1894 / 65 p. 2 (Deutscher Reichsanzeiger, Fri, 16 Mar 1894 18:00:01 GMT) scan diff

B S t A E E E E E

Bayern.

_ Die Kammer der Reichsräthe ging in ihrer gestrigen Sizung über den von der Abgeordnetenkammer gegen das Duell, namentlih gegen die militärishen Duellanshauungen gefaßten Beschluß zur Tagesordnung über mit der Moti- vierung, daß das Duell durch die Geseße des Staats und der Kirche verboten sei und die Regierung den rücksichtslosen Voll- zug des Gesetzes erklärt habe. Ferner ging die Kammer über en von dem Abg. Raßtginger gestellten Antrag auf eine Börsenreform zur Tagesordnung Über, wobei hervorgehoben wurde, daß zwar Mißstände vorhanden seien, im Antrage der Abgeordnetenkammer aber spezielle Mißstände niht angeführt Ss auch bestehe bereits eine Reihsenquête, und die Regierung abe thunlichste Abhilfe der bestehenden Mißstände versprochen. Die Anträge des Abg. Daller, betreffend den Handelsvertrag mit Rußland und die Aufhebung des Jdentitätsnachweises wurden als von den Thatsachen überholt abgeseßt. Ueber die Anträge des Abg. Raßzzinger bezüglich der Unfall- und Altersversiche- rung wurde eine motivierte Tagesordnung beschlossen. Das Haus vertagte sih sodann bis nah Ostern. Die Kammer der Abgeordneten lehnte gestern mit 67 gegen 64 Stimmen den Antrag auf staatliche Mobiliar- Brandversicherung unter allmählihem Ausschlusse der Privat- gesellshaften ab und nahm den Antrag des Ausschusses auf Revision der Statuten sämmtlicher 26 in Bayern zugelassenen Gesellschaften behufs Herabseßung der Prämien und Verhinde- rung eines unkulanten Gebahrens an. Der Minister des Jnnern Freiherr von e ae ch bekämpfte bei der Debatte das Staatsmonopol auf das bestimmteste aus politischen, finanziellen und volkswirthschaftlichen Erwägungen.

/ Sachsen.

Der Landtag wurde heute von Seiner Majestät dem König mit einer Thronrede geschlossen, worin Allerhöchst- derselbe zunächst mit wärmstem Dank der rührenden Thcilnahme während seiner leßten Krankheit gedachte und auf das erfreuliche Ereigniß der demnächstigen Vermählung des Prinzen Johann Georg hinwies. Der Landtag habe bei der Berathung des Staatshaushalts-Etats Anlaß gehabt, sih mit den wichtigsten Interessen des Landes zu beschäftigen und dabei die gerechte na der Wohlfahrt aller Klassen der Bevölkerung im Auge gehabt. Die Sorge für die Beschaffung der erforder- lihen Mittel habe dazu geführt, auf den weiteren Aus- bau der Einkommensteuer unter gleichzeitiger Erleichterung der weniger bemittelten Klassen Bedacht zu nehmen. Hier- durch sei auch eine wesentlihe Stärkung der Finanz- kraft des Landes erreiht worden. Dies sei von um s größerer Bedeutung, als die Steuerkraft zur Deckung der Be- dürfnisse des Reichs in bei weitem höherem Maße als bisher in Anspruch genommen werden dürfte, so lange es nicht gelinge, zu der von der Gesammtheit der Bundesregierungen als un- abweislich nothwendig erkannten Finanzreform des Reichs zu kommen. Wenn auch dieses Ziel in nächîter Zeit vielleicht noch niht zu erreichen sei, so lasse sih doch die Hoffnung niht aufgeben, daß die Dringlichkeit der Reform und die Berechtigung des ihr zu Grunde liegenden gesunden Ge- dankens immermehr anerkannt und gewürdigt werden werde. Durch die der Regierung ertheilte Ermächtigung zur Erhebung eines allgemeinen Zuschlags zur Einkommensteuer werde die sonst niht zu umgehende Einberufung eines außerordentlichen Landtags vermieden. Jmmerhin sei zu hoffen, daß die Noth- wendigkeit nicht eintreten werde, von dieser Ermächtigung Gebrauch zu machen.

Württemberg.

Seine Majestät der König empfing vorgestern den bis- herigen Königlich niederländischen außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Minister Jonkheer van der Hoeven in Audienz, um dessen Abberufungsschreiben entgegenzunehmen.

Hefffsen.

Die Zweite Kammer hat gestern einstimmig den Gesehentwurf über die Befreiung der gemcinnügigen, auf Errichtung von Wohnungen für Unbemittelte gerichteten Unternehmungen von Steuer und Stempeln angenommen.

Braunschweig.

Der Landtag genehmigte den Vorschlägen der Regierung gemäß den Erlaß der zehnten Klasse der Personalsteuer, den Erlaß ciner Monatsrate der Grundsteuer und der Gewerbe- steuer und die Ueberweisung von 23 Proz. aller direkten Steuern an die Gemeinden, sowie von 270000 #6 an die Kreisverbände.

Sachsen-Meiningen.

Seine Hoheit der Herzog hat, wie die „Ger. Ztg.“ meldet, eine längere Reise nah Jtalien angetreten.

Elsaß-Lothringen. Der Landes gus hat in seiner Sißzung vom 14, d. M. sämmtliche Positionen des Etats in dritter Lesung nach den not der zweiten Lesung unverändert an- enommen. Ebenso erhielt das Finanzgesey die endgültige Biisiininung des Hauses in dritter Lesung.

