1894 / 56 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Tue, 06 Mar 1894 18:00:01 GMT) scan diff

Meldungeù, falsche Zeugenaussagen und dergleiWen in die Akten be- Yâmen. Das ift gewiß nicht richtig.

Seine Annahme, daß von oben her dahin gewirkt werde, die Motive zu verschleiern, is unrichtig; ih muß das zurückweisen, es liegt darin ein {werer Vorwurf gegen die Militärverwaltung. (Leb- hafter Beifall.)

Abg. Dr. Lieber (Zentr.): Namens des Zentrums erkläre ich, daß unter uns niemand dem preußischen Kriegs - Minister einen Vorwurf aus der warmen und ritterlihen Vertheidigung eines ab- wesenden und {wer angegriffenen Kameraden maht. Wir würden das Gegentheil bedauern müssen, wenn wir auch mit den Einzelheiten des Vortrags des Kriegs - Ministers nicht überall einverstanden sein können. Wir beklagen mit ihm tief die Möglichkeit einer so ehren- rührigen Beleidigung und E dur die Presse, A hier vorliegt. Der Kriegs-Minister hat Recht, wenn er sagt, müsse etwas faul sein im Staat, wenn Dinge wie dieser Fall Kirhhoff- Hari vorkommen können. Die erste Ursache liegt in der gewissen- losen Handhabung gewisser Redaktionen. Wir erkennen auch die tieftragishe Verwickelung an, die den General zu seinem Schritte getrieben bat, Auch das Gerichtsverfahren, welches vielleiht infolge von Ueberbürdung in diesem Falle niht ganz einwandsfrei war, mag an dieser Verwickelung mit {huld sein; endlich ist mit {chuld die Soridinelle Sanne des von dem General befragten Rechts- anwalts. Jedenfalls sind wir nicht in der Lage, mit dem Abg. Bebel von einem Mordanfall zu sprechen. Das war sehr unvorsichtig von ihm, da er im s{limmsten Falle nur von einem Todtschlags- versuhe hätte sprechen sollen. Einigermaßen hat der Kriegs-Minister ja seine Aeußerungen vom Sonnabend, soweit sie von uns beanstandet werden müssen, selbs {hon am Sonnabend und heute abgeschwächt. Ein Recht der Selbsthilfe und der Nothwehr in diesem Falle und über- haupt anzuerkennen, sind wir nicht im stande; sowohl die christliche, als die menschliche Moral, als das Recht eines geordneten Staats verbieten, unter solchen Umständen zu solcher Selbsthilfe zu greifen. Wir verurtheilen das Vorgehen des Generals und verwahren uns gegen diese Ausführungen des Kriegs-Ministers. Es genügt hoffentlich, diese Verwahrung mit allem Nachdruk ausgesprochen zu haben vom Standpunkt des Christenthums, der Gesittung und des Rechts.

Abg. Lenzmann (fr. Volksp.): Ih habe am Sonnabend ge- sagt, ih hätte {hon Gerichtsherren gefunden, für die an die Stelle in den Erkenntnissen, wo sie thren Namen hinseßen müssen, Kreuze ge- macht seien. Das ist dahin mißverstanden worden, daß ich hätte be- haupten wollen, es gebe Generale, die ihren Namen nicht schreiben fönnen. Ih brauche das wohl niht noch besonders zu berichtigen. Daß unsere Militär-Strafprozeßordnung sich im Kriege bewährt habe, beweist nichts für ihre Brauchbarkeit im Frieden. Die Gerichtsherren will der preußische Kriegs-Minister nicht beseitigen. Von den guten Leistungen des Kriegs - Ministers' als Gerichtéherrn \prehe ih nicht, fondern ih verlange, daß das Spenden oder Nicht- spenden von Recht von dem Belieben eines Gerichtsherrn, eines höheren Offiziers, niht länger abhängig sein darf. Der Staat muß auch hier der Träger der Rechtspflege werden. Ueber das Be- \hwerderecht will der Kriegs-Minister mit uns niht verhandeln. That- fächlih unrichtig ist, daß das ganze Beschwerdereht dem König vor- behalten ist. § 117 des Gesetzes legt ein ganz bestimmtes Be- \hwerderecht geseßlich fest. Der Fall Kirwhoff hat für mich ein anderes Sinterefse, als für den Abg. Bebel. Menschlich kann ich dessen That erklären und entschuldigen; ih selbst wäre auch im stande, jeden über den Haufen zu schießen wie ‘cinen tollen Hund oder zu Tode zu peitschen, der! auch nur irgendwie meine Tochter antastete; aber ich würde dann die Konsequenzen diefer Handlungsweise auf mich nehmen: ih habe ein Verbrehen begangen und muß dafür bestraft werden. Das hat der General auh gethan und der Gnade nachher konnte er sich nicht entziehen. Aber deshalb greife ih auch nicht den General Kirchhoff, sondern den Kriegs-Minister an, wenn er sagt, alles was der General Kirhhoff gethan, war sein gutes Recht und er befand sich im Stande der Noth- wehr. Das war nicht der Fall. Wenn dazu die Rechte Beifall jubelt, daß jemand in dieser Weise Nache nimmt, so stellt sie sich auf einen durchaus unchristlihen Standpunkt. Nicht jeder Ver- brecher is ein Halunke, aber der edelste, demüthigste Vater bleibt im Falle des Generals Kirchhoff ein Verbreher. Hält man am . Standpunkt des Kriegs - Ministers fest, dann giebt man jedem, der sih zum Nächer seiner Ehre macht, dasselbe Necht, so auc) dem Bater, dessen Tochter durh einen Offizier verführt ist, diesen über den Haufen zu schießen. Thatsächlich befindet sich der Kriegs-Minister auch im Irrthum. Wenn der Wahrheitsbeweis abgelehnt ift, fo liegt das lediglih am Staatsanwalt, der auf den beantragten Wahr- heitsbeweis keinen Werth legte. Daß der Redakteur Harih dem General unterschreiben follte, er sei ein ganz gemeiner Lügner, war ein durchaus haltloses Verlangen. Ob Mord- oder Todtschlagsversuch, ift für mih materiell gleihgültig. Der Kriegs-Minister hätte besser gethan, wenn er seine Ausführungen über das Recht des Generals Kirchhoff niht gemaht hätte. Von den Geshworenen wäre der General vielleiht wirklih freigesprochen, aber nur weil man ihm das Bewußtsein der Nechtswidrigkeit im Augenblick der That ab- gesprochen hätte. Nimmermehr aber dürfte der Kriegs-Minister, der Vertreter der höchsten Militär-Justizbehörde, das Recht der Selbst- rache proklamieren. Wenn der General nun zu uns käme, zu dem Abg. Bebel und mir, und uns über den Haufen schießen wollte, würde er sih auf die Ausführungen des Kriegs-Ministers berufen é ny Diese Konsequenz wollen wir denn doch nit aufkommen

assen.

