1913 / 33 p. 5 (Deutscher Reichsanzeiger, Fri, 07 Feb 1913 18:00:01 GMT) scan diff

Abg. Dr. Bell - Essen (Zentr.) führt darauf kurz aus, daß die Aeg aungöverbältnifis der Polizeisekretariatsanwärter verbessert werden müßten. __ Abg. Dr. Hintßmann (nl.) tritt gleihßfalls kurz für Erfüllung dieses Wunsches ein. „_ Abg. Dr. Frank (Zentr.): Die ‘S{ußzmannschaft in Cöln ist threr Zahl nach vollständig unzulänglih. Die Lage der Verhältnisse wird noch ungünstiger, wenn man bedenkt, daß die Polizei außer Maßnahmen für die Stcherheit auß noch eine Reihe anderer unktionen zu erfüllen hat. Wenigstens müßte die Vermehrung der Polizeibeamten mit dem Wachsen der Bevölkerung gleihen Schritt halten. Das ist leider auch hier niht der Fall.

Minister des Junnern Dr. von Dallwi ß:

Wenn der Herr Vorredner es bemängelt hat, daß im Etat eine geringere Vermehrung der Scußmannschaft in Cöln - vorgesehen werde, als beantragt worden wäre, so ist das eine Erscheinung, die leider bei allen größeren Schußmannschaften zu verzelhnen ist und die mit den allgemeinen finanziellen Verhältnissen zusammenhängt. Es werden aber gerade für Cöln im vorliegenden Etat neue Schutz- leute in nit unerhbeblicher Anzahl vorgesehen, und zwar 35 Schut- leute, 1 Wachtmeister und 4 Kriminalbeamte. Die Stadt Cöln erfreut sich eines stärkeren Aufgebots von Schußlevten, auch von Kriminalbeamten, als andere größere Ortschaften der Monarhie. Die Stadt Cöln besizt einshließlich der in dem Etat

)

vorgesehenen Vermehrung 690 uniformierte und 83 Kriminal- \{hußleute, verfügt also im ganzen über 773 Squtßleute. In Coln kommt auf 742 Einwohner 1 Schugzmann ; in anderen Städten kommt im Durchschnitt auf 762 Einwohner 1 Schußmann, mithin ist Cöln in dieser Beziehung dem Dur@schnitt niht unwesentlich überlegen. (Abg. Schmedding (Münster): Hört, hört !)

Ich gebe übrigens zu, daß au mir zu Ohren gekommen ist, daß der fittenpolizeiliche Dienst in Cöln nicht zur vollen Zufriedenheit der dortigen Bürgerschaft funktioniere. Jch werde in eine Prüfung der Frage eintreten, womit dies zusammenhängt, und werde, wenn und

soweit es sich ermöglichen läßt, Nemedur eintreten lassen.

Das Kapitel wird bewilligt.

Bei dem Titel „Landgendarmerie“ bemerkt

Abg. Hammer (kons.): Diè Vermehrung der Gendarmenstellen halte ih für zu gering. Die Gendarmen haben eine Reihe von Wünschen. Alle zu erfüllen, wird ja nit möglich sein. Aber bei der Wichtigkeit dieser Beamten für den Staat sollte man ihnen doch möglichst weit entgegenkommen. Man wundert ich darüber, daß wir bei allem Wohlwollen fär die Gendarmen feine Anträge stellen. Das würde aber dem Uebereinkommen zwischen allen bürgerlichen Parteten widersprehen, das bei Feststellung der neuen Besoldungsordnung dahin ging, daß weitere Grhöhungsanträge nur gemeinsam zu stellen sind. Eine Besserstellung der Gendarmen läßt fih erreichen, indem man die Dienstaufwandsentshädigungen erhöht. Man könnte ja dazu einmal feststellen, welhe Aufwendungen im Interesse des Dienstes der Gendarm überhaupt hat. Es könnte auch in Er- wägung gezogen werden, ob ein Teil davon pensionsfähig zu machen ist. Eine Vermehrung der Stellen für Oberwachtmeistec wäre für die Zukunft erwünscht, damit die Beförderungsverhältnisse der Gendarmen aufgebessert werden.