Deutsche Kolonien,

_ Ueber Verwaltung und Rechtspflege in Deutsch- Ostafrika schreibt das „Deutsche Kolonialblatt“ :

In Bezug auf die Verwaltung ist ebenso wie in wirthschaftlicher Beziehung scharf zwischen dem Küstenstreifen und den übrigen Theilen des Schutzgebiets zu scheiden. Jn dem ersteren ist, da anzunehmen ist, daß dort die Nuhe niht mebr gestört wird, die Zivilverwaltung ein- geführt; in den leßteren sind, je nach politischem oder handels- politishem WBedürfniß, Militärstationen errichtet, welche die Aufgabe haben, den ihnen zugewiesenen Bezirk in Ruhe zu halten bezw. gegen fremde Einfälle zu {üßen. Die Zivil- verwaltung is derartig organisiert, daß das Küstengebiet in sechs Bezirksämter eingetheilt ift, nämlich Tanga, Pangani, Bagamoyo mit dem Nebenamt Sadani, Dar-es-Salam, Kilwa und Lindi mit dem Nebenamt Mikindani. Den Bezirkëeämtern is eine Polizcitruppe, welche bisher der Schußtruppe entnommen war, zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Bezirke beigegeben. Organe des Bezirksamts sind ferner die in den einzelnen Ortschaften eingeseßten Akidas oder an- gestammte Jumbes, welche für die Ordnung in ihrem Orte verant- wortlich sind und Befehle der Negierung, mögen diese Wegebauten, Lieferungen irgend welcher Art, natürlih gegen angemessene Bezahlung, Be Gestellung von Arbeitern oder beraltidea betreffen, auszuführen aben.

Der Bezirksamtmann hat in seinem Bezirke die Gerichtsbarkeit über die farbige Bevölkerung, sowohl in bürgerlihen Nechtsstreitig- keiten wie in Strafsachen mit unbegrenzter Kompetenz. In Zivil- sachen unterliegen feine Urtheile der Berufung an den Gouverneur, wenn der Werth des Streitgegenstandes 1000 Rps. übersteigt, in

alle Urtheile, welhe auf Geldstrafe über 200 Rps. oder Gefängniß über sech8 Monate lauten, der Genehmigung des Gouverneurs. Sowohl in Siraf- wie ivilsachen ist der Bezirk8amtmann gehalten, angesehene farbige Gerichtseingesessene als Beisißer mit berathender Stimme zu- zuziehen, ohne daß er dadurh von seiner aus\{ließlihen Verant- wortlichkeit frei wird. Diese Einrichtung dient vornehmlich dazu, dem rechtsprechenden Beamten Gelegenheit zu geben, die Rehtêsgewohnheiten derjenigen Bevölkerungsklassen, welchen die Parteien oder die An- eklagten angehören, in Rüksicht zu ziehen; jedo nur insoweit, als ie nicht dem deutschen Nechtsbewußtsein das im allgemeinen mangels eines geschriebenen Nehts als Nechtsquelle dient, zuwiderlaufen.

__ Die Gerichtsbarkeit des Bezirksamtmanns erstreckt sih grund- fäglih über feinen ganzen Bezirk, thatsächlih aber beschränkt sie sich auf einige Tagereisen im Umkreise seines Amtssiyes. Bei weiteren Entfernungen muß den Jumben oder Akidas ein ziemli weiter Spiel- raum gelassen werden und in folhen Fällen, welhe über die diesen p ausdrücklich zugelassene Kompetenz hinausgehen, ist es dem

ezirklsamtmann bei der in spärlihen Grenzen gehaltenen Polizei- macht niht immer möglich, feine Ge Gewalt auf weitere Ent- fernungen auszuüben. Es ist aber erstaunlih und als ein gutes Zeichen für das Vertrauen der Eingeborenen zu der Gerechtigkeit der herrshenden Verwaltung zu betrachten, taß sie auf fünf, sechs Tagereisen weit in das Schauri des Bezirksamtmanns kommen und den Vorladungen, welche in der Regel nicht dur Polizisten, sondern durch den Kläger oder Beschädigten überbracht werden, fast ausnahmslos Folge leisten, sodaß eine gewaltsame Vorführung nur selten erforderlich wird.

: N auch die höher stehenden Klassen der farbigen Bevölkerung, wie Araber und Inder, mit dieser Art der Rechtspflege durchaus zu- frieden find, geht daraus hervor, daß in dem Berichtsjahre nicht eine Berufung an den Gouverneur gelangt ist, obwohl in jedem einzelnen dazu geeigneten Falle auf das Recht der Berufung ausdrücklih hin- gewiesen wird.

Ein im „Deutschen Kolonialblatt“ veröffentlihtes Gut- achten des Dr. Volkens faßt die Aussichten tropischer Kulturen am Kilimandjaro, wie folgt, zusammen:

_ Einer Plantagenwirthschaft, wie sie jeßt in Usambara betrieben wird und später au in Pare und dem Uguenegebirge betrieben werden fann, dürfte am Kilimandjaro kein günstiges Prognostikon zu stellen fein. Das Klima spricht dagegen, daß Kaffee, Kakao, Taback, Baum- wolle, überhaupt alle Tropenyflanzen, die neben vielem Regen auch eine reihlihere Besonnung und höhere Temperaturgrade verlangen, hier jemals hervorragend gedeihen werden. Es thut diesem Urtheil feinen Abbruch, wenn auch hier und da am Fuß des Berges zwischen 1000 und 1200 m Seehöhe einige günstige Pläße für Tropenkultur fich finden sollten. Nach der anderen Seite bietet der Kilimandjaro einen erheblihen Vortheil gegenüber den füdöstlihen Distrikten des Schutzgebietes. Nach meiner vollen Ueberzeugung is der Weiße in den Berglagen zwischen 1200 bis 2000 m genau so arbeitsfähig wie in der Heimath. Fieber ist kaum endemisch; alle Fälle, die mir bekannt geworden, ließen sih auf eine in der Ebene erfolgte An- steckung zurückführen. Demnach also: für Usambara Plantagenbetrieb, für den Kilimandjaro Besiedelung in ähnlichem Sinne, wie sie in Südwest-Afrika in Angriff genommen worden ist, d. h. Besiedelung, vor allem mit Verzichtleistung auf eingeborene Arbeitskräfte.

Defierreich-Ungarn.

Der Kaiser hat Mentone gestern Nachmittag wieder ver- lassen. Wie „W. T. B.“ berichtet, bereitete die Menge Aller- höchstdemselben bei der Abreise eine sympathische Ovation.

