1894 / 53 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Fri, 02 Mar 1894 18:00:01 GMT) scan diff

zugeben, daß in allen rufsishen Blättern die Sache so hingestellt ‘wird, daß Rußland dabei ein ganz gutes Geschäft gemacht habe. In- zwischen sind mir doch eine ganze Reibe von Privatbriefen zur Kenntniß gekommen, namentlich aus Moskau und dem dortigen Industriebezirk, die sich bitter über diesen Vertrag aus\prehen und die genau so, wie es bei uns die Landwirthschaft thut, von dem vor- aussihtlihen Ruin ihrer Industrie \prehen. Warum diese Privat- briefe niht in die russishe Presse gekommen sind, muß seine ganz besonderen Gründe haben! Jch will darauf nit näher ein- gehen. (Heiterkeit links.)

Der Herr Vorredner hat dann ein sehr abschreckendes ! Urtheil über die Konzessionen gefällt , die wir für unsere Industrie er- rungen haben. Er nannte sie verschwindend gering und bezeichnete insbesondere den Zoll auf Noheisen nach wie vor prohibitiv. Ich weise demgegenüber darauf hin, daß noch im vorigen Jahre England allein etwa 1 200 000 Doppel-Ztr. Roheisen nah Rußland exportiert hat. Wenn das zu einem Zoll von 30 Kopeken möglih war, wird es auch künftig zu 35 Kopeken möglich sein. Der Herr Vorredner sagte: Vergleichen Sie unsere Eisenpreise!! Jh möchte ihm entgegenrufen : Vergleichen Sie die russishen Produktionsbedingungen mit den unfserigen! Die sind vollkommen verschieden. Ein Land, das, wie Rußland, die Nohmaterialien, die wir freilassen, mit so hohem Zoll belegt, kann {hon aus diesem Grunde niht mit uns verglichen werden.

Der Herr Vorredner hat dann darauf hingewiesen, es bestehe in Rußland ein Verbot, daß die Eisenbahngesellshaften ihr Eisenbahn- material im Auslande fabrizieren lassen. Ein \olches Verbot besteht niht; wohl aber hat sich, foviel ich weiß, in den Konzessionen an die Eisenbahngesellschaften die rufsishe Regierung das Recht vor- behalten, derartige Verbote zu erlassen. Ein folches Verbot wäre zur Zeit undurchführbar; denn im Angesicht des großartigen Werks des Baues der sibirischen Eisenbahn, der ungefähr 10 Jahre in Anspruch nehmen wird, ist die russishe Regierung darauf angewiesen, Eisenbahnmaterial im großen Umfange aus dem Auslande si kommen zu lassen, und ich meine, es is doch für uns nicht gleich- gültig, ob wir dabei mit konkurrieren oder ob alles unsere Konkur- renten, die Engländer und Oesterreih-Ungarn 2c. bekommen. Der Herr Vorredner is endlich auf die große Nothlage der Landwirthschaft zu reden gekommen und hat den bisherigen Rednern für den Vertrag und auch den Vertretern der verbündeten Regierungen den Vorwurf gemacht, daß sie von dieser Nothlage garniht gesprochen hätten. Das trifft nicht ju. Ich habe allerdings von dieser Nothlage gesprochen und darauf hingewiesen, daß eben diese Nothlage und die aus ihr hervorgegangene agrarische Bewegung den stärksten Antrieb für die verbündeten Regierungen bilden müsse, alles das zu thun, was in ihren Kräften steht, um diese Nothlage zu beseitigen. Aber, meine Herren, diésen Vertrag mit Nußland zu verwerfen, das wäre ein Experiment, von dem alle Theile der deutschen Wirth- schaft und auch die Landwirthschaft nach meiner festen Ueberzeugung \{chwer betroffen würden. Der Herr Vorredner hat, als er von der Wirkung dieses Vertrags auf unsere Landwirthschaft sprach, ein Argument gebraucht, das zwar von seinen politischen

Freunden mit großem Beifall aufgenommen wurde, dessen Anwendung gerade in seinem Munde mich aber einigermaßen erstaunt hat. Er

hat die Behauptung, daß dieser Vertrag für unsere Landwirthschaft [chädlich sei, damit begründet, daß er offenbar für die russishe Land- wirthschaft nüßlich sei. Ja, meine Herren, was will denn eigentlich die russishe Landwirthschaft mit diesem Vertrag erreihen? Sie will das Getreide, was sie heute zu Schleuderpreisen auswärts hinsenden muß, um sich neue Absatzgebiete zu erwerben, zu theueren Preisen an Deutschland verkaufen, und darin liegt auch die beste Garantie gegen die Befürchtung der Ueberschwemmung. Ich habe neulich \ch{chon darauf hingewiesen, daß in diesem Augenblick der Roggenpreis in Deutschland infolge der reihlihen Ernte so außerordent- lih niedrig ist, daß das russishe Getreide mit dem unsrigen jeßt garnicht konkurrieren kann.

Der Herr Vorredner hat seine Ausführungen damit ges{lossen, daß dieser Vertrag dazu beitragen werde, den Ruin der deutschen Land- wirthschaft zu vervollständigen. Einen Beweis für diese Behauptung hat er nicht vorgebraht. Er hat es auch mit großer Sorgfalt vermieden, die Argumente zu beleuchten, die ih am ersten Tage der ersten Lesung hier vorgeführt habe. Ich habe neulih in einer hiesigen konservativen Zeitung eine sehr {harfe Kritik meiner neulichen Rede gelesen. Es hieß darin, daß meine Vertretung so außerordentlichß s{chwach gewesen- sei, daß es eigentlich für die Gegner des Vertrags im höchsten Grade bedauerlih sei, daß man überhaupt gegen fo s{lechte Argumente ankämpfen muß. (Heiterkeit.) Darauf will ich in aller Bescheidenheit erwidern: ein Schelm giebt mehr, als er hat. Ich habe alle die Argumente vorgebracht, die meines Erachtens überzeugend für den deutsch-russishen Vertrag sprechen; und wenn man nun glaubt, daß diese Argumente so dürftig sind, daß es der Menschenwürde widerspricht, sie zu bekämpfen und zu widerlegen, dann werden eben meine Argumente un- widerlegt bleiben; und damit kann ich mich auch trösten. (Sehr gut! links und Heiterkeit.)