Abg. Heine (nl.): Die Verdienste der Gendarmen für den Staat erkennen auch wir an. Ste müssen bereit sein, sich sofort jeder Gefahr auszuseßen. Troßdem unterliegen die Gendarmen mancherlei Beschränkungen, so dürfen sie keinem Berufsverein angehören. Jn Gendarmenkreisen hat man allerlet Wünsche, die leiht erfüllt werden können. Zu begrüßen ist, daß die Dienstzulagen diesmal erhöht worden sind. Um die Arbeitskraft der Gendarmen nicht allzu sehr an- zustrengen, empfiehlt es sih, vielleicht die Bezirke zu verkleinern und mehr Gendarmeriestationen zu errihten. Die Erhöhung der Dienst- aufwandsentshädigung halte au) ih für nötig. Das Kleidergeld müßte dem Dienstgehalt eingerechnet und pensionsfähig gemacht werden. Weitere Wünsche gehen auf Erhöhung des Wohnungsgeldzuschusses und auf die Berechtigung, im kleinen Dienst die Müge tragen zu dürfen. Zu bedauern ist es, daß den Gendarmen die Pferdegelder, die sie in den ersten Jahren anzusammeln haben, nicht verzinst werden. Es ist vielfah vorgekommen, daß die Gendarmen einen Verbrecher nicht fassen konnten, weil sie ihn nit über die Grenze ihres Bezirkes hinaus verfolgen dürfen. Der Urlaub der Gendarmen muß verbessert werden ; in der Verwaltung der Unterstützungskasse könnten gleich- falls Neformen vorgenommen werden. Vielfach klagen die Gendarmen darüber, daß das Schreibwerk nicht abgenommen, sondern noch zu- genommen hat. Einem Gendarmen, der seine Frau von einem Privat- arzt hatte operieren lassen, anstatt in einer Klinik, weil der Arzt die Operation für dringend erklärte, wurden von der vorgeseßten Brigade Vorwürfe gemacht, weil er nicht vorher die Genehmigung der Brigade eingeholt batte. Gerade in diesem Jubiläumsjahre sollte die Regierung daran denken, die Wünsche der Beamten zu erfüllen.

Abg. Drinnenberg (Zentr.) tritt sür dic Besserstellung der Oberwachtmeister bei der Gendarmerie ein.

Abg. Lüd i cke (freikons.): Es ist ja anzuerkennen, daß in dem diesjährigen Etat eine Vermehrung der Gendarmerie vorgesehen ist. Aber diese Vermehrung hat doch nicht gleihen Schritt gehalten mit dem Anwachsen der Bevölkerung, insbesondere in der Nähe der Großstädte. Es werden an die Gendarmerie besonders hohe An- forderungen gestellt, die weit über das Maß dessen hinausgehen, was ein Beamter zu leisten vermag. Ih bitte die Regierung, daß sie den Wünschen auf eine größere Vermehrung der Gendarmerie stattgeben wolle. Ich begrüße mit Freuden, daß in dem diesjährigen Etat eine größere Summe für Dienstwohnungen ein- gestellt ist. Die Regierung möge auch dafür forgen, daß die Sendarmerie angemessene Wohnungen zu billigen Preisen erhält. Ic halte es aber für notwendig, daß die Negierung in dem nächsten Jahre eine erhebliche Vermehrung der Dienstwohnungen vornimmt. Die Diensiaufwandsentshädigungen sind viel zu gering bemessen. Die Negierung hatte {hon früher einmal in Aussicht gestellt, eine Er- hebung anzustellen, ob die Gendarmerie mit den Dienstaufwands- entschädigungen auskommen fann. Ich bitte die Negierung, daß sie diese Erhebungen möglichst bald vornimmt.

Abg. Delius (fortshr. Volksp.): Die Wünsche, die wir früher bei diesem Kapitel vorgebracht haben, sind leider in der Hauptsache niht erfüllt worden. Darauf wird bei den nächsten Wahlen die entsprechende Antwort gegeben werden. Die Gendarmen sind dazu berufen, wahre Freunde und vielfa sogar die einzigen NRatgeber der Bevölkerung zu sein. Deshalb sollte man dafür sorgen, daß ihre berechtigten Klagen beseitigt werden. Leider laßt die Behandlung der Gendarmen alles zu wünschen übrig. Dabei können sie ih nicht einmal beschweren, denn sonst würde man es ihnen an höherer Stelle verübeln. Leider besteht auch kein Petitionsrecht für die Gendarmen. Auh in ihrer Tätigkeit als Hilfsbeamte der Staatsanwalt- schaft sind die Gendarmen zu sehr beschränkt. Sie können nicht einmal eine dringende Haussuchung oder Beschlagnahme vornehmen ohne die Genehmigung der Amtsvorsteher. Einen großen Mißstand bedeutet auch die Vorschrift, daß die Gendarmen im Dienst stets die Uniform tragen müssen. In gewissen Fällen wäre es aber dringend erwünscht, wenn den Gendarmen au das Tragen von Zlivilkleidern gestattet wäre. Sogar im Urlaub unterliegt das Tragen von Zivil- Tleidern einer gewissen Beschränkung, z. B. darf ein Gendarm in Zivil- Tleidern niht die Gastwirtschasten seines Bezirks besuchen. Auch die vielen Meldungen bei Antritt eines Urlaubs könnten beseitigt werden. Ferner sollte man den Gendarmen nit nur das Steckbriefregister für die Provinz, sondern für das ganze Deutsche Neich zustellen, was