Das österreichische Abgeordnetenhaus hat in seiner gestrigen Sißung das Budgetprovisorium angenommen. An der Debatte betheiligten sich nur Gegner der Vorlage, nämlih die Jungczehen Eym, Sokol und Vasaty sowie der Dalmatiner Bianchini, die lebhaft gegen die Koalition der Parteien polemisierten. Bianchini erhielt einen Ordnungsruf, ebenso der Jungczehe Breznowsky wegen beleidigender Zwischenrufe. Der ruthenische Abgeordnete Wachnianin erklärte sih gegen das Vorgehen der Jungcezechen; die Nuthenen würden auch ohne eine slavische Koalition den richtigen Weg finden, um die Entwickelung des ruthenischen Volkes zu erreichen. Der galizishe Abgeordnete Romanczek bemerkte hierauf, Wachnianin habe nicht die Ansicht der Majorität des ruthenischen Klubs ausgedrückt.

Großbritannien und Jrland.

Nach der Niederlage, welche die Regierung am Dienstag im Unterhause durch die Annahme des Amendements Labouchere erlitten, hätten, wie die „Daily News“ melden, einige Minister die Absicht kundgegeben, zurückzutreten; sie hätten davon nur Abstand genommen, nachdem man sich dahin ver- ständigt habe, daß bei der Wiederholung ähnliher Umstände die Regierung entweder zurücktreten oder das Par- [ament au IDTeN werde.

Das Unterhaus bewilligte gestern, wie „W. T. B.“ berichtet, mit 198 gegen 9 Stimmen den Nachtragskredit für die Mission nah Uganda. Jm Laufe der Debatte erklärte der Unter-Staatssekretär des Auswärtigen Sir E. Grey, die Regierung werde nach Ostern ihre Entschließung bezüglich Ugandas mittheilen; sie wünsche keinen Verzug darin herbeizu- führen, wünsche vielmehr cine Diskussion darüber, die hoffentlich die pen Ugandas auf lange Jahre, vielleicht für immer, regeln werde. Im weiteren Verlaufe der Sitzung erklärte der Unter-Staatssekretär des Kolonialamts Buxton, hin- sihtlih des Matabele-Landes sei beabsichtigt, die Ver- waltung unter drei Administratoren zu stellen, welche die Süd-afrikanishe Gesellschaft mit Zustimmung Englands er- nennen solle.

Der Erste Lord der Admiralität Lord Spencer schlägt vor, den Marine-Etat für 1894/95 um 3126000 Pfund Sterl., d. h. auf 17 366000 Pfund Sterl. zu erhöhen. Das Personal der Flotte soll um 6700 Mann vermehrt und mit dem Bau von sieben Schlachtschiffen 1. Klasse, sechs Kreuzern IT. Klasse und zwei Korvetten begonnen werden.

Der deutsche Botschafter Graf Haßfeldt leidet an einem heftigen Anfall von Bronchitis.

Frankreich. Der Herzog von Cambridge stattete, wie „W. T. B.“ berichtet, gestern Nachmittag dem Präsidenten Carnot einen Besuch ab, den dieser bald darauf erwiderte. Später wohnte der Herzog der Sißung der Deputirtenkammer bei.

Jn dem gestern A Ministerrath gab der Unter - Staatssekretär für die Kolonien Lebon seine Ent- lassung, weil er seine Autorität für ungenügend und unter den gegenwärtigen Umständen die Errichtung eines eigenen Kolonial-Ministeriums für nothwendig hält. Lebon wird in- dessen die Geschäfte provisorish weiterführen.

Im Senat brachte gestern der Senator Fabre eine Vorlage ein, wonach der 8. Mai zum Nationalfeiertag zu Ehren der Sietalenn von Orleans erklärt werden soll. Die Deputirtenkammer bewilligte gestern den verlangten Kredit von einer Million für die Verstärkung der Garnisonen

Strafsachen ist eine eigentlihe Berufung nicht zulässig, doch bedürfen

in Diego Suarez (Madagascar) und auf der Jnsel

Réunion und nahm dann die Debatte über die Verfas ungs- revision wieder auf. Der Deputirte Naquet esprach in längerer Rede die verschiedenen Vorschläge und befürwortete das System einer Le Kammer, eines außerhalb dez Parlaments gewählten Kabinets und der Verantwortlichkeit des Präsidenten der Nepublik. Der Minister-Präsident Casimir Périer betonte die zwishen den Anhängern der Verfassungs- revision bestehende Uneinigkeit. Das Land erwarte keineswegs eine Verfassungsänderung, sondern E andere, dringendere Reformen. Der Augenblick sei für eine Abänderung der Ver- fassung wenig geeignet.

Ueber ein neues Bomben-Attentat in Paris meldet „W. T. B.“: An der Thür des Haupteingangs zur Made- leine-Kirche explodierte gestern Nachmittag um 1/23 Uhr eine Bombe, wobei der Urheber des Attentats getödtet wurde. Die Explosion fand in dem von dem äußeren Hauptthor und der mehrflügeligen FJnaenthür gebildeten Raume stati; die Metallplatte des Opferstoks wurde abge- rissen, außerdem wurden einige Scheiben zertrümmert. Die Person, welche die Bombe trug, muß an einen Thür- pfeiler angestoßen sein, wodurch jedenfalls die Explosion hervorgerufen wurde. Andere Personen wurden durch die Explosion nicht verleßt, auch der sonst angerichtete Schaden ist unbedeutend. Die Panik unter den in der Kirhe An- wesenden es waren dies meistens Frauen war groß, alle suchten zu fliehen, jedoch waren die Ausgänge bereits abgesperrt. Zahlreiche Deputirte kamen aus dem Palais Bourbon, wo die starke Detonation vernommen wor- den war, nah der Madeleine herbeigeeilt. Der Leichnam des Urhebers der Explosion i} infolge der er- littenen AÉES A A fast unkenntlih. Eine bei der Leiche vorgefundene Brieftasche enthielt zahlreihe Papiere und eine Photographie Ravachol’s. Die Polizei hat als den Thäter den ausgewiesenen vierzig Jahre alten, aus Belgien ge- bürtigen Anarchisten Pauwels konstatiert, der, wie die über die Explosion verbreiteten Extrablätter mittheilen, ein intimer Freund von Paul Reclus gewesen is. Drei nach der Explosion verhaftete Judividuen sind ein Kammer- diener Roquet, ein Gärtner Sagnet und ein Straßen- verkäufer Maurel. Leßterer kam ‘mit einer tiefen Schenkel: wunde in eine Apotheke und gab an, er habe sih bei dem Uebersteigen des Gitters an der Madeleine - Kirche verletzt. Bei dem Verhör verwickelte er sich in Widersprüche. Alle drei wurden später aber wieder freigelassen. Eine in St. Denis in der g der Frau des getödteten Anarchisten Pauwels vorgenommene Haussuchung führte zur Beschlagnahme . von zahlreichen Papieren. Die Di scheint überzeugt zu sein, daß Paumwels und der falshe Rabardy ein und dieselbe Persönlichkeit seien, jedoch haben die Recherhen nah dieser Richtung noch kein Resultat ergeben. Das Absteigequartier des Pauwels in Paris hat die Polizei bisher noch nicht ermittelt. Man glaubt, daß Pauwels der Komplice Henry's bei dem Attentat im Terminus-Hotel war.

