1894 / 65 p. 4 (Deutscher Reichsanzeiger, Fri, 16 Mar 1894 18:00:01 GMT) scan diff

C G R E E E

sein Leben läßt. Auch den Verkehrsbeamten, den Exrekutivbeamten, den Arbeitern in den s\taatlichen Bergwerken, welche in ihrem Beruf verunglücken, wird bezüglich ihrer Hinterbliebenen dasselbe Mitleid und dieselbe Theilnahme gewährt werden müssen. Jch glaube, es folgt daraus, daß, wenn es sich um die Frage der Versorgung von Hinterbliebenen handelt, zunächst die allgemeinen geseßlichen Be- ftimmungen Anwendung finden müssen, und demnächst zu prüfen ift, ob im einzelnen Falle die .auf Grund der bestehenden geseßlichen Be- stimmungen zu gewährenden Kompetenzen ausreichen, um den an- gemessenen Lebensunterhalt der Hinterbliebenen zu fichern, oder ob diese Frage verneint werden muß. Wird die leßte Frage bei Prüfung des einzelnen Falles verneint, so wird ausgleihende Gerechtigkeit durch die Jnanspruhnahme der vorhandenen Dispositionsfonds geübt werden müssen.

Das Reichs-Marineamt hat eine vorläufige Zusammenstellung gemacht, wie viele Hinterbliebene zu versorgen find infolge der Schiffs- unfälle, die sich bei Samoa auf dem „Baden“ und auf der „Branden- burg“ zugetragen haben. Ich bemerke indeß, daß diese Feststellungen nur telegraphisch gemacht werden konnten, deshalb noch nicht definitiv abgeschlossen find und noch der Ergänzung bedürfen werden. Nach diefen vorläufigen Feststellungen find Hinterbliebenen von den Männern, die in Erfüllung ihrer Pflicht bei den fraglichen Schiffs- unglücken ums Leben gekommen sind, 23 Wittwen, 57 Waisen,

66 Ascendenten und 2 sonstige Angehörige, im ganzen 148 Personen.

Es würde den Hinterbliebenen eine geseßliche Versorgung im Gesammt- betrage von 23 924 M zustehen. Das Diensteinkommen, bezüglich der Verdienst der Verunglückten betrug nah den bisherigen Feststellungen 50 218 M, die Differenz mithin zwischen dem Betrage der Versorgung der Hinterbliebenen unddem Diensteinkommen ihrer Ernährer beträgt 22097 4 Meine Herren, es ift ja klar, daß so weit nicht gegangen werden kann, daß aus den Dispositionsfonds den Hinterbliebenen die volle Differenz gewährt wird bis zur Höhe des Diensteinkommens ihrer Ernährer ; denn es würden dann mit Recht gleihe Ansprüche auch in der Zivilvérwaltung von ‘den Hinterbliebenen folcher Personen, die bei der Ausübung ihres amtlihen Berufs ums Leben gekommen sind, erhoben werden können ; das wäre finanziell sehr weittragend. Es wird aber, meine Herren, wenn jezt die Ermittelungen des einzelnen Falles vollständig abges{chlossen sind, zunächst der Unterstützungsfonds der Marine im Militärpensions-Etat in Anspruch genommen werden ; demnächst wird es auch mögli sein, Mittel aus dem Dispositions- fonds des Herrn Reichskanzlers flüssig zu machen, und wenn diefe Fonds nicht ausreichen sollten, um den Hinterbliebenen dieser un- glücklihen Opfer eine ausreihende Eristenz zu gewähren, werden Seiner Majestät dem Kaiser Vorschläge unterbreitet werden, um noch Beihilfen aus dem Allerhöchsten Dispositionsfonds zu erhalten. Sollte sih aber im Laufe dieses Jahres herausstellen, daß diese Dis- positionsfonds nicht ausreichen, um jene Mehrbelastung zu tragen, fo werden die verbündeten Regierungen in Erwägung ziehen, in dem nächsten Etat eine Verstärkung dieser Dispositionsfonds bei dem hohen Hause zu beantragen.

Der Etat der Marine wird darauf ohne weitere Debatte genehmigt. : i

Zum Etat der Reichs-Justizverwaltung haben die Sozialdemokraten folgenden Antrag eingebracht :

„In Erwägung, daß neuerdings das Urtheil des Königlich sähsishen Ober-Landesgerichts zu Dresden in der Sißung vom 18. Dezember 1893 in der Strafsache wider Wilh. Flath und Paul Otto Uhlemann wegen Verübung groben Unfugs durch Vertheilung von Stimmzetteln und Drucksachen zu Wahlzwecken das „freie und sichtbare“ Austragen „von Haus zu Haus“, fowie die Uebergabe „ohne Rücksicht auf die politishe Gesinnungsart des Einzelnen" und die „ohne Auswahl und Ansehen der Person“ erfolgte „unter- schiedslose und unaufgeforderte Vertheilung“ wiederholt zum Gegen- stand \trafrechtliher Maßnahmen gemacht worden ist, beschließt der Reichstag, ausdrücklih zu erklären, daß diese Art und Weise der Vertheilung zu Wahlzwecken in den § 43 der Neichs-Geroerbeordnung eingeschlossen is, und ersucht den Herrn Reichékanzler, bei den verbündeten Regierungen dahin zu wirken, daß die zur Durhführung dieser Auffassung geeigneten Anordnungen getroffen werden.“