ohne große Kosten ges{ehen könnte. In den Dienstversainmlungen sollten den Gendarmen mehr Belehrungen gegeben werden, sowie Anweisung, wie sie si in gewissen Fällen, besonders dem Publikum gegenüber, zu verhalten haben. Es ist do wirklich sehr bedauerlich, daß die Gendarmen in den Dienstversammlungen vielfach eine halbe Stunde lang „Griffe kloppen“ müssen. Dadurch wird die Freude am Dienst nit gefördert. Jh hoffe, daß die Prüfung der Dienst- aufwandsentshädigung bald einen befriedigenden Abschluß zeitigen wird. Es scheint mir au notwendig, daß die Negierung den Beschluß des Abgeordnetenhauses naGkommt und die Arres1\trafen für die Gendarmen aufhebt. Hoffentlich wird die Regierung diesen vor- gebrahten Wünschen etwas mehr Wohlwollen entgegenbringen.

Geheimer Nat Schneider: Die Abgeordneten, welche hier Wünsche vorgebracht haben, haben wiederholt betont, daß dieselben in der Hauptsache von inaktiven Gendarmen ausgehen. - Aus diesem Um- stand erklärt es sich, daß diese Wünsche vielfa auf die gegenwärtigen Verhältnisse niht mehr zutreffen. Ih will deshalb kurz diejenigen Bestimmungen mitteilen, die zurzeit gelten. Bei den Ouartier- revifionen soll darauf geadtet werden, daß Familienwohnungen nur dann revidiert werden, wenn die Gendarmen ih felbst darüber be- s{chweren, oder wenn es si um Ueberweifung einer neuen Dienstwohnung handelt. Ueberhaupt it dafür gesorgt, daß bei diesen Revisionen störende Eingriffe in das Familienleben der Gendarmen vermieden werden. Ueber den Anzug bei Nevistonen sind den Gendarmen die größten Freiheiten gelaffen. Es liegt au fein Bedenken vor, den Gendarmen im Monat einen dienstfreien Tag zu bewilligen. Ueber die Frage der Dienstauswandsentschädigung sind au in diesem Jahre wieder Ermittlungen angestellt worden, die aber noh nit zum Abschluß gekommen sind. Auch soll den Gendarmen eine leite Sommeruniform gegeben werden. Es sind bereits im leßten Jahre 6 oder 8 verschiedene Modelle angefertigt worden, die aber von den Gendarmen selbst abgelehnt worden find. Wir twerden aber die Frage weiter im Auge behalten, weil wir selbst der Ansicht sind, daß den Gendarmen etne leichte Sommerkleidung geschaffen werden muß. Was die Benutzung von Meilitärfahrkarten seitens der Gendarmen anlangt, so sind die Verhandlungen noch nit ab- geschlossen. Wir bemühen uns aber, den Gendarmen diese Er- leichterung zu vershaffen. Eine weitere Vermehrung der Stellen für Oberwachtmeister ist vorgesehen.