Die heutigen Blätter kritisieren scharf die durh das gestrige Attentat bewiesene Ohnmacht der Polizei und die Unzulänglichkeit der getroffenen Maßregeln. Der „Figaro“ meint, die Volksstimmung werde die Regierung früher oder später zwingen, für anarchistishe Verbrehen ein Kriegsgericht einzuführen.

Gestern früh wurden in Paris vier Anarchisten ver- haftet.

Auf dem Bahnhof in Marseille ist ein Jndividuum verhaftet worden, in dessen Handtasche sich mehrere Spreng- maschinen vorfanden.

Ftalien.

Der König empfing gestern den zum serbishen Minister- Präsidenten ernannten bisherigen serbischen Gesandten S imic, der sein Tbran arben Überreichte. Der König wünschte, wie „W. T. B.“ meldet, Simic Erfolg in seiner neuen Stellung und sprach die besten Wünsche für den König von Serbien aus. Später fand bei dem Minister des Auswärtigen ein diplomatisches Diner zu Ehren Simic's statt. Leßterer suchte auch eine Audienz bei dem Papst nach, die er unverweilt erhalten wird. Die Gerüchte, Simic wolle über das Konkordat unterhandeln, werden als unzutreffend bezeichnet, da die die serbischen Katho- liken betreffenden Fragen auf freundschaftlichem Wege gelöst worden seien, und der Vatikan das größte Entgegenkommen zeige, was vielleicht die Ernennung eines katholischen Bischofs für Serbien herbeiführen werde.

Dem „Popolo Nomano“ zufolge sind die auswärts ver- breiteten Nachrichten über einen zwischen dem Ministerium und der Finanzkommission entstandenen Zwiespalt, der darauf zurückzuführen wäre, daß die Kommission die Rentensteuer auf 30 Prozent erhöhen wolle, durhaus unbe- gründet. Wenn überhaupt ein Zwiespalt vorhanden sei, so bestehe cr darin, daß die Kommission geneigt sei, die im Aus- lande placierte Rente von der Erhöhung der Steuer auszu- \hließen.

Während der Abwesenheit des auf Urlaub befindlichen italienischen Gesandten in Teheran wird der dortige deutsche Gesandte Graf von Wallwiß die Jnteressen der Jtaliener in Persien wahrnehmen.

Spanien.

Der Ministerrath hat in seiner am Mittwoh abge- haltenen Sißung eine Erklärung abgefaßt, worin dem „W. T. B.“ zufolge gesagt wird, daß das neue Kabinet die Politik des früheren fortseßen werde und sich die Herstellung des Gleichgewichts im Staatshaushalt als Grundlage für den nationalen Kredit zum Ziel seße. Besondere Gesehe gegen dic Störer der sozialen Ordnung würden den auf den 4. April einzuberufenden Kortes vorgelegt werden. Das Kabinet werde die Annahme des früheren Butgets mit geringen Abänderungen beantragen.

Der Ministerrath beauftragte Sagasta, einen Bürger- meister von Madrid zu bezeihnen. Mehrere Persönlich- keiten haben bereits den Antrag wegen der in der Stadt- verwaltung herrschenden Unordnung abgelehnt.

Portugal.

Der Minister des Auswärtigen hat, wie „W. T. V. meldet, seine Entlassung genommen.

Schweden und Norwegen.

Die Geschäftsordnungskommission des Storthings ha! eine Denkschrift vorgelegt, worin dem „W. T. B.“ zufolge dargelegt wird, daß das Storthing niht vor Ende Juni s{chlo}sen werden könne. :

u

Dänemark.

Das Folkething hat, wie „W. T. B.“ meldet, den antrag der Partei der Linken angenommen, wonach der Staat aus dem Vebershuß des Budgets für 1894/95 die älfte der amtskommunalen Steuern bezahlen solle, um den F dwirthschaftlichen Steuerzahlern die Steuerlast zu erleichtern. Der bezüglihe Betrag dürfte sich voraussihtlich auf 91/2 Millionen Kronen belaufen. Die Rechte stimmte getheilt.

Rumänien.

Jn der gestrigen Sizung der Deputirtenkammer wurde die Berathung des Handelsvertrags mit Oester- reih-Ungarn fortgeseßt. Der Minister des Auswärtigen Lahovari hob dabei, wie „W. T. B.“ berichtet, wieder- holt die Vortheile des Vertrags hervor. Die Kammer beschloß mit 62 gegen 21 Stimmen, auf die Spezialdebatte einzugehen.

Serbien.

Das Amtsblatt bespricht die Antwort des österreichischen Minister-Präsidenten Fürsten Windischgräß auf die Jnter- ellation des Abg. Bianchini und betont, die maßgebenden serbischen Kreise ständen den in Umlauf geseßten Mobilisierungs- erühten vollständig fern und wären durch die erwähnten Berüchte ebenso überrascht und unangenchm berührt worden, wie die übrige politische Welt.

Bulgarien.

Nach einem Communiqué über das Befinden der Prinzessin Maria Louise ist seitens der Aerzte eine Lberanshwellung infolge des Fiebers und eine lokale Ent- zündung fonstatiert worden. Es sei gegründete Hoffnung auf deren Verschwinden ohne Eingriff von außen vorhanden. Im übrigen fei der Zustand der Prinzessin befriedigend, die Nahrungsaufnahme genügend. Nach Ansicht der Aerzte werde die Prinzessin den Verlauf der Krankheit gut überstehen.