Königlich preußischer Bevollmächtigter zum Bundesrath, Finanz-Minister Dr. Miquel:

Meine Herren ! Herr Graf Kanit ‘hat namentli die finanzielle Seite dieses Vertragswerkes betont und- an diejenigen Abgeordneten, welche für den Vertrag stimmen, den Appell gerichtet, sich auch dessen bewußt zu sein, daß die Einnahmeverluste, die infolge des Vertrages entstehen sollten, in irgend einer Weise durch Vermehrung der sonstigen Einnahmen des Reichs gedeckt werden müssen. Er hat sich dabei auf mi berufen, indem ih hier erklärt habe, daß infolge der Handels- vertragêpolitik die Zolleinnahmen um etwa 35 Millionen Mark sich vermindern würden.

Meine Herren, was diesen Appell des Herrn Abg. Grafen Kanitz betrifft, so kann ich ihm nur beitreten. Sofern hier wirklich eine wesentlihe Verminderung der Neichseinnahmen eintreten sollte, wird allerdings Fürsorge für den Ersatz derselben durch andere Einnahme- quellen getroffen werden müssen; denn das Reich ist nicht in der Lage, es ist nicht so rei, um einfah äuf erheblihe Einnahmen verzichten zu können und doch die bedeutend gestiegenen Ausgaben zu decken, welche ja eine Folge der leßten Ereignisse sind.

Wenn man aber nun untersuchen will, welche Wirkung dieser russishe Handelsvertrag auf die Finanzen des Reichs ausüben wird, dann wird man doch die Gefahr für die Reichsfinanzen nicht so groß ansehen können, wie der Herr Abg. Graf Kaniß das gethan hat. Meine Herren, es ist vollkommen zutreffend, daß, wenn man ziffern-

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mäßig ohne Rüksiht auf den Einfluß der Handelsverträge auf die zukünftige Einfuhr rechnet, man auf etwa 35 Millionen kommt, ohne Rücksicht auf den deuts{-russischen Handelsvertrag. Welchen Einfluß die Handelsverträge aber haben werden auf die Vermehrung der Ein- fuhr, und in welGWem Maße durch die Vermehrung der Einfuhr der Einnahmeverlust gedeckt werden wird, das wird wohl niemand von uns mit einiger Sicherheit übersehen können. Im großen und ganzen wird man zweifellos an- nehmen dürfen, daß eine Zollherabseßung in der Regel korrespondiert mit der Vermehrung der Einfuhr, wenigstens bei einer Reihe von Artikeln. Jm großen und ganzen wird man aber auch sagen müssen, daß dies vielleicht am wenigsten zu befürhten oder zu er- warten is, wie man sih nun ausdrücken will, bei der Einfuhr von Getreide, die ja dur eine bestimmte, von einem Zoll von 17 M niht abhängige Konsumtionsnothwendigkeit bedingt ist. Wenn ih nun aber frage: wie wird gerade der russishe Handelsvertrag auf die Einnahmen einwirken? so ist hier, glaube ih, bei denjenigen, die diese Einwirkung für eine sehr hohe halten und den Einnahme- verluft für sehr hoh anschlagen, zugleich aber sehr bedeutende Be- fürhtung in Bezug auf die Preisgestaltung des Getreides im Innern hegen, ein gewisser Widerspru entstanden. Entweder oder! Wenn der russishe Handelsvertrag nicht abges{chlossen wird, wenn der jeßige Zustand, vielleiht mit Beseitigung des Zollkrieges, aber der Zustand der Differenzierung bleibt, so kann nur das eine oder das andere eintreten. Gegenüber der Thatsache , daß der deutsch-österreihische Handelsvertrag nicht ein Vertrag mit Oesterreich allein ist, sondern ein Vertrag mit den wesentlich auf dem Gebiete der Getreideproduk- tion ko nkurrierenden Staaten, daß dieser Vertrag im großen und ganzen die deutschen Grenzen geöffnet hat für die Einfuhr des Ge- treides der ganzen Welt, vorläufig mit Ausnahme von Rußland, zum Zollbetrage von 83,50 M, kann nah meiner Meinung die Wirkung des Zollvertrages mit Rußland auf dem finanziellen Gebiete zwar möglicherweise ih werde nachher noch auf dieses Gebiet „möglicherweise“ zurückfkommen sih dahin gestalten, daß die russishen Importeure gezwungen sind, den höheren Zoll zu zahlen, ohne wesentliche Einwirkung auf die Preisgestaltung im Innern, oder aber, daß der Import von rufsishem Getreide über- haupt für die Dauer ausgeschlossen wird. Jn dem einen Falle würden wir allerdings den jeßt noch stattfindenden Import, den trotz des Zoll- krieges noch bis auf eine gewisse Grenze stattfindenden Import und die daraus resultierenden Zollbeträge verlieren, es würde aber dann die Landwirthschaft nihts gewinnen; und im andern Falle würde sich die Sache so gestalten, daß wir allerdings einen Einnahmeverlust haben, daß aber der Landwirthschaft dur den Einnahmeverlust nit genügt würde. Meine Herren, die Entscheidung dieser ganzen Sache ift nah der Ueberzeugung der preußischen Staatsregierung bereits gegeben ; fie wurde gegeben beim Abschluß des deuts - österreichishen Handels- vertrages. (Sehr richtig! rechts.) Die Fragen, die wir jeßt hier noch erörtern : ob es rathsam ist, überhaupt den Getreidezoll zu binden, ob es rathsam is}, überhaupt auf längere Dauer Handelsverträge abzu- schließen, welche Vorbehalte dabei zu machen sind diese Fragen sind beim Abschluß des deutsh-österreihischen Vertrages definitiv ent- schieden auf die nächsten Jahre. (Sehr rihtig) Wir haben eigentli gar keine Veranlassung mehr, diese Dinge hier noch weiter zu er- örtern. Da der deutsh-österreichishe Handelsvertrag die gleiche Begün- stigung für Amerika (Widerspruch rets), für England, für Holland, für Belgien, für Argentinien, für die süd-amerikanishen Staaten mit ih brachte, so unterstehen die Preise in Deutschland hon jeßt der ent- scheidenden Einwirkung des Weltmarktes.

