1894 / 55 p. 2 (Deutscher Reichsanzeiger, Mon, 05 Mar 1894 18:00:01 GMT) scan diff

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Im Valuta-Aus\chuß des österreihishen Ab- geordnetenhauses betonte vorgestern, wie die „Presse“ mittheilt, der Finanz-Minister Dr. von Plener, die gegen- wärtige Vorlage sei nicht überstürzt, sondern im wesentlichen zwischen beiden Regierungen son in den ersten Monaten des vergangenen Jahres vereinbart worden. Die prinzipiellen Einwendungen gegen die Einlösung der Staatsnoten überhaupt seien, nahdem die Währungsgeseßze im Jahre 1892 be- schlossen worden, niht mehr zu erörtern, sondern es müsse mit der geseßlich angeordneten Einlösung der Staats- noten begonnen werden. Der Minister trat sodann der Be- hauptung entgegen, daß das zur Einlösung bestimmte Quantum Staatsnoten zu groß sei, denn man könne mit Recht erwarten, daß das gesammte bereits beshaffte Goldquantum zur Ein- lösung verwendet werden werde. Das Tempo sei nicht zu rash, weil die Aktion thatsählich bis zum Jahre 1898 dauern werde. Die Einlösung eines Theiles der Staats- noten gegen Silberkronen widerstreite niht dem Geseh vom Jahre 1892; durch die Minderwerthigkeit der Silber- münzen werde keine Verschlehterung der Währungsverhältnisse eintreten. Der Minister wies hierbei auf Frankreih und Amerika hin. Die Besorgniß vor Falshmünzern sei bei den Silberkronen unbegründet, auch in Frankreich und Deutschland nehme die Mm eral der kleinen Silbermünzen nicht über- hand. Hinsichtlih der Einwirkung der Einlösung der Staats- noten auf den Geldumlauf usse gewartet werden. Die Regierung bedürfe emer ge wissen Latitude, um nah Bedarf Nachshübe oder Restriktionen vorzunehmen und das Quantum der einzuziehenden Fünf- oder Fünfziggulden-Noten zu bestimmen. Der Vor- behalt über das Recht der Regierungen, bei der osterreichish-ungarischen Bank hinterlegtes Gold zurückzuziehen, sei nur aus Klugheit und formell aufgestellt worden: die definitive Regelung des Gegenstandes habe bei der Erneuerung des Bankprivilegiums zu erfolgen. Die Auffassung, daß die Regierungen die Goldbestände beliebig von der österreichisch- ungarischen Bank zurücfordern oder cine plößliche Umkehr oder Ablenkung der bisher eingehaltenen Währungs- politik ermöglihen wollten, liege der Regierung vollkommen fern. Der Minister hob s\cließlich die Gefahren hervor, falls von dem im Jahre 1892 beschlossenen Wege abgegangen werde. Niemand könne eine Verantwortung hierfür über- nehmen.

Bei der am Sonnabend in Villa vorgenommenen Reichsrathswahl wurde der Deutschnationale Dr. Steine wender mit 577 von 746 Stimmen wiedergewählt.

Am Freitag Abend wurde in Jungbunzlau im Mittel- thor der dortigen Dekanatskirhe cine Bombe aufgefunden, deren “S indessen erloshen war. Die Vombe war, wle „W. L. D.“ erfährt genau so beschaffen, wie die am lezten Mittwoh vor dem Wenzels-Vorschußkassengebäude auf- gefundene, nur fehlte die Gipsverkleidung. :

“Jm ungarischen Unterhause interpellierte vorgestern der Abg. Vöròs (Unabhängigkeitspartei) den _Minister- Präsidenten Dr. Wekerle, ob er Kenntniß davon habe, daß die ungarischen Regimenter, nah Sprache und Nationalität gruppiert, neue Dislokationen erhalten sollten. Der Minister- Präsident erwiderte unter lebhaftem Beifall des Hauses, er werde sich über diese Angelegenheit informieren, müsse aber hon jeßt erklären, daß bei dem Kriegs-Ministerium die Tendenz, die ungarische Sprache durch irgendwelhe Gruppierung in den Hintergrund zu stellen, absolut ausgeschlossen sei. /

Gestern fand dem „W. T. B.“ zufolge in Budapest eine großartige Massenkundgebung zu Gunsten der libe- ralen kirchenpolitishen Reformen statt, zu der aus allen Theilen des Landes etwa 70 000 Fremde eingetroffen waren. Prächtiges Wetter begünstigte die Veranstaltungen. Nachmittags 3 Uhr wurde im Stadtwäldchen eine Mafssen- versammlung unter freiem Himmel abgehalten. Die aus verschiedenen Richtungen mit Fahnen und Musikkapellen ein- treffenden Zuzüge vereinigten sih am Eingang der Andrassy- straße; einzelne Gruppen wurden durch berittene Mit- glieder aus den ersten Magnatenhäusern angeführt. Voran schritt eine Deputation der Stadt Fiume; es folgten alsdann der Magistrat der Hauptstadt, Deputationen zahlreicher Komitate und Städte des Landes, Korporationen und Vereine. Den Ministern Dr. Wekerle, von Szilagyi, Graf Czaky und Hieronymi, die dem Aufzuge von den Fenstern eines Hauses in der Andrassystraße zusahen, wurden andauernde, stürmische Ovationen dargebracht. Vor den Häusern der Minister Graf Czaky und Hieronyml. blieben die Gruppen stehen und sangen patriotische und nationale Lieder. Auf der mittleren Tribüne des Versammlungsplages nahm das Präsidium Plaß: der Ober- Kämmerer und frühere Ministèr Baron Bel a Orczy, der Ge- heime Rath Graf Johann Palffy und der Vize-Präsident des Abgeordnetenhauses Graf Theodor Andrajsy, Sohn des früheren Ministers des Auswärtigen, sowie zahlreihe Mit- glieder des Reichstags und Notabilitäten. Auf dem Versamm- lungsplag selbst waren etwa 130000 Personen anwesend. Nach Eröffnung der Versammlung wurde an den König ein Begrüßungstelegramm abgesandt. Nachdem elf Redner _ge- sprochen hatten, wurde eine Resolution angenommen, welche die liberalen fkirhenpolitishen Reformen der Negierung, namentlih die Geseßentwürfe über die Zivilehe, die Religions- freiheit, Rezeption der Jsraeliten und die Könfession der Kinder billigt und in diesem Sinne eine Petition an beide Häuser des Reichstags en L Die Versamm- lung begleitete die Reden für die Resolution mit großem Beifall und brah bei Erwähnung der liberalen Reformen jedesmal in endlose Eljenrufe aus. Um 51/5 Uhr wurde die

ersammlung geschlossen. . Die Menge zerstreute sih ohne die geringste Ruhestorung. Die Stadt war reich beflaggt.

die Erfahrung ab-

Großbritannien und Frland.