Der Prinz Ferdinand von Sachsen-Coburg hat den Metropoliten Klement begnadigt.

Amerika.

Wie „W. T. B.“ aus Washington berichtet, hat der Senat in seiner gestrigen Sißung mit 44 gegen 31 Stimmen die Vorlage bezüglich der monatlichen Ausprägung von zwei Millionen Dollars aus dem im Staatsschaß be- findlichen, von der Prägegebühr herrührenden Silber genehmigt.

In Buenos Aires eingetroffenen Nachrichten aus Sao

| Paolo zufolge hätten sih die brasilianishen Aufständischen

unter General Saraiva der Festung Jtararé bemächtigt, die mit 3000 Mann fkapituliert habe. Wie die Lissaboner

| Blätter melden, befände sich der Admiral da Gama mit

500 Mann an Bord der portugiesischen Korvette „Mindello“. Man glaube, daß er mit seinen Leuten nah Portugal kommen

werde. Asien. Die Handelskammer von Bombay hat, wie das

„Reuter he Bureau“ meldet, in einer am 13. d. M. abge-

haltenen Versammlung eine Resolution angenommen, worin gegen die zollfreie Einführung von Baumwollwaaren nach der neuen Tarifbill protestiert wird.

Afrika.

Nach einer Meldung des „Reuter'shen Bureaus“ aus Kairo genehmigte die gestern unter dem Vorsiß des Khedive abgehaltene Minister - Konferenz die Konversion der unifizierten Schuld auf Grund ähnliher Bedingungen wie bei den früheren egyptishen Konversionen. Das bezügliche Dekret sollte noch gestern Abend den Vertretern der Groß- mächte vorgelegt werden.

Ein bei der Regierung des Congo-Staats eingelangtes Telegramm theilt der „Köln. Ztg.“ zufolge mit, daß nah dem Rückzug der Truppen des arabischen Häuptlings Rumaliza der Hauptmann Dhanis, der im Westen des Congo-Staats die Truppen befehligt, den Feind nah Osten hin verfolgt

N habe. Bis jeßt habe ein einziger bedeutender Zusammenstoß,

nâmlih am 17. November, stattgefunden ; dabei sei Sefu, der Sohn Tippu Dip's, getödtet worden. Seitdem sei kein ernsteres Zusammentreffen erfolgt. Dhanis A den Feind weiter;

| Numaliza habe sih einige Tagereisen westlih von Luama ver-

anzt.

Parlamentarische Nachrichten.

„Die Schlußberichte über die gestrigen Sißungen des Reichstags und des Herrenhauses befinden sih in der Ersten, der Bericht über die gestrige Sizung des Hauses der Abgeordneten in der Zweiten Beilage.

Der heutigen 73. Sißung des Reichstags wohnten der Reichskanzler Graf von Caprivi, und die Staats- sekretäre Dr. von Boetticher, Freiherr von Marschall und Dr. Graf von Posadowsky bei. :

Auf der Tagesordnung stand die dritte Berathung des Handels- und Schiffahrtsvertrags zwischen dem Reich und Rußland. Jn der Generaldebatte nahm zu- nächst das Wort der L Abg. Freiherr Heyl zu Herrnsheim (nl.): Die prinzipiellen egner einer jeden Herabminderung der Kornzölle konnten gegen den tumanishen und russishen Handelsvertrag selbst dann noch stimmen, nachdem der österreichishe Vertrag angenommen war. Die Minderheit meiner Fraktion leiteten nur politishe Motive; die Gründe, die die

egterung vorgebracht hat, sind für uns nicht überzeugend. Die bezüglich po drei letzten rntejahre angeführten Zahlen find niht maßgebend für die olfôwirthschaftlihe Beurtheilung des Vertrags. Für mich beweisen die übe, leßten Jahre nur die Unentbehrlihkeit des Roggens und die R ene Spekulation bei niedrigen Preisen. Wenn au in den nod hen Häfen nur geringe Mengen Getreide liegen, so beweist das j O, daß nicht im Jnnern des Reichs große Mengen lagern. 5 e f andwirthschaftlihen Enquêten, die in den 8er Jahren die n allen deutshen Staaten vorgenommen sind, haben Fra uebi vorhandene Agrarkrisis vorausgesagt. Jeßt, wo die nireih vorwärts geht, gehen wir rückwärts. Welche Maßnahmen S ep tigen sind, wird die Zukunft erweisen. In der differentiellen gefunt ung Rußlands kann eine politische Spiße gegen Rnßland nicht eutschen werden. Wer der Heidelberger Vereinigung, welche die süd- i dh Nationalliberalen mit den agrarischen Jnteressen des Nordens Gegenfike e L angehört, brauchte sich dem Bund der Landwirthe nur da ? garnicht erst zu binden. Eine exportierende Industrie kann blühende, ein Segen für unser Vaterland sein, wenn fie neben einer N reffen Landwirthschaft besteht. Wir betrahten die agrarischen reits s als so tief ernste, daß wir unsere Sorge mehr auf die orhandenen Schäden, als auf die in Aussicht stehenden Vor-

theile glaube x ; Vertrag Gm Men zu müssen. Daher werden wir gegen den

S

Abg. Dr. Freiherr von Heereman e a2 bält, obwohl er aus dem Westen komme, sch dennoch für verpflichtet, auch die Interessen des Osten zu wahren, soweit er sie erkennen könne. Der Vertrag mit Rußland werde für den Westen keine Schädigung bringen, da die Staffeltarife für Getreide beseitigt werden follen. Für den Osten habe die Aufrechterhaltung eines Differentialzolles keinen Vor- theil gehabt; das beweise die Zeit, während welcher der Kampfzoll in Geltung war. Die verbündeten Regierungen haben aus den Verhandlungen ersehen, daß die Mehrheit den Handelsvertrag mit Nußland nur mit shwerem Herzen bewilligt. Um fo mehr hätten fie Veranlassung, namentlich die preußische Regierung, \ih zu fragen, warum seit Jahren versäumt worden is, für die Landwirthschaft etwas zu thun. Alle Sicherung hat man der Landwirthschaft weg- genommen, die Sicherung des Grundbesißes überhaupt, die Sicherung gegen Subhastationen u. \. w., und wenn man eine Organisation der Landwirthschaft wieder schaffen will, so kann das doch immer nur fehr langsam geshaffen werden. Wenn die Landwirthschaft Opfer bringt für das Allgemeinwohl, dann muß sie gefördert werden auf allen Ge- bieten, namentlih in Bezug auf das Kreditwesen, in Bezug auf die Erbfolge u. st. w. Eine unbegrenzte Erhöhung ver Schutzölle ist niht mögli; es ift nur möglich, dur Handelsverträge ein gedeihliches Verhältniß herbeizuführen, wobei allerdings die Interessen der În- dustrie und der Landwirth|chaft, der konsumierenden und produzierenden Stände, gegen einander ausgeglichen werden müssen. In diesem Sinne geben wir der Vorlage unsere Zustimmung. Wir hoffen, daß die Landwirthschaft bald wieder ihren früheren Stand einnehmen wird, sonst würden wir nicht für den Vertrag stimmen.

