher ciner Ordnungsftrafe von 3 bis 30 M“ Diese Begrenzung der Strafbefugniß erscheint nah beiden Seiten hin zu eng. Während auf der cinen Seite die Gewährung der Möglichkeit, mit der Ordnungs- firafe in geeigneten Fällen höher hinaufzugehen, im Bedürfniß liegt, ist es auf ber anderen Seite erwüns{ht, daß bet unbedeutenden Form- verlezungen fe Strafe noch weiter, als es bis jeßt zulässig ist, er-

mäßigt werden kann.

ZU Artikel T Ziffer 6 38 Absatz 2) des Gesetzes.

aut § 38 Absatz 2 des geltenden Geseßes sind die Schriftstücke der öffentlihen und der von Actiengesellshaften oder Commandit- gesellschaften anf Actien betriebenen Bank-, Credit- oder Versicherungs- anstalten sowie der zur Erleihterung der Liquidation von Zeit- geshäften bestimmten Anstalten (Liquidationsbureaux u. f. w.) periodisch bezüglih der Abgabenentrihtung zu prüfen. Der Entwurf \{lägt vor, die Transportanstalten, f{chon mit RNücksiht auf den neu einzu- führenden Stempel für Frachtpapiere, unter die revisionspflihtigen Institute aufzunehmen.

Daneben ist es nothwendig erschienen, allgemein den Actiengese!l- schaften und Commanditgesellshaften auf Actien die eingetragenen Genossenschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung glei- zustellen, da diese zum theil, z. B. als Vorschußvereine, stempel- pflihtige Geschäfte in umfassender Weise betreiben.

Bei allen genannten Anstalten, au bei denen mit geringem Ge- \häftsumfange, in bestimmten Zeitabschnitten eine Nevision eintreten zu lassen, wird nit erforderli sein; um dem Ermessen der Behörden hierin einen freieren Spielraum zu gewähren, dürfte das Wort „Periodish“ im Gesetz wegzulassen sein.

Endlich ist, sowohl von Beamten, welche in der Prüfung der Stempelverwendung Erfahrung haben, wie auch von Vertretern der gegenwärtig revisionspflihtigen Anstalten darauf hingewiesen worden, daß, einem Gebote der Gerechtigkeit und des fiscalishen Bedürfnisses entsprechend, die Nevisionsbefugniß au auf einzelne Personen, welche abgabepflihtige Geschäfte der Nr. 4 des Tarifs gewerbsmäßig betreiben oder vermitteln, auszudehnen fei. Eine derartige Bestimmung wird {hon deshalb nicht entbehrt werden können, weil die in der neuen Fassung des § 12 Absaz 2 des Geseßes den Provinzialbanquiers gewährte Vergünstigung auch eine Erweiterung der Controle bedingt. Hierbei wird übrigens davon ausgegangen, daß die Prüfung der Abgabenentrihtung bet den vor- benannten Personen nicht regelmäßig, sondern nur vereinzelt vorzu- nehmen ist. Die bloße Möglichkeit der Nevision wird genügen, weniger gewissenhafte Geschäftsleute zu einer strengeren Befolgung der geseßlihen Vorschriften zu bestimmen.

ZU Artikel V Absaß 2 des Geseßes.

Die Einführung der Neichsgesetße auf der Insel Helgoland, sofern sie vor Einverleibung der Insel in den preußishen Staat erlassen sind, ist für die Folge gemäß 88 2 und 6 des Gesetzes, betreffend die Vereinigung von Helgoland mit dem Deutschen Reich, vom 15. De- zember 1890 (Neichs-Geseßblatt S. 207) der Kaiserlichen Verordnung unter Zustimmung des Bundesraths vorbehalten worden. Da das Geseß vom 1. Juli 1881/29. Mai 1885 dort noch niht in Geltung geseßt ist, wird für das Inkrafttreten der vorliegenden Novelle zu diesem Geseß der gleiche Vorbehalt zu machen sein.

ZU Urtitel V bsaß 3 des Gesetzes.

Das zur Zeit gültige Stempelgeset ist bei vollständiger Bezeich- nung als Geseß, betreffend die Erhebung von Neichs\tempelabgaben, vom 1. Juli 1881 /29, Mai 1885 (Bekanntmachung des Neichskanzlers vom 3. Juni 1885) zu citiren. Nach Hinzutritt des neu zu erlassenden Gesetzes würde sih die Zahl der jedesmal anzugebenden Daten noch um eines vermehren. Zur Vermeidung dieser lästigen Weitläusigkeit empfiehlt sih die vorges{lagene Neuredaction und kurze Bezeichnung des Geseßes. Die Ermächtigung des Reichskanzlers zu der ersteren entspricht früheren Vorgängen.