Königlich preußisher Bevollmächtigter zum Bundesrath, Kriegs-Minister Bronsart von Schellendorff:

Die Ausführungen des Herrn Abg. Lieber haben mich außer- ordentlih sympathisch berührt, obwohl ih doch nit in allen Punkten mit ihm einverstanden bin. Ich möchte nur ein Mißverständniß auf- flären. Ich habe gesagt —. ih habe den f\tenographishen Bericht nicht hier ih habe aber den Passus in einer Zeitung gefunden, da steht :

Wenn Ihnen die Frau, die Braut oder die Tochter beleidigt oder beshimpft wird, dann 1raue ih Ihnen doch zu, Sie {lagen den Beleidiger nieder, und da haben Sie ein Recht dazu.

So steht es hier. Mein Zusaß lautet aber :

Und wenn Sie dafür bestraft werden, so werde ich für mil-

dernde Umstände plädieren. So steht es im stenographischen Bericht. Nun,? meine Herren, das werden Sie doch nicht von mir glauben, daß ich hier behaupte, es hat jeder Mensch das Recht, stets zur Selbsthilfe zu schreiten. Jch habe au ausdrücklich in Bezug auf den General Kirchhoff gesagt, er hat sich gegen die Geseße vergangen und deshalb wurde er verurtheilt und bestraft, und ih habe glei hinzugefügt, ein Geshworenengeriht würde ihn freigesprochen haben, und das giebt ja auch der Herr Abg. Lenzmann zu. Es ift also, ich will nicht sagen, cine leine Verdrehung, aber doch eine kleine Nüance, die man in meine Worte hineininterpretiert. Wenn ih sage: dazu haben Sie Reht man gebraucht den Ausdruck im Leben sehr oft, aber wer möchte vom juristischen Standpunkt aus behaupten wollen, es hätte jemand das Recht, einen anderen niederzushlagen. Es hat kein Mensch das Recht hierzu, sondern, wenn er sih verleßt fühlt, so muß er klagen. Ich habe nur das Beispiel gewählt, wenn jemand von Ihnen sich in einem öffentlichen Lokal befindet, und es wird ihm die Frau beleidigt und beschimpft, so s{lägt er den Beleidiger nieder. Ich sage heute noch, er thut geseßlich Unrecht dabei, ganz zweifellos; ih habe auch nur die Thatsache feststellen wollen, daß es troßdem geschieht. Jch

glaube, auch der Herr Abg. Lieber Hat dies zum Ausdruck gebracht, indem er von jenem Heiligen sprach, der sagte, er wüßte wohl, was er zu thun hätte, aber niht, was er thun würde. Also da müssen Sie einen Unterschied machen. Es ift sogar ein ganz gewaltiger Unterschied; denn wie werde ih fagen, General Kirchhoff hätte sein gutes Recht gehabt? Das ist mir nicht eingefallen. Jh protestiere mit aller Entschiedenheit dagegen, daß meine Worte in der Weise ausgelegt werden. Er hat kein Recht dazu gehabt und wir haben ihn verurtheilt, und das bitte ich zu beachten. In der Presse wird es anders ausgelegt, und \{chließlich werde ih beurtheilt wie cin Mensch, der keinen gesunden Menschen-

verstand hat.

Abg. Freiherr von Manteuffel (dkons.): Wir haben dem preußishen Kriegs-Minister Beifall gespendet, weil er dem Angriff des Abg. Bebel fo entschieden entgegentrat. Menschlich es hat der General Kirchhoff gehandelt, wie wir Beide, der Abg. Lenzmann und ih, gehandelt haben würden. Der Abg. Lenzmann legt keinen Werth auf Kreuze; ih als evangelisher Konservativer sage, daß ein stehendes Kreuz für mich von allerhöhstem Werth ist. Dem Kriegs-Minister sprehe ih noch meinen Dank dafür aus, daß er die Nehte der Krone so energisch gewahrt hat. Wir verwahren uns entschieden gegen die Art, wie der Abg. Bebel diese Prärogative auch nur bedingung8weise angetastet hat. Gegen die Begnadigung der Frau Prager hat doch das „Berliner Tageblatt“ nihts einzuwenden gehabt. Nach den leßten Erfahrungen gehen wir an die neuesten Angaben des Abg. Bebel über Soldatenmißhandlungen nur mit Mißtrauen heran. Eine ganze Anzahl davon hat sih als unerheblich oder unwahr herausgestellt. Wir mißbilligen diese Mißhandlungen mehr als Sie; für Sie haben dieselben doch einen gewissen Reiz. Im Verhältniß zu der großen Zahl von Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren sind die angeführten Mißhandlungen doh nur eine winzige Zahl, noch niht eine Miß- handlung pro Armee-Korps. Das militärische Mißhandlungs-Melde- amt, welches die Sozialdemokraten eingerichtet haben, bringt jedenfalls alles zusammen, was überhaupt ermittelt werden kann. Alle diese Mißhandlungen bedeuten garnichts gegen die grausamen Brutalitäten, die bei Strikes gegen diejenigen verübt worden sind, welche weiter arbeiten wollten. Fegen Sie also zunächst vor Jhrer eigenen Thür!