Die Königin hat, wie amtlich gemeldet wird, das Ent- lassungsgesuh Gladstone’s Ee mige, Die Stellung des Premier-Ministers wurde dem Earl of Nos ebery ange- boten, der sie auch angenommen hat. Heute wollte die Königin, wie „W. T. B.“ berichtet, in London eintreffen und Lord Rose- bery im Buckingham-Palast in Audienz empfangen. /

Lord Rosebery hatte gestern esprehungen mit den Mitgliedern des Pa one Gen Kabinets, die ihm ihre Mit- wirkung bei ber Kabinetsbildung zusagten. Als Mitglieder des neuen Kabinets werden genannt: Lord Kimberley als Minister des E E A J, ‘als Cre als Minister für 4G und Herbert Gladstone als Chef-Sekretär für Jrland.

em Vernehmen nach theilte Sir W. Harcou rt Lord Nosebery in einem Schreiben mit, daß er auf den einhelligen Wunsch seiner bisherigen Amtsgenossen einwillige, seinen Posten als Kanzler der Schaßkammer zu behalten und die Führung der Liberalen

im Unterhause zu übernehmen. Gestern Nachmittag fand unter dem Vorsiß Lord Rosebery's die erste Sißung des neuen Kabinets statt. Der Premier - Minister theilte der Königin telegraphish mit, daß das neue Kabinet vollzählig sei, indem er zugleih die Namen der neuen Minister angab.

Von den vorgestrigen Nbendzeitungen erklärt der „Observer“, Lord Roseber7 nehme den Posten des Minister - Präsidenten nur widerstrebend anz, er würde vorgezogen haben, das Portefeuille des Auswärtigen zu behalten, und gebe nur den von allen Seiten an ihn ge- rihteten Bitten nach, um eine shwere Krise von der liberalen Partei abzuwenden. Die „St. James Gazette“ glaubt, der Rücktritt Gladstone’s bedeute den 2erfall der unter dem Namen „Gladstone’she Partei“ vereinigten Gruppen. Es werde Lord Rosebery chwer fallen, ein Einigungsband zu finden. Die „Pall Mall Gazette“ fragt, was aus Homerule werde, wenn Gladstone fort sei; nur Gladstone und Morley seien wirklich von der Nothwendigkeit von Homerule über- zeugt; die anderen Minister hätten sich qur Unterstühung der Homerulevorlage verpflichtet, ohne von deren Nothwendigkeit überzeugt zu sein. Es sei wahrscheinlich, daß Homerule endgültig werde fallen gelassen werden. Die ituation sei seit Moñateis eine unmögliche, die Nachfolger Gladstone's könnten den Folgen derselben nicht entgehen. Der „Globe“ meint, Lord Rosebery könne den Posten eines Premier-Ministers kaum übernehmen, ohne sich der Mitwirkung Harcourt's, dessen Abfall die baldige Auflösung des Parlaments herbeiführen würde, zu vergewissern. Die „Westminster Gazette“ beklagt die feindlihe Haltung eines Theils der radikalen Partei gegen Lord Rosebery und empfiehlt auf das „wärmste, sämmtliche Gruppen der liberalen Partei möchten einmüthig zusammen- stehen, da sonst die Partei zerstückelt werden werde. Die heutigen Blätter geben einmüthig ihrer Befriedigung über die Ernennung Lord Rosebery's zum Premier-Minister Aus- dru. Die „Times“ meint, vom Standpunkte der nationalen Fragen sei Lord Rosebery der geeignetste Nach- folger Gladstone’s; wer auch immer Minister des Aus- wärtigen sei, die auswärtige Politik werde keine Aenderung er- fahren; wahrscheinlich werde der Unschlüssigkeit betreffs Ver- mchrung der Flotte ein Ende gemacht werden, aber die all- gemeine Politik der Regierung würde im übrigen beibehalten werden. Der „Daily News“zufolge stimmt die Ernennung Lord Rosebery's zumPremier-Minister mit dem allgemeinenWunsche der liberalen Partei überein. Das Blatt billigt ferner die Ernennung Lord Kimberley's zum Minister des Aus- wärtigen und glaubt, Lord Nosebery werde ein Programm der Entschiedenheit und des Fortschritts befolgen. Der „Standard“ erklärt, jedermann werde cs bedauern, daß Lord RNosebery von dem Posten des Ministers des Aus- wärtigen s{eide, Lord Kimberley habe niht die für diese Stellung nothwendigen Eigenschaften, doh sei er noch mehr als irgend einer seiner Kollegen hierfür geeignet. Die „Financial News“ hält die Ernennung Morley's zum Staatssekretär für JFndien für unheilvoll.

Frankreich.