Abg. Auer (Soz.) verweist auf die Entstehungsfrage des § 43 der Gewerbeordnung, welhen man durch die Anwendung des groben Unfugsparagraphen unwirksam zu machen suche. Viele Leute seien allerdings der Meinung, daß die Handhabung dieses Paragraphen seitens der Gerichte felbst ein grober Unfug sei. (Vize-Präsident Dr. Bürklin: Ich kann es nit dulden, daß die Handhabung der Gerichte als ein grober Unfug dargestellt wird. Zuruf eines Sozialdemokraten: Das is doch ein grober Unfug! Vize-Präsident Dr. Bürklin: Ich rufe den Herrn, der eben den Zwischenruf ge- macht hat, zur Ordnung !). Als besonders erschwerend. werde es be- trachtet, daß die Flugblätter am Sonntag während des Gottes- dienstes vertheilt wurden , ferner wurde auch die Art und Weise der Vertheilung als den öffentlichen Frieden |örend betrahtet. An dieser falshen, von dem obersten Gericht in Sachsen gebilligten Auslegung des Geseßes sind alle Parteien interesfiert, freilih nur theoretisch, denn prakttisch wird ja davon immer nur die Sozialdemokratie ge- troffen. Grober Unfug wird gefunden in Anzeigen, welche die That- sache feststellen, taß gewisse Wirthe ihre Säle den Sozial- demokraten verweigern. Es is eine Strafe von sech8s Tagen Ge- fängniß deswegen verhängt worden. Was darf aber auf den anti- jemitishen Flugblättern Alles stehen, ohne daß man darin groben Unfug erblickt! Redner verliest einige Stellen aus solchen Blättern, welche ungestraft vertheilt worden sind. Der Inhalt der Broschüre, welche jeßt das Geriht beschäftigt, wird unter dem Titel: „Die geschäftspolitishe Nebenregierung in Preußen und in Deutschland“ in Sachsen in Form eines Flugblattes verbreitet. Redner verliest auch einige Stellen dieses Flugblattes, worin der Regierung vorgeworfen wird, daß sie vor der geschäftlichen Nebenregierung Rothschild, Bleich- röder und Hansemann kapituliert habe u. . w. Und nun erst die Glöß’schen Bilderbogen, die überall ungehindert verbreitet werden. Den Antisemiten \foll die Preßfreiheit niht eingeshränkt werden; wir wollen nur gleihes Recht haben. Die parteiische Handhabung erstreckt sih nit bloß auf die Verwaltung, fondern auch auf die Gerichte. Ein landgerihtlihes Erkenntniß hat allerdings ausgesprochen, daß der Nichter in die Stellung eines Zensors gedrängt werde, wenn er jede Wendung beurtheilen wolle, die viellciht bei dem Einen oder Anderen Beunruhigung erregen kann. In dem Falle handelte es sich aber um cinen Antisemiten, das is die Erklärung für die vershiedenartige Be- E Man vermißt eben in Sachsen das Sozialistengeseß, und [legt die Geseße eigenthümlich aus oder legt au etwas unter oder hilft sont etwas nach. Der fächsische Justiz-Minister hat in der Ersten Kammer erklärt, daß er zwar in die Rehtsprehung nicht ein-

reifen könne, aber im vertraulichen Verkehr würden doch unrichtige rtheile besprochen. Der Antrag wolle die Rechtsprehung nicht beeinflufsen, sondern nur einer mißbräuchlißen Anwendung des § 43 vorbeugen. : /

Königlich sächsischer Bevollmächtigter zum Bundesrath, Gesandter Dr. Graf von Sn verweist darauf, daß nah der sächsischen Verfassung die Gerichte innerhalb des Rahmens ihcer Kompetenz un- abhängig und jeder Beeinflussung dur die Verwaltung entzogen sind. Der Vorredner hat von der ungleihen Behandlung der Sozial- demokraten und anderer Parteien gesproWen. Der A tanenfana dieser beiden Angelegenheiten ist niht recht verständlih. Der Abg.

Auer hat sich zum Organ der Polizei gemaht und ein Einschreiten gegen den Glöß’shen Verlag verlangt. Die Behauptung, daß mit zweierlei Maß gemessen wird, weist Redner mit Entschiedenheit zu- rück. Im Interesse des Vaterlandes könne es nur bedauert werden, daß die Gerichte niht {arf genug vorgehen.

Abg. Träger (fr. Volksp.): Als einer der Väter des § 43 muß ih Protest dagegen erheben, daß derselbe mißbräuhlih eng habt wird. Nicht B sondern ein Rechtslehrer, Professor Berner, fagt: Mit dem groben Unfugparagraphen wird von den Gerichten der gröbste K O Der grobe Unfug ist nach der ganzen Entstehung der Bestimmung nur als eine physishe Belästigung zu verstehen, alle Uebertragungen auf das psychishe Gebiet widersprechen dem Sinne und Geiste des Geseßes. Die ganze Sache entbehrt nicht des humoristishen Beigeshmacks. Das Amtsgericht erblickte in dem Vertheilen von Flugblättern am Sonntag groben Unfug. Das Land- geriht wittert nur eine Bekämpfung der Religion, obglei dieselbe doch mit der E und den Wahlen infolge der Auflösung des Reichstags wenig zu thun hatte. Der § 43 der Gewerbeordnung wollte aber gerade die Wahlagitation durch Flugblätter von allen feln befreien. Freilich im Königreich Safen scheint man

an die Aufhebung des Sozialistengeseßzes noch immer niht gewöhnen zu können. Der mißbräuhlihen Auslegung der geseßlihen Bestimmungen muß mit Entschiedenheit entgegen- getreten werden, weil sonst das wichtigste öffentlihe Interesse, die Wahlfreiheit, gefährdet wird. Redner empfiehlt den Antrag. Gefreut hat mich die Abneigung des sächsischen Bevollmächtigten gegen die Beeinflussung der Gerichte, obgleich sie niht ganz dem Auftreten des sächsischen Justiz-Ministers entspriht. Jn Breubek find auch seltsame ministerielle Verfügungen früher ergangen, nicht von dem jeßigen Justiz-Minister, der so korrekt verfährt, wie selten ein anderer. Die Annahme der Resolution wird genügen. Ob die \ächsishen Justiz- behörden den nöthigen Respekt vor dem Beshluß des Reichstags haben werden, möge dahingestellt bleiben.