Abg. Bebel (Soz.): Nicht ih, fondern der preußische Kriegs- Minister hat die Familienverhältnisse des Generals Kirchhof in die Debatte gezogen. Wenn mir der Fall am Sonnabend {hon so bekannt gewesen wäre, wie er mir jeßt ist, so wäre mein Urtheil noch schärfer ausgefallen. Der Kriegs-Minister ist au in diesem Fall ganz fals berichtet, wie im- Fall Oppenheimer, wo nit er, Vis dern ih im Necht geblieben bin, was nur dur unrichtige Bericht- erstattung der Oeffentlichkeit niht klar geworden ist. Nedner geht nunmehr auf den Gang der ganzen Angelegenheit ausführlih ein. Auffallend it, wenn in diesem Prozeß - drei gerichtlihe Urtheile er- gangen sind, der General erst 7 Monate nah dem Ergehen des letzten Erkenntnisses erfahren haben foll, daß es sich um seine Person gehandelt hat; sein Nechtsbeistand muß ihn nur sehr oberflächlih unterrichtet haben. Aber dieses zugegeben, kam ihm jeßt erst zu Ohren, daß er der Beleidigte war, so konnte er gegen den Nedakteur von neuem mit einer Klage vorgehen. Dieses Nechtsmittel stand dem General zu, er hat aber davon keinen Gebrauch gemacht, sondern statt dessen geht er zu seinem Rechtsanwalt, der thm wunderbarerweise sazt, es lasse sich dabei nihts mehr thun, und \chießt auf den Redakteur, den er aber zufälligerweise nicht erschießt. Ob Mord- oder Todtschlagsversuch, will ih gern den Rechts- kundigen überlassen. Mit Ueberlegung is der General vorgegangen, und deshalb war sein Vorgehen ein Mordversuh. Jch habe die ganze Frage bloß vom Gesichtspunkt der bestehenden Militär- Strafprozeßordnung behandelt. Gerade ich als Sozialdemokrat bin hier in der wunderbaren Lage, die Institute des Rechts\staates gegen einen Königlich preußischen Minister in Shuß nehmen zu müssen. Das Faustrecht ist proklamiert. Hat der Kriegs-Minister recht, dann kann auch keinem Anarchisten verwehrt werden, gegen seine Richter oder gegen jemand anders mit der Bombe vor- zugehen, dann kann gegen keinen Soldaten mehr eingeschritten werden, der aus demselben Grunde mit der Waffe auf feinen Vorgeseßten losgeht. Der Abg. Freiherr von Manteuffel will nur diejenigen Aus- führungen des Kriegs-Ministers am Sonnabend beklatsht haben, die er heute gemacht hat! In Wirklichkeit haben Sie (rechts) ihm Beifall geklatsht, weil Sie auf dem Boden stehen , der troß aller Berufung auf die christlihe Moral Selbsthilfe, Duelle u. st. w. vorschreibt. Der Staat aber verbietet die Selbsthilfe. Wie oft sind die Sozialdemokraten in der Lage gewesen, sich über die Klafsen- justiz zu beschweren, aber so weit wie der Kriegs-Minister geht, ist fein Sozialdemokrat gegangen ; solches kann überhaupt nur geschehen in einem Militärstaat, der noch mit einem Fuße in der Barbarei steht. Sehr wunderbar ist, d-Z der Kriegs-Minister sih auf die Schourgerichte bezog; die selbstverständlihe Konsequenz wäre doch die Einführung der Schwurgerichte statt des geheimen Militärstraf- verfahrens. Der Kriegs-Minister erklärt, ih taste das Begnadigungs- ret der Krone an. Ich habe nichts davon gefagt, ebenso wenig manches Andere, was mir der Kriegs-Minister vorwirst, obwohl er sich eine Abschrift meiner Rede aus dem amtlihen Stenogramm hat geben lassen. Die Gnade der Krone werden wir allerdings nie und nimmermehr in Anspruch nehmen. Die Sozialdemokraten werden ihre Strafen stets auskosten. Während man vielfach in Fällen gemeiner Verbrechen Gnade walten läßt, sind noch bei allen Amnestien die Sozialdemokraten ausgenommen gewesen. Wir wundern uns darüber nicht, uns läßt das ganz gleihgültig. Was das Beschwerdereht anbe- trifft, so wissen wir sehr gut, daß die Beschwerdeführer davon keinen Vortheil haben, daß wir ihre Beshwerden vorbringen. Aber ein Erfolg wird do erreiht: Hört der Bundesrathstish niht, um so deutlicher hört man draußen im Volke. Ich habe auch nie gesagt, daß höhere Offiziere die Mißhandlungen billigen ; ih habe stets an- erfannt, daß die höheren Stellen die Mißhandlungen ausgerottet wissen wollen. Aber die offiziellen Akten beweisen do, daß auch die Offiziere nicht genügend dem Willen der höheren Vorgeseßten nah- kommen, wie das der bekannte Erlaß des Prinzen Georg von Sachsen über die Mißhandlungen ausdrücklich von den Spruchrichtern, alfo von Offizieren ebenso behauptet, wie der ähnliche Erlaß des Kriegs- Ministers von Safferling in Bayern. Im Jahre 1885 hat General von Manteuffel \sih ganz ebenso scharf an die Dffiziere gé. oendet, um ihnen zu Gemüth zu führen, daß sie durch ihr Beispiel auf die Unteroffiziere einwirken müßten, um das Begehen von Mißhandlungen zu verhüten und unmöglich zu machen. Heute führt: der preußishe Kriegs-Minister Zahlen an, welhe einen Rük- gang der Mißhandlungen durch Vorgeseßzte beweisen. Dieser Nück- gang ist gerade die Folge davon, daß wir diese Exzesse Jahr für Jahr unverdrosfsen zur Sprache bringen und man in der Armee angefangen hat, hierauf zu ahten. Wenn mir unter der großen Menge der mit- getheilten Thatsachen hie und da einmal etwas unterläuft, was nit zu beweisen ist, wenn ih belogen worden bin, so kann das jedem passieren. Die Zahl der Fälle von Mißhandlungen von Strikebrehern is eine verschwindend kleine gegen die der Mißhand- lungen in der Armee. Daß die Sozialdemokraten die Soldaten zum Bruch des Fahneneides auffordern, is eine ganz unbewiesene Be- hauptung. Wir haben jeßt unter unseren 44 Mann der Fraktion 13, welche Unteroffiziers- oder Feldwebelsrang haben; find diese vielleicht deshalb befördert worden, weil sie derartiges gethan haben oder nihcht vielmehr, weil fie sich ausgezeichnet gehalten haben? Die Dinge gehen ganz von selbft, wir brauchen nur die Kunst des Wartens zu verstehen. Bezüglich der Selbstmordstatistik hält Redner seine Ausführungen vom Sonnabend vollständig aufrecht. Gerade aus Furcht davor, daß die öffentliche Meinung über die große Zahl der Selbstmorde wegen Mißhandlung aufgeregt werden würde, sucht man durch andere An-

aben „Furt vor Strafen“ und „Ursache „unbekannt“ zu täuschen. Sm u Gradnauer ift das das Ungeheuerliche, daß der Mann bereits

wieder in sein Zivilverhältniß zurückgetreten war, aus demselben plôglih herausgerissen und dem militärgerihtlihen Verfahren fast zwei Monate unterworfen wurde, ohne daß etwas gegen ihn vorlag. Die Verurtheilung des Unteroffiziers vom 134. Regiment in Leipzig, der doh auch eine {were Gotteslästerung begangen hatte, zu zwei Monaten ist ganz außerordentlich milde; die Vorgeseßten kommen. eben immer sehr glimpflich weg, während die geringsten Versehen der emeinen Soldaten drakonish geahndet werden. Es bedarf nit loß der Aenderung der Strafprozeßordnung, sondern auch des bar- barishen Strafgesetzbuches.

