- Abg. Freiherr von Manteuffel (dkons.) beantragt aus dem erwähnten Grunde die Abseßung der Position . von der Tagesordnung.
Das Haus beschließt demgemäß.
Für die Position des Magistrats von Soest wegen Be- lassung einer Garnison in Soest tritt der Abg. Schulze-
enne (nl.) mit einer kurzen Empfehlung ein. Die Petition oll nah dem r aaneage dem Reichskanzler zur Be- rüdsihtigung überwiesen werden. Die Abstimmung wird in der dritten Lesung stattfinden. :
Im außerordentlichen Etat des Extraordinariums find unter anderem im preußischen Etat - gefordert : Zu weiteren Beschaffungen für artilleristishe Zwecke als dritte Nate
201 500 Je
Die Kommission hat davon 2 Millionen abgeseßt. Zur Beschaffung von Handwaffen sollen als leßte Rate 3 781 250 M bewilligt werden; abgeseßt sind hiervon 11/5 Millionen. Zur artilleristishen Ausrüstung neuer Befestigungen, Verbesserung der artilleristishen Ausrüstung der wichtigeren Festungen, sowie zur artilleristishen Ausrüstung von Küstenbefestigungen werden als dritte Rate 10 104500 M gefordert. Die Kom- mission hat 1 800 000 # abgeseßt.
Die Kommissionsbeshlü}sse werden ohne Debatte vom Hause genehmigt.
Im Etat für Sachsen sind von der Kommission ge- strichen: die zweite Nate von 50000 # zum Neubau von Magazinanlagen in Leipzig, die erste Baurate von 50 000 4 zum Neubau eines Gebäudes für das Kriegsarchiv zu Dresden und die erste Baurate von 300 000 4 zum Neubau einer Garnisonkirche in Dresden.
Das Haus beschließt dem Kommissionsvorschlag gemäß die Streichung der vorstehenden Position und seßt an der Forderung von 2 210 000 M zur weiteren Beschaffung für artilleristishe Zwecke 11, Millionen ab, desgleichen im württembergischen Etat 57700 an der entsprechenden Forderung von 814 000 M La Damit is das Extraordinarium des Militär-Etats er- edigt.
Das Haus geht zurück auf das Ordinarium. /
f Zunächst steht zur Debatte das Kapitel Militär-Ju stiz- wesen.
Mitverhandelt wird zuglei die von der Kommission vor- geschlagene Resolution :
Die verbündeten Regierungen wiederholt zu ersuchen, nah dem Vorgang der Veröffentlihungen über die allgemeine Kriminal- statistik auch die Veröffentlihung einer Statistik über die von den Militärgerichten abgeurtheilten Strafsachen zu veranlassen.
Abg. Dr. von Marquardsen (nl.) freut sih über die Erklärung der Militärverwaltung vom Freitag betreffs der Reform der Militär- Strafprozeßordnung. Befonders erfreulich sei, daß die bei der Zivil- Strafprozeßordnung geplanten Aenderungen auf die Referm mit ein- wirken würden.
Abg. Gröber (Zentr.) würde doch lieber sehen, daß mit der B Beschleunigung vorgegangen würde. Die Verzögerung des Be chlusses scheine aus\hließlich darin begründet zu sein, daß man sich nicht dazu verstehen könne, auf das Prinzip der Oeffentlichkeit des Verfahrens einzugehen. Dieses große Prinzip müsse zum Durchbruch kommen, die kleinen Uebelstände, die möglicherweise daraus entspringen könnten ; dürften nicht aus\{laggebend sein. Derselben Auffassun entspringe der Kommissionsbeshluß hinsichtlih der Kriminalttatistik. Die Militärverwaltung müsse von dem Grundsaße endlich abgehen, thunlichst wenig oder gar nichts über Militärverhältnisse in die Oeffentlichkeit dringen zu lassen. Gegen diese Statistik ziehe sich die Verwaltung hinter den angeblichen Mangel an Organen für die Herstellung derselben zurück; ein Grund, der doch kaum ernst ge- nommen werden könne. Die Auditeure seien doch niht so über- mäßig beschäftigt, um über die abgeurtheilten Straffälle nicht auch noch nebenher eine Statistik zusammenstellen zu können. Die Zivil- gerichte hätten in dieser Beziehung unendlih viel mehr zu thun.
Königlich N Bevollmächtigter zum Bundesrath, Kriegs-Minister Bronsart von Schellendorff:
Meine Herren! Wenn in Bezug auf die Strafprozefiordnung hier verschiedene Wünsche ausgesprochen sind und wenn id) aus den Aeußerungen der Herren die Frage leise habe durchtönen hören: „Wie wird sie denn beschaffen sein ?* dann wage ih das nit als indiskret zu bezeihnen, aber, meine Herren, ih bin der Meinung, daß, solange ein Gesehentwurf im Vorstadium der Berathung \ich befindet, ih für meine Person nicht darüber \prehen kann. Das eine aber, meine Herren, will ich Ihnen sagen. Sollte ih die Ehre haben, Ihnen cine Militär-Strafprozeßzordnung vorzulegen, die Indiskretion begehe ich, Ihnen {on heute zu sagen: ih lege nur eine solche vor, die unter allen Umständen verbürgt und gewährleistet, daß wir damit die Disziplin in der Armee erhalten können, im Frieden, im Kriege und in all’ den s{hweren Zeiten, die uns noch bevorstehen können. Alle übrigen Sachen sind für mih nebensählich. (Bewegung.)