Abg. Borchardt (Soz.): Aus den Neden der Borredner haben wir gelernt, daß der preußishe Staat also nicht einmal die Gen- darmen in eine einigermaßen erträgliche Lage versetzt. Nicht einmal dte Gendarmen haben ein auskömmlihes Gehalt. Dabei werden aber diese doch vielfachß älteren Leute geradezu wie Schulbuben behandelt. Wenn es wahr ist, daß die Gendarmen z. B. zur Strafe 90 mal das abshreiben müssen, was sie falsch gemaht haben, so muß man darüber doc seine größte Verwunderung aus\prech{en. Diejenigen, die die Aufsicht führen sollen über einen ganzen Bezirk und die als eine höhere Instanz die Hoheit des Staates verkörpern sollen, dürfte man doch nit derart behandeln. Schließlich erblickt man in den Gendarmen doch nur Proletarier, denen man alles bieten kann, die man mundtot machen kann, die nicht einmal mit Ab- geordneten sprechen dürfen, niht einmal mit dem Abg. Hammer. Die Verbesserung der Dienstaufwandsentshädigung usw. wird alljährlich gewünscht und erfolgt doch nicht. Wir Sozialdemokraten sollen die Zeit in diesem Hause dur lange Reden vertrödeln, aber nachdem der Abg. Hammer seine Nede für die Gendarmen gehalten hatte, mußte der Abg. Heine noch einmal ganz ausführlih dieselbe Nede halten, und dann mußte auch der Abg. Lüdie noch einmal vieles sagen, was die Vorredner gesagt hatten. Fm vortgen Jahre haben fogar vier Nedner hintereinander dieselbe Nede für die Gendarmen gehalten ! Das sind alles Reden zum Fenster hinaus, und wir Eönnten manche Abendsißung vermeiden, wenn die Herren niht \olche Reden zum Fenster hinaus hielten. Wir wollen uns lieber darüber unterhalten, wie das Institut der Gendarmerte sich im Staate bewährt. Die Nadfahrervereine, die ih der Gendarmerie gern zur Verfügung stellen würden, werden \chikaniert ; anstatt sie zu fördern, legt man ihnen allerlei Hindernisse in den Weg. Nicht weit von Berlin be- findet sih die Gastwirt|haft „Zum alten Ziethen“. Dieser Gastwirt stellte seine Räume einem fozialdemokratishen Verein zur Ver- fügung. Da- kam die Landgendarmerte und sagte ihm: du darfst dein Lokal nicht mehr „Zum alten Ziethen“ nennen. Der Wirt erklärte sich damit aber ni&t einverstanden. Da machte sih der Landgendarm selbst an die Arbeit und überpinselte die Inschrift. Nachher mußte der Gendarm die Inschrift wieder herstellen. In cinem Ort in Ostpreußen kamen einige Sozialdemokraten in einer Wohnung zu einer Besprehung zusammen. Diese Versammlung wurde für eine öffentlih politische Bersammlung erklärt, weil sih auch zwei fremde Personen, die nicht eingeladen waren, eingefunden hatten. Daß die Versammlung ganz harmlos war, können Sie {hon daraus ersehen, daß man den beiden nicht eingeladenen Personen den Zutritt nicht verbot. Der eine nit eingeladene war der Wirt des Hauses selbst, der andere ein Hausdiener, den cin Kaufmann in die Ver- fammlung \hickte, um die Versammlung zu einer öffentlihen zu

machen. Das ist Lockspiuzelei {limmster Art. Lokspitzelei ist an sich

hon verächtlich. Aber dadur, daß sie von Staats wegen geschieht, ist sie ganz außerordentli verächtlich.

Abg. Dr. Liebknecht (Soz.): Fn Altranstädt bei Markranstädt wohnt ein Schleifer, der seit 25 Fahren in Deutschland ist, obgleich er aller- dings russischer Staatsangehöriger ist. Dieser Mann ist gänzlich un- bescholten und bekommt von sämtlichen Behörden das allerbeste Leumunds- zeugnis. Er hat aber einen Fehler, er ist theoretisher Anarchist. Als im vergangenen Sommer die Kaisermanöver in dieser Gegend stattfinden sollten, erschienen plöglih in seiner Wohnung frühmorgens zwei Gendarmen, um ihn zu verhaften, und zwar mit der Order, er werde aus dem preußischen Staatsgebiet ausgewiesen und möge binnen einer Stunde setne Sachen paen. Dieser Mann wurde von den Gen- darmen genommen, von der Seite seiner Frau gerissen (einer deutshen Staatsangebörigen) und über die russishe Grenze gebracht. Die Frau erhielt dann keinerlei Mitteilung über das weitere Schicksal ihres Mannes. Diese Angelegenheit hat si zwar nach einiger Zeit zugunsten dieses Mannes aufgeklärt, aber die ganze Art dieser Aus- weisung ist Barbarek. (Lachen des Abg. von Pappen heim.) Abg. von Pappenheim, Sie scheinen solhe Sachen nicht mit dem nötigen Ernst aufzunel\men. Angesichts solcher Fälle ist man versucht, zu sagen : preußische Schande, deutshe Schande. (Vizepräsident Dr. Por ch ruft den Redner zuc Ordnung.)

Abg. Hoffmann (Soz.): Ich hätte nit das Wort genommen, wenn ih nicht von dem Abg. von Pappenheim aufgefordert worden wäre, Fälle vorzubringen, sofern ih dies könnte. Um Fälle sind wir niemals verlegen. Jch will nur drei vorführen. In Zappendorf in der Provinz Sachsen wurde ein Vergnügen eines Arbeiterradfahrervereins dur sieben bewaffnete Gendarmen verhindert. In der Provinz Osft- preußen verlangte ein Gendarm, daß ein Wirt bauliche Veränderungen feines Lokals vornehmen müsse, wenn er es an Arbeiterversammlungen gebe. Also erst dann, wenn die Arbeiter da sein follen, muß der Saal um- gebaut werden; dagegen müßten Sie (rechts) doch protestieren, Sie können ja in diesem Saal verunglüccken ; aber nur die Sozialdemokratie hat man so ins Herz geschlossen, daß man sie davor bewahren will. Fn Merz- dorf in Schlesien hat der Gendarm eine Bersammlung unter freiem HOtmmel nicht zugelassen, weil die jugendlihe Tochter des Wirtes im Hause am offenen Fenster stand und die Worte aus der Versammlung hören fonnte, also an einer politischen Versammlung teilgenommen hätte. Halten Sie so viele Scharfmacherreden, wie Sie wollen, Sie werden uns dadur nur nützen.