Königlich preußischer Bevollmächtigter zum Bundesrath, Kriegs-Minister Bronsart von Schellendorff:

Meine Herren! Der Herr Abg. Bebel hat sich nochmals fehr eingehend über die Selbstmorde verbreitet. Ich glaube, ih kann nichts weiter hinzufügen und nur Bezug nehmen auf die kleine Broschüre, die die Herren alle gelesen haben werden. Den Streit, ob er Recht hat oder ih, werden Sie dann selbst am besten entsheiden können.

Was die einzelnen Fälle anbetrifft, von denen* der Herr Abg. Bebel sprach, von den Selbstmorden infolge von Miß- handlungen und von den Mißhandlungen überhaupt, meine Herren, da liegt die Sache in so fern etwas anders, als wir wirklih eine ganze Menge Fälle haben, in denen sich die Sache ganz anders oder nicht genau fo zugetragen hat, wie fie dargestellt ist. Wenn wir alle diese Fâlle hier verlesen wollten mit den gesammten Akten, meine Herren, dann tagen wir noch sehr lange hier. Ich glaube, es entspricht doch niht den Wünschen des hohen Hauses, daß wir für jeden einzelnen Mißhandlungsfall, den der Herr Abg. Bebel hier vorbringt, ausführlich Rede und Antwort stehen und die Akten hier vortragen; denn wenn Sie die Akten nicht ganz vorgelesen erhalten, können Sie ein richtiges Bild von den Fällen nicht erlangen. j

Was nun die Oeffentlichkeit dieser Dinge anbetrifft, von der Herr Bebel spriht und von der er anzunehmen scheint, daß ih sie scheue, so denke ih garniht daran. Ich spreche es ganz offen aus: ih denke über die Mißhandlungen auh so wie Seine Königliche Hoheit der Prinz Georg von Sachsen. (Zuruf von den Sozialdemokraten.) Aber ih habe nicht verstanden, was Herr Bebel damit sagen wollte, daß er den Erlaß vortrug. Also das stimmt nicht.

Dann hat der Herr Abg. Bebel in Bezug auf die Gnadenakte und dergleichen einige Aeußerungen in seine Bemerkungen über den Fall Kirhhoff eingeflohten. Ja, ih habe ihn dann wahrscheinli wieder falsch verstanden ; das ist ja schr möglich, meine Herren, man kann sich fehr leicht irren; er versteht mich aber au ch zuweilen fals. Ich hatte gesagt den Wortlaut kann ih Ihnen ganz genau wieder- holen :

Wir verlangen von dem Soldaten das und das. fordern wir von ihm, daß er unentwegt bleibt

Nun bitte ih Herrn Abg. Bebel zuzuhören, indem ich den Wort- laut wiederhole:

daß er unentivegt bleibt gegenüber den Verlockungen derer, die die bestehende Ordnung beseitigen, Thron und Vaterland umstürzen wollen.

So ist der Wortlaut gewesen.

Dann habe ich fortgefahren :

daß er unentwegt bleibt gegenüber den Berlockungen einer Partei natürlih außerhalb dieses Hauses —, die sih nicht entblödct, den Soldaten zum Bruch des Fahneneids zu verleiten.

Meine Herren, ich sage: eine Partei außerhalb dieses Hauses, weil mir nicht bekannt ift, daß hier ein Mitglied im Hause ist, welches sich z. B. damit beschäftigt, Gedichte, Broschüren und alle möglichen Aufrufe in die Kasernen zu {chmuggeln, Aufrufe ih bin bereit, eventuell dem Herrn Abg. Bebel einige folher Exemplare zur Ver- fügung zu stellen ich behaupte ja nicht, daß exr fie verfaßt hat, ih sage nur: von den Mitgliedern einer Partei. (Zuruf von den Sozial- demokraten. Lebhafte Bewegung und Unruhe.) Nun, meine Herren, der Herr Abg. Bebel hat sich noch einmal über den Fall Kirchhoff verbreitet. Er hatte einige Bemerkungen gemacht, die wir „ihm widerlegen follten. Nach dem, was ih Über den Fall ausgesprochen habe, weiß ich wirkflich nichts mehr hinzu- zufügen. Ich weiß auh niht nah den Aeußerungen, die die anderen Herren über den Fall abgegeben haben, was darüber noch weiter zu sagen wäre ; ich glaube, der Fall ist erschöpft. Und troßdem werd ih noch einmal darauf zurückkommen. Durch cinen Kommissar werde mir gestatten, Sie davon in Kenntniß zu seßen, wie der historisch Verlauf dieses Prozesses gewesen ist. Jch thue das nur, um mich da- gegen zu verwahren, als hätte ih unrihtige Angaben nicht absichtlich, sondern selbst irrthümlich gemaht. Meine Angaben sind ganz zu verlässige und richtige gewesen. Der Herr Kommissarius wird Ihnen nachher die Details vortragen.

Ich bin in meinen Erwiderungen vom Ende der Nede des Abg. Bebel ausgegangen der Herr Abgeordnete fing an mit dem Fall Oppenheimer —, da muß ih auch noch einmal diesen Fall, von dem ih glaubte, er wäre bereits begraben, erwähnen. Bei dem Fall Oppenheimer handelte es sich für mich nur darum, daß ih feststellen wollte, daß Oppenheimer jeglihe Verbindung mit der sozialdemo- fratishen Partei leugnete und erklärte, er hätte mit der Partei nichts zu thun. Weiter habe ih nichts fagen wollen. Jch habe allerdings auc) gesagt, daß er mit dieser Ableugnung auch indirekt seinen Freund Bebel verleugnet habe, und da habe ih gesagt, das hätte ih nicht \{ön gefunden; denn er hat ihn nahher auf dem Bahnhof empfangen. Aber daß ih hier unrichtige Thatsachen vorgebraht hätte, unwissent- lih oder auch nur irrthümlich, das bestreite ih auch in diesem Fall-

Negierungs-Kommissar, Wirklicher Geheimer Kriegsrath Dr. S ci- denspinner giebt eine aktenmäßige Darstellung des Vorfalles, aus

welcher hervorgeht, daß der General Kirchhoff thatsählich bis zum Morgen des Tages, wo ihm das zweite Erkenntniß zuging, von dem Umstande, daß fd die ganze Beschuldigung gegen seine Familie richtete, nichts gewußt hat. :

Abg. Dr. von Bennigsen (nl.) hält mit dem Abg. Freiherrn von Manteuffel die Fälle der Brutalität, die bei Strikes gegen fried- lie Arbeiter und Familienväter von den Strikenden verübt wurden, für viel bedenklicher und gefährliher als die Mißhandlungen beim

Auße: dem

(Sehr richtig!)