Abg. Lenzmann (Fr. Volksp.): Diese Erklärung is doch eine Abschwächung derjenigen vom Freitag. Wir wollen in der neuen Strafprozeßordnung Gerechtigkeit, diese muß das höchste Prinzip des Reformwerks sein. Unsere Wünsche, die wir seit 50 Jahren hegen, gehen bezüglich dieser Reform dahin, daß das aus der absolutistischen
eit von 1845 stammende Geseß dahin abgeändert wird, daß an die
Stelle des geheimen Verfahrens das öffentliche tritt. Wir wollen die Kontrole des gesammten Volks auch bei der militärishen Strafrechts- pflege nicht entbehren. Das hebt die Möglichkeit der Ausschließung der Oeffentlichkeit im segeteaen Falle nicht auf. Dringend noth- wendig ist auch die Mündlichkeit des Verfahrens; das jeßige Verfahren i} ein Zerrbild eines wirklichen Gerichtsverfahrens, da der Angeklagte überhaupt bei der Verhandlung gar nickt zugegen i und erst nah“ langer Zeit von dem Ur- theil erfährt. Wichtiger als Oeffentlichkeit und Mündlich- keit der Verhandlungen i} die strenge Begrenzung der sach- lihden und persönlihen Kompetenz der Militairgerichtsbarkeit. Es hört doch Alles auf, wenn sich Bierpantscher und n Zivilverbreher auf ihre militäris{e Stellung berufen, um nicht von dem Zivilgeriht, sondern von dem Militärgeriht abgeurtheilt zu werden, vor dem sie besser wegzukommen hoffen. Dem Ange- klagten muß ein Ankläger gegenüber und ein Vertheidiger zur Seite stehen; heute is der Auditeur cine wunderbare Dreifaltigkeit in einer Person: gleichzeitig Ankläger , Vertheidiger und Nichter. Jch weiß aus meiner Erfahrung als Auditeur, zu welchen Rechts- irrthümern die militärische Nechtsprehung geführt hat. Die Gnade ist ein {hter Nothbehelf, wo das Recht versagt; wir wollen Recht, keine Gnade, sage ih mit Mittermaier. Dringend reform- bedürftig sind au die Vorschriften über das Beschwerderecht des Sol- daten in diesem Zusammenhange.
Königlich preußisher Bevollmächtigter zum Bundesrath, Kriegs-Minister Bronsart von Schellendorff:
Meine Herren! Sie werden in der vorgerücktén Stunde von mir niht erwarten, daß ih auf die Details des sehr interessanten Vor- trages des Herrn Vorredners näher eingehe. Nur ein paar Worte will ich bemerken, die mih gewissermaßen persönlich bei der Sache be- treffen. Zunächst bemängelte er die Gerechtigkeit unseres alten Ver-
fahrens. Meine Herren, thun Sie doch dem alten Verfahren kein Un-
recht! Es hat seine Mängel, darum wollen wir es bessern ; aber es hat seine Probe bestanden in mehreren Feldzügen und in ganz kritischen Zeiten. Es ist ja ganz richtig, daß das Verfahren ein \hwerfälliges
¿nah mancher Richtung hin ist, aber die Gewissenhaftigkeit unserer
‘Auditeure, und namentli unserer Gerichtsherren, is nicht anzutasten. Ich bin auch Gexichtsherr gewesen, mir hat Keiner ein Kreuzel gemalt für meinen Namen, und ih bestreite, daß wir in der Armee Offiziere haben, die sich_ ein Kreuzel machen lassen, wo sie zu unterschreiben haben. Wenn Sie derartiges sagen, dann hört überhaupt die Diskussion auf! Sie müssen bedenken, was hier ge- prochen wird, bleibt niht im Hause, es wird ins Ausland gebracht und geht unter Hunderttausende. (Sehr wahr! rechts.) Meine Herren, wer läßt sich denn Kreuzel machen, wo er seinen Namen schreiben soll? Das thun die Leute auf dem Lande, die ihren Namen
felbst niht schreiben können. (Heiterkeit.) Jch mache sie zuweilen au, aber bei einer anderen Gelegenheit. (Große Heiterkeit.)
Nun is mir doch Eines sehr auffällig. Der geehrte Herr Vor- redner ist selbst Auditeur gewesen, nnd da begreife ih nit, wie er fo von der Gerechtigkeit \prehen konnte. Seine Erfahrungen hat er doch, wie er fagte, in seiner eigenen Stellung gemacht; dann muß es alfo an ihm gelegen haben. (Heiterkeit.)
Denn das ist richtig, der Auditeur vereinigt Untersuhungsrichter, Ankläger und Vertheidiger in einer Person. Jch will zwar keine Un- höflihkeit sagen, aber man kann das geshickt machen und man kann es auch ungeshickt machen. (Héiterkeit.)
Nun, meine Herren, was das Beschwerderecht anbetrifft, so muß der geehrte Herr Vorredner son recht lange außer Dienst sein, und scheint ihm ein Theil desselben gänzlih ver- loren gegangen zu sein. Das Beschwerdereht hat mit dem Gesetz garnichts zu thun. Das Beschwerderecht ist ein integrierender Theil derjenigen Bestimmungen, die nah dem § 8 des Neichs-Militärgeseßes Seine Majestät der Kaiser erläßt, um die Disziplin aufrecht zu erhalten. Also über das Beshwerdereht werden Sie auch nichts berathen und auch. nihts beschließen können, meiner Ansicht nach; das wird nah wie vor ein unantastbares Hoheitsreht der Krone bleiben. Und wenn Sie darüber diskutieren und beschließen, so protestiere ih gegen die Eingriffe in die Rechte der Krone.
Die besonderen Wünsche, die der Herr Abgeordnete hier vor- gebracht hat, sind mir sehr interessant gewesen. Ob es möglih sein wird, sie alle zu berücksihtigen, darüber eine Erklärung abzugeben, werden Sie von mir jeßt nicht verlangen.