DBuUsammenstellüung

der Einnahmen aus den Neichs\stempelabgaben

(zu Spalte 2, 3 und 4 abzüglich der 2 Procent Verwaltungskosten).

f A [FürActien, Für Kauf-| , a MNenten- u. u. sonstige | Gn E aa die b H C R 1 r | St E Summe | verschrei- | fungs- Ot PEA | | bungen. | geschäfte | Lten | lollerten |

N | 6. |

Etatsjahr

M. ! c V. M, | M. | "e I,

| 4850 232| 7 782 018 750 586| 6 125 689/19 508 5925 | 4704 494| 7250084 430531| 6 624 040/19 009 149 7 751 42012 207 687| 533 805) 6 709 502/97 209 414

1886/87 6

/ 6

| 9390 153/14 840 462| 2 487 075! 6 798 296/33 455 916 i 7 C

1887/88

1888/89

L |

1890/91 . . | 5223551113186 845| 539316| 7132 648/96 089 360

1891/92 . , | 4491 945/10 800 738| 1 443 737| 7 327 267/24 063 687

I O O Se [109008 916 063 21 767 821

Die nah dem Inkrafttreten des vorliegenden Gesetzentwurfs zu

erwartenden Mehreinnahmen sind geschäßt worden auf durchschnittlich jährlih für

O S 4 400 000 M

b. Kauf- und fonstige Anschaffungsgeschäfte . 11000000 ;

C E, 5 400 000

d Ungen (6 bis COOD O O) 6500000 ,

6, CUedS (0 bIS SOO O O 650 000 ,

f. Frachtpapiere (8 bis 9 000 C00 M)... 8 500 000 ,;

zusammen . . 36450000 6

oder rund 36 000 000 A

Deutscher Reichstag. 4. Sißung vom Freitag, 24. November, 1 Uhr.

Die erste Berathung der Handels verträge mit Ru- mänien, Spanien und Serbien wird fortgesetzt.

Ueber den ersten Theil der Rede des Abg. Dr. Paasche (nl.), der zunächst das Wort hatte, ist bereits in der Nummer vom Freitag berihtet worden. Der Schluß dieser Nede hatte nachstehenden Jnhalt :

Der Regierung wird cin Vorwurf daraus gemacht, daß sie für den Branntwein bei Spanien nichts durchgeseßt hat. Dieser Vor- wurf ist durhaus unberechtigt, denn dur die Gesetzgebung Spaniens ist die dortige Negierung nicht im stande, uns Concessionen zu machen, weil dort Sprit nicht eingeführt werden darf, der aus Kartoffeln her- gestellt ist. Der Zoll, der jeßt seit 1892 auf 350 M festgeseßt ist, wird dur die Verträge nicht geändert; wenn wir den Weizen niht aus Rumänien bekommen, bekommen wir ihn aus Amerika über England. Ein Vortheil für die Landwirthschaft besteht also niht, wenn wir gegenüber Rumänien den Zoll von 5 M, aufrehterhalten; weil die Verträge. aber der Industrie großen Nußen bringen, deshalb nüßzen sie auch indirect der wirthschaft.

Land- Deswegen sehe ih auch nit so trübe in die Zukunft, wieder Abg. Graf- Kaniß. (Zuruf rechts: Sie find auch kein Land- wirth!) Ich habe zuerst ‘als Landwirth mein Brot gegessen und bin nachher Professor für Volkswirthschaft geworden und halte es immer noch für meine Aufgabe, mich um die Verhältnisse der Landwirth- haft zu kümmern. Jch habe auch Studien in Amerika gemacht und weiß, daß die Farmer nicht mehr bloß ihren Weizen auf den Prärie- boden auéstreuen und ernten können; es ift auch \chon jeßt intensive Arbeit nöthig, welche Geld kostet und die Preise vertheuert. Jh will nicht unter allen Umständen Handelsverträge \ch{licßen. Bezüglich Rußlands- liegt die Sache anders als gegenüber Rumänien und Serbien ; N hat eine \{lechtere Währung als Numänien. Redner empfiehlt eine gründliche CGommissionsberathung.

Abg. von Ploeßgt (dcons.) wendet ih namentlich gegen die Aus- führungen des Abg. Nickert über den Bund der Landwirthe. Es wird be- hauptet, daß er (Redner) nur agitire und die Bauern aufhetze; von anderer Seite aber wird dem Bund der Landwirthe z. B. zum Vorwurf ge- macht, daß er nit gegen die Weinsteuer auftrete, die noch gar nicht auf der Tagesordnung stehe, Der Abg. Nickert bemängelt die statistishe Angabe über die Einfuhr aus Spanien, welche ledigli den amtlihen Veröffentlichungen des Statistischen Amts des Neichs ent- nommen ist. Der Abg. Niekert vermißt bei uns technische Leistungen, wie sie die deutshe Landwirthschaft und der Abg. Schul - Lupiß aufzuweisen habe, Aber der Abg,

Schulß - Lupiß hat dringend Landwirthe ihm auf diesem Gebiete niht in die Wege kommen solle. Das ist nit beabsichtigt. Der Bund der Landwirthe redet den Leuten nihts vor und hetßt sie niht auf. Von dem Abg. Dr. Paasdhe hâtte ih nur gewünscht, daß er feine Rede vor den Wablen gehalten bätte. (Zuruf des Abg. Dr. Paasche: Das habe ih !) Früher stand er ganz anders zum Bund der Landwirthe. Der Staats. secretär Freiherr von Marschall hat ebenfalls seine Angriffe gegen den Bund der Landwirthe gerichtet, aber er hat unrecht, wenn er meint, daß wir den Zustand \{limmer machen, als er ist. So \{limm, wie er ist, haben wir es noch niemals gemacht. Ein Tropfen bringt es zum Ueberlqgufen. Wenn dem Bauern am Neu- jahrstage ein Goldstück zur Bezahlung der Zinsen fehlt, so kann das sein Ruin sein. Die Erregung i} nicht vom Bund der Landwirthe hineingetragen worden, sondern sie war vorhanden, weil Mißtrauen gegenüber der Negierung vorhanden war. Der Bund der Landwirthe ist erst eine Folge der Erregung und i} nur geschaffen, um noch weitergehende Excesse zu verhüten. Daß manchmal scharfe Worte fallen, gebe ih zu; aber mit sanften Worten ist so etwas nicht zu machen. Industrie und Landwirthschaft haben gemeinschaftliche Fn-