Man sagt: mit Ausnahme von Roggen! Dafür kann man ja einige Argumente anführen, und das führt mih-auf die Frage: welche Wirkung würde es auf die Dauer haben, wenn wir Nußland diffe- rentiell behandelten? Jch will ganz ofen sprechen: in der Zollver- waltung war man von vornherein der Meinung, daß zwar für einige Jahre bis auf eine gewisse Grenze die differentielle Behandlung des russishen Handels aufrecht erhalten werden könne, daß aber für die Dauer es dem Handel in seiner außerordentlichen Beweglichkeit ge- lingen würde, nahdem im wesentlichen unsere Grenzen geöffnet sind, auch für Roggen diese differentielle Behandlung illusorisch zu machen (sehr richtig! links). Jst dies rihtig, so wird man sagen müssen, daß die Frage, ob dieser Vertrag abgeschlossen werden soll, ob au Rußland der Zoll von 3,50 zugestanden werden foll, für die Lage der Landwirthschaft auf die Dauer die Bedeutung nicht hat, die so viele Herren ihr beilegen. Aber, meine Herren, stellen Sie ih einmal vor, wir könnten wirkli das russishe Getreide dauernd differentiell behandeln, und es fönnte uns auch der Handel da kein X für ein U machen, dann glaube ih do, daß andere Staaten genug vorhanden sind, die den nöthigen Noggen für Deutsch- land liefern; Rumänien, die baltischen Provinzen, selb Amerika würden, wenn Rußland dauernd von dem deutschen Markt in Bezug auf Roggen ausgeschlossen würde, nach unserer Ueberzeugung an die Stelle treten, würden \ich auf die Produktion von Roggen legen und unsere Landwirthschaft würde wieder in dieselbe Lage gebracht sein.

Meine Herren, es is darauf hingewiesen worden, daß keiner der bisherigen Herren Redner vom Bundesrathstisch oder der Neichs- regierung sich mit der Nothlage der Landwirthschaft beschäftigte. Nun, ich bekenne ganz ofen, daß die Worte, welche Herr Graf Kanitz gesprochen hat, vollständigen Widerhall in den Herzen und in den Ueberzeugungen der preußischen Regier1ng (Bravo! rechts) nit bloß, sondern gewiß ebenso der übrigen Regierungen und der Reichsregierung finden. Ich bekenne mich zu der Ueberzeugung, nicht bloß persönli, sondern ih kann hier sprechen namens der preußischen Staatsregierung (Bravo! rets), und ih bin sicher: aud namens der Reichsregierung (Heiterkeit links), daß wir die gefährdete, peinliche Lage der Land- wirthschaft in fast allen europäishen Kulturländern in vollem Maße anerkennen, daß wir sie auch in Deutschland finden, und nicht bloß im Norden und im Osten daß diese bedenkliche Lage aber im Norden und Osten mehr oder weniger hon vielfach den Charakter einer Nothlage annimmt. (Lebhafter Beifall rets.) Die preußische Regierung ihrerseits is vollständig davon durchdrungen, daß es die Aufgabe der nächsten Jahrzehnte sein wird, mit voller Fürsorge und Aufmerksamkeit diese Lage der Landwirthschaft nicht bloß zu beobachten , sondern auch wirksam für jede mögliche Abhilfe ein- zutreten. (Bravo! rets.)

Aber, meine Herren, troy dieser Ueberzeugung hat sie doch nicht anders fkonkludieren können, als daß aus der gegebenen Lage heraus sie in voller Ueberzeugung diesem Vertrage ihre Zu- stimmung geben mußte. (Bewegung.)

Meine Herren, Herr Graf Kaniÿ hat mit Ret selbst die gegen- wärtige Situation eine Zwangslage genannt; er hat gesagt: die Landwirthschaft wird mit einem Zoll von 3,50 „6 zu Grunde gehen, ob der deutsh-russishe Vertrag noch hinzutritt oder niht. Es ist gewiß eine Zwangslage vorhanden, aber auch für diejenigen, die ursprünglih vielleiht niht auf dem Boden des Abschlusses von Handelsverträgen standen und das gerade möchte ih den Herren unter mir hauptfählich zu Herzen führen. Jch habe {on vorhin gesagt: diese Frage war entschieden, die Reichsregierung, die ver- bündeten Regierungen, einschließlich der preußishen Regierung, und der Reichstag hatten die Grundlagen der deutschen Zollpolitik acceptiert, der Vertrag mit Oesterreih war abgeschlossen ; nun standen wir vor der Frage: ist es überhaupt möglih, aus wirthschaftlichen und politishen Gründen, auf die Dauer eine differentielle Be- handlung eines großen Nachbarstaats aufrecht zu erhalten? Das ift die Frage, die nah meiner Meinung allein hier zur Entscheidung kommt. Die politishe Seite zu berühren, meine Herren, is meine Aufgabe nit; sie is {hon von anderer Seite ausgiebig berührt worden, ein jeder kann \sich darüber eine Meinung bilden. Was die Möglichkeit einer differentiellen Behandlung vom Standpunkte der Zollverwaltung und der wirthschaftlichen Verhältnisse betrifft, so habe ih die Gründe, für ihre dauernde Unmöglichkeit {hon vorher mit» getheilt.

Schon als der deuts - österreihishe Vertrag angenommen war, wurden sehr viele Stimmen laut, die es damals {hon für selbst- verständlich erklärten, daß man Rußland nun denselben Zollsaß für Getreide geben müsse, weil es unausführbar sei, gegen Rußland über- haupt dauernd differentielle Getreidezölle aufrecht zu halten: Es wurde fogar vielfach in Broschüren und Zeitungen dargelegt, daß es rationeller sei, nun ohne weitere Gegenleistungen Rußland diesen billigeren allgemeinen Vertragstarif zu gewähren. Die Reichsregierung ist niht darauf eingegangen, ist diesen Rathschlägen nicht gefolgt, sie hat vielmehr mit vollem Recht diese Lage benußt, um auch seitens Rußlands erhebliche Konzessionen auf anderen Gebieten, die indirekt der Landwirthschaft auch zu gute kommen, zu erreichen, und die preußische Staatsregierung hält auch das, was an Konzessionen und Zugeständnissen nit bloß für die Industrie, sondern namentli auch für Handel und Schiffahrt aus diesem Vertrage erwächst und, wie gesagt, indirekt auch der Landwirthschaft zu gute kommt, für sehr bedeutungsvoll Das Einzelne will ih hier niht näher ausführen, es ist hon genügend klargelegt.