Militär. Die zahlreichen Erkenntnisse der Gerichte gegen die Be

über dieser Brutalität bewiesen es. Im übrigen sei der preußische Kriegs-Minister bei der Lage des Falles vollauf gerechtfertigt 11 feinem Vorgehen, wenn er auch am Sonnabend vielleicht zu weit a gangen sei. Der Abg. Bebel habe in seiner Darstellung des Falle? au eine Form gewählt, die für den unglücklihen General Kirchhoff ebenfalls verleßend sein mußte. Wenn jemand zum Sto oder zul Neitpeitshe gegriffen hätte, um einen Verleumder zu züchtigen und

hätte ihn gehörig verhauen; das Urtheil würde gelautet haben : Schade

um die Hiebe, die vorbeigegangen sind. Ein Zivilgericht hâtte mindestens au mildernde Umstände angenommen, von einem Polt anfall zu sprechen, hat der Abg. Bebel nicht die geringste NBeranlafsuns-

Die Manier, auch den gemeinsten Klatsch im Interesse der Sen

sation zu verwenden, verschwinde doch allmählih aus der anständigen Presse. Im übrigen sei es ja zu wünschen, daß die amerikanische Sitte der Selbsthilfe mit Revolvern nicht bei uns Eingang finde.

Abg. Dr. Barth (fr. Vg.): Die moralishe und rechtliche Betrachtung des Vorganges is doch bis jeßt zu kurz gekommen. Wir sind hier im Reichstag die oberste Vertretung des Rechts-

efühls der Nation; von diesem Gesichtspunkt aus Maas die Er- flärun en des preußischen Kriegs-Ministers die Sache nur verwirrt. Auch heute noch hat er den Standpunkt vertreten, daß jeder andere Mensch im gegebenen Falle aa gehandelt haben würde, wie der General Kirhhoff. Der Anarchismus stellt sih außerhalb der be- stehenden Rechtsordnung; wer den Rechtsstaat anerkennt, muß si der Rechtsordnung beugen, sei es auch im einzelnen Falle noch so s{chwer. Deshalb is für einen solhen auch keine sittlihe Be- rechtigung vorhanden, sih gegen diese Rechtsordnung aufzulehnen. Sehr leiht könnte von nun an in Hunderten, ja Tausenden von Fällen der einzelne fih für so {wer verleßt halten, daß er gegen Gefeß und Recht zur Selbsthilfe nach seinem subjektiven Grmessen greift. Eine einzige Ausnahme zulassen, heißt die ganze Rechtsordnung stürzen. Sehr mit Recht hat der Abg. Bebel bereits auf das Duell hingewiesen. In England is das Duell au von e Sitte O, Zur Gras nes Uo ati wünscht Redner au eine genauere Untersuhung der sämmtlichen

des Selbstmordversuchs. N | E

_ Abg. Schall (dkonf.) weist die Angriffe, die Abg. Bebel auch bei dieser Gelegenheit wieder gegen das Christenthum der Kon- servativen erhoben habe, entschieden zurück. Die Sozialdemokraten seien allerdings darauf aus, das Heiligthum des Fahneneides bei den Angehörigen der Armee zu verunglimpfen. Jn der heutigen Zeit, welche für die Heiligkeit des Eides niht mehr das volle Verständniß habe, müsse man doppelt rückhaltlos gegen folhe Bestrebungen an- fnüpfen. Vom hristlihen Standpunkt niht entschuldbar, aber do begreiflih sei es, wenn noch hin und wieder zum Duell, zu dieser Selbsthilfe gegriffen würde. Auch der Krieg sei vom christlichen Standpunkt aus berechtigt und der Krieg von 1870 sei ein leuchtender Beleg dafür. Von dem Gnadenrehte habe auch mancher von der Sozialdemokratie mit Freuden Gebrauch gemacht.

- Abg. Kröber (südd. Volksp.): In ganz Süddeutschland hat der Fall Kirchhoff ein ganz außerordentli peinlihes Aufsehen gemaht, als eine grobe Ausschreitung des Militarismus; andererseits wird durch die Art, wie dieser Fall vertheidigt worden ist, dieses peinlihe Aufsehen nur noch vermehrt werden. Man wird fragen, ob es von nun an Rechtens sein soll, daß ein höherer Offi- zier einen Zivilisten mit der Waffe überfallen darf. Auf dem Felde der Mißhandlungen ist es ja in neuerer Zeit etwas besser geworden ; von oben herunter wird ja alles Mögliche gethan. Wenn jeder Unteroffizier, der sich derartige Ausschreitungen zu Schulden kommen läßt, zum Gemeinen zweiter Klasse degradiert würde, wenn auch die Offiziere, die es dulden, bestraft würden, so würde sehr bald die Mißhandlung auf ein Minimum reduziert werden. Dem preußischen Kriegs-Minister bin ih dankbar, daß er eine bal- dige Reform des Militärstrafprozesses in Aussicht gestellt hat.

: Abg, Dr. Lieber (Zentr.): Wir verwerfen das Duell ohne jedes Aber bei Militärs und Bürgerlichen absolut. Wenn der preußische Kriegs-Minister heute erklärt, niht gemeint zu haben, was man am Sonnabend aus feinen Worten über das Recht der Noth- wehr u. st. w. beraushören konnte, so hätte er nit gleichzeitig sagen sollen, daß ih seinen Ausführungen irgend eine besondere Nuance verliehen hätte.

Königlich preußisher Bevollmächtigter zum Bundesratl

. X fh Sra Kriegs-Minister Bronsort von C E : i Ich habe nach dem Stenogramm, was hier vor mir liegt, i fühle mi verpflichtet, Ihnen dies nohmals mitzutheilen, meine Ausführungen angefangen mit den Worten :

Die Ausführungen des Herrn Abg. Dr. Leber haben mich außerordentli sympathisch berührt, obwohl ih doch nicht in allen Punkten mit ihm einverstanden bin.

Dann habe ich mich allerdings im weiteren dahin ausgesprochen, daß auch, namentli in der Presse, es vielfa fo dargestellt wäre, als wäre ih ein moderner Vertreter des Faustrechts, und gegen diese Unterstellung habe ih nur mich verwahren wollen. Es hat mir aber absolut fern gelegen, den Herrn Abg. Dr. Lieber auch nur im aller- entferntesten damit treffen zu wollen. Jh glaube, ih kann Ihnen gar feine bessere Erklärung hier geben. (Sehr richtig !)