gebeten, daß der Bund der

‘teressen, beide sind aber belastet durch die hohen Löhne und die social-

politishen Geseße. Die leßteren haben wir mitgemacht, aber umso- mehr müssen wir uns \träuben, daß die Landwirthschaft weiter belastet wird. Ein weiterer Uebelstand ist die Goldwährung, welche den Zoll- chuß illusorisch macht. Die Regierung hat durch die Handels- verträge von 1892 die Gemeinsamkeit der Interessen durbrochen, indem die Industrie begünstigt wurde auf Kosten der Landwirthschaft. Wenn es der Industrie gut geht, so freuen wir uns, aber der Land- wirthschaft wird dadur kein -directer Nutzen zugeführt. Speck und

e

Schinken wird niht mehr aus Deutschland, sondern aus Amerika be- zogen. Bei der Militärvorlage stüßte sich die Negterung auf die e Bevölkerung. Es hat auch kein ländlicher Wähler gegen die Leilitärvorlage gestimmt. Von den Handelsverträgen haben {ließli nur die Socialdemokraten Vortheil, die mit dillttendett Schritt in die Dörfer einziehen werden, wenn die Bauern zur Verzweiflung gebracht find. Man soll doeh nit von den kleinen Handeléverträgen [prehen. Wenn man den Vertrag mit Numänien und Spanien an- genommen hat, dann wird es heißen: Nun könnt ihr dem Zoll auf russisches Getreide auch nicht widersprehen. Wenn dieser ader angenommen wird, dann wird Deutschland mit russishem Getreide übers{chwemmt und der Bauer kann sein bië{hen Getreide garnicht los werden. Dem Bauern geht es niht nur finanziell {lecht, sondern er muß feine Söhne in vermehrter Anzahl in die Armee geben. Bezweifeln Sie das ? Der Bauer thut es gern, aber es hat Alles seine Grenzen. Der Bauer muß immer mehr Schulden machen. Wenn ih nit ODoffnung bätte, daß die Verträge abgelehnt würden, dann könnte man dieselben vielleiht im Sturmschritt zur Ablehnung bringen. Aber ih halte eine gründlihe Prüfung für nothwendig, niht bloß nach der Seite hin, ob die Industrie Vortheile hat, sondern auch ob die Land- wirthschaft die Nachtheile, welche ihr zugefügt werden, tragen kann.

Reichskanzler Graf von Caprivi:

Der Herr Abg. Graf Limburg-Stirum hat gestern im Eingang seiner Nede geäußert, er beklage die Gleichgültigkèit der leitenden Stellen gegenüber der Landwirthschaft. Es blieb das leitende Motiv seiner Nede. Es ist vielleiht nicht anmaßend, wenn ih annehme, daß die Mehrzahl der Angriffe, die er gegen die leitenden Männer, gegen die Regierungen richtete, auf mi gemünzt waren. Ich halte mich {on um deshalb für berechtigt, diese Angriffe auf mih zu beziehen, weil seit Monaten in der Presse, die dem Herrn Grafen Limburg-Stirum nahe steht, ein gehässiger Kampf gegen meine Person geführt wird.