Abg. Bebel (Soz.): Die heutige Grklärung des preußischen Kriegs-Ministers zeigt uns wieder, daß im Kriegs-Ministerium troß weselnder persönlicher Form in der Sache und namentlich in Sachen des Militärstrafprozesses alles beim Alten bleibt: die Neform des Militärstrafprozesses ist ein noli me tangere! Nach den Borgängen in Bayern und nah den früheren Nefolutionen des Reichstags habe ih die feste Ueberzeugung, daß noch viele Jahre vergehen werden, ehé wir eine vernünftige Militärstrafprozeßordnung bekommen werden. Wie dringend die Reform ist, geht aus zahlreichen Beispielen der neuesten Zeit wieder mit größter Deutlichkeit hervor. Ih erinnere bloß an den Fall des Dr. Gradnauer in Dresden und den Fall des Generals Kirhhoff in Berlin. In der sächsischen „Arbeiterzeitung“ siand im vorigen Mai die gewiß ungeschickte Bemerkung, daß der Dr. Gradnauer in der M seiner militärischen Uebungen au dafür gesorgt habe, die sozialistischen Anschauungen unter seinen Kameraden zu pflegen. Diese Notiz hat genügt, daß der Mann in militärischen Untersuchungsarrest genommen, aber doch nah sechs oder acht Wochen entlassen werden mußte! In dem anderen &alle wurde der Redakteur eines Berliner Blattes, {wer gereizt allerdings durch Besprechung von intimen aen, von dem General aufgefucht, mit dem NRevolver bedroht und entging nur zufällig dem Tode durch Erschießen. Diefer Mordanfall unterlag „der militärgerichtlichen Ahndung; kein Mensch hat erfahren, wie die Entscheidung ausfiel. Vor einigen Wochen erfuhr man, daß er zu 9 Monaten Gefängniß ver- urtheilt, aber hon nah 14 Tagen begnadigt fei. Was würde wohl irgend einem Manne im Zivilverhältniß aus ähnlicher Urfache geschehen ? Er hâtte gewiß so viele Jahre Gefängniß erhalten als der General z. D. Monate empfing. Ganz neuerdings ist der Herr mit dem Rothen Adler-Orden zweiter Klasse dekorirt worden. Die Bevölkerung muß selbstverständlih solhen Vorgängen mit der größten Entrüstung
egenüberstehen, und wir fordern deshalb immer wieder die e orm des Miilitärstrasprozesses. Der preußishe Kriegs- Minister erklärt auch jedes Recht des Reichstags, am Beschwerdereht etwas zu ändern, für _hinfällig. Aber wir nehmen uns selbst das Recht, über diese Dinge zu reden, ohne ihn zu fragen. Unzweifelhaft gehört die Regelung des Be- eman zu den Rechten des obersten Kommandierenden; das {ließt do aber nicht aus, daß diese Regelung fehr reformbedürftig
sein kann. Die jeßige Regelung hat den Effekt, daß die Soldaten von dem Necht gar keinen Gebrauch machen, daß sie darauf verzichten, die Wahrheit zu sagen, daß sie höchstens ihre Eltern von den Miß- handlungen unterrichten, die sie erfahren haben, aber gleichzeitig die-
selben beschwören, nihts davon verlauten zu lassen. ZThatsächlich kommen infolge dieses Zustands zahllose Mißhandlungen nicht zur Kognition der Militärbehörde und gelangen nicht zur Be- strafung. Dieser Sachverhalt kann auch der Militärbehörde keine Freude machen. Besonders im ersten Jahre des Dienstes kommen die chwersten Mißhandlungen und die meisten Selbstmorde vor. Im Widerspruch mit dem Befehle des obersten Kriegsherrn mißhandeln eine Reihe von Vorgeseßten ihre Untergebenen nah wie vor in der allershlimmsten Weise. Von den Fällen, die ih früher zur Sprache brachte, hat sich allerdings einer, der einen Hauptmann in Frankfurt a. O. betraf, als unbegründet herausgestellt; ich bin in diesem das Opfer einer Mystifikation geworden. An neuen Fällen ist mir aus Kro- toshin mitgetheilt worden, daß ein Soldat von einem Unteroffizier so gegen die Kniescheibe geshlagen worden sei, daß er auf dem Ererzierplaße liegen geblieben sei. Jn Magdeburg wurde ein Soldat wegen fortge|eßter Mißhandlungen dur den Sergeanten, der ihm mit dem Kolben auf die Brust gerannt habe, weil er ihm nicht Bier oder Geld gegeben habe, brustkrank und starb im April 1893 im Militärlazareth. Jn Hagenqu wurde ein Rekrut vom Sergeanten über den Arm geschlagen, daß er ihn niht wieder hoh heben fonnte, und von zwei Unteroffizieren, als er die Mißhand- lung melden wollte, im Stall derartig geschlagen, daß diese beiden mit einem Jahre bezw. 1 Iahr 1 Monat Festungsgefängniß bestraft worden sind, — viel zu wenig und verhältnißmäßig viel zu milde, wenn man erwägt, was für eine Strafe einen Soldaten getroffen hâtte, der sich die geringste Thätlichkeit gegen einen Unteroffizier erlaubt hätte. Beim 134. Regiment spielte sich in der Nacht des Todtensonntags eine \{heußlihe Scene ab, welche ein betrunkener Ser- geant dirigierte; ob Anzeige darüber erfolgt e ih nicht. Weitere Fälle werden aus Goldap gemeldet. Ein Soldat des 2. Garde-Regiments z. F. in Berlin follte sih aus Heimweh den Leib aufgeshlißt haben. Die Sache soll fi aber ganz anders zugetragen haben, und eine genaue Untersuchung empfiehlt sich. Ein Nekcut sollte an einer Stange hinaufklettern, konnte das aber nicht, und der hinzu- fommende Feldwebel stüßt ihm den Rücken mit der Degenspite ; der Mann stürzt hinunter und wird von dem Degen durchbohrt. Wunderbar ist au, mit welchen raffinierten Mitteln den Soldaten die Sonntagsruhe genommen wird. Nedner erzählt einen Fall aus einer hessishen Garnison. Der Postunterbeamte Schröder in Berlin war getödtet aufgefunden worden; seine Briefe an die Gltern geben Aufschluß darüber, daß die Mißhand- lung seines Unteroffiziers ihn in den Tod getrieben
habe. Die Militärverwaltung hat nun eine s\tatiftische Arbeit ver- öffentlihen lassen, weldhe beweisen soll, daß die Selbstmorde in der deutshen Armee nicht denjenigen Ursachen zuzuschreiben sind, die man auf das Konto des Militarismus fett, ie will nahweisen, daß die Selbstmordziffer in. den Armeen mit der der Selbstmorde in
‘der Zivilbevölkerung korrespondiert. Dieser Nachweis will aber nichts
bedeuten, wenn man den Gründen der Selbstmorde nachgeht. Nur 15 9% aller Selbstmorde sollen auf Mißhandlungen oder falsche Behandlungen zurückzuführen sein; das ist eine ganz falshe Auf- stellung, eigens gemaht, um die unangenehme Thatsache zu verdecken, daf diefe Mißhandlungen die Ursache der Selbstmorde find. Von der Rubrik „Furcht vor Strafe“ gehören unzweifelhaft mehr als 50%/0 zu der Nobrik „Mißhandlungen“ ; außerdem find bei 32% der Militärselbstmorde die Gründe „unbekannt“ und au von diesen entfällt ein großer Theil auf die Mißhandlungen. Die Scheu vor dém Heere würde bei dem größten Theile unserer jungen Männer sofort sih_ in das Gegentheil verwandeln, wenn fie die Sicherheit hätten, human behandelt zu werden. In der Broschüre wird nun geradezu behauptet, die öffentliche Behandlung folcher Miß- stände, das Breittreten der Mißhandlungsfälle u. \. w. fördere den Widerwillen vor dem Heeresdienst und \{chwäche die Widerstands- fähigkeit der Mannschaften. Gegen diefe Auffassung \pricht aber doh diè langsame Abnahme der Selbstmordziffer im deutschen Mie Diese erfreulihe Abnahme is gerade eine Folge der rüd- chtslosen Erörterung dieser Zustände im Reichstag.