Jn der vorgestrigen Sißung der Deputirtenkammer begründete, wie „W.T.B.“ berichtet, der Deputirte Pelletan seinen Antrag, worin er Dupuy auffordert, die 8000 Fr. Subvention zurückzuzahlen, die er zur Zeit, als er Minister des Jnnern gewesen sei, an Ducret, den Redakteur der „„Cocarde“, nah seiner Verurtheilung in der Norton-Angelegen- heit gegeben habe. Der Redner tadelte den Gebrauch, der von den geheimen Fonds gemacht werde, die dazu gedient zu haben schienen, die Umtriebe Ducret’s zu bezahlen. (Lärm.) Der Präsident der Kammer Dupu y forderte die Kammer auf, den Redner ruhig anzuhören. Pelletan verlangte die Dringlich- keit für seinen Antrag. Habert warf Develle vor, daß er den Deputirten und Journalisten niht davon Mittheilung ge- macht habe, daß die Schriftstücke Norton's gefälscht gewesen seien. Develle erklärte, er habe dies den dabei Znteressterten gegenüber gethan. Mery stellte das in Abrede. Die Dring- lichkeit wurde mit 286 gegen - 126 Stimmen abgelehnt. Paschal Grousset brachte im Namen der Sozialisten eine Resolution ein, worin Dupuy aufgefordert wird, seine Ent- lassung zu nehmen. (Lebhafte Protestrufe.) Hierauf wurde die Vorfrage verlangt, die unter großem Lärm mit 348 gegen 63 Stimmen beschlossen wurde. m weiteren Verlauf der Sitzung richtete sodann Cochin eine Znterpellation an die Regierung über das Verbot der Ausstellung kirchlicher Embleme in St. Denis. Der Unterrichts-Minister Spuller rechtfertigte die Geseßlichkeit der Haltung der Munizipalität, fand sie aber tyrannish. Die Regierung solle tolerant sein, sie dürfe niht in der gegenwärtigen Stunde eine Politik der Aufhezerei treiben. (Lebhafte lärmende Unter- brehungen.) Brisson tadelte die Haltung Spuller's als eine Erniedrigung und erklärte, die Republik vertheidige sih nur gegen erbitterte Gegner. Der Minister - Präsident Casimir Périer erklärte, es würde unwürdig sein, cine engherzige beunruhigende Politik hinsichtlich der Katholiken zu führen. Die weltliche Autorität sei siegreih aus dem Kampfe gegen die religióse Autorität hervorgegangen. Die Regierung werde den Rechten des Staats Achtung zu verschaffen wissen, aber sie werde bemüht sein, die Ursachen des E ju be- seitigen (Lebhafter Beifall). Die Regierung bedürfe mehr als je einer starken Majorität, die ihr die Kraft gebe, mit Autorität zu sprehen, wenn sie außerhalb der Kammer spreche. Goblet warf der Regierung vor, mit den Katholiken herr- schen zu wollen. Die Kammer nahm s{ließlich mit 302 gegen 119 Stimmen eine von dem Minister-Präsidenten acceptierte Tagesordnung an, worin das Vertrauen ae G wird, daß die Regierung die republikanischen Gesege aufreht erhalten und die Rechte des è Gufnibbbet vertheidigen werde. Die Sißzung wurde hierauf aufgehoben, ; i

A Marseille wurde gestern bei der Stichwahl zur Deputirtenkammer der Sozialist Carnaud gewählt.

Am Sonnabend Vormittag fanden in Paris zwölf Haus- suchungen bei Anarchisten statt; eine Anzahl Schriftstücke wurde beschlagnahmt, steben Verhaftungen wurden vorgenommen. Gestern früh nahm die Polizei dreizehn weitere Verhaftungen von Anarchisten vor, wobei zahlreiche anarchistische Zeitschriften und Broschüren beshlagnahmt wurden; außerdem wurden bei mehreren der Verhasteten mit Pulver und anderen Explosiv- stoffen gefüllte Bomben entdeckt.

Rußland,

Der Staatsrath Timirjasew ist, wie dem „W. T, B.“ aus St. Petersburg berichtet wird, am Sonnabend Abend nach Berlin abgereist.

Jtalien. *

In der Sigzung der „Deputirtenkammer vom Sonn- abend erklärte, wie „W. T. B.“ meldet, nachdem mehrere Redner die von ihnen vorgeschlagenen Tagesordnungen he- gründet hatten, der Minister-Präsident Crispi unter großer Aufmerksamkeit des Hauses, er werde kurz und offen erwidern und nicht auf die im Laufe der Debatte gefallenen bitteren Worte zurückommen, ebenso wenig auf die unpafsenden ge- schichtlihen Erinnerungen einzelner Redner, welche die Er- eignisse des Jahres 1848 auf eine Linie mit den gegenwär- tigen Maßregeln gestellt hätten. Selbst wenn das Ministerium zufälligerweise Jrrthümer begangen haben sollte, könne unter der Dynastie Savoyen derartiges wie 1848 nicht vorkommen. Es liege ihm fern, die Autorität des Parlaments \{chmälern zu wollen. Setn Vertrauen auf das parlamentarische Regime