Der Herr Abg. von Plocy hat dann heute in ähnlicher Weise einen Vorwurf gegen mich gerichtet, indem er sagte, das Vertrauen zur Reichsregierung wäre in der Landwirthschaft verloren gegangen. Ich weiß nicht, wodur ih diese Vorwürfe verdient habe, und bin der Meinung, wenn der Herr Abg. Graf Limburg-Stirum “einen fo {weren Vorwurf gegen mich rihten wollte {wer ist der Vor- wurf bis aufs äußerste, wenn cinem leitenden Staatsmanne vorge- worfen wird, daß er eine der wichtigsten Bedingungen des Daseins unseres Reichs übtersieht oder ohne Grund schädigt —, wenn Herr Graf Limburg-Stirum einen solchen Vorwurf gegen mi richten wollte, so war er doch wohl verpflichtet, einen Beweis dafür bei zubringen. Ich glaube, das würde ihm um so schwerer geworden fein, als ich im Dezember 1891 hier an dieser selben Stelle bestimmt meine Stellung zur Landwirthschaft niht allein, sondern auc zu denen, in deren Händen der Besiß gegenwärtig ruht, bezeichnet habe. I qlaule il d man viel mebr zu Gunsten der Landwirthschaft sagen kann, als ich damals gesagt habe. Es hat mich deshalb überrascht, daß Herr Graf Limburg-Stirum sich für berechtigt hielt, anzunehmen, daß jeßt das Gegentheil der Fall sei. Wie kommt der Graf Limburg-Stirum dazu? Wo habe ih je eine Aeußerung gethan, die eine andere Deutung zugelassen hätte ? Ich nehme alle diese Vorwürfe willig auf mich, obwohl ich mi auf den Artikel 4 der Reichsverfassung stüßen und nachweisen könnte, daß die Landwirthschaft an sih garnicht zu den Dingen gehört, die von den Einzelstaaten an das Neich abgetreten sind. Ich habe hier nur concurrirt dabei, daß Verträge abgeschlossen wurden, welche auch die Landwirth- haft berührten, und concurrire nach dem Passus des Artikels 4 der Reichsverfassung in Bezug auf Veterinär- und Medizinalwesen. Können nun die Vorwürfe etwa aus meiner früheren Thätigkeit als preußischer Minister-Präsident hergenommen werden ? Ich wüßte nicht, daß ih da irgend dazu Grund gegeben habe. Im Gegentheil, das Geseß von 1891 über die Nentengüter trägt meine Unterschrift. Ich will mir nicht und kann mir nicht das Verdienst anmaßen, der Vater dieses Gesetzes zu sein; ih kann aber den Wunsch haben, daß, wenn man einmal meine Thätigkeit für die Landwirthschaft oder gegen die Landèwirths{chaft im ganzen în Betracht zicht, man dann die Gefälligkeit hat, auP Dies zu erwägen; und ih bin der Meidung, daß dies Gesetz, das unter meiner Minister-Präsidentshaft eingebracht und angenommen ift, wahrscheinlich der größte und folgenreihste Schritt für die Landwirth- schaft ift, der seit langem gemacht ist. Wir werden durch diesen Schritt gerade das erzielen, was Sie ja au wollen: einen leistungsfähigen Bauernstand, einen ländlichen Mittelstand erhalten. Ich weiß also niht, wenn ih mir an diesem Gesey wenigstens eine gewisse Mitverantwortung zuschreiben darf, wie man einen Borwurf gegen mich aus meiner preußishen Thätigkeit herleiten kann. Ich will hier aber noch einmal wiederholen in einer Zeit, wo die große Menge der Bevölkerung an den öffentlihen Angelegenheiten cinen lebhaften Antheil nimmt, ist es unvermeidlih, daß man die- selben Dinge wiedersagt; und ih habe in dieser Beziehung-- auch von den Herren des Bundes der Landwirthe manches gelernt, man muß mit denselben Argumenten immer wiederkommen —, ich wiederhole alfo, daß ih dea Werth der Landwirthschaft hochschäße. Sie giebt uns eine relativ gesunde Bevölkerung, geistig und körperlich gesund; fie is mehr geeignet, Charaktere zu erziehen als ein anderer Beruf; sie giebt uns Soldaten, brauchbarer, A e e

zurecht zu finden, autzuhalten, als der Beruf der Städter. Die Landwirthschaft ist unbedingt erforderlih; und was die Regierungen thun können, um sie als ein einträgliches, ertragbringendes Gewerbe zu erhalten, muß geshehen. Das ergiebt {ih für mich \{chon aus militärishen Motiven, die mir vielleicht näher liegen als andere. Wenn cin Staat sih nicht mehr dur eigenen Körnerbau ernähren. kann, so wäre im Kriegsfall eine Art des Angriffs tenkbar, daß seine Nachbarn si vereinigen, ihm das Korn abzushnêiden, wie man einer belagerten Festung die Zufuhr abshneidet; und es wäre denkbar, daß, ohne daß ein Schuß fiele, der Staat unterworfen wird. (Sehr richtig! rets.)

Wir haben also das lebhafte Bedürfniß nach der Landwirthschaft. Es freut mih, daß Sie mir darin zustimmen; aber warum haben Sie mich denn angegriffen? Dann sollten Sie doch den Beweis dafür erbringen können, daß ih jemals anders gedacht habe; niemals habe ih aber anders gedacht, troßdem ih von dieser Seite hier auf das allershärfste angegriffen bin.

Ich bin aber noch weiter gegangen in dem, was ih damals ge- sagt habe, und will auc heute weiter gehen. Ich habe damals an- geführt, welches Interesse es für den Staat hat, den Stand der Besißer, der einmal besteht, zu erhalten. JIch habe ausgeführt, wie jeder Besißwechsel aus Noth mit einer gewissen Aussaugung, Ver- s{chlechterung des Bodens verbunden ist; wie dann, nachdem der vorige Besißer es ausgefogen hat, der neue erst anfängt, seine Erfahrungen zu machen; wie lediglich vom culturellen Standpunkt ein folcher Wechsel im Besißstand meist unerwünscht und für das Ganze \{ädlich ist. Ich erkenne au weiter an, daß die Familien, die seit langem sih im Besiß des Grund und Bodens bei uns befunden haben, des Ritterguts sowohl wie des bäuerlihen und ih beziehe mich da allerdings auf die Erfahrungen, die ich in meiner engeren Heimath gemacht habe, in Preußen —, daß diese Familien von hohem Werth für den Staat sind, und daß es kein Staatsmann würde verant- worten können, leichtherzig, und solange er Hilfe bringen fann, diese Familien von Grund und Boden scheiden zu sehen. Ich weiß, wie schwer die Provinz Ostpreußen dur die Krisis in den zwanziger und dreißiger Jahren geschädigt worden ist. Man hat gestern auf diese Provinz exemplificirt, und so möge es auch mir erlaubt sein, darauf weiter einzugehen,