Staatssekretär Nieberding:

Meine Herren! Es ist nach meiner Meinung ein wohlbegründetes Recht des Reichstags, in solchen Fällen, in welhen nah der Ansicht des Hauses die Rechtsprehung, sei es auf zivilrehtlihem, sei es auf strafrechtlichem Felde, eine falsche Richtung einzuschlagen droht, diese Verhältnisse hier zur Sprache zu bringen und diejenigen Mittel und Wege in Betracht zu nehmen, welche geeignet sind, die Rehtsprehung von ihrem vermeintlih falschen Wege wieder abzubringen. Aber ein anderes, meine Herren, is es do, wenn hier im Hause nicht der- artige Fragen im allgemeinen erörtert werden, sondern wenn einzelne Urtheils\sprühe der Gerichte zum Gegenstand einer Kritik, ironisierender Bemerkungen und anzüglicher Darstellungen gemacht werden, die {ließlich darauf hinauskommen, daß die Gerichte oder die Mitglieder der Gerichtshöfe, die an den angegriffenen Ent- scheidungen betheiligt gewesen sind, das Necht nicht haben sprechen wollen, obwohl sie es erkannt hatten. Das, meine Herren, ift der \{hwerste Vorwurf, der gegen vie Gerichte erhoben werden kann, und niemals wird er \{werer wiegen, als wenn er im Namen und aus der Mitte des Reichstags erhoben werden sollte. Jch glaube, meine Herren, niemand hat auch weniger Veranlassung, eine solche bedenk- liche Beurtheilung, nicht der Nechtsprehung im allgemeinen ich wiederhole das sondern einzelner Richtersprüche zur öffentlichen Erörterung zu bringen als gerade der Reichstag selbst. Denn vielleiht i doch von allen Institutionen des öffentlichen Lebens die Gerihtsverfassung und die Wirksamkeit der Gerichte, ihre Autorität gegenüber der öffentlichen Meinung und ihre Unabhängig- keit gegenüber der Verwaltung dasjenige Gut, das gerade der Reichs- tag am meisten hüten sollte, und ih meine: nicht auf dem Wege wird das ermöglicht, der durch die soeben hier gepflogene Diskussion eingeschlagen worden ift.

Ich will die Frage, ob die Gerichte in einzelnen Fällen von der Bestimmung des Strafgeseßbuchs über groben Unfug unrichtigen Ge- brauch gemacht haben, hier nicht ausführlih erörtern. Ich gebe die Mög- lichkeit zu, daß die Gerichte in der Anwendung der betreffenden \trafgesetz- lichen Vorschriften zuweilen etwas weit gegangen sind. (Hört! hört! links.) Fch halte hierin Irrthümer der Gerichte niht für unmögli, weil die Gerichte ebenfalls mit Menschen beseßt sind und dem Irrthum gerade so unterworfen sind wie auch andere Menschen und die Mit- glieder des Reichstags selbst. (Sehr richtig!) Ich kann das zugeben, ohne damit der Gewissenhaftigkeit und der Ueberzeugungstreue der deutshen Richter, die ich meinerseits mit voller Entschiedenheit ver- trete, irgend wie zu nahe zu kommen. Also in einzelnen Fällen mag dieser Bestimmung des Strafgeseßbuchs eine sehr weitgehende Aus- legung gegeben worden sein. Ob unter diese Fälle auch diejenigen zu renen find, die von dem ersten Herrn Redner in die Debatte gezogen worden sind, lasse ih dahingestellt. Ich kann diese Fälle nicht beurtheilen ; ih glaube, au das hohe Haus kann es nicht. Ich glaube, es wäre do bedenklich, wenn cinzelne Mitglieder des Hauses auf Grund der einseitigen Mittheilungen eines einzigen Redners hier in die Beurthei- lung von NRechtsfällen eintreten, die nah sorgfältiger Sachbehandlung von unabhängigen Richtern in kollegialer Berathung entschieden worden sind. Ih muß auch hinzufügen, daß selbst, wenn ih die Fälle, die von dem ersten der Herren Redner angeführt worden find, voll- ständig übersähe, ih mich doch enthalten würde, hier im Hause die Nichtersprühe darin einer Diskussion zu unterziehen, und zwar aus der Erwägung, die ich die Ehre hatte, beim Eingange meiner Ausführungen vorzutragen. Die Bestimmung des Strafgeseßbuchs über den groben Unfug ist ja fehr allgemein gefaßt; aber gegenüber der, Frage, ob die Judikatur von dieser Bestimmung etwa eine zu weitgehende Anwendung mache, kommt doch auch die andere Frage in Betracht, ob unter den anders ge- arteten Verhältnissen, wie die Zeit sie, seitdem dies Delikt in die Ge- seßgebung aufgenommen ist, geschaffen hat, niht auch der grobe Unfug selbst begrifflich eine andere Bedeutung gewonnen hat, und ob es nit die Pflicht der Gerichte ist, in sachgemäßer, vorsihtiger, unab- hängiger Anwendung der Geseßesbestimmung den Begriff des groben Unfugs nah Maßgabe der anders gearteten thatsählihen Verhältnisse zu bestimmen und zu begrenzen. Das ist nach meiner Meinung unter allen Umständen die Aufgabe der Gerichte, wenn sie überhaupt von dem Gesetz einen verständigen und sahgemäßen Gebrauch machen follen.

Fch beschränke mih auf diese allgemeinen Bemerkungen zu der hier geübten Kritik über die Art und Weise, wie die RNehtsprehung auf diesem Gebiete vorgeht. Ich bedaure, dazu genöthigt worden zu sein ; denn es is immer ein unglückliches Verhältniß, wenn der Ver- tretung des Reichs gegenüber die Sprüche und die Mitglieder der Gerichtshöfe in Shuß genommen werden müssen, welche sih ihrerseits gegen bie Angriffe nicht vertheidigen können, aber nah Pflicht und unter Eid ihrer Aufgaben gerecht werden. (Zurufe links.)

Was den vorliegenden Antrag betrifft, so zerfällt er in zwei Theile: er wünscht, daß der Reichstag eine deklatorische Erklärung

theilt wird —, daß die

über den Geseßesparagraphen abgeben folle; und zweitens, daß Regierungen nah Maßgabe dieses Ausspruchs des Reichstags än, schreiten sollen, um der Auslegung des Reichstags bei den Gerihten praktisch Geltung zu verschaffen. :

Um den leßteren Punkt vorweg zu nehmen, so könnte eine der, artige Einwirkung, wenn \sich die Regierungen ihr unterziehen wollten doch nur in der Art vor sich gehen, daß die Justizverwaltungen be einzelnen Staaten ihre Staatsanwaltschaften anweisen, im Sinne der vom Neichstag vertretenen Anschauung zu wirken. Ich kann mit jg insoweit über den Antrag der Herren freuen, als auch von he äußersten Linken des Hauses dadur anerkannt wird, daß die Organe der Staatsanwaltschaft unter Umständen von Nutzen und Bedeutung find. (Zwischenrufe links.)

Ih glaube aber niht, daß die verbündeten Regierungen geneigt sein werden, auf Grund des vorliegenden Materials éine Ein, wirkung durch die Organe der Juftizverwaltung auszuüben; id möchte auh nit annehmen, daß das hohe Haus in feiner Mehrheit geneigt sein wird, diesem Ersuchen an die verbündeten Regierungen beizutreten, und zwar aus folgenden Gründen.