Wenn nun die Lage so war, so konnte wohl keine Regierung, so lebhaft sie auch die shwierige Lage der Landwirthschaft beklagt, fo sehr sie von ihrer Pflicht durhdrungen ist, für dieselbe zu thun, was mögli ist in Gefeßgebung und Verwaltung, zu der Konklusion kommen, einen Zustand aufrecht zu erhalten, der weder politis auf die Dauer, nohwirth- schaftlih durchführbar war. Meine erren, wenn ich in meiner amtlichen Aufgabe so viel mit den finanziellen Zuständen und wirthschaftlichen Verhältnissen des Landes in Berührung komme, mi so oft unterhalte mit den Landwirthen der östlichen Provinzen, und nicht bloß mit Guts- besißern und Großgrundbesitzern, sondern auch mit Bauern, dann können Sie wohl glauben, daß man jeden Schritt nah der Richtung erwägt, ob in demfelben eine Schädigung der Landwirthschaft liegt. Allerdings in dem Punkte muß ih dem Herrn Grafen Kaniß Necht geben —: dieser Vertrag berührt am meisten unmittelbar diejenigen Provinzen, die an und für sich schon in besonders shwieriger Lage si befinden. (Hört! hört !)

Wenn beispielsweise ermittelt is, daß in der Provinz Hannover das Verhältniß der Schuldzinsen zu den Erträgnissen des Grund und Bodens 19 9% beträgt, in Posen aber 60, in Ostpreußen 48, in West- preußen 54 u. st. w., so muß man ja zugeben, daß, welches nun au die Gründe sind, die landwirthschaftlihen Zustände in den östlichen Provinzen am allershwierigsten liegen, und Sie können sicher fein, daß die preußische Staatsregierung davon völlig durchdrungen ist. Aber ih sage: die Herren suchen hr das Heil der Landwirthschaft an einem verkehrten Punkte; die Herren glauben durch Ablehnung des Handels- vertrags die Lage der Landwirthschaft in den östlihen Provinzen wesentli zu verbessern. Sie glauben, daß die Preisverhältnisse sih wesentlih günstiger gestalten werden bei Ablehnung dieses Bertrags. Die Erfahrung der leßten Jahre, wo wir vollen Zollkrieg mit Nuß- land geführt haben, hat do eigentli in dieser Beziehung das Gegen- theil bewiesen. (Zuruf rets.)

Ich kann mich lebhaft in die Lage derjenigen hineindenken, die solche landwirthschaftlihen Zustände vor Augen haben, selbst darunter leiden, überzeugt, daß die Lage der Landwirthschaft dur diesen Ver- trag noch vershlehtert werde, mit allen Kräften dem Handelsvertrag widerstreben. Wer objektiv darüber denkt, muß das auch verstehen.

Ich habe aber die Hoffnung, daß, wenn einmal der Vertrag zum Abschluß kommt, die chweren Besorgnisse und Befürchtungen, die die Landwirthe, namentlich der östlichen Provinzen, an diesen Vertrag getnüpft haben, sih niht bewahrheiten werden. Ich glaube, die Er- fahrung wird dies darthun, und ih hoffe, daß dann auch die scharfen Gegensäte, die sih hier entwickelt haben und noch weiter zu ent- wickeln drohen was ih für eia großes Uebel halten würde im Interesse aller Theile zwis{chen den Interessen des Handels und der Industrie auf der cinen Seite und der Landwirthschaft auf der anderen Seite, vershwinden werden und man ih mit den gegebenen Thatsachen abfinden werde, wenn bemerkt wird, daß die Gefahren, die man jeßt befürchtet, nit in der Weise eintreten, wie man es in diesem Augenblicke glaubt.

Meine Herren, der Graf Kaniy hat gesprochen von dem Kampf auf Tod und Leben der Landwirthschaft. Gewiß, man kann in gewisser Weise, wenn man die allgemeine Lage der Landwirthschaft ins Auge faßt, von einem Kampf auf Tod und Leben sprehen. Auf keinem Gebiet haben die neueren Entwickelungen gefährliher für die europäishen Verhältnisse gewirkt, als auf dem Gebiete der Land- wirthschaft. Während auf ‘der einen Seite durch die Konkurrenz billiger produzierender Länder, durch die Grleichterung und Verbilli- gung aller Verkehrsmittel troß des Schußes, der der Landwirthschaft gewährt wird und dieser Schutz ist bei den großen Schwankungen in den Getreidepreisen nah meiner Meinung überhaupt von sekundärer Bedeutung troßdem also man bemüht ge- wesen ist, die Landwirthschaft zu schüßen, die Preise in den leßten

Jahren namentlich auch in Deutschland, seitdem wir ein getreide-

cinführendes Land geworden sind, im Sinken sind und man darf fogar die Befürchtung hegen, daß wir noch niht am Ende dieser Bewegung sind sind auf der anderen Seite die Produktionskosten gestiegen. Aus diesen allgemeinen Gründen resultiert vornehmlich die

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shwierige Lage der Landwirthschaft. Gewiß muß man, foweit es überhaupt in den Kräften der Regierung und der Betheiligten steht, gegen die Wirkungen dieser Weltbewegung, wenn ih so sagen darf, ankämpfen, und fo kann man von einem Kampf auf Tod und Leben sprehen. Intensivere Wirthschaft, Verbesserung der Verkehrsmittel für die Landwirthschaft selbst, nicht bloß für Industrie und Handel, Landesmeliorationen, gute landwirthshaftliße Schulen u. \. w., Ver- besserung der Kreditverhältnisse auf dem Lande, Verbesserung der Geseßgebung, welche die Bewegung des Grund und Bodens regelt, derartige Maßregeln müssen zweifellos mit Entschiedenheit in Aus- siht genommen werden. Wenn Herr Graf Kaniy gesprochen hat von einem Kampf um die Existenz, um das Bestehen der europäischen Landwirthschaft, fo kann ih diesen Ausdruck nicht zurückweisen, wohl aber muß ih es zurückweifen, wenn er dieses Wort knüpfte an diesen Vertrag; denn nah meiner Meinung wird dieser Vertrag irgend eine wesentliche Vershlimmerung der Lage der Landwirthschaft auch in den östlihen Provinzen nicht herbeiführen. (Bravo !)