Ich bin der Meinung, diese Provinz verdient in jeder Beziehung die Berücksichtigung seitens der übrigen Theile des Reichs. Sie kämpft mit Schwierigkeiten, sie hat im Jahre 1807 zwei fremde Armcen einen ganzen Krieg dur, einen Winter über unterhalten ; sie hat dann lange noch französishe Truppen getragen; sie hat fast die ganze französische Mobilmahung 1812 bestritten, und sie hat Dann 10 abre 1018 nUE aller Obs die sie gebracht hat, zuerst die Fahne erhoben, um den fremden Eroberer vom deutshen Boden zu verjagen. Eine Provinz, die das gethan hat, die das hauptsächlih durch die Kraft ihrer ländlichen Besißer, der Ritterschaft wie der Landgemeinden, gekonnt hat, eine solche Pro- vinz s{hädigen, deren Besißstand ohne Noth wechseln wollen, das würde ih für nahezu verbrecherish halten. Die Leiden, die die Pro- vinz im Kriege durchgemacht hat, haben dazu geführt, daß in den 20er und 30er Jahren eine Krisis eintrat, von der man sagt, daß 70/0 der adligen Gutsbesißer, wie es damals hieß, die Scholle haben verlassen müssen. Darunter leidet die Provinz in gewisser Weise noch heute, und es ift niht zu verkennen, daß eine Provinz, die dergleichen durhgemacht hat, aller Schonung noch auf lange Jahre bedarf.

Ich habe dies Beispiel gewählt, weil das diejenige preußische Provinz ift, die nah meiner Ansicht am meisten in der {weren Zeit geleistet und gelitten hat. Eine solhe Provinz bedarf des Schutzes. Wer würde da geneigt sein, ihr den Schuß zu entziehen ? Ich ganz gewiß nicht!

Wenn also von der Landwirthschaft durch mich Opfer verlangt worden sind, auh von dieser Provinz und i glaube nicht, daß sie groß und nennenswerth gewesen sind in dem Herabgehen von 5 auf 9.90 6 wenn solche Opfer verlangt find, so kann ih für mich in Anspruch nehmen, daß sie nur dann verlangt worden sind, wenn ich aus innerster Ueberzeugung dahin gekommen bin: es giebt kein anderes Mittel, um unsere Industrie im Gang zu erhalten, um unsere Be- völferung zu ernähren und um damit, Herr von Manteuffel, der Land- wirthshaft au die Eristenzfähigkeit zu sichern; wäre ein anderes Mittel dagewesen, so würde ih jenes niht gewählt haben.

Ich will auf die Handelsverträge hier nicht weiter eingehen, das ist gestern zur Genüge geshehen; nur mödte ih. mich dagegen ver- wahren, daß jeder Mensch, der jeßt für Handelêverträge eintritt, von den Blättern dieser Partei (nah rechts) entweder dem Vorwurf aus- gefeßt ist, daß er ein am grünen Tisch verkommener Beamter sei (Heiterkeit links), oder ein Manchestermann. Ich will ein Zeugniß dafür beibringen, daß auch andere, ganz agrarishe Menschen derselben Ansicht gewesen sind, dem Sie s{werlich werden widersprechen können.

Mir liegt hier ein an den Fürsten Bismarck gerichteter Bericht vor, eine Petition vom September 1887; es handelte sh um die Erhöhung des Zolls auf 5 oder 6 / Es wird zuerst ausgeführt, daß man, um der- Provinz Ostpreußen zu helfen, ja den Zoll auf 6 bis 8 M erhöhen könne. Dann heißt es weiter:

Eine so bedeutende Erhöhung unserer, nah dem Werthe des Getreides bemessen, procentuell bereits hohen Zölle erscheint jedoch niht ganz unbedenklih. Auf dem Gebiete der Volkswirthschaft straft sih jede Uebertreibung eines an sich richtigen Princips dur einen unvermeidlihen Nückshlag; im vorliegenden Falle wahrscheinli unter dem Drucke demagogischer Agitation. Ob nicht auch eine unerwünshte Trübung unserer handelspolitishen Beziehungen zu den Nachbarstaaten, insbesondere zu Desterreih, die Consequenz sehr hoher Getreidezölle fein würde, das entzieht sich unserer Beurtheilung.

Gezeichnet : Graf Udo Stolberg und Freiherr von Mirbach. (Heiterkeit. Hört! hört !)

Auf diejenigen Anschuldigungen, die gegen mich als den Urheber der Verträge in Bezug auf Vieheinfuhr und Viehstand gerichtet find, denke ih nachher zurückzukommen. Ih will aber jetzt constatiren, daß au ih der Ueberzeugung bin, wie unsere Landwirthschaft sih zur Zeit in einer sehr s{chwierigen Lage befindet. Sie lämpft mit _. exceptionellen Verhältnissen. 0 ae 68 ebenso wenig wie der Herr Abg. Paasche für zweck- mäßig, diese Verhältnisse zu {warz zu malen: wir dürfen die Wider- standskraft derjenigen, die gegen widrige Ereignisse kämpfen, niht da-

ur \chwächen, daß wir ihnen ihre eigene Lage noch s{chwärzer malen, ind ih schließe. mich da dem an, was neulih einer der Königlich !

bayerischen Herren Minister in derselben Weise im bayerishen Landtag geäußert hat: man soll fich vor Schwarzmalerei in einer solchen Lage erst recht hüten.