Das Kapitel wird bewilligt.

Jn dem Kapitel der allgemeinen Aus gaben im Interesse der Polizei sind 8700 000 6 für Zuschüsse an die Kommunalverbände zur A usführung des Für- sorgeerziehungsgesetßes vorgesehen.

Abg. Schmeddtng- Münster (Zentr.): Bereits im Dezember vorigen Jahres habe ich in diesem Hause einen Antrag auf Abänderung des Fürsorgeerziehungsgeseßes gestellt. Sollten auf irgend eine Weise

Zweifel gegen die Zweckmäßigkeit des Antrages bestehen, so wären fte glänzend widerlegt dur den Bericht der Statistik für das Jahr 1911. Jener Antrag beruhte auf der Erwägung, daß die Zahl der nit mehr s{ulpflihtigen Fürsorgezöglinge von 1901 bis 1911 ständig zu- genommen hat. Der Redner führt aus der Statistik Zahlen an, wonach die meisten der Fürsorgezöglinge, welhe, nicht mehr \{ulpflihtig, von den Eltern in Fürsorgeerziehung gegeben wurden, {on ret verwahrlost waren. - Jhre Zahl hat fih von 1901 bis 1911 nah der Statistik von 73 auf 90% erhöht. Man muß daher dem Verfasser der Statistik zustimmen und zu dem Ergebnis ommen, daß hier zeitiger, als geschehen, zur Verhütung der völligen sittlihßen Ver- derbnis hätte eingegriffen werden können: „Es hätte bet rechtzeitigem Einschreiten wohl ein Verschulden der Eltern festgestellt werden und die Ueberweisung in die &Sürsorgeerziehung zur Verhütung der Ver- wahrlosung erfolgen können.“ F bitte den Minister dringend, der erneut beantragten Anregung nachzugehen und das umsomehr, als au das Herrenhaus vor zwei Fahren eine Aenderung des Gesetzes gefordert und der Minister selbt am 17. Februar 1911 die Not: wendigkeit dieser Aenderung anerkannt hat.

Minister des Jnnern Dr. von Dallwi ß:

Meine Herren! In diesem Jahre eine Aenderung des Für- sorgeerziehung8geseyes vorzunehmen, war bei der Geschäftslage des hohen Hauses niht angängig. Mein Standpunkt zur Sache ist bei den Beratungen des von dem Herrn Vorredner erwähnten Antrags in der Kommission wiederholt dargelegt worden. Ih erkenne voll- ständig an, daß der vorbeugende Charakter tes Gesetzes bisher in der Praxis nicht genügend zur Geltung gekommen ist, und daß nach dieser Nichtung hin Wandel geschaffen werden muß. Fraglih war es nur, ob es nah den bisherigen Erfahrungen notwendig fet, alsbald eine geseßliche Aenderung herbeizuführen, oder ob es niht mögli fein würde, zunächst einmal den Versuch zu machen, im Verwaltungswege die erwünschte oder notwendige Besserung der Verhältnisse herbeizu- führen. Nun hatte ich im Sommer vorigen Jahres, am 12. Juni, eine Zirkularverfügung an die Oberpräsidenten erlassen, in welcher sie darauf hingewiesen wurden, daß die Judikatur des Kammergerichts vielfa mißverstanden sei und daß auf Grund dieser mißverständ- lihen Auffassung der Judikatur des Kammergerichbts eine Unter- bringung von Kindern in Fürsorgeerziehung häufig au dann unterlassen worden sei, wenn sie nah dem Wortlaut des jeßigen Geseßes sehr zweckmäßig gewesen wäre und deshalb hätte erfolgen müssen. Die Oberpräsidenten sind in meiner Verfügung angewiesen worden, fn einer entsprechenden Belehrung der Antragsbehörden über die Bedeutung der kammergerihtlichen Rechtsprehung darauf hin- zuwirken, daß durch rechtzeitiges Eingreifen und sorgfältige JIn- struierung der Behörden die vorbeugende Absicht des Gefeßes tunlichst erreiht werde. Es ist ferner durh die Zirkularverfügung vom 12. Juni vortgen Jahres den Oberpräsidenten aufgegeben worden, nah Jahresfrist über dite Erfahrungen zu berichten, die sie mit ihre; Weisungen, die sie auf Grund dieser Versügung erlassen haben, gemacht hätten. Diese Berichte werden also im Laufe des nächsten Sommers eingehen. Wenn, was ja nicht ausgeschlossen t\t, \ich herausstellen sollte, daß alle Bemühungen, im Verwaltungswege die wünschenswerte Besserung herbeizuführen, gescheitert fein follten, dann würde ih niht Anstand nehmen, die von diesem hohen Hause be- \{lossene Aenderung des Gesetzes im nächsten Jahre vorzuskagen, (Bravo!)