Königlich preußischer Bevollmächtigler zum Bundesrath, Kriegs-Minister Beo ula rt von Shellenkdrti:
Ja, meine Herren, der Herr Abg. Bebel hat. eine fo reiche Fülle von verschiedenen Gegenständen zur Sprache gebraht, daß ich in der vorgerückten Stunde nicht im stande bin, sie alle heute zu erledigen und zu beantworten. Jh werde mich zunächst darauf beschränken, nur den Fall Kirhhoff näher zu beleuhten. Der Herr Abg. Bebel hat sich dabei in eine gewisse Erregung und Entrüstung hineingesprochen, er hat dabei Wendungen und Ausdrücke gebraucht, die man sonst einem Abwesenden gegenüber, der si - hier nicht vertheidigen kann, niht anzuwenden vflegt. (Zuruf bei den Sozialdemokraten.) — Mordanfall!! Meine Herren, mi verleßt der Ausdruck auf das tiefste, J bin au preußischer General, und fo lange die Armee steht, hat man einem preußischen General noch nicht nachgesagt, daß er Mordanfälle maht. Der Vorwurf wird auch nie gemacht werden. Meine Herren, und das ist die einzige Kritik, die ih dafür habe.
Wollte ih meine Redefreiheit gebrauchen, ih könnte ähnlite Ausdrücke hier zur Anwendung bringen. Ich thue das nicht. Jch will mihch nur darauf beschränken, das Thatsächlihe des Falls den Herren vorzutragen. Der Herr Abg. Bebel hat zweifellos den Vorgang so dargestellt, wie er ihm bekannt geworden ist. Aber das ist auch wieder so ein Fall, wo er nicht ganz genau unterrichtet ist. Ich werde mir nun erlauben, die Herren über den Fall zu unter- richten. :
In Brandenburg fühlten si die höheren Offiziere beleidigt dur einen Artikel, der, ich glaube, im „Berliner Tageblatt" erschienen war am 11. Februar 1892. Die Herren reichten Klage ein, weil sie sich verleßt fühlten an dem, was jedem Manne das Heiligste ist, an ihrer Familienehre. Darüber wurde am Landgericht Berlin verhandelt, und neun oder zehn Monate später wurde ein Urtheil gesprohen, wonach der Redakteur Harih. zu 1000 4 Strafe verurtheilt wurde. Nun sagt der Herr Abg. Bebel, der Herr General Kirhhoff — ih habe übrigens nicht die Ehre, den Herrn General persönlich zu kennen — hätte sih mit der Sache be- gnügt. Die Sache war ganz anders. Der General Kirhhoff bekam überhaupt erst zehn Monate später, am 7. November oder Oktober v. E das Erkenntniß mitgetheilt, was am 11. November 1892 ergangen war. In diesem Erkenntniß, meine Herren, sand wunderbarer Weise, ja ih darf wohl sagen, unbegreifliGer Weise ein Saß, aus dem der Herr General erst erfuhr, daß die Beleidigung, die in dem Artikel des „Tageblatts“ allgemein ausgesprohen war, gegen ihn und seine Tochter persönlich gerihtet war. Nun, meine Herren, das verändert die Sache fehr. Das zweite aber war, daß in der öffentlichen Ver- handlung — das war in diesem Erkenntniß ausgedrückt — der Herr Redakteur Harich sich bereit erklärt hätte, den Beweis derWahrheit anzu- treten, und, meine Herren, unbegreiflihher Weise — ich erlaube mir damit keine Kritik an dem Gericht zu üben — erklärt das\elbe das für neben- \ächlih und lehnt den Antritt des Beweises der Wahrheit ab.
Aus dem Erkenntniß war weiter zu erkennen, wie das Gericht den General aus der Reihe der Beleidigten aus\heide und annehme, dem Herrn Redakteur Hari wäre der Beweis der Wahrheit gelungen.
Nun, meine Herren, die Sache spielt am 7. — ih kann das Datum nicht genau nennen — Oktobèr oder November, alfo Morgens um 9 Uhr erhält der General das Erkenntniß. Außer sich darüber, indem er zum ersten Mal erfährt, daß seine Tochter gemeint ist, daß sein einziges Kind beleidigt, öffentlich auf das unverantwort- lichste beshimpft ist — er erfährt es erst jeßt, er bekommt es schriftlih, da geht er zu cinem befreundeten Nechtsanwalt und trägt dem die Sache vor und fragt: was kann ih in der Sache thun? und dieser ist ein gelehrter Herr, der studiert das Erkenntniß und sagt: Hier ist kein Rechtsmittel mehr mögli. Wenn es der Staatsanwalt nit eingelegt hat bei den Verhandlungen oder unmittelbar nachher, jeßt ist es zu spät; ih weiß auch nicht zu helfen. Da wird der General in die äußerste Berzweifelung versetzt; er briht in Thränen aus und sagt: „Mein armes Kind, ih weiß mix nicht zu helfen; der Mann hat gelogen, er muß mir - das erklären, sonst geschieht ein Unglück“! Dann verläßt er den Rechts- antvalt, begiebt sich in einen Waffenladen, kauft ih einen Nevolvet, nimmt Munition, sezt sih in einen Wagen und fährt zu dem Redakteur Harich — ein Rechtsmittel hatte er eben nicht mehr. (Widerspruch bei den Sozialdemokraten.) Wollen mir die Herren vielleicht sagen, welche Rechts- mittel er noch zu seiner Verfügung hatte? Ein wirkliches Rechtsmittel, um einen Schut gegen die ißm zugefügte Beleidigung zu finden, hatte er nicht. Gr begiebt si zum Redakteur Harich, fragt ihn, ob er sich bereit erklärt habe, den Beweis der Wahrheit für die seiner Tochter zugefügte Beleidigung zu erbringen. Das lehnt der Herr Redakteur Harich ab und beruft sih darauf: er wüßte sich der Sache überhaupt niht mehr zu erinnern, das würde vielleiht sein Nechts- beistand näher erläutern fönnen. Da sagt der General: Das sind Ausflüchte, denn Sie werden Jhren Nechtsbeistand doch instruiert haben, wie er vor Gericht die Sache vertreten soll. Sie erklären mir, daß Sie ein gemeiner Lügner sind! (Zuruf und Unter- brehung bei den Sozialdemokraten.) — Ja, wenn Ihnen die Braut, die Frau oder die Tochter öffentli beleidigt oder beshimpft wird von irgend jemandem — das traue ih Jhnen doch zu —, Sie {lagen ihn nieder; und da haben Sie das Recht dazu. (Widerspruch links.) Und wenn Sie jemand verurtheilt, dann billige ih Ihnen mildernde Umstände zu.