Ich habe es für sehr verständig und gut gehalten, daß die Land- wirthe \ich zusammenthaten zu einem Bund der Landwirthe, um ge- meinsam darüber zu berathen, wie sie sih der Noth erwehren können. Die Weise, wie dieser Bund in die Welt trat, ist mir niht gerade sympathisch gewesen; aber ih habe mich doch der Hoffnung hin- gegeben, daß dies gemeinsame Wirken niht ohne guten Erfolg sein werde. Jch glaube, daß auf dem Boden der Land- wirthschaft gerade durch genossenschaftlihes Zusammenwirken noch viel zu machen ist; ih glaube, daß es da sehr s{wierige Fragen noch zu lösen giebt. Nur war mir zweifelhaft, ob diese Fragen in großen Massen zu lösen sein würden, ob da niht doch etwas grüner Tisch und ruhiges Ueberlegen nothwendig wären, mehr Ueberlegen, als man es in großen Vereinen und Versammlungen zu finden pflegt. Ich habe nun die Bewegung des landwirthschaftlihen Bundes, soweit mir das möglich war, verfolgt, habe mi zu orientiren gesucht, und wenn ich nun noch einmal betone, daß ih diesen Bund als Ganzes nah seinem Zweck, in seiner ursprünglichen Idec für löblich und gut halte, so wird es mir nun erlaubt sein, auch diejenigen Bedenken anzuführen, die ih gegen dessen Gebahren zu machen habe, und ih kann mih die Herren, die den Bund leiten, wollen mir das nicht übelnehmen; es ist ja eine nothwendige Folge davon, daß die Bewegung in die Massen getragen wird des Cindrucks nicht ganz erwehren, daß der Bund arm an [{öpferishen Ideen ist. (Heiterkeit) Er i in die Welt getrelen mt enem Mal als ein erwachsenes Wesen, U es fehlte m der geistige Inhalt: man tappte noch herum; man hatte nur gemeinsam das Gefühl: es geht uns {lecht, es muß etwas gesehen. Man war sich aber nit darüber ar, was geschehen müßte. Ich bin in dieser Auffassung wesentlich bestärkt dadurch, daß ih selbt in dem leitenden Blatte dieses Bundes Artikel gefunden habe, von denen ih mir sagte: nah der Vergangen- heit dieses Blattes, nah dem Werth, den es sonst hat, ist es auf- fallend, wie es Artikel mit so geringem geistigen Inhalt aufnimmt und gar an hervorragenden Stellen abdruckt. (Heitcrkeit.)

Erlauben Sie mir, zwei kleine Beweise dafür anzuführen. Es tam ein Artikel, der war überschrieben: Schafft Klarheit! Ich habe diese Ueberschrift mit Freuden gelesen. (Heiterkeit.) Denn daß Klarheit nöthig war, das hatte ich auch erkannt. (Heiterkeit.) Ich las den Artikel, ih las ihn noch einmal, und es war mir niht mögli, zu erkennen, worin er die Klarheit fördern sollte. Er brachte keinen neuen Gedanken, er polemifirte im wesentlihen gegen mich und \sprah dann nur eins aus, was mir bis dahin fremd gewesen war: daß mich doch der Vor- wurf träfe, gegenüber der Futternoth nicht aus dem verdorrten Westen Vieh frei in den futterreihen Osten gefahren zu haben. Ich würde gewünscht haben, daß der Herr Verfasser fih die Mühe gegeben hätte, mitzutheilen, wie dieser Gedanke praktis auszuführen wäre. Bisher habe ih mir keine Vorstellung davon machen können, wie cine folche Feriencolonie für westlihes Vieh im Often eingerichtet werden könnte. (Heiterkeit.)

Ein zweiter Artikel in demselben Blatte war überschrieben: Nük- blie. Ich habe auch den mit aller Aufmerksamkeit gelesen. Der Artikel handelte von der Militärvorlage, und ih erkenne, anknüpfend an das, was der Herr Vorredner sagte, noch heute mit Freuden und mit Befriedigung das an, was von Seiten der confervativen Partei für die Militärvorlage geschehen ist; (9 wurde mw eine Freude gewesen en, mit dieser Partei weiter Schulter an Schulter gehen zu können, wenn sie es mir niht selbst unmöglich gemaht hätte. (Oh! rets.) In diesem Artikel über die Militärvorlage kam dann etwa folgender Saß vor: Da hâtten wir nun die Handelsverträge gemacht, und daraus erwüchse Rußland ein Vortheil, den es sich auf zwei Armee-Corps im nächsten Kriege anrechnen könne. Mir fehlt die Fähigkeit, Armee-Corps in Noggen umzurehnen (Heiterkeit); und \o hat auch der einzige neue Punkt in diesem Artikel zu meiner Auf- klärung über die s{chwebenden Fragen nicht im mindesten beitragen fönnen.