Abg. Bebel (Soz.): Der Abg. Schall erklärt, die chriftli Theorie verbiete das Duell, in der Praxis aber sei es A noch in Gebrauch. Christlihe Theorie und Gesetzgebung verbieten das Duell gleihwohl findet sich im Deutschen Reichstag ein christliher Geistlicher, der es rechtfertigt! Gegen die Heiligkeit des Fahneneides habe ih nicht ein Wort erwähnt. Wenn das Begnadigungsrecht der Krone von mir angegriffen worden ift, so ist es au von dem Abg. Freiherrn von Manteuffel angegriffen, der die Frau Prager erwähnte. Ver Abg. Dr. von Bennigsen )at meine Rede gar nicht gehört, sonst bâtte er sich den größten Theil seiner Ausführungen gegen mich erspart. Die öffentliche Meinung ist hauptsächlih durch die Gtbeininiträmera des Militärprozesses erst so aufgeregt worden. In der Kriminalstatistik marschieren bezüglih der Körperverleßung niht die industriellen Provinzen, sondern die ackerbautreibenden oftelbishen Provinzen an der Spiye. Und haben denn die Gerichte nicht erst den § 110 des Strafgeseßbuchs auslegen müssen, um die Zahl derer zu ver- gröyern, die schwer bestraft wurden, weil sie bei Strikes gegen Strikebrecher thätlih geworden sind. j

Damit schließt die Debatte.

_ Die Resolution, betreffend die Veröffentlihung ciner Statistik über die von den Militärgerichten abgeurtheilten Strafsachen, wird mit großer Mehrheit angenommen.

Das Kapitel „Militär-Justizwesen“ wird unverändert bewilligt, desgleichen ohne Debatte die Kapitel: „Höhere Truppenbefehlshaber, Gouverneure , Kommandanten und Plaßmajore, Adjutanturoffiziere, Generalstab und Landesver: messungswesen, Zngenieur- und Pionier: Korps“.

_Um &8/, Uhr wird die Fortsezung der Berathung auf Dienstag 2 Ühr vertagt.

Preußischer Landtag. Haus der Abgeordneten.

: 28. Sigung vom 5. März 1894.

Zu dem Anfangsberiht in der Montags-Nummer d. Bl. tragen wir zunächst die nur auszugsweise mitgetheilte Rede, mit welcher der Präsident des Staats - Ministeriums dem Abg. Dr. Bachem nach dessen Begründung feines Antrags erwiderte, im Wortlaut nach.

Präsident des Staats-Ministeri Mini Oraf u Eulenbuen Ministeriums, Minister des Jnnern

Meine Herren! Die Staatsregierung ist bereit, dem Antrag, wie er Ihnen unter Nr. 35 der Drucksachen vorliegt, zu entsprechen, soweit dies ohne ganz unverhältnißmäßigen Aufwand von Zeit und Koften möglich ist. Diese Einschränkung bezieht sih auf die große Ausdehnung auf die Vergangenheit, welhe der Herr Antragsteller seinem Antrag zu geben wünsht. Das Material, welches in dieser Beziehung vorliegt, ist ein sehr lückenhaftes; es ist theilweise gar nicht mögli, es zu ergänzen und jedenfalls schr {wer und mit großem Veitaufwand verbunden. Jh glaube aber, daß es auc genügen wird,

wenn wir die Vergleiche mit der Vergangenheit auf einige zurü- liegende Jahre oder Wahlperioden ausdebnen, und in diesem Sinne bin ih bereit, dem Antrage zu entsprehen. Es hätte auch in dieser Beziehung eines besonderen Antrags gar niht bedurft, sondern allenfalls nur irgend einer Anregung bei Gelegenheit der Etats- berathung oder sonst; denn die Herren, welche bereits in der vorigen Landtagssession dem Abgeordnetenhaus angehört haben, werden sich erinnern, daß ih bei der Berathung des Wahlgeseßes vom 29. Juni vorigen Jahres erstens dem Herrn Abg. Parisius gegenüber bereits die Herstellung einer Statistik der Abgeordnetenwahlen zugesagt, und zweitens, was das übrige anbetrifft, bei der dritten Berathung mi dahin ausgesprochen habe , daß bei der dur die Wabhlgeseßnovelle geschaffenen Situation unsere Aufgabe jeßt darin bestehe, die Ver- hältnisse, wie sie sich darnach gestaltet haben, sorgfältig zu beobachten und zu prüfen und damit die Grundlage zu gewinnen, ob in näherer oder fernerer Zeit die Nothwendigkeit vorliege, weiter die bessernde Hand anzulegen da, wo es nothwendig sei. Mit dieser Erklärung steht auch nicht im geringsten im Widerspru der Ausdruck in der Thronrede, welhen der Herr Abg. Baem erwähnt hat; es heißt da, „daß das Wahlgesey vom 29. Juni den Verschiebungen, welche durch die Steuerreform eingetreten seien oder eintreten würden, Rechnung trage.“

Nun, meine Herren, ecstens enthält dieses Wahlgeseß die Anträge, welche gerade von den Freunden des Herrn Abg. Bachem selbst zur Verminderung der Einwirkung der Steuerreform gestellt waren und aus der Wahlgeseßnovelle von 1891 in die von 1893 mit hinüber- genommen worden sind; zweitens aber lassen die Ausführungen des Herrn Abg. Bachem einen sehr wichtigen Gesichtspunkt, welchen die Wakhslgeseßnovelle von 1893 zur Geltung bringt, gänzlich außer Acht. Es ist nämlich die Bestimmung, wie Ersaß geschaffen werden soll für den Fortfall der staatlihen Nealsteuern, und dieser Ersatz ist darin gefunden worden, daß an deren Stelle treten sollten die Kommunal- steuern. Meine Herren, es war also vollkommen berechtigt, zu sagen, daß die Wahlgeseßnovelle der eintretenden Verschiebung Rechnung trage. Eine andere Frage ist die und der ist dur diesen Ausdruck in keiner Weise präjudiziert —, ob das in genügendem Maße geschieht; und ob es geschehen ist, das wird, wie ich damals zugesagt habe und hiermit wiederhole, der Gegenstand der ein- gehendsten Prüfung fein, und um die Unterlagen für diese Prüfung zu gewinnen, sind die [statistishen Ermittelungen, die der Herr Abg. Dr. Bachem wünscht, niht etwa infolge seines Antrags], sondern unmittelbar, nahdem die Kommunalwahlen und die Abgeordneten- wahlen im vorigen Jahre stattgefunden hatten, bereits angeordnet worden. Ich hoffe, daß es nicht langer Zeit bedürfen wird, um die Resultate dem Hause mitzutheilen. Es wird dies zunähst geschehen über die bisher ermittelten ersten Ergebnisse der Wahlen zum Ab- geordnetenhaufe in den nächsten Tagen durh die Mittheilung der- jenigen Nummer der „Statistischen Korrespondenz“, in der die ersten Ergebnisse mitgetheilt sind, vorbehaltlich natürlich einer ausführ- licheren Berathung, welche später erfolgen roird.