Abg. Dr. Sche pp (fortshr. Volksp.) : Ich kann mich dew Abg. Schmedding nur ans{ließen und au eine Aenderung des G seßes befürworten. Die Wirkung des Gesetzes in prophylaktiscchn Hinsicht ist noch nicht genügend erreicht. Wir baben bei der Fürs orge- erziehung nicht nur mit den Kindern in der Schule und den \chcul- entlassenen Kindern zu tun, sondern wir müssen schon über die vorscul:

pflichtigen Kinder wachen. In Charlottenburg sind \egensreiche Erfolge erzielt worden. Es ist erfreulih, daß man bei den Fursorgezöglingen spezialisiert und verschiedene Anstalten errihtet hat. Die feeliscen Zustände eines Kindes, namentlih eines nicht normalen Kindes, sind sehr {wer zu verstehen. Die Zahl der Zöglinge war unter den ungelernten jugendlichen Arbeitern sehr groß, unter den in einem Beruf ausgebildeten nur gering; daraus folgt, taß die Eltern an- zehalten werden müssen, ihre Kinder in einem bestimmten Beruf aus- ilden zu lassen. Eine eee atnns hat aber einem Bergmann die Kündigung seiner Wo nung angedroht, wenn er seinen Sohn nicht Bergmann, sondern Maurer werden ließe. Das widerspricht unseren Intentionen bezügli der Fürsorgeerzichung. In den Bolfks\hulen in Berlin haben Stichproben ergeben, daß in Berlin 14 000 und in Groß Berlin 30 000 Kinder tagsüber ohne Aufsicht sind. Die Kinderhorte follten auch vom Staate unterstüßt werden. Es fehlt ferner an einer strengen Durchführung des Kindershutgeseßes. Ein Arzt hat festgestellt, daß ein Kind stundenlang bei einem Maler Modell stehen mußte, obwohl es dur ärztliches Attest vom Schul- besuch dispensiert war. Jch weiß wohl, daß das Modellstehen nicht unter das Kindershußgeseß fällt, aber man müßte sfolche Fälle doch zu verhindern suchen. Es wird von anderer Seite immer behauptet, daß eine religiöse Einwirkung die Kinder bewahren würde. Die Statistik zeigt aber, daß die Zahl der Bestrafungen der Berliner Schulkinder von 359 Fällen im Fahre 1898 auf 126 Fälle im Jahre 1911 gejunken ist, daß also die Volksschule ih auch die Ein- wirkung auf das Gemüt des Kindes angelegen sein läßt. Die Kinderheime können auch nichts Besseres erreichen. Die Kinderarbeit ist sehr gefährlih. Dadurch bekommen die Kinder zu viel Geld in die Hand und geben es leihtsinnig aus, besonders für Kinos. Diese Kinos sind aber vielfach sehr gefährlich für die Kinder. Die Ktno- besißer verstehen es, das Zensurverbot ges{chickt zu umgehen. Die

Filmfabrifkfanten begehen die größten Fehler dadurch, daß sie fast aus-

{ließli sensationelle Films in den Handel bringen. 75 9/g aller Berliner Kinobesiter fübren nur sensattonelle Films vor. Daher begrüßen wir es, daß eine Iugendbühne für Groß Berlin ins Leben gerufen worden ist. Vielleicht könnte die Negierung diese Bühne finanziell unterstüßen. Wir begrüßen es, daß die Aerzte die Errichtung ciner ursorgestelle angeregt haben. Ich bitte die Negierung, diefem Antrag zuzustimmen. BVielfah wird auch darüber geklagt, daß die Polizei oft so \pât einschreitet, wenn die Kinder sittlihen Gefahren ausgeseßt sind, z. B. wenn die Väter dem Trunke ergeben sind usw. Hier ist s{hnelle Hilfe geboten. Ich hoffe, daß wir bald zul einem geeigneten Fürsorgegeseß kommen, wie es in England bereits eingeführt ist.