Abg. Freiherr von Hammerstein (dkons.): Der persönliche Hochdruck hat seine Schuldigkeit für den Vertra Seifan! ne unbefangene Würdigung des Vertrags hat noch nicht stattgefunden. Der Staatssekretär Freiherr von Marschall erklärte im vorigen Monat, daß er mit Ruhe dem Tage entgegensieht, wo der russische Vertrag in Kraft treten werde. Ob er heute diesen Ausspruh noch wiederholen wird? Inzwischen haben die Bauleiter selbst eine vernihtende Kritik an dem neuen Kurse geübt. Das Ziel war: Kräftigung Unserer Bundesgenossen und Stärkung unserer Industrie, und da schließt man Rußland und Amerika in die Meistbegünstigung ein. Aber freilih, wir be- finden uns in einer Zwangélage, wir müssen die Folgen unserer Fehler tragen. Man hat nicht beweisen können, daß die deutsche Landwirth- \chafi nicht a h wird durch die russische Konkurrenz. Alle trockenen Zahlen halten niht stand gegenüber den praktishen Ver- hältnissen. Nach ftatistishen Tabellen spielen si die Verbältnisse in Nußland niht ab. Unter Zuhilfenahme des \{chwankenden Nubel- kurses wird man den russishen Getreideexport steigern. Man hat ich ja. auch nach Kompensationen umgesehen! Was if daraus geworden ? Den Identitätsnahweis hebt man auf, aber die gemischten Transit- lager behält man bei, und die Staffeltarife hebt man auf. Der Handelsvertrag mit Rußland soll nah dem Staatssekretär Freiherrn von Marschall ein Merkstein sein; aber das Fundament dieses Ge- bâudes ift von den Erbauern felbst erschüttert, und wir wollen die Verantwortung niht auf uns nehmen, daran mitzuwirken. Man sagt allerdings, unsere Opposition sei nur deshalb vorhanden, weil die Mehrheit gesichert wäre. Machen Sie (links) doch die EE darauf, kommandieren Sie die entsprehende Anzahl ab, odaß ohne uns die Mehrheit nicht mehr geschaffen werden könnte; Sie werden erleben, daß wir den Vertrag ablehnen. Der Neichskanzler hat gemeint, der Panslavismus würde dur die Ab- lehnung des Vertrags gestärkt werden. Aber für das Linsengericht dieses Vertrags wird sih Nußland seine politische Stellung nicht abkaufen lassen. Die russische Politik geht ihren ruhigen Gang. In den baltischen Provinzen wird ein Druck fondergleihen geübt ohne jede Rücksicht auf das Deutsche Reich. Auch die katholiche Kirche wird drangsaliert. Das Zentrum gedenkt allerdings wohl feurige Kohlen zu sammeln; aber der Schädel eines rich- tigen russishen Tschinowniks is zu dick, er fühlt das Feuer nicht. Die besten Landwirthe in Rußland waren bisher die der deutschen Kolonien. Jeßt werden die Russen wohl auf den Gedanken kommen, daß sie sih an ihre Stelle seßen können. Die Hauptsache für uns ist, daß der Draht nach Rußland nicht zerrissen wird; denn ob die Nussen nah Konstantinopel gehen, kann uns gleich- gültig sein. Die politishen Beziehungen kann der russishe Kaiser, wenn er den Willen dazu hat, aufrecht erhalten; aber die loyale Durchführung des Handelsvertrags kann der Kaiser niht dur{seten ; er hat nicht die Macht, den geschlossenen Ning des Tschinownikthums zu brehen. Der Reichskanzler wird niht im stande sein, mit der Handelsvertragsmehrheit die Politik des Neichs weiter zu führen. Wir werden unsere Politik weiter verfolgen. Die Solidarität der Industrie und der Landwirthschaft ist ‘geloËert worden, und zwar durh Schuld der Industrie. Sie hat keinen Vortheil von dem russischen Handels- vertrag und stimmt für denselben nur aus politishen Gründen. Wann hat die Landwirthschaft jemals der Industrie ihre Hilfe versagt ? Dauernd kann die Solidarität allerdings niht unterbrochen werden. In der Industrie wird sich die Erkenntniß, die der Abg. Freiherr von Stumm über den österreihhishen Handelsvertrag jeßt bereits ge- wonnen hat, bald geltend machen. Lassen Sie fich nicht täuschen durch den Zustimmungsrummel; mir haben Industrielle aus dem Westen gesagt: die Industrie ist keineswegs begeistert für den Handelsvertrag, aber die Leute haben niht den Muth, den Inter- essen des Handels und der Börse entgegenzutreten, fie fürhten auh chikaniert zu werden durch Nichtertheilung von Aufträgen u. f. w. Cin Markstein wird der Handelsvertrag allerdings sein, aber eia Leichenstein; auf der einen Seite wird stehen: „Hier wurde die deutsche Landwirthschaft zu Grabe getragen“; die andere Seite wird eine Zeit lang leer bleiben und dann die Inschrift erhalten: „Die deutshe Industrie folgte ihr na!“ Wenn erst die russishe Industrie gestärkt sein wird, dann wird die deutsche Industrie sih vergeblich nah einem inneren Markt um- sehen. Die Landwirthschaft nicht nur, sondern auch die Kleinindustrie und das Handwerk in den kleinen Städten vertraut uns, daß wir sie vor jeder Benachtheiligung s{chüßen. Wenn wir “diefes Vertrauen täuschen, dann würden die Elemente, in denen das monarchishe Gefühl noch lebt, von uns abfallen und sich auf die radikale Seite schlagen. Das wollen wir nicht verantworten.