Königlich preußischer Bevollmächtigter zum Bundesrath, Minister für Landwirthschaft, Domänen und Forsten von Heyden:

Meine Herren! Jh stimme den Ausführungen, welche der Herr Bundesrathsbevollmächtigte, Königlich preußishe Staats- und Finanz- Minister Dr. Miquel bezüglih der Lage der Landwirthschaft gemacht hat, in allen Theilen bei, ih halte mich aber verpflichtet, sie in einer Beziehung zu ergänzen und zwar darin: er führte aus, daß er sich be- züglich der Anerkennung der Nothlage der Landwirthschaft mit dem preußishen Staats-Ministerium in Uebereinstimmung befinde. Diese Aeußerung erregte das Mißfallen auf dieser Seite des Hauses (rechts). Es wurde gefragt, nur Preußen? Im Interesse der Wahr- heit halte ih mich für verpflichtet, festzustellen, daß bereits im Anfang des Jahres 1891 der erste, welher aus den Verhältnissen der östlichen Landestheile, speziell Ostpreußens, heraus darauf aufmerksam machte, daß im Interesse und gegenüber der bedenklihen Lage der Landwirth- {haft entscheidende Schritte geshehen müßten, wie sie eben von dem Herrn Staats-Minister Excellenz Miquel bezeihnet wurden, daß der erste, von dem diese Anregung ausging, der Herr Reichskanzler war, der damalige Königlich preußische Minister - Präsident Graf von Caprivi.

Akg. von Ko scielski (Pole) wünscht namens der Polen eine Kom- missionsberathung, weil man, ohne Gegner des Handelsvertrags zu sein, dennoch den einen oder andern Punkt aufklären möchte, was in der Plenarberathung niht gesehen kann. Die Polen haben die Handelspolitik der Reichsregierung wegen ihrer hohen kulturellen Bedeutung stets zu unterstüßen sih verpflichtet gefühlt; sie können niht anerkennen, daß der Vertrag der polnishen Landwirthschaft Nachtheile bringen wird, troßdem fie am stärksten unter der Noth- lage der Landwirthschaft leidet; die Gründe des Niedergangs liegen in andern Dingen als in der Vertragspolitik. Man macht den Polen zum Vorwurf, M sie troß des agrarishen Charakters ihrer Landes- theile niht auf Seite der Agrarier stehen. Das ist sehr begreiflich. Die Konservativen haben die Polengeseßgebung befördert und dadur für die Loslösung von der Scholle gesorgt. Den Antrag Kardorff bezeichnet Redner als undurhführbar und besonders bedenklih MNußland gegenüber, denn der russische ¿Finanz- Minister hat es verstanden, den Rubelkurs vollständig unabhängig von der Spekulation zu machen. Bei Annahme des Aútrags Kardorff würde das Gegentheil davon herbeigeführt werden. Troß der Zustimmung zum Vertrag ist Redner doch bedenk- lih in Bezug auf die Frage, ob Rußland nit die Möglichkeit habe, dur anderweite Regelung der Cisenbahntarife die Zölle illuforisch zu machen. Das wird in der Kommission näher zu untersuchen sein, ebenso die Frage, ob Artikel 2, welcher zwar die Niederlassung von Fremden in Nußland gestattet, aber die Prem enaeleggezung EuPtgids unberührt läßt, niht einen Widerspruch in sich felbst enthält. Wir können es niemand recht machen. Stimmen wir für die Militär- vorlage, so ist das dem Einen nicht recht. Jett meint sogar ein agrarisches Blatt, daß wir für den Handelsvertrag stimmen, weil der- selbe chlimme Folgen für Deutschland haben würde. Man traut den Polen alle möglichen s{chlimmen Pläne zu; aber die Polen träu- men niht einmal vom Ministersturz; sie hlafen den gefunden Schlaf derjenigen, welhe loyal dem ‘König und dem Staat ihre Dienste erwiesen haben.

Abg. Dr. Osann (nl.): Der Abg. Richter hat von der national- liberalen Partei gesprochen, in welcher keine Einstimmigkeit herrschen solle; dasselbe ist aber von der Partei des Zentrums zu sagen, ohne daß der Abg. Nichter davon gesprochen hätte. Er hat in unerhörter Weise gegen die Nationalliberalen angekämpft, indem er von Sklaven, von Hörigen, die die Kette u. \. w. nach si s{chleppen, u. st. w. gesprohen. Das müssen wir energisch zurückweisen. Es ist bei uns niht üblich, daß Mitglieder der Fraktion abkommandiert werden ; auch nicht üblich, daß bei uns einer allein den Ton angiebt, sondern bei uns gilt die Harmonie. Es is doch nicht richtig, die Personen, welche in anderer Weise für das allgemeine Wohl eintreten, so an den Pranger zu stellen. Die sieben Fragen, welhe vom Bund der Landwirthe ein- zelnen Herren vorgelegt find, find wohlbekannt; es handelt sich dabei hauptsächlich um die S Pauno von Getreidezöllen bei Vandelsverträgen. Wir sind Anhänger der _Wirthschaftspolitik des Fürsten Bismarck, und es handelt sich darum, diese Wirthschaftspolitik weiter zu führen. Darin stimmen die- lenigen, welhe troß s{chwerer Bedenken für den Vertrag stimmen, und diejenigen, die dagegen stimmen werden, voll- ständig überein. Die Gegner des Vertrags wollen nicht, daß die guten Ergebnisse der Wirthschaftspolitik des Fürsten Bismarck zer- stört werden durch die Aenderung der Zolltarifsäße durch Handels- verträge. Jh habe dem Bund der Landwirthe geantwortet, indem ich auf meine Abstimmung zum österreichischen Sa bAdberttaa ver- wies. Ist das Sklaverei ? Selbst wenn man si aber auf die sieben unte verpflichtet hätte, so wäre man daran doch nicht gebunden, nicht loß wegen des Artikels der Verfassung, wonah alle Abgeordneten Vertreter des gesammten Volks sind, sondern au, weil folche Zu-

erungen immer nur gegeben werden auf Grund der gegenwärtigen Verhältnisse; wenn aber die Zukunft Veränderungen der Umstände mit sih bringt, so kann man sih auch anders entschließen. Der rumänische Handelsvertrag ist im Reichstage zur Verabschiedung gekommen. Ist das nicht eine erheblihe Veränderung der Verhältnisse ? Ist das nicht ein groß Stück des Weges nah Rußland hinein? Wenn ein Zollbeirath den Verhandlungen mit Rußland Schritt für Schritt folgte, wenn der Vertrag sih als viel werthvoller herausstellt, als der Vertrag mit piellerreid, wenn er volle Billigung von allen Seiten findet, wenn die Aufhebung des Identitätsna weises, und der Staffeltarife erfolgt, so fann man do nicht sagen, a das dieselbe Sachlage ist, wie damals bei der Wahl, wo man wohl der Ansicht sein konnte, daß ein russisher Vertrag abgelehnt werden müsse. Wenn man dabei seine Meinung nicht ändern follte, dann hörte das ganze parlamen- tarishe Leben überhaupt auf. Wer steht denn besser da: derjenige, der sich unbesehen für ‘den rufsishen Handelsvertrag erklärt hat, oder derjenige, der nach „reifer Ueberlegung zur Zustimmung kommt ? Dur persönliche Einflüsse oder Machtworte haben wir uns nicht beeinflufssen lassen, wir „find lediglih unseren Ueberzeugungen folgt. Ein Theil meiner Freunde hält an ihrem früheren

tandpunkt fest; ein anderer Theil hat \ich zur Zustimmung entschlossen, weil sie meinen, daß der Vertrag über- wiegende Bortheile mit sich se Redner verweist auf den Art. 1, wonach die Angehörigen beider Länder gleichberechtigt sein sollen; es sollen aber die Vorschriften in Kraft bleiben , welhe ih auf alle