Abg. Borchardt (Soz.): Unsere heutige Fürsorgeerziehung ist gewissermaßen eine Ausnahmemaßregel gegen die Proletarierkinder. Schon in den Berliner Schulen werden s{chwarze Listen geführt über diejenigen Kinder, die in Aussicht genommen sind, später der Für- forgeerziehung übergeben zu werden. Das ist im höchsten Grade be° dauerlih. Jn den Berichten über die Fürsorgeerziehung wird immer behauptet, daß auf diesem Gebiete große Erfolge erzielt würden, aber worin diese Erfolge bestehen, wird nicht gesagt. Auch darüber, was in den Anstalten vorgeht, wird uns in den Verichten nichts gesagt. Dorkt herrschen vielfach die unglaublichsten Zustände. Die Näume der An- stalten sind oft durchaus unzureichend. Sie sind vielfach viel zu ens

(Schluß in der Zweiten Beilage.)

zum Deutschen Reichsanzeiger und Königlich

Zweite Beilage

(ar

Preußishen Staatsanzeiger.

1943.

Are ————

(Schluß aus der Ersten Beilage.)

Die Kinder, welche Privatpersonen zur Pflege überwiesen werden, fönnen von diejen nit in aubreichender Weise verpflegt werden, weil die Pflegegelder viel zu gering sind. Das ZUchtigungsreht in den

Tursorgeanstalten wird vielfach mißbraucht. Wie 1h aus einer Zeit- rift entnehme, hat dei

i er Minister des Innern einen Erlaß ergehen lassen, der u. a. den Hausvätern gestattet, schulentlassene Mädchen dur Anstaltsbeamte ohne Zuziehung eines Arztes prugeln zu lassen. T bitte den Minister um Auskunft ob dieser Erlaß tatsächlich eritiert. Die Lehrer in den Fürsorgeerziehungsanstalten sollten sich mehr unter die Kinder mischen, mit ibnen Iplelen, aber mcht als Auf- her austreten, wie es des öfteren geschieht. In cinem Buch von

ert „Deutsche Fürsorgeerziehungsanstalten în Wort und Bild“

ißt es, der Zweck und Triumph dieser Erziehung ist, den Troß und den Willen des Zöglings zu brechen. Aber in dem Buch des Berliner Pastors Traub, dem man doch in Fürsorgeerziehungsfragen eimges Vertrauen entgeaenbringen muß, sind gerade entgegengeseßte Grund- äße aufgestellt. Ein amtlicher Bericht sollte uns Auskunft darüber geben, irie es in dem Innern dieser Anstalten ausfieht. Man sollte nur ganz besonders für die Fürsorgeerziehung ausgebildete Lebrer verwenden. Die Kinder werden überhaupt nicht erzogen, sondern nur eingekerkert. Dic Fürsorgeerziehung ist nur eine verkappte Gefängnisstrafe.

Abg. Dr. Lohmann (nl.): Der Minister kann unmöglich in jedem einzelnen Falle feststellen, ob die (Srziehung im Elternhause genügt, oder ob eine Fürforgeerziehung angebracht ist. Wir begrüßen es, daß in dem jeßigen Etat eine Summe von 30 000 M4 zur Förderung der Be- strcbungen zur Fürsorge für die gefährdete und verwahrloste FJügend eingeseßt ift, hoffen aber doch, daß sie im nächsten Jahre wesentlich erhoht wird. Wir halten die Verwaltungsmaßnahmen für nicht aus- reichend. -Wir bitten, daß Sie unseren An trag g auf Erhöhung dieses Fonds annehmen.

Geheimer Oberregierungsrat S {los sex: Es sind in den Für- sergeanstalten besondere Beamte angestellt worden als WVertrauens- personen für die Zöglinge. Sie sind Organe der Provinzialverwal- tung und stehen im Einvernehmen mit den Anstaltsleitern. Den Bor- wurf, daß die Lehrer gewissermaßen als Aufsichtspersonen auftreten, muß ih zurückweisen. Daß die Kinder in Familien nur des Geldes wegen aufgenommen werden, ist doch nicht ganz zutressend. Es gibt cine ganze Anzahl von Familien, denen es eine Freude ist, und die aus christliher Nächstenliebe Kindex - aufnehmen. In der Statistik tonnen wir unmöglich dazu übergehen, jede einzelne Anstalt zu be- schreiben. Das würde doch ein dickleibiges Werk werden, dessen Leiture Sie wahrscheinlih ablehnen würden. In der Statistik be