Meine Herren, damit ift die Sache noch nicht zu Ende. Also der Herr Redakteur Harih verweigert zu erklären, daß er eine Un- wahrheit geschrieben hat, er verweigert es auf eine wiederholte Frage, und da giebt der General auf ihn einen Schuß ab, verläßt das Lokal und stellt sh dem Gericht.
Nun, meine Herren, in welcher Lage befand ih denn der General? Er befand sih in einem Zustand der Nothwehr. Auf der Welt war niemand bereit, ihm zu helfen; es konnte ihm au niemand helfen, ih weiß niht, wie nach dem Gese ihm geholfen werden fonnte, denn das Erkenntniß war rechtskräftig geworden, und in dem Erkenntniß war ihm mitgetheilt, daß feine Tochter auf das {werste beleidigt sei und daß der be- treffende Herr auch bereit gewesen wäre, den Beweis der Wahrheit anzutreten, während das Gericht das als unerheblich zurückgewicsen hätte.
Nun, meine Herren, ich sage: in einem folchen Falle der Noth-
wehr ann man sich sehr leiht befinden, wie man sich auch in der Nothwehr befindet, wenn man — ich will damit garnicht den Herrn Redakteur Harih vergleihen — von einem wilden Thiere - oder von cinem tollen Hunde angefallen wird. Meine Herren, wenn man dann zur Selbsthilfe greift, so ‘ist man in feinem Recht. Allerdings, wenn man sich an einem Menschen vergreift, dann wird man bestraft, und das ist auch ganz in der Ordnung. (Zurufe.) Meine Herren, ih frage Sie alle: is einer von Ihnen, der eine Tochter hat, der niht bereit wäre, sein letztes herzugeben, um ihre Ehre zu retten und zu vertheidigen ? (Sehr richtig! rets.) Ich frage: ist einer unter Ihnen, der, niht ohne tief zu erröthen, im stande wäre, vor seine Tochter zu treten und zu sagen: ih hahe nicht die Mittel, ich habe nicht den Muth, dir zu Helfen und deine Chre zu vextreten! (Bravo!) Sie müssen die Sache auh einmal von diesem Gesichtspunkt aus betraten! Ein alter Offizier — 39 Jahre hat er seinem König treu gedient, er hat fich vor dem Feinde ausgezeihnet, aus {weren Wunden hat er geblutet für das Vaterland — wenn der an seinem Lebensabend gezwungen wird, zum Revolver zu greifen, um die Ehre seiner Tochter zu wahren —, meine Herren, das ist kein Naufbold, und das ist au kein Mörder; da sage ih nur: dann ift irgend etwas nicht ganz richtig im Staat geordnet (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten), sei es nun die Ver- leumdungsfreiheit (Sehr richtig! rets), oder sei es der Schutz, den wir von den Gesetzen zu erwarten haben.
Nun habe ih, meine Herren, mit größter Gewissenhaftigkeit mir alle Zeitungsartikel kommen lassen und durhgesucht und ehrlih und aufrihtig fie studiert: {reibt denn nicht einmal ein Mann, was der General hâtte thun sollen? ich habe es in feinem Artikel gefunden. Ausklänge habe ih allerdings aus diesen Artikeln herausgefühlt und verstanden: das steckt man ein oder -\hüttelt es ih ab wie ein Pudel, der aus dem Wasser kommt. Ich stehe nicht auf dem Standpunkt, meine Herren, ich als General vertrete meinen Kameraden hier (Bravo! rets), und Sie alle werden mir doch darin beistimmen, wenn ih sage: dem General bewilligen wir mildernde Umstände, und auch jedem Andern in dem Falle, wo es sich wie hier um die Vertheidigung der (Fhre einer deutshen Jungfrau handelt. (Bravo! rechts und bei den Nationalliberalen.)
Königlich sächsisher Bevollmächtigter zum Bundesrath, Staats- und Kriegs - Minister, General-Lieutenant Edler von der Planit:
Der Herr Abg. Bebel hat vorhin in seiner Kritik der Strafprozeßordnung einen Fall angeführt, der dem Dr. Gradnauer innerhalb des Königlich sächsischen Kontingents passiert ist. Kurz rekapituliert liegt die Sache wie folgt.
Dr. Gradnauer war zur achtwödhentlichen Uebung bei einem Infanterie-Negiment einberufen. Nach seiner Entlassung stand in einer Zeitung folgende Notiz:
Soweit es unter den s{wierigen Verhältnissen mögli war, habe ich dazu beigetragen, den Sozialismus unter die Leute zu bringen, welche die Bajonette tragen.
Der betreffende Gerichtsherr erkannte in diefer Notiz den Beweis dafür, daß ein Verbrechen vorliege, welches das Militärstrafgeseßbuch ausdrücklich mit Strafe bedroht. Der betreffende Artikel des Militär- strafgeseßbuchs lautet folgendermaßen :
Wer es unternimmt, Mißvergnügen in Beziehung auf den Dienst unter seinen Kameraden zu erregen, wird, wenn das durch mündliche Aeußerungen geschieht, mit Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren bestraft. Jst die Handlung durch Verbreitung von Schriften, Darstellungen oder Abbildungen oder ist sie im Felde begangen, fo ist auf mittleren Arrest nicht unter 14 Tagen oder auf Gefängniß oder Festungshaft bis zu fünf Jahren zu erkennen.