Zunächst verlangt der Antrag in seiner ersten Hälfte, daß daz Geseß dahin ausgelegt werde, daß bestimmte Handlungen nit strafbar seien. Nun meine ich und ih zweifle aud nicht, daß bei den verbündeten Regierungen diese Ansicht ge Verbreitung von Wahlzettely und ähnlichen Druekschriften, wenn sie im übrigen in den Formen und unter den Vorausseßungen des Geseßes vor sih geht, deëhalb allein noch nicht eine unzulässige wird, weil der betreffende Vertheiler diese Druckscriften offensichtlih trägt, sodaß jedermann sehen kann, was s enthalten, oder daßer sie jedermann anbietet, ohne Nücksicht auf di Person, ihren Stand und ihre Stellung oder ohne Rücksicht auf politische oder religiöse oder - fonstige Anschauungen. An und für sih können diese Momente den Begriff einer strafbaren Handlun nicht begründen. Nichts weiter als das wird aber in dem ersten Theil dez Antrags festzustellen versucht; insofern ift dasjenige, was die Herren

an der betreffenden Stelle des Antrags sagen, eigentlich etwas Selk.

verständliches. (Zurufe links.) Die Herren haben nit verlangt, daß das Erkenntniß des Ober-Landesgerichts einer Remedur unterzogen werde, sondern daß die Regierungen ganz allgemein darauf hinwirken sollen, daß eine bestimmte Anshauung über die Tragweite des Gesehes Platz greife; soweit diese Anshauung in den Worten des Antrags zum Ausdruck kommt, kann ih fie nur als selbstverständlih ansehen, (Hört! hört!)

Zweitens muß ih hervorheben, daß nah meiner Ueberzeugung der sächsische Gerichtshof, der hier zu meinem Bedauern Gegenstand s lebhafter Angriffe geworden ist, durchaus nicht die Absicht gehabt hat, dem betreffenden Paragraphen des Strafgeseßbuchs eine s weitgehende Auslegung zu geben, wie die Herren Redner ihm unterstellt haben. Ih nehme an, daß der ' Abdruck des Erkenntnisses, wie er von dem Herrn Antragsteller dem Hause unter breitet worden ift, den vollständigen Text enthält. " Ich habe diesen Text forgfältig durchgelesen und kann nicht sagen wenn ih auch zugebe, daß die Erwägungsgründe eine etwas weite Fassung erhalten haben daß man in dem Erkenntniß das suchen muß, was von dem Herrn An- tragsteller hineingelegt wird. Auch aus diesem Grunde bin ich der Meinung, daß .niht die mindeste Veranlassung für die verbündeten Regierungen vorliegen würde, falls der Reichstag geneigt fein sollte, einen Beschluß im Sinne der Herren Antragsteller zu fassen, die Justizverwaltungen zu einer Aktion anzuregen.

Ich meine, daß der ganze Rechtsfall hier eine viel zu große Bedeutung erhalten hat ; man hat ihm einen viel zu stattlihen Mantel umgehängt, und ih möchte doh bitten, daß die Herren einmal ruhig abwarten, ob denn in der That irgend ein Gerichtshof unzweideutig, nit beiläufig an einzelnen Säßen der Urtheilsbegründung, die so oder anders, enger oder weiter ausgelegt werden können, dahin sich aussprechen sollte, daß dasjenige, was in dem ersten Theil des Antrags als an und für sih zulässig bezeichnet wird, gesehß- widrig sei. Erst dann könnte der Zeitpunkt gekommen sein, der Frage näher zu treten, ob irgend eine Remedur geboten erscheint, Wie die Dinge jeßt liegen, meine Herren, habe ih die Ueberzeugung, daß unsere Gerichtshöfe das Gese sachgemäß anwenden im Sinne des Gesetzgebers, unparteiish, niemand zu Leide und auch niemand zl Gunsten.

Abg. Dr. Rintelen (Zentr.): Das Urtheil des sächsischen Ober Landesgerichts behagt au mir nicht; aber der Reichstag hat nit das Recht, ein Urtheil zu kritisieren. Will man eine Aenderung der Rechtsprechung herbeiführen, dann muß eine Deklaration eingebradt werden. Die Unabhängigkeit der Gerichte ist ein Kardinalpunkt und jeder Eingriff in die Unabhängigkeit, mag er auch noh so leicht fein, ist ein Eingriff in die Freiheit des Volkes. Jede derartige Anordnun wie sie hier in dem Antrage verlangt wird, würde ih als Richter entschieden zurückweisen. Ich gebe den Antragstellern anheim, det Antrag zurückzuziehen. Z :

Abg. Zimmermann (d. Rfp.): Der Antragsteller hat dk Gelegenheit benußt, die Antisemiten zur Berücksichtigung bei Sira}- verfolgungen zu empfehlen und eine Denunziation anzubringen. L harmlos is der Boykott von Lokalen doch nicht gewesen, wie det Antragsteller ausgeführt hat. Man hat einen Wirth zwingel wollen, den Sozialdemokraten seinen Saal zu geben, und zwa dadurch, daß Sozialdemokraten die Lokale besuchten und die Tanzlustigen am Tanzen hinderten. Gewiß haben wir die Parole au gegeben: Kauft niht bei Juden! Das geshah aus nationalen, christlihen und wirthshaftlißen Gründen. Die Sozialdemokraket haben durch ihre Boykottierungen die Existenzen ihrer Gegner 8 vernichten gesucht und spielen sih hier als Retter der Freiheit auf! Die Schwennhagen und Genossen sind niemals Antifemiten gewe|1; die Glöß'shen Bilderbogen sind ein reines Privatunternehmel. Vebrigens ist Herr Glöß, troßdem er 100 Prozesse gehabt hat, uu einmal zu drei Mark verurtheilt. Diese Ungleichheit der Behandlung findet niht statt, es wird sogar nicht \iarf genug gegen * it Sozialdemokraten vorgegangen. Die Versammlungen des Abg. Ahlwar sind in Sachsen verboten worden, während anarchistische Versam! lungen stattfanden. Die Sozialdemokraten haben zur Bekämpfung des Christenthums von der Preßfreiheit ausreichenden Gebrau E macht, sodaß sie beinahe in Preßfrehheit ausgeartet ist. Troß sti Begründung werden wir für die Resolution stimmen, weil wir cir Ungleichheit, keinerlei Beeinflussung wollen. Der Antrag scheint wel estellt zu sein, um sich wicder einmal den sächsischen Juden

chüßer zu empfehlen.