Sie werden mir zugeben: wenn das Artikel von Koryphäen des landwirthschaftlihen Bundes sind, so glaube ich nicht, daß die Herren nicht fähig wären, viel Besseres zu {reiben —, ih glaube aber, sie halten es um des Publikums in großen Massen willen, welches sie vor sich zu haben glauben, für nöthig, auf dieses Niveau herabzusteigen. (Heiterkeit.)

Ich komme nun auf einen zweiten Einwand, den ih gegen den Bund der Landwirthe habe, das is die agitatorische Vetriebsweife. Der Abg. Herr von Ploetß hat eben die Güte gehabt, zuzugeben, daß der Bund für seine Ziele agitatorisch wirke. Au wenn er es nicht zugegeben hätte, so wäre es ja offenkundig. Wenn der Bund ih fo auf die großen Massen stüßen will, so muß er wohl Agitation treiben : daß damit aber nicht gerade eine Vertiefung der Ideen verbunden ift, ist an sich selbstverständlich.

Aber auch weiter: es liegen noch andere Gefahren in der Agitation, unter anderen die, daß mit den conservativen Principien die Sache nicht immer vereinbar i} (sehr richtig! links); denn ih bin ein alter conservativer Mann, habe die Ursprünge der conservativen Partei miterlebt, habe Stahl und Hirsch auf dem Katheder gehört. Damals war cins der ersten Axiome, dem ih mein Leben- lang zugestimmt habe und noch heute zustimme: Autori- täten, und niht Majoritäten! Jeßt haben Sie cinen Weg beschritten und es is mir begreiflich, das allgemeine Wahlrecht bringt dazu —, indem conservative Männer dieses Princip umkehren und fagen: Majoritäten, und nicht Autoritäten! Jch meine hier mit Autoritäten nicht etwa die Regierungen. JIch würde wünschen, daß Autoritäten unter Ihnen \sich nun bemühten, die Mittel und Wege zu finden, wie der Calamität abzuhelfen ist.

Weiter haben Sie nicht umhin gekonnt, die vecuniäre und wirth- schaftliche Lage scharf zu betonen. Geschieht das agitatorisch, so folgt ganz von selbst, daß der Eigennuß des Einzelnen mit ins Gefecht ge- führt wird; die Staatsidee tritt immer mehr zurück, die Interessen der Einzelnen treten immer mehr in den Vordergrund. Das ist ganz unvermeidlih, und der Einzelne, wenn er si au nur in be- shränktem Maße zum Egoismus * berechtigt hält, wird noch egoistisher, wenn er in der Genossenschaft steht. Und so haben wir denn Vinge zu hören und W lesen be- tommen, die mich aufs [tiefe betrüben, in denen id einen Nükschritt unseres Staatslebens und patriotischen Empfindens erkenne ;

Dinge, die, wenn man sie mit dem vergleicht, was früher in Deutsh- land gedacht und gethan worden ist, tief beklagenswerth sind; Dinge, über die ein Fichte und Ernst Moriß Arndt mit der heiligsten Ent- rüstung sprehen würden. Man stellt die Interessen einer Gruppe den Interessen des Staats voran. Das ist das, was ih beklage. (Sehr richtig!) Nicht, daß es der Ansicht der leitenden Herren ent- sprächhe; aber es ist die unvermeidliche Folge des agitatorischen Vor- gehens ; das fann garnicht anders sein.

Ich will auch hier ein Beispiel anknüpfen. JIch habe gesagt, ih besäße kein Ar und keinen Halm. Das ist eine Behauptung, die den thatsälhlihen Verhältnissen entspriht. (Heiterkeit. Zuruf : „Leider“ !) Nun sagt einer der Herren: Leider. Ja, wenn ih nun ein Ar hätte und bätte das Ar fo verschuldet, wie die Herren sagen, daß die Landwirthschaft jetzt dasteht, glauben Sie, daß ein so ver- s{chuldeter Reichskanzler ein wünschens8werther Reichskanzler wäre? Ich glaube niht! (Heiterkeit.)

Aber weiter! Ist es denn nicht traurig, wenn den ersten Beamten des Reichs dergleichen zum Vorwurf gemacht wird ? Was heißt denn das? Entweder heißt es: Du hast von der praktischen Landwirth- saft nicht die erforderlichen Kenntnisse. Nun bin ih der Meinung, daß solhe Kenntnisse do nur in beschränktem Maße erforderli sind, um sih über die Lage eines Berufszweiges, auch eines so wichtigen Berufszweiges, zu unterrichten. Ich glaube nicht, daß es nothwendig ist und ih glaube auch nit, daß diese Herren alle es gethan haben —, den Dreschflegel zu {wingen und den Pflug zu führen, um diejenigen Kenntnisse zu erwerben, aus denen heraus man im ganzen die Lage der Landwirthschaft beurtheilen kann. Aber es kann sein, daß niht bloß der Vorwurf einer folhen Unkenntniß mir damit hat gemaht werden sollen; i glaube vielmehr, man hat fagen wollen und ziemlich unverblümt ift das herausgekommen —: der Mann it nicht interessirt an der Landwirthschaft, deshalb nimmt er an unseren Interessen niht theil. Ja, meine Herren, wenn das der Fall wäre, wie weit wären wir dann gesunken, wenn man voraus- seßte, daß der Egoismus der Hebel für die Handlungen eines Beamten ist! (Sehr richtig!) Ich behaupte noh heute und fage das immer wieder und sage es gern denn es entspriht der Wahrheit —: ih habe cinmal fein Ar und keinen Halm: troßdem aber werde i, soweit mein Erkennen und mein Vermögen reicht, für die Landwirth- haft weiter sorgen. (Bravo !)