Ausländer beziehen. Redner folgert aus dem Wortlaut, daß die Regierung sih vorbehalten habe, die Einwanderun gänzlih zu verbieten; denn in dieser Beziehung zeige \ih eine Abweichung von dem Wortlaut des österreihishen Vertrags. Redner empfiehlt die Annahme des Bts welcher der Industrie und ihren Arbeitern und damit auch der Landwirthshaft Nuyen bringen werde. Für die besonderen Interessen der Landwirthschaft wird in den einzelnen Staaten gesorgt werden wen: Wir befinden uns in einer ge- wissen Zwangs lage. Mit allen anderen Ländern haben wir abge- \{lofsen, nur mit diesem großen Reich, unserem Nachbarreih welches niht durch Meere von uns getrennt ist, nicht. Der Zollkrieg gegen ein folhes Land würde unheilvoll sein, und deswegen stimmen wir für den Vertrag.

„Königlich preußisher Reaierungskommissar, Gesandter von Thielmann: Der Abg. Dr. Osann hat den Wunsch ausgesprochen, es möchte die Tragweite des § 1 des russishen Vertrags nach einer bestimmten Richtung hin näher erläutert werden. Jch kann dem Abgeordneten erwidern, daß kein Staat in Verträgen das jedem zivilisierten Staate zustehende Hoheitsreht, mißliebigen Auslän- dern sowohl den Eintritt zu verbieten, sowie solhe mißliebige Ausländer, wenn fie si innerhalb der Guenzen des Staats auf- halten, wieder auszuweisen, ih wiederhole: daß kein Staat dieses Hoheitsrehtes \sich in Verträgen zu begeben pflegt. Ebensowenig hat Deutschland in früheren Verträgen auf dieses Hoheitsreht verzichtet und ebensowenig is es im vorliegenden Falle geshehen. Sonach besteht dieses Hoheitsrecht, mißliebige Ausländer niht zuzulassen oder später, wenn sie einmal Hiaatasfen worden sind und sich dann mißliebig machen, wieder auszuweisen, auch Nuß- E gegenüber, falls der Vertrag angenommen wird, unverändert weiter.

Abg. Dr. Barth (fr. Vg.): Der preußishe Finanz-Minister sagte: die Grundlage der Handelspolitik is 1891 gelegt worden ; jeßt befinden wir uns in einer Zwangslage; sonst wäre die Sache anders. Zu einer solchen abfälligen Kritik liegt gar kein Grund vor, denn überall findet die Handelspolitik des Reichs immer mehr An- erkennung. Gine besondere Unterstüßung der Handelsvertragspolitik war die Rede des Finanz: Ministers nicht, der vom Vertrag sehr wenig und von der Nothlage der Landwirthschaft mit \o großer liebevoller Fürsorge sprah. Eine s{chwierige Lage der Landwirthschaft aller Welt leugnet niemand. Aber von dieser Thatsache \oll man doch nit einen soldhen Gebrauch machen, daß der Begriff des Nothstandes shließlich gar nicht mehr festgestellt werden kann. Die Landwirth- schaft steht dadurch s{lechter da, daß sie weniger als andere Erroerbs- zweige im stande ist, sich anderen Verkbältnissen anzupassen, und das fann keine Geseßgebung beseitigen. Man spricht von dem Zugrund- gehen der Landwirthschaft Englands. Aber troß des Rückgangs wird in England immer noch mehr Weizen, Roggen und Hafer gebaut als in Preußen. Allerdings die Grundrente is herab- gegangen, und darin scheint mir die Genesung für die Landwirth- schaft zu liegen. Die von dem Abg. Rikert {hon angeführte Tabelle

„des L e Meyer in Hameln habe ih geprüft und als voll-

ständig übereinstimmend mit der Reichsstatistik gefunden; sie be- stätigen vollständig, was sie beweisen sollen, nämlih daß es durchaus unberechtigt ist, von einem in den leßten Jahren vermehrten Noth- stand der Landwirthe zu sprechen. Den Antrag von Kardorff kann man [eich im Plenum verhandeln, denn für eine Kommissionsberathung ietet er kaum einen Anhalt. Der Antrag zeige nur, wie {wer es ift, solche allgemeinen Anregungen in praktische Vorschläge umzuwandeln. Der Differentialzoll auf Grund des Antrags von Kardorff würde durchaus dieselbe Bedeutung haben, die der jetzige Differentialzoll hat. Und welche Zumuthung wird an die Reichsregierung gestellt? Sie soll Rußland sagen: Du hast uns zwar Konzessionen für unsere Industrie gemacht, aber der Differentialzoll von 5 46, um deswillen überhaupt der Zollkrieg angefangen i, soll in Zukunft 95 M _ betragen. Der deutshen Landwirthschaft kann aber nihts Schlimmeres passieren, als daß der D fferentialzoll für Roggen bestehen bleibt. Denn die Preise von Weizen und Roggen würden zusammenwirken, und dadurh würde die Roggen- produktion Deutschlands bedroht werden. Daß die Russen mit dem Vertrag zufrieden sind, ist felbstverständlih; aber wir haben auch Ursache, damit zufrieden zu sein. Dadurch unterscheidet sih die jeßige Wirthschaftspolitik von der des Fürsten Bismarck, der bei jedem Die verrag fragte: Qui E ici? Das ist ein falscher Standpunkt bei Handelsvertragêsverhandlungen, eine falsche Auffassung der ganzen Verkehrsbeziehungen, daß bei jedem Geschäfte Einer der Betrogene sein müsse. Wir Freihändler sind der Meinung, daß jeder zweiseitige Vertrag beiden Theilen Vortheile bringen muß; wenn es anders liegt, dann ist der Vertrag ein fehlerhafter. Daß beide Theile zufrieden sind, darin liegt ja au die politishe Bedeutung des Vertrages. In diesem Falle ist das Fehlen des {chweizerischen Instituts des Referendums zu bedauern ; eine überwältigende Mehrheit würde bei der Volksabstimmung dem Vertrage zustimmen. Bei diesem Werke hat die Regierung die große Mehrheit der Nation hinter sich, darum braucht die Regierung keine Konzessionen zu machen. Der Handelsvertrag muß angenommen werden, weil die Mehrheit der Bevölkerung die Annahme und zwar die s{chleunige Annahme des Bertrages verlangt.