Die Abgg. Dr. Hammacher (nl.) u. Gen. beantragen: /

Fn Erwägung, daß die Auslegung von Reichsgeseßen wh fassungsgemäß dem Gericht zustcht; in fernerer Erwägung, lgen eine Deklaration der Geseße nur im Wege der Gesetzgebung erfo! fönne, über den Antrag zur Tagesordnung überzugehen. l

Abg. Dr. Enneccerus (nl.): Daß das Vertheilen f Tei

i f i ir Q nl {riften am Sonntag grober Unfug sei, will mir auch des höchst |

erscheinen; aber daß der Reichstag ein unrichtiges Urtheil

.

E tshofes rihtigstellen soll, das if ‘unerhört. Die Gesezgebun GerSnche des Reichstags und des Bundesraths. Was A Sie

dazu sagen, wenn nun einmal der Bundesrath ein den Sozialdemo- fraten ait a Urtheil als unrichtig bezeihnen würde? Nehmen Sie den Antrag ammächer an; ih bin au zufrieden, wenn der Antrag Auer einfach abgelehnt wird.

Abg. Auer (Soz.): Nachdem von allen Rednern zugegeben worden ift, daß unsere Beschwerde berechtigt ist, ziehen wir den Antrag zurüd, indem wir uns vorbehalten, denselben in anderer Form wieder vor das Haus zu bringen.

Abg. Freiherr von Stumm (Ny.) stellt fest, daß keineswegs das gane Haus die Beschwerden der Sozialdemokraten für berehtigt

flärt hat. Ls / E e Abg. Auer (Soz.): Jch habe nicht vom ganzen Hause, sondern nur von den Rednern, welche zu Worte gekommen sind, gesprochen. Daß der Abg. Freiherr von Stumm uns nicht zustimmt, ist selbst- verständlich. ;

Staatssekretär Nieberding:

Meine Herren! Nur eine kurze Bemerkung zur Erledigung eines Nersprehens, das ih in der gestrigen Sitzung des Hauses dem Herrn Referenten Ihrer Kommission gegeben habe. Der Herr Referent hrer Kommission hatte hervorgehoben, daß für die Einrichtung des neuen Reichsgerichtsgebäudes, vorbehaltlih einer etwaigen Abminderung, die Summe von rund 383 000 # erforderlich sein würde, und hatte den Wunsch ausgesprochen, daß von seiten der Regierung diese Summe bezüglih der Verwendungszwecke noch etwas mehr speziali- siert werden möge. Ich komme diesem Wunsch nah, indem ih SFhnen folgende Zahlen mittheile: Von der ganzen Summe von 383 000 M sollen für die innere Ausftattung des Hauses mit Mobilien 277 400 Æ, für Herstellung der elektrischen Leitungen im Hause 45 700 4 und für die Beschaffung der Beleuchtungskörper im Hause der Nest von 59 900 Æ rund verwendet werden. Beim nächstjährigen Etat, in welchen die zweite Nate der betreffenden For- derung eingestellt werden wird, wird fih die Gelegenheit bieten, durch Vorlegung des Anschlags die Verwendung im einzelnen zum Nachweis

zu bringen.

Damit {ließt die Debatte.

Der Etat des Reichs-Justizamts wird genehmigt.

Beim Etat der Zölle und Verbrauchssteuern lommt

Abg. Lutz (dkons.) auf die Angriffe auf seine Sachverständigkeit als Brauer zurück, welche der Abg. Roesicke bei der Berathung des russischen Handelsvertrags gemaht hat. Er verweist auf die Statistik von 1892—93, wonach erhebliche Mengen von Surro- gaten bei der Brauerei verwendet werden; es werde Reis in erheb- lihen Quantitäten verwendet, Zucker weniger wie früher, aber Bier- fouleur in erheblicherer Menge und niht Farbemalz, wie der Abg. Noesicke behauptet hat. j

Abg. Noesicke (b. k. F.): Zum Etat gehörte diese Rede wohl auch

niht. Ih habe die Sachverständigkeit des Abg. Luß als Brauer be- zweifelt, weil er behauptete, die dunkle Farbe des Bieres könne nur durch Zuckerkouleur hergestellt sein oder vielmehr, wie er sagte: durch ckel- erregende Abfälle des Zuckers. Daß in Norddeutschland auch noch Surrogate zur Bierbrauerei verwendet werden, ift bedauerlich; wir haben uns vergeblih bemüht, ein Verbot der Surrogate herbeizuführen. Wenn ich gezwungen worden wäre, das Vorbringen unrichhtiger That- sachen einzugestehen, so würde ih mich nicht noch weiter darüber streiten. : i: : Abg. Wurm (Soz.) hält es für nothwendig, eine Statistik über den Verbrauh der Surrogate aufzustellen, damit man weiß, wer Surrogate verwendet. Wenn eine solche Proskriptionsliste nicht aufgesiellt werden \oll, dann wird man zum Verbot der Surrogate kommen müssen. :

Der Etat wird genehmigt.

Beim Etat der Post- und Telegraphenverwaltung haben die Abgg. Dr. Bürklin (nl.) und Genossen beantragt, den in zweiter Lesung abgelehnten zwanzigsten Rath des Neichs- Postamts zu bewilligen. : ;

Abg. Freiherr von Stumm (Np.) bedauert, daß er für einen Antrag, die Forderung für den Unter-Staatssekretär, deren Ableh- nung eine flagrante Ungerechtigkeit war, wieder herzustellen, keine Unterstüßung gefunden habe; er hoffe, daß die Regierung in der nächsten Session die Forderung wiederholen wird.

Abg. Dr. Bürklin (nl.) empfiehlt seinen Antrag, weil der zwanzigste Rath in der Kommission einstimmig angenommen, in der zweiten Lesung aber zu allgemeiner Ueberrashung abgelehnt fei.

Abg. Dr. Müller-Sagan (fr. Volksp.) spricht seine Verwunde- rung darüber aus, daß der Abg. Freiherr von Stumm, ohne einen Abânderungsantrag zu stellen, einen Beschluß des Hauses bezüglich des Ünter-Staatssekretärs als eine flagrante Ungerechtigkeit bezeihnet hat.