che so weit, daß er es für das einzige halte, welhes das Wohl und Gedeihen Jtaliens verbürgen könne. Er erwarte das Votum der Kammer. Falle dasselbe günstig aus, \o werde er sih dessen freuen. Jm entgegengeseßteu Falle wisse er, was er zu thun habe. Er habe es, als sich 2000 Bewaffnete in der Provinz Massa - Carrara erhoben hätten und in 20 Gemeinden Siziliens die Revolution proklamiert worden sei, für seine Pflicht gehalten, Vorsorge dafür zu treffen, daß die Ereignisse niht größere Dimensionen annähmen. (Lebhafter Beifall.) Angesichts des Umstandes, daß die Zahl der den Fasci angehörigen Mitglieder nahezu 300 000 betragen habe, hätten die Streitkräfte Siziliens, die nah Beurlaubung der auszuscheidenden Altersklassen faum 14000 Mann erreicht hätten, nicht ausgereiht, um die Unruhen zu unterdrücken ; die Verhängung des Belagerungszustandes sei daher die einzige wahrhafte Borsichtsmaßregel gewesen, deren Ankündigung allein genügt habe, die Ruhe in Palermo auf- recht zu erhalten, das Vordringen der Rebellen aus den be- nachbarten Gemeinden nach Palermo zu verhindern sowie Beruhigung in der Bevölkerung hervorzurufen. _Der Minister: Prästdent vertheidigte sodann mit zahlreichen Beweisgründen die Nothwendigkeit der Verhängung des Belagerungs- zustandes und dessen Konsequenzen und wies entschieden jede Kritik des Vorgehens der Soldaten zurück. Jn den wenigen Gâllen, in denen die Truppen |chmerzliher Weise ge- M gewesen seien, Feuer zu geben, sei dies aus Nothwehr geschehen. Der Fluch des vergossenen Blutes falle auf dic Rebellen zurück. Man habe die Regierung über ihre Ab- sichten gegenüber den Sozialisten befragt. Darüber zu debattieren, werde sih Gelegenheit finden, wenn er joziale Maß- regeln vorschlagen werde. Wenn aber die Anarchisten die be- stehenden Jnstitutionen angreifen würden, werde er Ne be: kämpfen, wie er die Nebellen Siziliens und Massa-Carraras bekämpft habe. Wenn gesagt worden sei, daß die Befiegten von heute morgen die Sieger würden, so sei dies cin Jrrthum. Es könnten wohl Unruhen und Tumulte vor- kommen, aber feine Revolution, wenn deren Ausbruch nicht von einer großen Majorität der Bevölkerung gewünscht werde. Gegenwärtig würden die sozialistish-kommunistischen Prinzipien von der ungeheuren Mehrheit der Nation, die der sozialistischen Propaganda nicht folge, zurückgewiesen :- ihre sen würden immer ohne Wirkung sein. (Sehr gut.) Zum Schluß erklärte der Minister-Präsident, keinen Antrag annehmen zu können, der eine Absolution oder Aufforderung, die Ver- hängung des Belagerungszustandes zu billigen oder irgend- welche Zensur involvieren würde, und bat die Kammer, die von Damiani vorgeschlagene Tagesordnung anzunehmen. (Sehr lebhafter Beifall). Darauf wurde die Tagesordnung der Sozialisten, die einen Tadel gegen das Ministerium aus- sprah, verworfen. Dafür stimmten nur fünf Sozialisten. Dagegen wurde die Tagesordnung Damiani, welche die auf Aufrechterhaltung des öffentlihen Friedens ge- richtete Aktion der Regierung billigt und das Ver- trauen der Kammer ausspricht, die Regierung werde den öffent- lichen Frieden mittels der entsprehenden legislativen Maß- nahmen definitiv zu sichern wissen, in ael Abstimmung mit 342 gegen 45 Stimmen bei 22 Stimmenthaltungen an- genommen.

Wie die „Agenzia Stefani“ berichtet, stehen von den 15 in die Kommission für die Finanzmaßnahmen ge- wählten Deputirten 11 auf der zwischen der Regierung und den maßgebenden Parteien vereinbarten Liste.

Spanien.

Nah in Madrid eingetroffenen Meldungen _aus Marakesch wären die Unterhandlungen zwischen dem Marschall Martinez Campos und dem Sultan beendet; Marokko werde eine Entschädigung von 20 Millionen Pesetas an Spanien zahlen. Man glaubt dem „W. T. B.“ zufolge in Madrid, daß das spanisch -marokkanische Abkommen heute unterzeichnet werden würde. Der Marschall Martinez Campos werde sich am Freitag in Mazagan nah Spanien einschiffen. : :

Gestern fand in Estella eine fucristische Kund- gebung statt, woran sich mehrere tausend Personen be- theiligten. Die Ordnung wurde nicht gestört.

Schweiz.

Bei ver gestrigen Volksabstimmung wurde dem „W. T. B.“ zufolge der neue Artikel der Bundesverfassung, wodurch dem Bundesrath die Geseßgebungskompetenz auf dem Gebiete des Gewerbewesecns verlichen werden sollte, mit einer Mehrheit der Volks- und der Kantonsstimmen abgelehnt.

Belgien.

Die Kammer verwarf, wie die „Magd. Ztg.“ erfährt, ‘in ihrer vorgestrigen Sißung die Anträge des Generals Gr tation auf Verstärkung des belgischen Heeres um 240 000 Mann und den weiteren Ausbau der Maasbefestigung, sowie auf Erhöhung des Kriegsbudgets.

Rumänien.

Jn der vorgestrigen T, der Deputirtenkammer entkräftete laut Meldung des „W. T. B.“ der Kriegs-Minister Lahovary in einer von wiederholtem Beifall begleiteten Rede die in den lezten beiden Sißungen von dem liberalen Deputirten Fleva vorgebrahten Ausführungen über den Aus- tritt von Kavallerieoffizieren aus der Armee. Der Kultus- Minister Jonescu, der darauf sprach, verlas ein Schreiben eines höheren Offiziers, worin auf die glänzende Laufbahn des Generals Lahovary und auf die von Joan Bratiano und von der liberalen Regierung über ihn ausgesprochene schimeichel- hafte Beurtheilung hingewiesen wird. /

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Montenegro.

Die Meldung serbisher Blätter, daß die Peer aang von Montenegro dem gegenwärtigen serbishen Regime gegenüber eine eindieiiee Haltung einnehme, wird, wie „W. T. B.“ ‘aus Cetinje meldet, von dem Amtsblatt für völlig unbegründet erklärt. Die Regierung stehe allen Parteiveränderungen in Serbien vollständig unparteiish gegen- über und weise jede gegentheilige Darstellung als Uebelwollen und nußlose Herausforderung zurü.

Dänemark,

Der Finanzaus\huß des Folkething genehmigte, wie „W. T. B.“ meldet, den geforderten Betrag für die Be- theiligung Dänemarks an der Kunstabtheilung der Weltaus- stellung in Antwerpen. Dagegen lehnte der Ausschuß wie

üher die in Verbindung mit den provisorischen Gesetzen e Forderungen ab. Jnfolge des Antrags der deutschen Reichs-Post- und Telegraphenverwaltung auf Herstellung einer telephonischen Verbindung zwischen Dänemark und Deutschland hat der Ausschuß seine Zustimmung dazu gegeben, daß die Leitung Kopenhagen-Odense so gelegt werde, bak sie als Glied einer eventuellen Leitung via Odense-Kolding- Hamburg-Berlin verwendet werden könne.

Schweden und Norwegen.