Herr Dr. Gradnauer wurde also in Untersuhung genommen. Bei dieser Untersuhung gab er erst an, er habe den Artikel nicht ge- schrieben; später gab er zu, ihn geschrieben zu haben. Weiter sagte er aus, daß der Inhalt des Artikels bezüglih der Verbreitung des Sozialismus unter den Angehörigen des 102. Regiments unwahr sei; er habe mit niemand über sozialistishe Ideen und über einzelne Punkte des sozialistishen Programms gesprochen. Die Sache liegt also ein- fa so: Herr Dr. Gradnauer hat sich selbst eines Verbrechens be- zihtigt; sowie festgestellt war, daß er unwahre Aussagen gegen fih selbs gemacht habe, wurde er sofort entlaffen. Wie dieser Fall dazu angethan sein kann, etwas gegen die militärische Strafgerichtsbarkeit zu beweisen, verstehe ich nit; ganz genau denselben Verlauf würde die Sache genommen haben bei jedem anderen Gerichtsverfahren. Jch will nun bei der borgerückten Zeit niht näher auf die Mißhandlungssachen eingehen ; ih will nur betonen, daß seitens der Vorgesetzten alles geschieht, um sie zu verhindern. Nach meinem Dafürhalten sind körperlihe Miß- handlungen vollständig unrichtig; sie sind unrecht und, vom religiösen Gesichtspunkt betrachtet, eine Sünde; sie sind unwürdig einer jeden Armee, ganz besonders einer Armee mit allgemeiner Wehrpflicht Wenn troßdem solhe Sachen vorkommen, muß das do, von allge- meinen Gesichtspunkten aus betrachtet, daher kommen, daß dur kein Gesetz Verbrechen verhindert werden können; auch nit dur drako- nische Gesetze kann das geschehen.
Den speziellen Fall, den Herr Abg. Bebel bezüglich des 10. Negi- ments Nr. 134 in Leipzig hervorgehoben hat, will ih zugeben ; der Thatbestand ist im allgemeinen zutreffend von ihm wiedergegeben worden. Der Fall ist untersuht worden; der Unteroffizier ist zu zwei Monaten Gefängniß verurtheilt worden. Also die militärischen Be- hörden haben in dem Falle alles gethan, was ihre Pflicht war.
Um 6 Uhr wird dié weitere Berathung auf Monta 2 Uhr Vetoat L 9
Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten.
27. Sißung vom 3. März 1894.
_Jn der fortgeseßten zweiten Berathung des Etats des Ministeriums der geiflicen 2. Angelegenheiten und zwar der Position „Gehalt des Ministers“, nimmt nah dem Abg. Knörcke (fr. Vp.) (\. den Anfangshericht in - der Sonnabend-Nummer d. Bl) das Wort der
Minister der geistlichen 2c. Angelegenheiten Dr. Bosse:
Meine Herren! Ih will hoffen, daß diese Prophezeiung und dieser Wunsch des Herrn Vorredners in Erfüllung geht; ih will es an mir nicht fehlen lassen, soweit meine schwache Kraft reiht.
Der Herr Vorredner hat einige Punkte berührt, über die ih mich gestern“ {hon geäußert habe, und ich glaube, darauf also nit noch einmal zurückommen zu müssen. Dagegen will ich seinen Wunsch gern erfüllen, eine bestimmte Erklärung über zwei Punkte, die er hervorgehoben hat, hier noch einmal abzugeben. Ich halte mit aller Bestimmtheit darauf, daß bei der neuen Besoldungs- regulierung die gesammte Dienstzeit der Lehrer dabei in Anrechnung kommt. In diesem Sinne sind die Behörden mit Instruktionen versehen, und das hat auch bis jeßt einen durchschlagenden Erfolg in allen Fällen gehabt, auch hier in Berlin; denn au da ist die Frage zur Sprache gekommen, und sie geht jeßt einer gedeihlihen Lösung — im Sinne des Herrn Vorredners — entgegen.
Was den zweiten Punkt anlangt, wie ih zu der Frage stehe, ob der Lehrer Siß und Stimme im Schulvorstand haben soll, so würde es eigentlih einer ohmaligen Erklärung von mir in dieser Beziehung kaum bedürfen, denn ich habe in einer amtlichen, an die Schulaufsichts- behörden ergangenen Verfügung ganz bestimmt ausgesprochen, daß es mein dringender Wunsh ist, in allen Schulvorständen den Lehrern Siß und Stimme zu gewähren. dur die sahlichen Gründe, die ja hier wiederholt hervorgehoben sind, bewogen; auch durh die Rücksichtnahme darauf, daß es beinahe im ganzen Deutschen Reich bereits der Fall ift. Ich habe hier eine Zu- fammenstellung aller geseßlihen Bestimmungen über die Vertretung der Volksschullehrer in den Schulvorständen bezw. der Orts\chulbehörde in den verschiedenen Staaten Deutschlands. Daraus ergiebt fi, daß in 21 deutshen Staaten der Lehrer einen geseßlihen Anspruch auf die Mitglieds{haft und zwar stimmberechtigie Mitgliedschaft im Schulvorstande hat. Bei uns hat er diefen geseßlichen Anspruch bereits in der Provinz Hannover und im Regierungsbezirk Wiesbaden, aber es haben auch sehr viele Gemeinden bereits willig der Anregung Folge gegeben, die Lehrer in den Schulvorstand aufzunehmen. Daß ih das, wie die Dinge bei uns liegen, niht mit Gewalt und mit einem Male erzielen kann, daß es mir viel lieber is, wenn die Gemeinden mir selbst in dieser Beziehung willig entgegenkommen, darin wird mir der Herr Vorredner zustimmen, und ih glaube, es“ ist hier im ganzen Hause kein einziges Mitglied, das darin niht mit dem Vorredner und mir einverstanden wäre. Jh will dabei nur noch bemerken, daß auch in Berlin von mir Anregung gegeben ist, den Lehrern in Bezug auf die Shulaufsicht eine etwas erweiterte Befugniß beizulegen, und bei der Gelegenheit wird auch die Frage, in wie weit die Rektoren in der städtishen Schuldeputation auf eine Vertretung Anspruch haben, zur Erörterung kommen; es wird mir eine Freude sein, wenn auch für Berlin endlih einmal die Lehrer als sfolche in der städtischen Schuldeputation ihre Vertretung finden werden. (Bravo !)