Nachdem noch Abg. Dr. Lin gens (Zentr.) den Antrag Vürklin empfohlen hat, wird derselbe angenommen. j

Beim Titel „Postassistenten“ empfiehlt der

_ Abg. Dr. Bachem nohmals den Antrag Groeber, wona die Zivilanwärter unter den Postassistenten ebenso wie die Militäranwärter zum Postsekretäreramen a werden sollen. E

Abg. von Kardorff (Rp.) erklärt sih gegen diefen Antrag, weil dadur ein Privilegium der Militäranwärter aufgehoben würde.

Die Abgg. Graf Oriola (nl.), Dr. Hammacher (nl.) und Dr. Müller-Sagan (fr. Volksp.) {ließen fich den Ausführungen des Abg. Dr. Bachem an. : i | :

Abg. von Leipziger (dkons.): Bei allem Wohlwollen für die Postassistenten, welches dadurch gefördert worden ist, daß dieselben si{ch zum großen Theil als Patrioten bekannt und die sozialdemokra- tischen Angriffe von sich abgewälzt haben, können wir doch dem An- trag nicht zustimmen, weil die Klasse der Postassistenten Personen zu verschiedenartiger Vorbildung umfaßt. i

Der Antrag Gröber wird angenommen. Von den ein- maligen Ausgaben will der Abg. Sh midt -Warburg (Zentr.), wie in der zweiten Lesung, die Ausgabe für ein Postgebäude in Deutsch-Krone streichen.

Staatssekretär Dr. von Stephan:

Meine Herren! Wenn ich den Herrn Vorredner recht verstanden habe, so befindet er sich in demselben Jrrthum, von dem er {on bei der zweiten Berathung beherrscht wurde. Er geht nämlih wieder bon der verhältnißmäßig, geringen Einwohnerzahl der Stadt Deutsch- Krone aus. Es ist ihm aber bei der zweiten Lesung in Gegenwart des Hauses bereits ausführlich dargelegt worden, daß die Einwohnerzahl für die Bedeutung und den Umfang eines Verkehrsamts durchaus nicht maßgebend is. Es kommt auf die Lage des betreffenden Ortes an. Deuts-Krone ift ein sehr wihtiger Knotenpunkt von Eisenbahnen und großen Fahrpostkursen, es findet dort ein sehr erhebliher Transit falt und dies bedingt, daß für das Postamt große Räume geschaffen

erden. ;

i Zweitens begeht der Herr Abgeordnete den Irrthum, daß “er immer die Jnterimsmiethe mit der Miethe für das jeßige Postlokal verwedhselt. Wir haben in Deutsch-Krone kein Miethshaus, sondern ein siôfalisches Haus, nur einige Räume sind hinzugemiethet worden.

Außerdem möchte ih im Anschluß an das, was der Herr Dr. Ae bereits bei der zweiten Lesung hervorgehoben hat, doch eva glauben, daß es nicht zweckmäßig ist, hier einen Vergleich

Lea Justizgebäuden und Postgebäuden anzustellen. Es ist bereits

| der zweiten Lesung dargelegt worden, wie sehr groß

der Unterschied ist. Der Herr Vorredner hatte damals auf das Ober-Landesgerichtsgebäude in Kiel und auf das Postgebäude in Altona exemplifiziert, es is ihm nachgewiesen worden, daß bei dem Postamt in Altona dreimal so viel Beamte beschäftigt sind als bei dem Ober-Landesgerichts in Kiel, und daß der Verkehr des Publikums auf dem Postamt außerordentli groß ist. Wie der preußische Herr Finanz- Minister über Neubauten denkt, und was im preußischen Abgeordneten- haus vor si geht, das wird nah meiner Meinung doch nit dem Reichstag als ein Beispiel, nach welchem er si richten soll, vorgeführt werden können. Es ist also damals genau nachgewiesen worden, daß die Summe für den Posthausneubau in Deutsch - Krone gegenüber dem Bedarf, gegenüber der Bedeutung des Ortes und der Zahl des dort beschäftigten Personals eine ganz geringfügige ift, wenn ein einigermaßen anständiges Gebäude hergestellt werden foll. Diese Ausführungen sind so oft gegeben worden, daß ich sie nicht erweitern will, um die Zeit des hohen Hauses niht noch mehr in Anspru zu nehmen; sie haben in der Budgetkommission einen vollkommen dur{chschlagenden Erfolg gehabt, denn die Budget- kommission hat den Plan, wie er vorgelegt is, bewilligt. Bei der zweiten Lesung des Etats, wo der Herr Abgeordnete die Sache zur Sprache brachte, haben diese Ausführungen ebenfalls eine aus\{lag- gebende Wirkung geübt. Jch bitte das Haus also, bei dem Beschluß der zweiten Lesung stehen zu bleiben.

Abg. Graf Limburg-Stirum (dkons.) spricht sh für den Bau aus, der mit großer Mehrheit genehmigt wird. 1

Der Rest des Etats wird ohne Debaite genehmigt. An- genommen wird nah kurzer Begründung durch den Abg. von A a (dkons.) folgende Resolution : den Reichskanzler zu ersuchen :

1) Bei den zur Vorlage kommenden Bauplänen auf eine größere Einfachheit in Bezug auf die Gestaltung der Façade und die innere Ausstattung der Gebäude hinwirken und Einschränkungen in Bezug auf die Ausdehnung des Baues und besonders theuere Materialien eintreten zu lassen. 2) Dur ein allgemeines Regulativ festzuseßen, welche Raumausdehnung eine Dienstwohnung für jede Dienststelle haben foll.] *=# #8: I /

s Die Abstimmung über den Etat im ganzen wird aus- geseßt, :

Darauf folgt die Berathung von Petitionen von Post- beamten; die Petitionskommission empfiehit durh ihren Be- rihterstatter Abg. Dr. Freiherr von Langen (dkons.) folgen- den Antrag: E S

1) über die Vorstellungen von Postbeamten, enthaltend Proteste gegen die Ausführungen der fozialdemokratishen Mit- glieder des Reichstags bei der Berathung des Neichshaushalts-Etats bezüglich ihrer sozialen Lage u. st. w., 2) über die Vorstellungen der Postvertrauensärzte im Bezirk der Kaiserlichen Ober-Postdirektion Berlin, enthaltend einen Protest gegen die Ausführungen der sozial- demokratischen Mitglieder des Reichstags bei der Berathung des Reichéhaushalts-Etats, bezüglih der Stellung und Thätigkeit der Postvertrauensärzte zur Tagesordnung überzugehen.