Der Minister des Jnnern Thorne hat infolge von Differenzen innerhalb des Ministeriums bezüglih der Eisen- bahnpolitik seine Demission eingereiht, die vom König an- genommen wurde. Zum Minister des Jnnern ist dem D ege der chemalige Minister Birch-Reichenwald ernannt worden.

Amerika,

Nach einer Meldung des „Reuter hen Bureaus“ aus Washington brachte Cullom am 1. d. M. im Senat eine Bill ein, worin die Einsezung ciner Tarifkommission verlangt wird, deren Aufgabe cs sein soll, ein Zollsystem auszuarbeiten, bei dem sih die Höhe der Zölle nah dem Unterschied der in Amerika und im Auslande für die Herstellung des betreffenden Artikels gezahlten Löhne richtet. Die Kommission soll neun Mitglieder zählen ; nicht mehr als vier dürfen ein und der- selben Partei angehören. j

Wie „W. T. B.“ aus Rio de Janeiro vom 3. d. M. erfährt, sind die Wahlen in der größten Ruhe verlaufen. Mit großer Majorität sind Prudente de Moraes zum Präsitett, und Manoel Victorino Pereira zum Vize- Präsidenten der Republik gewählt worden. Jn Paris eingetrof- fenen Nachrichten zufolge hätte der Marschall Peixoto den Belage- rungszujtand bis zum 30. April verlängert. Die Gefängnisse in Rio de Janeiro seien mit Gefangenen angefüllt, die wegen politischer Verbrechen verurtheilt worden seien. Das Kriegs- 1Þhiff „Nictheroy“ Tei in Bahia zu dem Geschwader Peixoto’s gestoßen. Die Bevölkerung von Santos sei den Aufständischen günstig gesinnt: leßtere näherten sich der Stadt, die jedoch für uncinnehmbar gehalten werde.

Aus Montevideo wird gemeldet, daß die Präsidenten - wahl auf heute vertagt wurde, da die beshlußfähige An- zahl von Mitgliedern am Sonnabend nicht vorhanden ge- wesen sei. Jn der Bevölkerung herrsche Unruhe: gerüchtweise verlaute, Stewart werde provisorisch die Prästdentschaft be- halten und Herrera das Portefeuille des Krieges übernehmen.

Afrika.

Das „Reuter he Bureau“ meldet aus Kairo von gestern, Oberst Wingate sei an Stelle Zohrab-Paschas zum Kon- troleur der Truppen-Rekrutierung ernannt worden, behalte jedoh seinen Posten als Chef des Nachrichtendienstes der egyptischen Armee bei.

Dasselbe Bureau erfährt aus Bathurst, eine Abtheilung des westindishen Regiments unter Führung des Obersten Madden habe Busumballa nah leichtem Kampf beseßt. Der Feind sei jedoch später zurückgekehrt und habe de englischen Vorposten angegriffen. Es sei ein heftiger Kampf entstanden, wobei neun englishe Soldaten verwundet worden seien. Die Verluste des Feindes seien niht bekannt, da er seine Todten und Verwundeten als- bald fortgeschafft habe. Oberst Madden habe Busumballa befestigt, Verstärkungen seien sofort abgesandt worden. Der Verkehr mit Busumballa sei shwierig, da die Bewohner des umliegenden Gebiets feindlich gesinnt seien.

Parlamentarische Nachrichten.

Die Schlußberichte über die Sonnabendsißungen des Rei h s- iags und des I der Abgeordneten befinden sich in der Ersten Beilage.

In der heutigen 63. Sizung des Neichstags, welcher die Staatssefretäre Dr. von Boetticher und Freiherr von Marschall sowie der Königlih preußishe Kriegs- Minister Bronsart von Schellendorff beiwohnten, wurde die zweite Berathung des Militär-Etats fortgeseßt. An- fnüpfend an die Reden der Abgg. Bebel (Soz.) und Lenzmann 1j Volksp.) in derSigzung vom Sonnabend äußerte sich der Königlich preußische Bevollmächtigte zum Bundesrath, Kriegs-Minister

ronsart von Schellendorff über den Fall Kirhhoff und das Beschwerdereht in einem eingehenden Vortrag, den wir morgen im Wortlaut bringen werden.

(Schluß des Blattes.)

auses der Ab- dent des Staats-Ministeriums,

Der heutigen 28. Si ung des geordneten wohnten der Präs Minister des Junern Graf zu Eulenburg, der Finanz- Minister Dr. Miquel und der Minister für Landwirth- schaft 2c. von Heyden bei.

Auf der Tagesordnung stand die Berathung des folgenden

Antrages der Abgg. Dr. Bachem (Zentr.) und Genossen:

—, «Das Haus der Abgeordneten wolle ee Die Königliche Staatsregierung zu ersuchen, dem Abgeordneten ause baldmöglichst, zunächst für alle Städte von mehr als 10 000 Einwohnern, statistische Mittheilungen über die Ergebnisse des Wahlverfahrens nah Grlaß des Aenderungen des Wablweriäbrens betreffenden Ge- [eßes vom 29. Juni 1893 zu machen, welche sowohl bezüglich der Wahlen jum Abgeordnetenhause, als bezüglich der Gemeindewahlen, soweit e diesen das Dreikla enwahlsystem gilt, unter Vergleichung mit en entsprechenden Zahlen bei früheren Wahlen den Einfluß ersehen

lassen, den die neuere Wahl- und Steuergesetgebung auf die Ver- theilung der Wähler in die verschiedenen Wahlklassen ausgeübt hat.“