Auf eine Anregung des Abg. Riesch (fr. kons.) erklärt der Minister der geistlichen 2c. Angelegenheiten Dr. Bosse:
Meine Herren! Die Frage, welche der geehrte Herr Vorredner hier zur Sprache gebracht hat, ist auch in der Budgetkommission zur Erwähnung gekommen. Jh muß zugestehen, daß die Nichtanrechnung der auswärtigen Dienstzeit bei den katholischen Geistlichen, die in der- selben Diözese nahher in das preußische Gebiet verseßt werden, kirhlih eine Unbequemlichkeit ist. Allein es stehen doh au recht erhebliche Gründe dem entgegen; denn in den außerpreußis{chen Landestheilen existieren diese Dienstalterszulagen noch niht, und wenn wir jet eine geseßliße Anrehnung dieser außer- halb Preußens zurückgelegten Dienstzeit \tatuieren wollen, fo würde das zur Folge haben, daß alle die älteren Geistlichen aus diesen Landestheilen natürlih nach Preußen hineinkämen, und dies hat doch au seine großen Bedenken. In den Fällen, wo Unbequemlichkeiten und Unzuträglihkeiten fih Herausgestellt haben ohne Schuld eines solchen geistlihen Herrn haben wir ftets aus unserem Unterstüßungs- fonds bereitwilligst geholfen, und ich werde das auch künftig thun und jeden Bedruck in ‘einem folhen Falle auszugleichen suchen. (Bravo !):
Abg. Johannsen (Däne): In Shle3wig-Holitein beständen über die Beendigung der Schulpfliht Zweifel, weil diese nah den be- stehenden Bestimmungen endigen solle mit der Konfirmation, welche jeßt aber niht mehr geseßlich gefordert werde. In einzelnen Bezirken gälten für die Konfirmation noch besondere Vorsckriften; für Knaben solle sie erst nah vollendetem feczehnten, bei Mädchen nach vollendetem fünfzehnten Lebensjahr stattfinden. Gs müßte eine Uebereinstimmung der Schulpfliht in allen Bezirken herbeigeführt werden, unter An- passung an die neueren Verhältnisse.
Minister der geistlichen 2c. Angelegenheiten Dr. Bosse:
Meine Herren! Es ist rihtig, daß in der Provinz Schleswig- Holstein die Schulpfliht anders geregelt ist, als bei uns, und nach den Mittheilungen des Herrn Vorredners ist au anzunehmen, daß in der That manche Unzuträglichkeiten dabei wenigstens zu Tage treten können; ih muß aber doch hervorheben, daß während der Zeit meiner Amtsführung irgend eine Beschwerde in dieser Beziehung an mich noch nicht gelangt ist. Nichtsdestoweniger werden mir die Mittheilungen des Herrn Vorredners Anlaß geben, bei den Erwägungen, die ih gestern zugesagt habe —, darüber, ob wir nicht überhaupt die Sculpfliht geseßlich regeln wollen, diese Dinge mit in Erwägung zu nehmen, und es wird mir cin Antrieb sein, wenn es irgend möglich ist, au diese Ungleichheiten in Schleswig-Holstein und namentlich in Nord-Schleswig zu beseitigen.
Abg. Graf zu Limburg-Stirum (‘ons.): Herr Stöcker hat gestern ganz în unserem Sinne gesprohen. Die Agitation gegen das Schulgeseß war sehr übertrieben; denn {ließli blieb do Alles beim Alten. Die Freiheit der Schule wurde nit berührt. Veber alle streitigen Fragen können wir uns wohl verständigen, und wenn im Laufe der Legislaturperiode eine Vorlage gemacht wird, dann werden auch Herren von der linken Seite si mit uns ver- ständigen; denn folhe Fragen gleichen sich aus. Ein Dotationsgesetz
I) bin dazu
‘von denen, die sich der mährishen und böhmischen Sprache
kann nit erlaffen werden, ohne die streitigen Fragen zu ordnen. Man wird do: wohl auf eine so große Fraktion wie die unsere Rücksicht nehmen, wenn sie ein Dotationsgeseß allein niht machen will. Da die Lehrer die Agitation gegen das Schulgeseß mitgemacht haben, müssen sie nun die Folge tragen, daß die ehaltsfrage un- geregelt bleibt. Mit der Neugestaltung des polnishen Sprachunter- rihts sind wir nicht einverstanden; wir werden uns ihr widerseßen, wo wir können, namentlich werden wir fein Geld bewilligen für diesen Zweck. Das beabsichtigte Ziel wird nicht erreiht, aber die nit beabsichtigte Schädigung des Deutshthums wird eintreten, ebenso wie bei der andelsvertragspolitik die niht beabsichtigte Schädigung der Landwirthschaft do eingetreten ist.
a: A S (Zentr.): Der gedeihliche NReligionsunterriht ist die Hauptsache, selbst auf die Gefahr einer Schädigung des deutschen Unterrichts; das müssen au die Herren auf der Rechten anerkennen, wenn fie auf dem Boden des Zedlib’shen Schulgeseßes stehen. Sie geben aber nicht an, wie ohne polnishen Unterricht das erreicht werden foll. Redner wendet sih dann gegen die Ausführungen des Abg. Sattler und betont die Einigkeit des Zentrums in allen hier vorgebrachten Fragen, die wohl noh besser zur Erscheinung ge- kommen wäre, wenn nicht die Herren Bachem und Lieber dur die Kom- missionsberathungen über den russischen Handelsvertrag fern gehalten würden. Daß die Katholiken einem paritätishen Staate nicht dienen wollen, fährt Nedner fort, ist nicht richtig. Die Regierung wird bestätigen, daß die katholishen Beamten immer ihre Pflicht gethan haben im Interesse des Staats, niht im Interesse der Kirhe. Während des Kultur- kampfes gab es fkatholishe Beamte, welche die Maigeseße aus- führten, weil sie nun „einmal als Staatsgeseße vorhanden waren. Herr Sattler verlangt eine Schonung der protestantischen Gefühle; es scheint, daß in ganz gewissenloser Weise die Protestanten gegen alles Katholische aufgeheyt werden; denn fonst könnten nicht Petitionen gegen die Jesuiten aus Gegenden kommen, in denen man seit Jahrzehnten keinen Jesuiten gesehen hat. Die Ordensleute können, weil sie fi von der Oeffentlichkeit fernhalten, feinen Anstoß erregen. Wo sie in die Oeffentlichkeit treten, handelt es sih nur um die barm- berzigen Schwestern.