Abg. Merbach (Np.) sieht in den Petitionen einen Beweis für die Erregung der Postbeamten über die Debatten in diesem Hause.

Abg. Liebermann von Sonnenberg (b. k. F.) erhebt Protest dagegen, daß die der Postverwaltung nahestehende „Verkehrs- zeitung“ beim Abdruck dieser Petition die Bemerkung macht, daß die Mitglieder des Postassistenten - Verbandes der Sozialdemokratie ver- fallen zu sein sheinen. Das sei eine Beleidigung der Postassistenten, denen das Haus wenigstens durch die Annahme des Antrags Gröber eine kleine Genugthuung gewährt habe. Hoffentlich würden die Spitzen der Postverwaltung bald au ihre Ansichten ändern.

Abg. Bebel (Soz.): Wenn von den 14000 Postbeamten nur 3000 die Petition unterzeichnet haben, so is der Staatssekretär Dr. von Stephan zu bedauern. Zustimmungsshreiben für unfer Auftreten sind uns geworden von vielen Leuten, die gezwungenermaßen diese Petitionen mit unterschrieben haben. Wir könnten {on heute wieder eine Menge von Beschwerden vorbringen; wir wollen aber angesichts der Geschäftslage darauf verzihten und die Sache in der nächsten Session vorbringen. : E

Abg. Rettich (dkons.) verliest einen Zustimmungsbrief von Post- beamten aus seinem Wahlkreise. L l

Abg. Dr. Schoenlank (Soz.) verzichtet auf weitere Ausführungen, bleibt aber dabei, daß die Sozialdemokraten die Mandatare der

Postbeamten sind. 4 A Darauf wird der Antrag der Kommis}ton angenommen.

Das EÉtatsgeseß und das Anleihegesez gelangen ohne weitere Debatte zur Annahme. Schluß 51/5 Uhr.

Vreußzischer Landtag. Herrenhaus.

9. Sizung vom 15. März 1894,

Auf der Tagesordnung steht der Bericht der IX. Kom- mission über den Entwurf eines Gesehes zur Abänderung und Ergänzung der Geseße vom 25. Mai 1874, betreffend die evangelishe Kirhengemeinde- und Synodal- ordnung vom 10. September 1873 für die Provinzen Preußen, Brandenburg, Pommern, Posen, Schlesien und Sachsen (Geseß-Samml. S. 147), und vom 3. Juni 1876, betreffend die evangelische Kirchenverfassung in den aht älteren Provinzen der Monarchie (Gesez-Samml. S. 125.

ZU n Anfangsbericht in der Donnerstags-Nummer des Blatts ist zunächst die Rede nachzutragen, zu welcher der Staats-Minister Dr. Bosse nah dem Bürgermeister Struck- mann das Wort nahm.

Minister der geistlihen 2c. Angelegenheiten Dr. Bosse:

Meine Herren! Ich werde auf die Spezialitäten, die der ver- ehrte Herr Ober-Bürgermeister Struckmann vorgetragen hat, nicht im einzelnen in der Generaldiskussion eingehen; aber ich würde doch glauben, eine Pflicht gegen das hohe Haus und überhaupt eine Pfliht meines Amtes zu versäumen, wenn ih alles das, was er eben vorgetragen hat, hier un- widersprohen sein lassen wollte. Meine Herren, ih bin dankbar dafür, daß in Ihrer Kommission die Vorlage au von den Herren, die sie bekämpft haben, eine rein sachliche Opposition gefunden hat; und ih habe es au s{chon in der Kommission ausgesprochen, daß ih niht einen Augenblick darüber zweifelhaft bin, daß die Motive dieser Opposition durchaus lautere und auch auf lauterstem religiösen Sinne beruhende sind. Aber ih kann nicht an- erkennen, daß die Gesichtspunkte, die die Opposition und die der Herr Ober-Bürgermeister Struckmann gegen die Vorlage, wie wir sie hier haben, ins Gefecht geführt hat, zutreffend find. (Sehr richtig!) Meine Herren, mit der Frage, ob in der evangelischen Kirche ein Glaubenszwang geübt werden soll, ob jedes Glied der evangelishen Kirche auf den Buchstaben des Bekenntnisses festgenagelt sein foll, hat diese Vorlage absolut nichts zu thun. (Sehr rihtig!) Man lese die Vorlage,

man prüfe sie, und dann zeige man mir die Stellen, wo man mit einer einfachen logischen Schlußfolgerung zu solchen Gedanken und Ansichten auch nur annähernd kommen könnte. Nein, meine Herren, das läßt sih nit herauslefen. Noch weniger kann auch der Gedanke nür auf- kommen, daß die Staatsregierung mit dieser Vorlage Zustände schaffen wollte, bei denen man die Mitglieder der evangelischen Kirhe entweder zur Heuchelei oder zum Austritt aus der Landeskirche triebe. (Sehr rihtig!)) Wo s\teht- das in der Vorlage? Ich bitte, mir den Nachweis beizubringen. Die ursprünglichen An- träge des verewigten Herrn von Kleist gingen ja weiter. Es ist mög- lih, daß man aus der Erweiterung dieser Anträge herauslesen könnte, was für die firchlihe Entwicklung bedenkliß erschiene. Die General-Synode hat \ich diese erweiterten Anträge niht angeeignet, sie hat sie zurückgeshnitten auf einen maßvollen und nah Ansicht der Königlichen Staatsregierung diskutablen Umfang. Wenn nun jeßt der Herr Ober-Bürgermeister Struckmann gegen die Tendenzen der damaligen erweiterten Anträge ankämpft, dann ist das ein Kampf gegen Gespenster ; das kann man mit gutem Gewissen sagen. (Sehr. gut!) Vor allen Dingen, meine Herrén, möchte ih dagegen protestieren, daß es im Jahre 1876 die Absicht ge- wesen sei, die Grundlagen der evangelishen Kirchenverfassung in Preußen durch die Mitwirkung der \taatlihen Geseßgebung wie auf einen Felsen, wie der Herr Ober-Bürgermeister Struckmann sich ausdrückte, festlegen zu wollen. Nein, meine Herren, der Felsen, auf dem die Kirlhe und auch die evangelische Landeskirhe Preußens beruht, iff ein ganz anderer als die Mitwirkung des interkonfessionellen Landtags von Preußen bei der Kirchengeseßgebung (Bravo !), das ist der Glaube und das Evangelium, wie Herr Ober-Bürgermeister Struckmann ganz richtig gesagt hat, niht aber die Fessel einer interkonfessionellen Staatsgeseßgebung. Man kann die ganzen Ausführungen, die wir eben gehört haben, wenigstens nach ihrem größten Theil so charakterisieren: sie find staatlicher als die Staatsregierung und viel staatlicher als die Majorität des Landtags gewesen ist, der im Jahre 1876 die staat- lihe Sanktion durch das Staatsgeseß, die kirhliße Geseßgebung bestätigt hat. Denn wenn das richtig wäre, was der Herr Ober- Bürgermeister {Struckmann ausgeführt hat, dann, meine Herren, fönnte in der General-Synodalordnung ein Saß, wie der folgende, gar- nicht stehen. Es heißt im § 7:

Folgende Gegenstände unterliegen aus\chließlich der landes-

kirhlihen Geseßgebung :

1) die Regelung der kirhlihen Lehrfreiheit,

2) die ordinatorische Verpflichtung der Geistlichen,

3) die zu allgemeinem landeskirchlichem Gebrauch bestimmten

agendarischen Normen.

Wenn der Herr Ober-Bürgermeister Struckmann Recht hätte, müßten wir alle diese innerkirchlihen Gegenstände einfach jtaatlih binden ; dann würden wir dahin kommen, daß wir überhaupt keine kirhlihe Gesetzgebung mehr haben dürften; denn dann würde jede Kirhen- gesezgebung, die vom Gesetz frei gelassen ist, die Gewissensfreiheit gefährden und den Gewissens8zwang herstellen (Bravo !); dann ‘würden die Folgen eintreten, die Herr Ober-Bürgermeister Struckmann voräus- sagt, daß dadur eine große Menge von Mitgliedern der evange- lishen Landeskir(E" zum Austritt aus der Landeskirhe gebracht werden fönnten. Daran hat aber die Majorität des Landtags nie gedacht, die diese Bestimmungen {huf. Sie konnte auch nicht daran denken; es sind auch diese Konsequenzen nicht logisch und nicht folgerihtig. Nicht darin, daß die Kirche ihre Angelegenheiten selbs verwaltet denn das ist der Kernpunkt der ganzen Sache liegt die Gefahr für unsere Landes- firhe, nicht dadurch werden die Leute in das Sektenthum hinein- getrieben. Jch habe niemals gehört, daß jemand deshalb aus der Landeskirche ausgeshieden wäre. Aber wenn Sie die Kirche in staät- liche Fesseln legen auh auf den Gebieten, wo staatliche Interessen nicht obwalten, dann könnten Sie allerdings die evangelische Landeskirche ge- fährden, dann könnten Sie werthvolle Kräfte der evangelischen Landeskirche fo verstimmen und fo verletzen, daß dann allerdings die Gefahr entstehen fann, daß der Bestand der evangelischen Landeskirche selbst in Gefahr fommt. Nein, meine Herren, ih will auch nicht eingehen auf die Stärkung des Ministers durch die staatliche Gefeßgebung. Wir die Königliche Staatsregierung sind der Meinung gewesen, daß wir im stande sind, das Staatsinteresse wahrzunehmen seinem Um- fange vollkommen entsprehend, wenn wir nur diejenigen staatlichen Be- dingungen bestehen lassen, die wir Ihnen vorgeshlagen haben. Wir werden dafür forgen, daß das staatliche Interesse niht verleßt wird. Freilich hat der Herr Ober-Bürgermeister Strukmann ausgeführt, die Einbringung der Vorlage enthalte gewissermaßen eine Anerkennung der Staats- regierung dahin, daß nun an dem nicht mehr gebundenen Paragraphen überhaupt fein fstaatlihes Interesse weiter bestehe; die Staatsregie- rung sei nicht mehr in der Lage, die staatlihe Unschädlichkeit oder Schädlichkeit zu erklären, nicht mehr in der Lage, zu erklären, hier set ein staatlihes Interesse verleßt. Meine Herren, was is das für eine Folgerung? Die Staatsregierung erkennt bei der Einbringung der Vorlage an, daß für die Mitwirkung der \taatlihen Geseß- gebung kein ausreichendes staatlihes Interesse vorliege. Im einzelnen Falle kann jedes fkirchlige Geseß nah wie vor dahin führen, daß die Staatsregierung sagt: Halt! Hier werden s\taatlißhe Interessen verleßt. Vom staatlichen Standpunkt aus dürfen wir diesen Vorschlägen nicht folgen. Wir verweigern die Unschädlichkeitserklärung." Das scheint mir do, meine Herren, so logish, fo klar, daß daran garniht gezweifelt werden kann.

Nun hat der geehrte Herr Vorredner gesagt: was wir dur die Vorlage erzielen wollten, das würde ein Zustand sein, den man überhaupt nit mehr als evangelische Landeskirche Preußens bezeihnen fönnte. Nun, ih möchte doch den Herrn Vorredner bitten, uns, die wir in der evangelischen Landeskirhe Preußens groß geworden sind, die wir sie lieb haben, die wir dankbar sind für die Segnungen, die wir aus dieser Landeskirhe empfangen von jeher haben, uns doch auh gütigst ein Urtheil darüber zuzugestehen, ob das kirhlihe Gebilde, welches wir jeßt haben, und ob das, was auf Grund dieser Vorlage werden soll und werden kann, ob das noch den Namen der evangelischen Landeskirche verdient oder nicht. Jch glaube, wenn irgend jemand darüber ein Urtheil hat, dann sind es die Mitglieder der evangelischen Landeskirche Preußens. (Lebhafter Beifall.)

Meine Herren, ih bin ja auf eine gewisse Opposition gefaßt ge- wesen, aber in vielen Beziehungen verstehe ih niht die Schärfe, mit der diese Opposition geltend gemacht ist, niht bloß hier, sondern auch außerhalb des Hauses in der Presse, Es ist geradezu wunderbar, daß man