_ Akg. Dr. Bachem (Zentr.) will auf die Frage der Wabhlreform

me zurükgreifen, weil daraus ein materieller Bortheil nicht ent- stehen könne; er erinnert aber daran, dos leihzeitig mit der Ge- meindesteuerreform in der Thronrede eine Reform des Wahlrechts an- gekündigt worden sei. Das zur Verabschiedung gelangte Wahlgesetz, sährt Redner fort, enthielt auch nit die Spur einer Neform, einer Verbesserung der durch die Steuerreform eingetretenen Verschiebung des Wahlrehts. Es wäre wohl angebracht, wenn der Minister des Innern ausführen wollte, inwiefern er in dem Geseß eine Reform erkennt. Es wird s{chwere Kämpfe kosten, zu einer Reform des Wahl- gelepes zu kommen; aber wir wollen Stimmung machen, wir wollen die Schäden des Systems nahweisen;, ohne agitatorisch vor- zugehen, bloß dur die Aufdeckung der Thatsachen. Das Wahl eseß, wie es besteht, Hat nur einen provisorischen Charakter; die Verfassung verspricht ein definitives Wahlgeseß, um welches man nicht herum- kommen wird, nahdem eine Steuerreform durchgeführt ist, die doch die Gewähr einer gewissen Dauer in sich trägt. Die Statistik, so- weit man sie jeßt at aufstellen können, zeigt überall große Ver- shicbungen; die Wählerzahl in der ersten und zweiten Klasse ist zurückgegangen, die Zahl dec Wähler dritter Klasse ist ganz erheblich gestiegen. Redner beruft si auf seine Beobachtung in den _ rheinischen Städten; aber auch anderweit seien aus den Städten dieselben Ergebnisse gemeldet. Es zeigt si, fährt Redner fort, daß dieses Verhältniß ein durchaus unhaltbares geworden ist. In Dortmund waren in der ersten Klasse 1891 ©9250, 1893 nur 20 Wähler, in der zweiten Klasse 1440 bezw. 660 Wähler. Aehnliche Nachrichten liegen auch aus anderen Landestheilen vor. Es handelt sich nit bloß um ein Interesse des Zentrums, sondern über- haupt um die Interessen der gebildeten Theile der Nation und des Mittelstandes. Man fagte, bei Annahine unserer Anträge würden Leute in die erste und zweite Klasse kommen, die niht hinein- gehören; jeßt sind aber Leute in die dritte Klasse ge- tommen, die nit dorthin gehören; z. B. . sind in Berlin die höchsten Staatsbeamten in die dritte Klasse gekommen. Das ist do nicht mehr richtig, daß in der ersten Klasse nur Kapitalisten herrshen und der große Blick der Staatsmänner und hohen Beamten garniht mehr zur Geltung kommt. Beim Dreiklassenwahlsystem foll in der ersten Klasse der Befiß, in der zweiten die Bildung und in der dritten die breite Masse des Volks vertreten sein. Jeßt sind aber in den ersten beiden Klassen nur die Geldmächte vertreten. Wir wollen mit der Besserung nicht warten, bis die Mißstände si allzu sehr bemerkbar machen ; wir wollen dabei auch niht allein die Interessen der unteren Volks\hihten wabren, fondern namentli die des Mittel- standes. Graf Limburg-Stirum meinte, man müsse mit der Wahl- gaevgebung Schicht machen. Das geht nicht. Wenn die Verhältnisse ih in zwanzig Jahren wieder so verschieben, wie sie sich jeßt ver- hoben haben, so wird man wieder ändern müssen. Jch bitte Sie, diese Fragen nah den Thatsachen zu beurtheilen und nit in unser Herz zu sehen. Wir wünschen die Ausdehnung des MReichstags- wahlrechts auf die Landtagswahlen, aber jeßt ift es bei der Zusammenseßung des Hauses niht durhführbar; des- wegen begnügen wir uns mit der Verbesserung des bestehenden Wahlrechts. Wir haben uns dabei auh noch die Beschränkung auferlegt, daß wir die Statistik nur für die Städte über 10 000 Ein- wohner verlangt haben. Die Wirkungen der neuen Steuergeseße find zum größten Theil {on eingetreten, sodaß man sie dur eine Statistik erfassen kann. Man braucht niht länger zu warten „mit der Untersuchung. Es ist auch {ließli feine Zeit zu verlieren. Es fönnten Zeiten kommen, in denen es nicht mehr möglich ist, ein Drei- flassenwahlgeseß zu machen.

Präsident des Staats-Ministeriums, Minister des Innern Graf zu Eulenburg: Die Staatsregierung ist bereit, dem Antrag zu ent- sprechen, soweit es fih ohne große Aufwendung von Zeit und Kosten ermöglichen läßt. Diese Einschränkung bezieht sich auf die Vergangen- heit, wo das Material lückenhaft und zum theil gar nicht mehr vor- handen ist. Es wird vielleicht genügen, für die leßte Vergangenheit die Arbeit zu machen. Eines besonderen Antrags hätte es wohl gar niht bedurft, eine andere Anregung hätte au genügt, denn ih habe bereits bei der Berathung des Wahlgeseßes dem Abg. Parisius gegenüber eine Wahlstatistik zugesagt, und bei der oritten Berathung habe ih erklärt, daß unsere Aufgabé jeßt darin bestehe, die Verhältnisse zu beobachten und damit die Grundlage zu finden, ob eine Verbesserung nothwendig ist. Das steht niht in Widerspruch mit der Thronrede; denn das Wahlgeseß von 1893 enthält die Anträge des Zentrums zu der Wahlrechtsnovelle von 1891, und an die Stelle der staatlihen Nealsteuern sind die Gemeindesteuern getreten. Ob diese Kautelen genügt haben, wird Gegenstand der eingehendsten Untersuhung sein. Um dafür Material zu gewinnen, sind die statistishen Untersuchungen bereits furz nach den Wahlen angeordnet worden, und es wird hoffentlich nit zu langer Zeit bedürfen, um die Ergebnisse dem Hause vorzulegen. In den nächsten Tagen kann viel- leiht hon die Nummer der Statistishen Korrespondenz über die Landtagswahlen publiziert werden. Für die Gemeindewahlen wird die Statistik für die Gemeinden über 10 000 Einwohner bald fertig gestellt werden , für die anderen Gemeinden nah probeweisen Erhebungen, weil sonst die Arbeit zu umfangreih werden ‘würde. Bezüglich der Kommunalwahlen ist die Befürchtung des Vorredners, daß in den beiden ersten Klassen eine Abnehme der Wählerzahl ein- getreten ist, richtig; aber das Maß ist doch nicht so bedeutend, wie er fürchtet. Die Zahl der Wähler erster und zweiter Abtheilung ist herabgegangen in den Städten über 10 000 Einwohner auf 8,40, in den Landgemeinden mit industriellem Charakter auf 12,66, in den leinen Stäben auf 1705 Und n deu Land- gemeinden auf 23,89 %.. Daneben giebt es aber Gemeinden, in denen das Verhältniß der Wähler der ersten und zweiten Ab- theilung günstiger geworden ist, als früher. Die Wirkungen sind also außerordentlich verschieden, sodaß man sich wohl hüten muß, aus eflatanten Fällen ein allgemeines Urtheil abzuleiten. Anders steht es bei den Wahlen zum Abgeordneten- haufe. Die Verminderung der Wähler in der ersten und zweiten Klasse is ebenfalls eingetreten, aber in fehr viel geringerem Maße als bei den Gemeindewahlen, und die e find häufiger, wo eine Verbesserung eingetreten ist. In den