Abg. von Ploet (dkons.): Nach den ersten ruhigen Reden kam die Unruhe in die Verhandlungen durch den Abg. Rickert, der nicht mehr sahlich s\prehen zu können scheine. Die Versammlung des Bundes der Landwirthe in seiner Heimath in Westpreußen {eint ihm unangenehm gewesen zu sein. ch habe es deutlih ausgesprochen, daß wir gegen den Reichskanzler als Person nichts einzuwenden haben. Wir haben feine militärishe Autorität bei der Militärvorlage aner- kannt. Wenn wir mit seiner Wirthschaftspolitik nicht einverstanden find, so wird der Reichskanzler niht verlangen, daß wir ihm zu- stimmen. Das gilt nicht der Person, sondern der Sache. Wenn der Reichskanzler seine Wirthschaftspolitik ändern wollte, so würden wir uns freuen, denn die jeßige Wirthschaftspolitik kann nicht zum Heile Deutschlands dienen. Daß wir demagogish vorgehen, darauf will ih nicht eingehen. Daß der Bauer, wenn er zu leiden hat, nihi im Salonton spricht, sei selbstverständlich. Solche Worte dürfe man niht auf die Goldwage legen, und wenn die Bauern vor das NReichskanzlerpalais ziehen würden, so würde das au nur eine loyale Kundgebung sein. Wir haben niemals die Gntlassung des Reichskanzlers verlangt, aber vor 30 Jahren haben Sie (links) die Entlassung des Fürsten Bismarck verlangt. Welche Schimpfworte sind dem Fürsten Bismarck in der Presse entgegengeshleudert worden ; ih erinnere an die Eisenpolitik, die S(napspolitik, die Schweine- politik. Der Abg. Dr. Barth tritt für den Vertrag ein als Frei- händler und als ehrliher Mann, und ih füge hinzu: Und wenn die halbe Nation darüber zu Grunde geht. Prinzipien darf man niht übertreiben. Wir find gegen die Pee weil sie der Landwirthschaft haden. Beweise brauchen wir nicht beizubringen ; diejenigen, welhe die Verträge vorlegen, müssen ae: daß sie der Landwirthschaft niht schaden. Wir halten die Herabseßung der

ölle auf Getreide für eine große Konzession, während die Konzessionen für die Industrte be gering find. Die Förderung der Kultur in Europa is niht Sache der deutshen Regierung, sie soll die deutshe Kultur fördern. Wenn der Reichskanzler meinte, daß der Bund der Landwirthe der Landwirthschaft noch niht eine Mark gebracht hat, so kann ich fragen : Was hat denn die Regierung der Landwirthschaft geleistet ? Aber bei der Futternoth hat der Bund der Landwirthe den Leuten geholfen, ihr Vieh im Preise hoch zu halten, damit sie niht in ihrer Bedrängniß den jüdishen Vermittlern in die Hände fielen. Die Aufhebung des Ana wies würde keine Kompensation sein, hs stens für den sten würde es einen Vortheil bedeuten. Deshalb timmen wir gegen die Aufhebung des Identitätsnahweises, weil die Land- wirthe fest samm lieben follen. Nicht wir haben den Osten und Westen auseinander getrieben; das ist von anderer Seite ge- schehen. Nicht die Junker haben fich an die Spitze gedrän t; jeder Bauer an der Spiye der Bewegung wäre uns ebenso lieb. Die Bauern wissen, daß ih loyal vorgehe. Ich wünsche der Regierung,

daß sie immer eine fo loyale Opposition gegen sih haben möge, wie

uns. Scharf muß die Opposition sein, sonst nüßt sie nichts. Bei der Ldg aft der Herren auf der Linken muß dem Reichskanzler nach seinen früheren Worten ja ganz unheimlich geworden sein. Der Reichskanzler hat au früher einmal erklärt, daß er gegen den Strom \{chwiîmmen werde ; fechs Wochen darauf war das Schulgesey zurückgezogen. Wie der Reichskanzler bei jedem Geseß prüfen wollte, welche Wirkung es auf die Sozialdemokratie ausübt, so sollte er au prüfen, wie es auf die Landwirthschaft wirkt. Thaten wollen und Thaten müssen wir sehen, und wir haben in der leßten Zeit nur solhe Dinge ge“ sehen, welche die Landwirthschaft schädigen. die Ermäßigung des Zoll- shußes. Was aus der Währungékommission herauskommen wird, wissen wir nicht; ih habe niht allzu viel Vertrauen dazu. Redner geht dann auf die Roggenproduktion der Erde und Rußlands ein und folgert daraus, daß die kleinste Vermehrung der Roggen- produktion Rußlands zur ÜUeberschwemmung des deutschen Marktes mit Getreide führen wird. Soll das für den Roggenbau verwendete Land aufgeforstet werden? Der Vertrag sorgt dafür, daß die Aufforstung niht Gewinn bringt. Die Industrie hat keine exheblihen Vortheile erzielt. Ganz unverständlih i, daß wir uns überall gebunden haben. Aber Rußland erhält die Freiheit, seinen Kohlenzoll zu erhöhen. Daß der Abg. Richter den Bund der Land- wirthe eine Mißgeburt genannt hat, will ich ihm E übel nehmen; aber um eins bitte ih ihn: er foll uns nicht wieder so loben, wie er es gethan hat; das fönnte uns nur haden. Wenn die preußishe und die Reichsregierung die Nothlage der Landwirthschaft gekannt hat, weshalb hat sie den Zollshuy für niht mehr nothwendig erachtet? weshalb hat sie die Verträge durhgedrückt ? Die Stabilität der Zölle gönnen wir der Industrie; für die Landwirthschaft sind die Verträge die Stabilität des Elends. Wo die Rettung zu finden ist, wissen wir nit, wenn sie niht in der Währungsfrage zu finden ist. Bis diese aber geregell können noch Jahre vergehen, und bis dahin gehen noch Tausende von Existenzen zu Grunde. Diesen Zustand kann ein aroßes Land auf die Dauer nicht ertragen.