__ Abg. von Heydebrand und der Lasa (konf.) erklärt fih gegen die Ausdehnung der neuen Sprachenverfügung auf E, Wenn die Kinder, führt Redner aus, deuts lesen gelernt ha en, können fie den deutshen Katehismus lesen, in dem dasselbe wie im polnischen Katehismus steht. Oberschlesien ist so mit Deutschen durh- seßt, daß es für die Polen nüßlich ist, wenn sie Deutsch lernen. In Oberschlesien ist die bisherige Praxis mit Zustimmung der Geistlichen seit zwei Jahrzehnten festgestellt; es wird kein polnisches Buch gebrauht. Wenn hier eine Aenderung einträte, dann würde au die national-polnishe Agitation zunehmen, die dorthin importiert ist. Wenn man die Bevölkerung abbält, sih im Deutschen zu vervoll- tommnen, so beeinträchtigt man direkt ihr Fortkommen. Bisher ist es den Leuten in Oberschlesien niemals eingefallen, daß sie etwas Anderes find als Preußen. Wenn man sie zu Polen macht, dann gefährdet man die Nationalität. Deshalb follte der Minister seine Verfügung nicht auf Oberschlesien ausdehnen.
Abg. Dr. Dittrich (Zentr.) verlangt eine Revision des Ver- mögensverwaltungsgesetes, das den Ansichten der katholischen Kirche nicht entsprehe. Nicht eine bessere Verwaltung des Vermögens, erklärt Nedner, beabsichtigte man mit dem Gesetze, sondern man wollte in die hierarhishe Gliederung der fatholischen Kirche ein O Element hineinbringen. Wie die Mönchsorden im dreizehnten Jahr- hundert den christlihen Gedanken gegenüber der gnostisch-manihäishen Weltanshauung zur Geltung brachten, so werden die armen Franzis- kaner-Mönche auch am besten geeignet sein, den Verirrungen der Sozial- demokratie entgegen zu treten. Die Uebertragung der Schulaufsicht auf Volks\{ullehrer ist zu billigen, aber fahmännisch gebildet sind die Geistlichen auch, und für Viele is der Nuf nah Fach- männern nur ein Vorwand für die Loslösung der Schule von der Kirche und Familie. Die Kirche hat die Schulen begründet, deshalb muß die Kirche in der Schule ihren erziehlihen Einfluß gel- tend machen; denn der Liberalismus in der Schule, der auch das Recht der Familie vergißt, ist die größte Gefahr in der jeßigen Zeit. Daß eine tatholishe Universität mit der freien Wissenschaft nicht verträg- lih sei, bestreitet Ledner; man müsse die Wissenschaft von allem ori Sa ee befreien und sie wieder zur wahren Wissenschaft machen.
Abg. Schröder (Pole) hält die vielfa bekämpfte Maßregel des Ministers für harmlos, aber nothwendig; denn die jeßt geübte Unterrihtsmethode verhindere, daß Schüler und Lehrer sich verstehen ; der Unterricht sei eine nußlose Quälerei ; Erfolge könne ein folher Unterricht niht aufweisen. Das Schaugepränge der Eramina und die amtlichen Berichte seien keine Beweise dagegen. Redner verlangt die Ausdehnung der neuen Maßregel auf Westpreußen, welches immer mit dem_ Kultus-Minister von Goßler zu kämpfen gehabt und ihn jeßt als Ober-Präsidenten habe.
Abg. Graf von Ballestrem (Zentr.) unterstüßt die Bitte des Abg. Porsch, die Sprachenverfügung auf Oberschlesien auszudehnen als ein Zeichen der Gerechtigkeit gegenüber den oberfhlesishen D Die polnifh-nationale Agitation in Oberschlesien, führt
tedner aus, befindet sich im vollen Gegensaß zur Geistlichkeit von der obersten bis zur untersten Stelle. Aber der Religionsunterricht muß möglichst lange in der polnischen Muttersprache ertheilt werden, nit bloß in den unteren Stufen, denn auch in der mittleren Stufe kann das Kind eine fremde Sprache noch niht genügend beherrshen. Es darf jedoch der Unterricht im Polnischen nit bloß auf das Hören beshränkt werden, sondern das Kind muß lesen können, um aus dem Katechismus den Religions\toff entnehmen zu können. Jeder Mensch hat ein unveräußerlihes Recht auf seine Muttersprache, die er «pas und schreiben lernen muß. Wenn das nit geschieht, dann entstehen folhe Zustände wie in Oberschlesien. Die Agitation is vom Staate künstlih gezühtet worden und die Agitatoren haben diese Mißstände ih zu Nute gemaht bei den Wahlen. Wenn in Nußland nicht loß polnische, sondern auch deutsche Unterthanen russifiziert werden, so ist das nur die Fortseßung des Systems, dessen Anfänge man in Preußen jeßt erlebt. Die Kenntniß des Deutschen ist in Ober- {lesien sehr mangelhaft, troßdem die Kinder in der Schule gut dressiert werden. Namentlich die Mädchen verlernen das Deutsch sehr bald; bei den Männern frist die Militärzeit das Deutsch etwas auf, aber auch die Männer vergessen es bald wieder. Daß die Leute niht polnisch lesen lernen sollen, damit sie keine {chle{chten polnischen R lesen, geht zu weit. Es erscheinen auch gute polnische eitungen und es giebt au \{lechte deutsche Zeitungen. Für die uationalpolnishe Agitation hat der Oberschlesier wenig übrig, wenn seine Muttersprache in Kirche und Schule berücksihtigt wird. Die Agitation in Oberschlesien hat au mehr einen agrarisch - kom- munistischen Charakter, der sih gegen die Großgrundbesizer richtet.
Was von den polnischen Elementen in Oberschlesien gilt, m au - edienen.
Minister dex geistlichen 2c. Angelegenheiten Dr. Bosse:
Meine Herren! Den letzteren Wunsch, so wie ihn der Herr Ab- geordnete ausgesprochen hat, kann ih schon deshalb nit erfüllen, weil die Verhältnisse in Oberschlesien völlig anders liegen wie in der Provinz Posen, insofern, als*in Oberschlesien kein polnischer NRe- ligionsunterricht in den oberen Klassen besteht, ih also mithin auch die Kinder ganz anders ausrüsten müßte, wenn ih überhaupt dahin kommen könnte, in Oberschlesien polnischen Unterricht im Schreiben und Lesen ertheilen lassen zu können. Jch glaube nicht, daß ich dahin kToinme, und ih sehe die Verhältnisse doch etwas anders an, als fie der ver- ehrte Herr Graf von Ballestrem hier dargestellt hat. Ich will gleich bemerken, daß Herr Graf von Ballestrem bei sich in feinem Kreise gewiß die thatsählihen Verhältnisse kennt, und noch weniger zweifle ih — ih scheue mich beinahe, das ausdrüdlih auszusprechen — an der absolut deutshen und vaterländischen Gesinnung des Herrn Grafen; aber das glaube ih allerdings, daß