tädten über 10 000 Einwohner sind {in der ersten Klasse 2,39, in der zweiten 8,98 9/9 der Wähler vertreten. Auf dem platten Lande ver- bält es fich m gogengeleat, Die Wählerzahl ift gestiegen in der ersten Ab- theilung von 3,89 auf 4,03, und in der zweiten A von 11,26 auf 13,63 %/6. Für den ganzen Staat ergiebt sich also eine ! erminderung nur in der ersten Klasse von 3,6 auf 3,5%, in der ¿weiten Klasse eine Ver- mehrung von 10,82 auf 12,06 %%. Sie sehen alfo, wir sind bei der Arbeit und werden das Ergebniß derselben, sobald es fertig gestellt ist, mittheilen. Zu vergessen ist aber nicht, daß wir einen großen Theil der Steuerreform noch vor uns haben. Es ist nicht allein die Ergänzungs- steuer, welhe noch niht durchgeführt ist, sondern die Gemeindesteuer- reform steht auch noch aus. Wir hoffen, daß nit nur die Ee Grund- und Gebäudesteuer fortfällt, sondern daß auch eine Herab- minderung der Zuschläge zur Staatseinkommensteuer stattfindet. Deshalb müssen wir noch warten, ehe wir uns ein Urtheil bilden über die Abänderung des Wahlrechts. Ob das hon nah den Wahlen von 1895 möglihch sein wird, lasse ih dahingestellt. Wir wollen möglihst s{nell"zu einem Ergebniß kommen. Bis dahin follte es nit nöthig sein, in eine agitatorische Behandlung der Angelegenheit einzutreten. Das ist ohnehin ein bedenklihes Beginnen auf dem Gebiete des Wahlrechts, weil, soweit es bishèr in die Oeffentlichkeit gelangt ist, Klagen bervorgetreten sind über die Veränderung in den Abtheilungen, aber keine Klagen darüber, daß dadur Aenderungen in der Zusammenseßung der Kommunalvertretungeu eingetreten sind, die zur Schädigung der Gemeinden geführt haben. Für wünschens- werth halte ih, das habe ih in der vorigen Session schon gesagt, eine Aenderung in den Städten.

(Schluß des Blattes. Wir werden diese Rede im Wort- laut nahtragen.)

Die Reichstagskommission für den Pun eLTVe rens mit Rußland seßte heute ihre Berathungen fort bei Art. 19, welcher die Her ellung direkter rachtsäße nah den deutschen Ost echäfen ins Au e faßt. Referent Möller (nl.) ver- tritt mit Wärme die nsiht, daß dieser Artikel zum Segen der östlichen Provinzen und namentli der beiden Osftseestädte Danzig und Königsberg gereichen würde, zumal die darin gesicherten Vortheile für zehn Jahre festgelegt würden. Korreferent von Frege (dkonsf.) bezeihnet diese Auffassung als viel zu opti- mistisch und hebt die Befürchtungen der west- und süddeutschen Mühlenbesitzer hervor. Redner besorgt ferner von dem Inkrafttreten dieses Artikels 19 niht nur eine Schädigung des inländischen Getreide- baues, fondern ebenso eine verstärkte Einfuhr fremden Hanfes und Flahfes. Staatssekretär von Boetticher: Die Königlich Ae Regierung hat gegenüber den immer häufiger auftretenden Klagen aus dem Westen und Süden über die \{hädigende Wirkung der im Jahre 1891 eingeführten S taffeltarife beschlossen, in eine ernst- liche Erwägung über die Aufhebung dieser Tarife einzutreten, und füx morgen den Landes-Eisenbahnrath _zu einer Sitzung einberufen, um zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Sobald das Gutachten dieser Körperschaft vokliegen werde, würde sih auch das Staats- Ministerium sofort über die Frage der Staffeltarife {lüssig machen, und er hoffe, schon übermorgen eine endgültige Erkläà- rung darüber abgeben zu können. Abg. Graf Mirbach (dkons.) beantragt, daß die Frachttarife für Getreide nach Memel, Königsberg und Danzig wie bisher nur für die Ausfuhr über See Geltung haben sollen. E von Hammerstein béantragt, den Reichskanzler zu ersuchen, daß vor der Ratifikation dem Vertrage eine nahträglihe Deklaration zu Art. 19 eingefügt werde, dahin gehend, die in diefem Artikel erweiterten Frachtsäße nah Memel, Danzig, und Königsberg sollen nur für die Ausfuhr über See Geltun haben. Staatssekretär Freiherr von Marschall weist darauf hin, daß Ost- und Westpreußen mehr Getreide produzieren als sie konsumieren. Es sei unmöglich, russishes Getreide nah Danzig und Königsberg zu bringen, dort zu verzollen und dann zum inläudisben Konsum zu verwenden,