Was die Kommunalwahlen anbelangt, so werden die Angaben vollständig mitgetheilt werden fönnen nach einiger Zeit für die Städte mit mehr ‘als 10000 Einwohnern, für die anderen kom- munalen Gruppen, welhe sons in Betracht kommen, nach probe- weis ausgewählten Gemeinden, weil die Aufnahme einer Statistik für alle Gemeinden, welche dabei in Betraht kommen, ein sebr weit ausfehendes und umfangreihes Werk wäre, welches nur im Fall der dringenden Nothwendigkeit zur Ausführung zu bringen wäre, die möglicherweise eintreten kann, wenn die gegen- wärtig vorliegenden Daten nicht die genügende Unterlage geben.

Bevor ih nun auf die interessanten politishen Erörterungen des Herrn Antragstellers weiter eingehe, werde ich Jhnen auf Grund des bisher vorliegenden Materials einige thatsächliche Angaben machen, welhe vielleiht geeignet sein werden, die Wünsche und Be- shwerden, welcbe vorgetragen sind, doch auf ein erheblich bescheide- neres Maß zurückzuführen. t

Was zunächst die Kommunalwahlen anbetrifft, so glaube ich bereits übersehen zu können, daß die Meinung des Herrn Abgeordneten, daß infolge der durch die Steuerreform eingetretenen Verschiebung eine Abnahme der Wähler der ersten und zweiten Abtheilung eingetreten ist und zwar sowohl in den absoluten, wie in den relativen Zahlen, im großen und ganzen zutreffend ist. Jch habe mich au niemals einer Täuschung ‘darüber hingegeben, daß das in den städtischen Be- zirken der Fall sein würde, und darauf beruhte wesentlich der Vor- schlag einer Abänderung der Drittelung, den ih in der vorigen Session Ihnen unterbreitet habe. Aber, meine Herren, das Maß, in dem das stattgefunden hat, ist doch ein außerordentli verschiedenes- Es ift zunächst sehr erheblich verschieden in den vershiedenen Gruppen der kommunalen Einheiten, um die es sih handelt. Mit aller Reserve in Beziehung darauf, daß die weiteren Ermittelungen die Resultate etwas modifizieren mögen, und mit nohmaliger Betonung, daß es \ich um probeweise Ermittelungen handelt, will ih Ihnen ein paar Zahlen angeben, die in dieser Beziehung in Betraht kommen.

Die Anzahl der Wähler der ersten und zweiten Abtheilung ift, soweit si bis jeßt im Durchschnitt hat ermitteln lassen, herabgegangen in den Städten über 10 000 Einwohner auf 8,40 %, in den Land- gemeinden mit industriellem Charakter auf 12,66 9%, in der Gruppe der kleinen Städte auf 17,05 9%/% und in den Landgemeinden auf 23,89 %/o. Sie sehen, meine Herren, daß das ganz außerordentliche Verschiedenheiten sind, die es unendlih {wer machen, eine Formel zu finden, welche für alle diese Verhältnisse paßt. (Sehr richtig ! rets.)

Zweitens aber, meine Herren, mache ich Sie darauf aufmerksam, daß keineswegs allgemein die Erscheinung des Herabgehens der Wähler der ersten und zweiten Abtheilung eingetreten ist. Beispiels8weise be- finden sich unter den bis jeßt genauer ermittelten 139 Städten mit über 10 000 Einwohner solche, in denen das Verhältniß der ersten und zweiten Abtheilung günstiger geworden ist, d. h. eine Vermehrung der Wähler in diesen Abtheilungen eingetreten ist, im Vergleich von 1892 zu 1891 4, im Vergleich von 1893 zu 1892 aber 31.

Meine Herren, Sie sehen also, daß in den lokalen Verhältnissen die Wirkungen außerordentlich verschiedene sind und daß man {ih wobl hüten muß, allgemeine Urtheile nah Maßgabe der „gewissen eklatanten Fâlle“ zu ziehen, von denen der Herr Abg. ven Gneist in fo beredter Weise in der vorigen Session gesprochen hat.

Aber ein noch ganz anderes Bild bietet \sich Ihnen dar, sfobald Sie von den Kommunalwahlen auf die Wahlen zum Abgeordneten- hause Ihren Blick lenken. Auch da ist eine Verminderung der Wähler der ersten und zweiten Abtheilung in den Städten in einem ge-

wissen Maße eingetreten, aber in sehr viel geringerem. Maße als bei den Kommunalwahlen; und die Fälle häufen sich, wo in dieser Be- ziehung von 1893 zu 1892 eine Verbesserung eingetreten ist. Es ist . nämlich in der ersten Abtheilung der Städte im ganzen nit bloß in denen von 10 000, sondern in der Gesammtzahl der Städte die Prozentzahl von 3,29 auf 2,72 heruntergegangen, also etwa um § 9%; und in der zweiten Abtheilung von 10,09 auf 9,64. In den Städten über 10 000 Einwohner stellt sich die Sache so, daß in der ersten Abtheilung 2,39, in der zweiten 8,98 der Wähler vorhanden find; und wenn Sie das mit den vorhin von mir angegebenen Zahlen für die Kommunalwahlen vergleichen, so werden Sie erkennen, wie viel in dieser Beziehung das Verhältniß besser is bei den Abgeordneten- wahlen.

Meine Herren, nun kommen wir zu dem platten Lande; da sehen Sie die entgegengeseßte Erscheinung. Auf dem platten Lande ist in der ersten Abtheilung die Zahl der Wähler von 3,81 auf 4,03 ge- stiegen, und in der zweiten Abtheilung von 11,26 auf 13,63, also fast um 22 9%. Zieht man den Durchschnitt für Stadt und Land im ganzen Staat, fo ergiebt sich für die Abgeordnetenwahlen, daß zwar in der ersten Abtheilung im ganzen eine minimale Ver- minderung von 1/10 9%, nämlich von 3,62 auf 3,52 eingetreten ift, dagegen in der zweiten Abtheilung eine Steigerung von 10,82 auf 12,06, und daß folgeweise die Gesammtzahl der Wähler in der ersten und zweiten Abtheilung von 14,44 auf 15,58, also um 1,14 9% gestiegen ist. Hiermit nähert sich die zweite Abtheilung sehr stark der höchsten Prozentzahl, die fie jemals gehabt hat.