Darauf wird die Diskussion geschlossen. Das Schlußwort als Antragsteller erhält

Abg. von Kardorff (Rp.): Der Reichskanzler hat es übel ver- merkt, daß ich ein Wort des französischen Ministers Méline zitiert habe und das als* unpatriotisch gebrandmarkt. Ein Redner meinte, er hätte mir eine Rüge ertheilt. Rügen werden nur vom Prâsi- denten ertheilt. Jch halte es für nüßlich, aus Frankreih folche Stimmen zu zitieren zurnal man dort nicht vom Großgrundbesiß reden kann. Als 1881 Fürst Bismarck für das Tabackmonopol sprach, zitierte er au ein Exposé des franzöfishen Nationalökonomen Leroi- Beaulieu. Darin hat niemand etwas Unpatriotisches gefunden, und vom Patriotismus versteht Fürst Bismarck doch eben so viel wie der Reichskanzler Graf Caprivr. Ich fürchte, daß der Vertrag uns nicht friedlihe Zustände bringen wird, sondern folche Schwierigkeiten, die den Frieden gefährden. NRedner zieht seinen at zurü.

Persönlich bemerkt der Abg. Richter, daß er ei seinen Aus- führungen am Mittwoch garniht an den Abg. Dr. Osann gedacht habe, weil er von seiner Bekehrung zum russischen Handelsvertrag noch N ewußt hätte.

arauf beldivaren fih noch der Abg. Zimmermann (d. Refp.),

daß die deutsche Reformpartei, und der Abg. Dr. Sigl (b. k. F.), daß kein Vertreter des bayerischen Banernfsinives zum Wort ge- kommen sei. / j L : __ Die Vorlage wird der um sieben Mitglieder verstärkten O für die bereits genehmigten Handelsverträge über- wiesen.

Schluß 61/2 Uhr.

Statistik und Volkswirthschaft.

u deutsch-russischen Handelsvertrag.

Aus Danzig telegraphiert man der „Köln. Ztg.", daß bei dem gestrigen Festmahl des Landtags der Provinz Westpreußen der Ober-Präsident von Goßler eine eindringlihe Rede für den deutsh-russishen Handelsvertrag gehalten hat; der Redner betonte nachdrücklich, daß diesem großen Werk gegenüber von einem Gegen- saß der Interessen in den verschiedenen Berufsständen der E keine Rede sein könne, und legte dar, daß in Westpreußen ih die Interessen für den Vertrag vereinigten. _

In der von der Chemnitzer eet und Gewerbe- kammer zum 26, v. M. einberufenen Versammlung von Fabrikanten, Gewerbetreibenden und Kaufleuten des gesammten Kammerbezirks (Vgl. Nr. 50 d. Bl.) wurde folgende Entschließung mit allen gegen eine Stimme angenommen: Die Versammlung erklärt, daß der deutsh-russische Fau Das dem Erwerbsleben des Kammer- bezirls in hohem Grade förderlich sein wird, weil er Gewähr bietet für eine gedeihlihe Entwickelung unserer Aus- fuhr nah Nußland und dur die S auf 10 Jahre die für Handel und Industrie so nothwendige Stabilität der Verhältnisse bringt. Wenn selbst manher Wunsch, der von einzelnen Industrien unseres Landes in Bezug auf Tarifermäßigungen gehegt worden sein mochte, keine Berücksichtigung finden konnte, fo is der Vertrag doch in seiner Gesammtheit geeignet, den industriellen Markt zu entlasten und - den Gewerben neue Thätigkeit zuzuführen. Mit be- sonderer Genugthuung i es zu begrüßen, daß dieser Ver- trag unter ausgiebiger Mitwirkung von Fachmännern aus Handel und Industrie festgestellt wurde, womit einem langgehegten Wunsch der Interessenten von der Reichsregierung Rechnung getragen worden ist. Neben den Vortheilen, Gade dur die Herabseßung vieler russisher Tarifpositionen den einschlägigen Hauptzweigen auh der Landwirthschaft gesichert sind, gewinnen alle Gewerbs- gruppen noch infolge der wirth|chaftlihen Wechselwirkung, wona jeder Zweig dur den Aufschwung und das Wohlbefinden des anderen Vortheile zieht. Die Versammlung bittet daher den hohen Reichs- tag dringend um die Annahme des Vertrags.

Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen.

Der Geheime Kommerzien -Rath Karl Freudenberg in Weinheim hat, wie der „Köln. Z.*“ aus Mannheim gemeldet wird, bei Gelegenheit der Feier seiner goldenen Hochzeit ein Kapital von 100 000 A zu einer Stiftung gespendet, die zur Unterstüßung hilfsbedürftiger Arbeiter seiner Fabrik, sowie der Wittwen und Waisen solcher Arbeiter bestimmt ist.

Der in Mannheim verstorbene israelitishe Ober-Rath David Aberle hat eine Stiftung in Höhe von 120 000 # ins Leben ge- rufen, deren Zinsen zur Unterstüßung von Rekonvalescenten ohne Unterschied der Konfession dienen follen. Außerdem hat er noch zahl- reihe Wohlthätigkeitsanstalten mit Legaten bedacht.

Zur Arbeiterbewegung. ;

In Stuttgart sind, wie dem „Vorwärts“ gemeldet wird, am Montag die Gold s\chläger wegen Lohnkürzung in einen Ausstand eingetreten.

Hier in Berlin fand am Montag eine Versammlung der Arbeiter der elektrotechnishen Cron statt, in der, wie die Berliner „Volks-Z." berichtet, über die Lohn- und Arbeitsverhältnisse in der Fabrik von Siemens und Halske verhandelt werden sollte. Die Arbeiter dieser Fabrik waren zu der Versammlung besonders ein- geladen worden und zahlreih erschienen. Der Referent betonte die Nothwendigkeit der gewerkschaftlihen Organisation au für die Arbeiter, die mit ihrer Lage weniger unzufrieden seien als andere, und spra sein Mißfallen darüber aus, vos sich die Arbeiter der Sie- mens’schen Fabrik größtentheils dem Meta arbeiterverband fernhielten. Diese Ausführungen veranlaßten unge Arbeiter der Siemens'shen Fabrik zu der Erwiderung, daß die ! ngelegenheiten zwischen Firma und Arbeitern von den Parteien selbs geregelt würden. Der Be- \chwerdeweg stehe den Arbeitern® jederzeit ofen, und sie bedürften eines Eintretens des Metallarbeiterverbandes für sich wegen der