Abg. Fürst Radziwill (Pole): Der Abg. von Staudy hat in der Rede des Herrn von Koscielski über den russischen Handelsvertrag einen Angriff gegen die konservative Partei erblickt, aber eine Erwide- rung abgelehnt, weil jener Herr niht mehr Mitglied des Hauses sei. Umsomehr fühlen wir uns verpflichtet, uns mit den Aeußerungen unseres früheren Mitgliedes für solidarisch zu erklären, als seine Mandatsnieder- legung wasich ad usumder Mitglieder dieses Hauses und der Presse, auch der auswärtigen, berühren möchte unnöthig vtel Staub auf- gewirbelt hat. Wir bedauern, daß wir diesen Herrn niht mehr unter uns haben, aber die sanguinishen Konsequenzen, welche Freunde und Feinde an diese Mandatsniederlegung geknüpft haben, werden durch die weitere Entwickelung nicht gerechtfertigt „werden. Unserm frühern Mitglied wie uns liegt es gleihmäßig sehr fern, einen Streit mit der konservativen Partei provozieren zu wollen. Wenn Sie aber die Haltung der konfervativen Partei gegenüber den heißen und sehnlihen Wünschen der polnishen Bevölkerung in Preußen auf Erhaltung ihrer Muttersprache in Betracht ziehen, dann werden Sie es erklärlih finden, daß unser früheres Mitglied darüber einen gewissen Unmuth geäußert hat. Heute, wo aus der Jnitiative Seiner Majestät des Kaisers und Seiner Räthe eine Wendung zur Besserung, der wir mit vollem Herzen zustimmen, erfolgt ist, scheint es die fonservative Partei auf ihre Fahne geschrieben zu haben, daß alle diese Bestrebungen im Keim erstickt werden müssen. Jch möchte Sie (rechts) bitten, gerade zur Beför- derung eines Einverständnisses mit Jhnen, doch recht zu erwägen, ob die geistige Verwüstung, welche eine \ystematishe Unterdrückung der polnischen Sprache in Schule und Kirche zur Folge gehabt, den Abg. von Staudy berechtigt hat, uns hier das Bild einer wirthschaftlichen Wüste vorzuführen für den Fall, daß der russische Handelsvertrag an- genommen wird.

Abg. von Kardorff (Rp.): Ih sehe mit shweren, großen Sorgen in die Zukunft, auch in Bezug auf die Politik, welche die preußishe Regierung den Polen gegenüber eingeshlagen hat. ( pit; por Die Versöhnung ist oft versucht, aber immer fehl- geshlagen. Db die Versöhnung jeßt fo vorsichtig gefuht wird, daß die deutschen Interessen niht geschädigt werden, lasse ih dahin ge- stellt. Die Haltung der Sozialdemokratie bei der Denkmals- frage rechtfertigt es, I wir auch nach dieser Seite hin mit {weren Bedenken in die Zukunft sehen müssen. Niemals is mit diesem Nachdruck betont worden, daß sie eine antimonarhishe, eine republikanische Partei ist. Niemals if das so ofen ausgesprochen worden wie jeßt. Auch in der Kolonialpolitik haben wir das Gefühl, daß niht mehr der frische, fröhlihe Zug vorhanden ift, der früher in diesen idealen Bestrebungen herrshend war. Und endli, als Fürst Bismarck aus dem Amte schied, war Deutschland die leitende Macht in Europa. Ist das heute noch so? (Zuruf des Abg. Nickert : Es i nicht anders wie früher! Man macht sein Vater- land nit {lecht.) Die internationale Negelung der Währungsfrage wäre ein Weg gewesen, um der Landwirthschaft zu helfen, und in dem Augenblick, in welchem die Regierung diesen Weg einschlagen zu wollen sheint, da wird eine Maßregel ergriffen, die im Widerspruch mit einer internationalen Regelung der Währungsfrage steht. Sie können sich deshalb niht wundern, wenn wir in unserem ablehnenden Votum beharren! i:

__ Abg. Thomsfen (fr. Vg.): Auch in meiner Heimath Shles- wig-Holstein besteht ein unbedingt freies Verfügungsrecht über den Grund und Boden, aber wir haben seit 1559 denselben seßhaften Bauernstand. Dahin sollten die Herren im Osten au streben, eine kräftige, unabhängige, intelligente Bauernbevölkerung zu shaffen. Die Schaffung stabiler wirthsGaftlicher Zustände, ein reger Güter- austaush zwishen den Kulturvölkern wird zur Gesundung des Bauernstandes mehr beitragen, als wirthschaftlihe Kriegs- zustände. Durch den Jdentitätsnahweis wird meine Heimath vollständig entschädigt für die Ermäßigung des Zolls an der russischen Grenze. Auch der Osten wird dadurch Jute, der Verdienst überall steigen. Schon aus materiellen Gründen stimmen wir für den Ver- trag. Der Großgrundbefiß giebt sich hier immer für den Vertreter der Interessen des kleinen Bauernstands aus. Aber den 5 Millionen kleiner Besißer stehen 2500 Großgrundbesißer gegenüber, welche Millionen von Hektaren besißen. Darin besteht die tiefe Kluft zwischen beiden: der Bauernstand ist {hon dur seine ungeheure Population an die Scholle gebuuden. Wes- halb bestehen die Patronate noch, weshalb die Lasten der Armen- pflege? Wohin man durch eine falsche Agrarpolitik gelangt, zeigt Mecklenburg. Wir stimmen der Vorlage zu in der Vorausseßung, daß die Regierung den jeßt bestehenden Zollshuß für die Landwirth- schaft aufrecht erhält, fo lange die Industriezölle niht ermäßigt werden, wir stimmen der Borlage zu aus einer ausgeprägten Ge- rechtigkeitsliebe, nah dem Grundfaßz: Leben und leben lassen, wir stimmen ihr zu aus allgemeinen patriotishen Gesichtspunkten, im Interesse einer friedlihen Gestaltung der europäishen Verhältnisse.