eruft fich auf eine frühere Rede des Abg. Grafen Mirbach, welche bei ihm jedes Bedenken gegen den Art. 19 beseitigt habe. Abg. von Bennigsen (nl.) hegt gleihwohl einige Bedenken gegen die Bestimmungen des Artikels und empfiehlt wenigstens die Annahme des Antrages Hammerstein. Staatssekretär Freiherr von Marschall entgegnet jedoh, daß in dieser Frage mit Rußland niht mchr verhandelt werden könne. Abg. Graf Mirbach: Durch die Aufhebung des JIdentitäsnahweisés werde zweifellos viel Getreide exportiert, und fo könnte in den See- städten ein gewisses Manko eintreten. Der Antrag Hammerstein sei immerhin empfehlenswerth; es handle sih dabei um eine interne Angelegenheit des Deutschen Reichs, und könne dieser Antrag als Inter- pretation Nußland gegenüber gerechtfertigt werden. Er würde der Regierung rathen, die Frage des Identitätsnahweises vor der Ent- scheidung über den Handelsvertrag zu lösen, denn nah Annahme des Vandesvertrags könnte die Regierung Ueberraschungen erfahren; es fei dann sehr L wie seine Partei stimme. Abg. Ridckert (fr. Bg.) bezweifelt, daß die Konservativen gegen die Aufhebung des Identitäts- nachweises stimmen werden. Abg. Freiherr von Hammerstein will gegen die Aufhebung des Identitätsnachweises stimmen, da nach seiner Ueberzeugung diefe Maßregel nicht der Landwirthschaft, sondern nur dem Handel nüßen würde. Staatssekretär von Marschall be- tont nohmals, daß die Annahme des Antrags Hammerstein eine neuer- liche Unterhandlung mit Rußland erfordere. Das aber gefährde nicht nur den Artikel 19, sondern den ganzen Vertrag. Abg. Schulze - Henne (ul.) erflârt sich für den Artikel, aber gegen den Handels- vertrag. Es wird darauf der Antrag Graf Mirbach (Np.) ab- gelehnt, ebenso der Antrag Hammerstein mit allen gegen 8 Stimmen, Artikel 19 dagegen mit 16 gegen 8 Stimmen angenommen. Nächste Sitzung morgen.

Dem Herren hau fe sind Gesetzentwürfe, betreffend das Pfand - recht an Privateisenbahnen und Kleinbahnen und die Zwangsvollstreckung in dieselben, und betreffend die Ex- rihtung eines Amtsgerichts in der Stadt Ronsdorf, nebst Begründungen zugegangen.

_— Der Ab: Ba umbach (Np.) erklärt in der „Alt. Ztg.“: „Giebt die Reichsregierung mir vor der Abstimmung die unumstöß- liche Gewähr, die Identität des Getreides aufzuheben wozu ja allerdings die Annahme im Reichstag gehört und das gleichzeitige Fallenlassen der Staffeltarife, so werde ich, au im Interesse der heimischen Landwirthschaft, für den ruffischen Handelsvertrag stimmen, sonst gegen. Glaubt sich die Altenburger Landwirthschaft durch mein Votum geschädigt, so stehe ih nicht an, zu erklären, daß ih das Mandat in die Hände meiner Wähler zurücklege. Den Ver- handlungen über die Deckungsmittel aus Anlaß der Vermehrung der Armee, halte ich mi jedoch verpflichtet, noch anzuwohnen.“

. In einer gestern in Neustadt a. d. H. abgehaltenen Ver- sammlung erklärte sih, wie ,W. T. B.“ meldet, der Vize-Präsident des Reichstags Dr. Bürklin für den russischen Handelsvertrag. Jn einer großen Versammlung zu Grünstadt wurde dem Neichstags- abgeordneten Dr. Clemm-Lu dwigshafen, der ih früber gegen den russischen Handelsvertrag erflärt hatte, die Abstimmung über den Vertrag freigestellt.

In demfelben bequemen Taschenformat und der gleichen praf- tischen Einrichtung, wie der st. Zt. an dieser Stelle angezeigte „Neue Reichstag" hat Geheimer Hofrath Josef Kürschner soeben ein Büchelchen, betitelt „Das preußishe Abgeordnetenhaus“ (Deutsche Verlags-Anstalt in Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien) er- \cheincn lassen. Den „Vauptinhalt bilden wie in jenem die kurz- gefaßten nah den Provinzen geordneten Biographien der Abgeordneten nebst beigefügten Porträts. Vorangeschickt sind Tabellen über die Stärke der einzelnen Parteien des Hauses, die Vertheilung der Abaeord- neten nah Berufen und nah der Geburt, über Religionsverhältniß und Alter. Den biographischen Abrissen folgen Uebersichten der einzelnen Frafk- tionen, Mittheilungen über die Zufammenseßung des Präsidiums und des Bureaus, die Liste der Abgeordneten, welche zuglei Reichs1ags- Mitglieder sind, und ein alphabetishes Register. Auch der mitgetheilte Auszug aus der Verfassung, der Wortlaut des neuen Wahlgeseßes, die Geschäftsordnung nebst Sachregister sind dankenswerthe und an- enehme Zugaben. Ohne Zweifel wird das nütliche kleine, vor dem Titelblatt mit dem Porträt Seiner Majestät des Kaisers und Königs Ie Büchlein sowohl bei den Mitgliedern des Hauses, wie bei allen, die an den parlamentarischen Verhandlungen Interesse nehmen, einer gleich guten Aufnahme begegnen, wie fein dem Reichstag ge- widmeter Vorgänger.

Entscheidungen des Reichsgerichts.

Apotheker sind, nah einem Urtheil des Reichsgerichts, IV. Strafsenats, vom 28. November 1893, als Kaufleute im Sinne des Aude zu erahten und zur Führung von A Lit En owie zur rechtzeitigen Ziehung von Bilanzen verpflichtet.

Hat sih ein Handlungsgehilfe (Handlungsdiener oder ndlungslehrling) einer erheblichen Si A S gegen feinen Prinzipal \{uldig gemacht, fo ist deshalb, nah einem Urtheil des Neichsgerihts, 111. Ziovilsenats, vom 8. Dezember 1893, der Prinzipal zur Entlassung des Gehilfen nicht E wenn dieser dur ch eine Beshimpfung seines Vaters, seitens des rinzipals, Pit ungebührlihen Aeußerung gegen den Prinzipal hatte hinreißen assen.