Es werden Angriffe der fonderbarsten Art gegen die Regierung erhoben; so wurde neulich von agrarisher Seite nicht hier im Hause gesagt: wir müssen diese und diese Forderungen stellen: es scheint zwar unmöglich, sie zu erfüllen, aber von der Regierung sind wir berechtigt zu verlangen, daß sie das Unmögliche kann. Ja, meine Herren, das übersteigt doch die Grenze einer verständigen Agitation ; das geht so weit, daß ich mi einer Kritik eines solhen Angriffs besser enthalten zu können glaube. J habe dies hier erwähnt, weil es eben zeigt, wie gegen den Wikllen der Führer des landwirth- schaftlihen Bundes, wider den Willen der Männer, die ih diesem Bunde angeschlossen haben, um ihn in gemäßigten Bahnen zu ers erhalten, die Agitation einen folhen Umfang annimmt, daß ih fürchte, die Herren, die jeßt die Leiter sind, werden sie nicht in den ihnen felbst wünschenswerthen Grenzen halten können. Sie haben die Agitation zum Schwungrad und in den großen Massen den Egoismus zum Motor ihres maschinellen Großbetriebs gemacht, und wo das auf- hören wird, vermag ih nit abzusehen.

Dann aber machen Sie noch den anderen Fehler: Sie nehmen die Landwirthschaft heraus aus dem Staatsleben, Sie denken fie sh isolirt. Dies is auch gegenüber den Handelsverträgen vielfa zur Anschauung gekommen. Sie sind {hon so weit, daß Sie gegen die Industrie, die Ihnen bisher so befreundet war, vorgehen. (Wider- spruch rets.)

Ich will au hier wieder den Satz anführen, der landläufig bei Ihnen geworden ist, den man immer wieder als ein Argument dafür hôrt, daß vor allen Dingen für die Landwirthschaft gesorgt werden muß, gleichviel was aus dem Uebrigen würde, dem würde ja dann ein indirecter Vortheil zukommen der Say is: „Hat der Bauer Geld, hat’'s die ganze Welt.“ (Sehr richtig! rechts.) Der Saß war einmal richtig, er war richtig, als wir ein Ge- treideexportstaat waren, und er is noch heute so weit richtig, als er etwa sagen will, daß eine gute Ernte ein Segen für das ganze Land ist; aber weiter paßt er niht mehr auf die heutigen Ver- hältnisse, denn münzt denn der Bauer Geld? Der Bauer bekommt erst Geld durch die Leute, die ihm seine Producte abkaufen. Das bat ja Herr Paashe nah meiner Ueberzeugung ganz richtig geschildert. Wenn diese anderen Stände nicht in der Lage sind, kaufen zut können, dann ist der Bauer au nit in der Lage, seine Schweine, Eier“ und was Herr Paasche sonst noch anführte, abzusezen. Es besteht also eine Wechselwirkung zwishen den Ständen. Wir können niht ohne die Landwirthschaft bestehen, wir können aber au niht allein von der Landwirthschaft leben, und die Frage, die von Ihnen so oft aufgeworfen wird: ob denn jemand behauptet, daß die Industrie der Landwirthschaft vorgeht, if eine Etikettenfrage, ganz werthlos für das prafktishe Leben. Es ist gerade wie mit der Frage von Schußzoll und Freihandel. Die hat keinen Werth, es handelt sich einfah darum: ein Berufszweig greift in den anderen ein, und der Schade des einen ist auch der Schade des anderen, und der Staat kann gar nit existiren, wenn einzelne Berufszweige zu Grunde gehen. Sie aber haben eine Anschauungêweise angenommen, in der Sie immer nur die Landwirthschaft sehen und alles Andere vergessen. (Zwischen- ruf rechts.) Es würde mir nicht zu {wer werden, aus einem beute aus der „Kreuzzeitung" erschienenen Artikel Ihnen derartige Dinge nachzuweisen; aber ih bin {hon erfreut, wenn ih vernebme, daß die Ansicht hier nit unter allen Herren verbreitet ist. (Heiterkeit.)

Ich habe mir vorhin vorbehalten, auf das Vieb zurückzukommen. Es ift bier niht erwähnt, aber in der Presse so viel und bis in die leßten Tage und auch wieder in der Verbindung mit den Handels- verträgen von dem Schaden gesprochen, den ih angerichtet bätte, daß ih mir erlauben möchte, Jhre Aufmerksamkeit noch für einige Augen- blide darauf zu lenken.

Es is mir vor einiger Zeit die Eingabe der pommerschen ökonomischen Gesfellshaft zugegangen, 'sie sprach von den enormen Verlusten, welche die deutsche Landwirtbschaft dur die Maul- und Klauenseuche infolge der wieder freigegebenen Einfubr von Schweinen aus verfeuchten Ländern erleide. Erstens sind aber keine Verluste in- folge der Verträge erlitten, wie ih nahher nachweisen werde, und zweitens, die Grenze ist nicht geöffnet worden. Es sind nur vier