Meine Herren, ich habe Ihnen das vorgeführt, um Ihnen zu be- weisen, daß die Prüfung, ob und wie zu helfen ist, eine sehr eingehende sein muß, und sih in der That fo schnell, wie der Herr Abgeordnete glaubt, niht machen läßt. Sie sehen: ih bin bei der Arbeit und werde sie fortseßen und zu dem Zeitpunkt, wo es möglih fein wird, mit den Ergebnissen uno mit den dann daraus zu ziehenden Schlüffen vor Sie treten.

Ich muß noch auf einen Gesichtspunkt kommen, den der Herr

Abgeordnete zwar gestreift, aber nah meiner Ueberzeugung in keiner Weise gebührend gewürdigt hat, nämlih den Umstand, daß wir einen sehr wesentlichen Theil der Steuerreform noch vor uns haben. (Sehr richtig! rets.) Es handelt sich nicht bloß um die Ergänzungssteuer, welche erst am 1. April nächsten Jahres in Kraft tritt; nein, meine Herren, die ganze Kommunalsteuerreform liegt noch vor uns (fehr richtig !); wir hoffen, daß die Erwartungen, die wir bei derselben gehabt haben, nit bloß dahin sih erfüllen werden, daß die staatliche Grund- und Gebäudesteuer fortfällt, sondern daß wir au ein ganz wesentlihes Moment darin erlangen werden, daß wir ein Herabgehen der Zuschläge zu der ftaatlichßen Einkommensteuer erreihen werden : und daß das von fehr wesentlihem, ja durchgreifendem Einflusse auf die Gestaltung der Wählerabtheilungen sein muß, kann, glaube ih, niemand in Abrede stellen. Darum bin ih auch gänzlih außer stande, mir ein abshließendes Urtheil zu bilden, ges{chweige denn eine Zusicherung über eine weitere Abänderung des Wahlgeseßes zu ertheilen, ebe ich dieses Ergebniß vor mir habe. (Sehr richtig! rechts.) Bis dahin muß ih bitten, daß die Herren die Güte haben, fih zu gedulden. Ob das hon mögli sein wird nah den ersten Wahlen im Jahre 1895, oder ob wir die zweiten Wahlen im Jahre 1896 abwarten müssen, das zu fagen, bin ih außer stande; ich fann in dieser Beziehung nur fagen, daß ih nihts mehr wünsche, als so {nell und so bald als möglich zu einem Ergebniß zu gelangen, auf Grund dessen ih meine Beschlüsse fassen und Ihnen mit gutem Gewissen die Vorschläge unterbreiten kann, welche sich als nothwendig zeigen. Fh sollte meinen, daß, nachdem diese Erörterungen stattgefunden baben, es nicht weiter nothwendig sei, in der Weise, wie der Herr Abgeordnete sich ausdrückte, Stimmung zu machen, mit anderen Worten, in eine agitatorishe Behandlung dieser Angelegenheit ein- zutreten. Das, meine Herren, ist ohnehin ein bedenklihes Beginnen auf diesem Gebiete des Wahlrechts, und es ist um so bedenklicher, weil, so- weit es bisher in die Oeffentlichkeit gelangt ift, allerdings Klagen hervorgetreten sind über die Verminderung der Wähler der ersten und zweiten Abtheilung, aber keine Klagen nah der Richtung, daß dadur materielle Aenderungen in der Zusammenseßung der kommunalen Körper- schaften eingetreten seien, und noh viel weniger, daß irgend welche Schädigungen für die Interessen der Kommunen si gezeigt haben. Also, meine Herren, ih glaube, daß wir hiernah die Sache mit Ruhe behandeln follten, und ich zweifle nicht, daß wir zu einem be- friedigenden Ergebniß gelangen werden. Denn ich glaube allerdings, daß die Nothwendigkeit hervortreten wird, soweit namentlih die Städte in Betracht kommen, eine Modifikation eintreten zu laffen, welche auch ich nah dem Standpunkt, den ih bereits in der vorigen Session eingenommen habe zum mindesten für wünschens- werth, wenn niht für nothwendig erachte. (Bravo! rets.) __ Abg. Dr. von Heydebrand und der Lasa (konf.) erklärt sih gegen den Antrag und wendet fih namentli gegen eine Aende- rung des Wahlverfahrens im Sinne des allgemeinen direkten Wahlrechts wodurch die Grundlage des Staats erschüttert werden würde. Jeden- falls dürfe man auf dem Wege einer Reform des Wahlrechts nicht überstürzend vorgehen. :

Abg. Dr. Bachem (Zentr.): Wir erkennen an, daß keine Aus- sicht ift, gegen den Willen der Staatsregierung, des Herrenhauses und der Mehrheit des Abgeordnetenhauses das allgemeine direkte Wahl- recht einzuführen. Deshalb tellen wir uns auf den Boden des Drei- kflassenwablrechts und suchen dasselbe zu verbefsern. Was der Minister an Zahlen vorgetragen bat, trifft wohl nur für den Durchschnitt des Staats zu; aber unter den rheinishen Städten, deren Zahlen ih vor mir habe, giebt es keine einzige Stadt, in welcher 8 Prozent der Wähler in der ersten Klasse vorhanden sind. Mindestens muß für diese grozen Städte, die hier in Betraht kommen, Spezial- fürsorge getroffen werden, vielleiht in der Weise, wie es der frühere Minister Herrfurth vorgeschlagen hatte, daß in der ersten Klasse 19 0/0, in der zweiten 20 9%, in der dritten 70% der Wähler sind. Die Antwort des Ministers war eine dilatorische: er will die Wirkung der Gemeindesteuerreform abwarten und warnt uns vor Agitationen ; die Konservativen aber sollten zufrieden sein, daß gerade das Zentrum diefe Agitation in die Hand nimmt und nicht andere Parteien, die niht so genügsam sind wie wir.

Abg. v. Eynern (nl.): Der Antrag ist nach der Erklärung des Ministers so bedeutungslos, daß man eigentlich an den Knöpfen abzählen könnte, ob man ihn annehmen oder ablehnen soll. Wir sind dafür, daß statistishe Erhebungen veranstaltet werden ; aber wenn der Antrag überflüssige statistishe Erhebungen verlangt, so kommen wir do zur Ablehnung des Antrags, namentli da der Einfluß der Steuerreform noch gee nicht überall bervorgetreten ist. ir müssen jedenfalls bis 1896 warten. Ein besseres Wahlgeseß wollen nicht verfrüht, und wir. wollen kein Partei- lge gr der 2000 4 - Klausel, die das Zentrum früher beantrag bat werden wir uns mit den Konservativen verbinden. Wir brauchen für die

wir, sobald die Wirkungen der Steuerreform fi es