__ Abg. Liebermann von Sonnenberg (b. k. F.): Es kommt hier niht auf Schußzoll oder Freizandel an, sondern darauf, ob der Zeitpunkt für die Handelsvertragspolitik richtig gewählt war. In dem Augenblick, wo die Regierung die Heeresreform durchführen wollte, wo große Mehrausgaben bevorstanden, da war es nicht richtig, eine Vertragépolitik durhzuführen, welche Einnahmeausfälle herbeiführt. Ist eine Regierungspolitik weise, welche das Geld weggiebt, wo sie dasselbe braucht, die Unzufriedenheit {afft in der Landwirthschaft, dieser festen Säule der Monarchie, die vertraut der Industrie, der shwächsten Stüße der Staaten? Der Maugel an Folgerichtigkeit zeigt sich- in dem

Verhalten gegenüber dem Bunde der Landwirthe, dem die Regierung Agitation vorwirft, während sie in der N für den E vertrag diesen Bund der Landwirthe weit übertroffen hat. it dem Fortbestehen der Landwirthschaft ist das Fortbestehen des Staats verknüpft. Die Natur hat uns keine \turmfreien Festungsgräben gegeben wie England. Wir brauchen Bauernheere zur Vertheidigung. Gebe Gott, daß diese Quadern unferer Wälle nit zerbröckelt werden! Der Reichskanzler hat selbft der Landwirthschaft nachgerühmt, daß sie Charaftere schaffe. Der Umgang mit der bäuerlihen Bevölkerung afft auch Charaktere und schafffft auch die praktische Kenntniß des landwirthschaftlihen Lebens. Unsere Regierungsbeamten aber haben alles gelesen, aber nichts erlebt. Die Sozialdemokratie hat ihre Negation aufgegeben; sie hat fogar ihre herzliche Abneigung gegen Nußland aufgegeben; sie hat dem Reichskanzler Lob- sprüche gespendet. Wir haben den Eindruck, daß die Sozial- demokraten glauben, mit einem unzufriedenen Bauernstande eher fertig werden zu können. Jn einer Versammlung in Kottbus hat ein Sozialdemokrat es offen ausgesprochen, die sozialdemokratischen Führer hielten den Reichskanzler Grafen Caprivi ganz für den Mann, wie sie ihn brauchen könnten. Die Junker haben Rüdckgrat gezeigt, das ist gut für die Junker und für die Regierung; denn wenn es ihnen an Rückgrat fehlte, würden fie eine N Stütze für die Negierung sein. Der „Vorwärts" meint, die Blüthe der Industrie infolge des Vertrags würde von kurzer Dauer sein, aber die Arbeiter würden nah dem Westen streben; im Osten würde das slavische Element zunehmen und dieses müsse dann durch die Agitation der Sozialdemokratie bearbeitet werden. Eine schwere Krisis werde dann folgen. Das sind die Hoffnungen der Sozialdemokratie. Auch die Partei des Abg. Richter hofft, daß den Junkern das NRück- grat gebrohen werden möge; das ist aber mißlungen. Bei dem ha. Ridkert und feinen Freunden herrschen wohl andere Gründe vor; aus seiner Rede klang nur ein unendliches Wohlwollen hervor. Bei dem Hochdruck, den der Handel ausübte, find au die Indvstrie- kreise für den Vertrag gewonnen. Die Nationalliberalen haben mit der Auflösung gedroht; freilich bei ihrer Spaltung haben fie keine Freude an den Wahlen. Das Zentrum hat sih als durchaus judenfreundlih hinstellen wollen. Ich freue mich darüber, denn wir kennen die Verhältnisse in den Zentrumswahlkreisen. Aus Rußland habe ich eine Depesche bekommen, wonah die im Gouvernement As lebenden Deutschen, Ingenieure u. f. w. chikaniert werden.

ie Leute sollen jeßt nur in Dienst genommen werden, wenn sie gründliche Kenntniß der russishen Sprache haben ; den bereits im Dienst befindlihen wurde eine kurze Frist gewährt; wer nah Ablauf der Frist das Examen nit besteht, wird aus- gewiesen. Den Franzosen find dagegen fünf Jahre Frist ge- währt! Nach dem Vertrage werden bestehende Verordnungen und Gesetze nicht berührt; man kann also dagegen nichts machen. Wird die Regierung Repressalien ergreifen? Wenn die Kenntniß der deutshen Sprache verlangt würde, dann würde die Einwanderung russisher Juden wohl nicht gefährlich werden. (Zuruf: Die sprechen nur deuts!) Aber das Deutsh würde die Prüfung wohl kaum be- stehen. Rußland ift die Vormacht Europas geworden; das müssen wir uns 2% Jahre nach dem großen Kriege, welcher Deutschland einigte, sagen lassen! Ueberall im Lande wächst der b dane Mg und die Unzufriedenheit. Das weiß jeder, nur die Regierung nicht. Was will man thun, um der Landwirthschaft die Möglichkeit zu ge- währen, die Krisis zu überstehen? Die Währungésfrage wäre dazu zu rechnen; in den Motiven zu dem Geseß über die Landwirthschafts- kammern sind grundlegende Reformen angekündigt. Aber wird die Landwirthschaft nicht bis zur Durchführung derselben schon verblutet sein? Alles wird ver e wenn wir nicht zurückfehren zu den Grundsätzen des deutschen Rechts. Man wird von diesen Handels- verträgen sagen können, daß sie ein inneres Jena bedeuten (lebhafter Widerspruch) ; hoffentlich kommt aber auch der innere Scharnhorst, der - die Organisation \{ha}t, um eine neue Entwickelung herbeizuführen.

Abg. Dr. Lieber (Zentr.): Der Vorredner hat das Zentrum zu Unrecht angegriffen. Wir wollen die guten Seiten des russischen Handelsvertrags nicht vershweigen. Der Abg. Dr. Bachem is nur der Judenhete entgegengetreten, die hier getrieben wurde. Der Abg. von Liebermann hat auf die Qu der Deutschen in Rußland hingewiesen. Der Kamp er Russen oe das Deutshthum und die g ls irhe hat erst seit dem Beginn des Kulturkampfes seinen \{harfen Charakter angenommen.

Die Urheber der Polengeseze wollen uns diese Dinge zu Ge