1 sich genaue Angaben darüber, in welchen Berufen die Zöglinge

bildet werden. Auch die. Provinzialbebörden bringen eingehendes

erial. Daß man es hier mit einem. Gebeinmis zu lun. hat, ist also unrichtig. Die Erfolge der Fürsorgeerzkehung fönnen do nur er denjemgen gemessen werden, die aus der Fuürforgeerziehung son wSge|chieden sind. Wenn man das berücksichtigt, so muß man zu-

eden, daß ganz ausgezeichnete. Erfolge erzielt worden sind. Bei der

"ifzlplinarstrafe verfolgen wir die Tendenz, daß Nepressivstrafen

lidst vermieden werden sollen, die Prügelstrafe soll sih nur auf hodstens zehn Hiebe erstreŒen und namentli bei Mädchen nur im hochsten Ausnahmefalle angewendet werden, wenn alle anderen Strafen verjagen. Cs i} nit mögli, den Arzt in jedèm einzelnen Fall uzuziehen, da ‘er sehr häufig zu weit von der Anstalt entfern eont, eine Strafe hat pâdagogisch feine Wirkung, wenn sie nich

[0/071 bollftreckt wird. Die körperlichen Züchtigungen werden immer eor eingeschränkt. ‘Von je bundert Fällen ist in fünf Fällen von diesem viramittel Gebrauch gemaht worden. Das Erziehungspetsonal wird aufs forgfältigste ausgewählt. :

g. Dr. -S he p-p (fortshr. Volkspy.): Die Fürsorgeerziehung it feine Parteifrage, sondern eine padagogische; der Abg. Borchardt hat also Tein Recht, eine Nedewendung zu gebrauchen wie: „Selbst Herr Vr. Schepp“. Der Abg. Borchardt übersieht, daß die Für- jorgezoglinge feinesfalls durhaus normale, sondern vielfah minder-

wertige Kinder sind. Deshalb sind auch Psychopathenheime errichtet

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; Die Personalbogen sind keine schwarzen Listen, sie sind abjolut notwendig, um alle Fälle s{leuniait und fachgemäß zu erledi- gen. Die gesámte Lehrerschaft hat die Personalakten nit nux für verwahrloste, Jondern für alle Schulkinder verlangt, damit den Lehrern das Kind mt ein unbeschriebenes Blatt ist. Der Abg. Borchardt moge nur die darauf bezügliche Literatur lesen. Viele Kinder scheinen voll- ¡tandig normal zu sein, von denen si später herausstellt daß fie abnorm sind. Die Personalbogen fonnen auch beim Eintritt in den Hilitärdienst Verwendung finden. Die Eltern konnen die Personal- dogen einsehen, wenn sie na der Schule kommen wollen, aber den

„lern de Personalbogen erst vorzulegen, das ist. do ganz unmög . Die Eltern sind teineswegs so ideale Menschen, man kann oft ei dis vier Karten an einen schreiben, daß er im Interesse eines Kindes einmal zum Lehrer tfommen foll, ebe er wirklich fommt. j s des Fürsorgewesens ab.

1G A: on Ea R E E 5 O veantrage den Schluß

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ch Iprehe dem Abg. Borchardt jede Kenntn __ Abg. von Pappenheim (konf.): r Besprechung.

Ver Schlußantrag wird angenommen.

Persönlich bemerkt „_ bg. Borchardt (Soz.): i r. Schepp sagt, es sei feine Parteisache, er hat aber bewiesen, er sehr gut mit den Kon- lérzativen zusammengehen fann.

Der Titel wird bewilligt. „_ our die Förderung der Bestrebungen zur Fürsor ge [R 0 le ge}\ährdete oder verwa DTLONLC Ugen D lind 30 000 4 neu ausgeworfen worden. g Berichterstatter Abg. Win &ler (kons.) bemerkt, daß in der Kommission der Antrag gestellt worden fei, diesen Betrag zu erhöhen, aber die Negierung dagegen Widerspruch erhoben habe, weil fich ti gar nicht übersehen lasse, welhe Forderungen an diesen ¿Fonds pat werden. Die Regierung habe eventuell für spätere Jahre R Erhöhung in Aussicht gestellt. Deèhalb habe die Kommission Rer der Grhöhung in dem vorliegenden Etat abgesehen und nur die 1 geution beschlossen, daß die Regierung ersucht werde, vom 4pril 1914 ab den Fonds wesentlih zu erhöhen.

I c , , .+ y vi Bon dem Abg. Lieber (nl.) liegt gleichfalls der An trag e die Regierung um wesentlihe Erhöhung des Fonds zu

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N Auf Vorschlag des Vizepräsidenten Dr. Por ch beschließt s Haus, beide Anträge - von der Tagesordnung abzusetzen, ! Ne nah der Erledigung des ge)amten Etats besonders zu etaten, wodur jedoh die Besprechung des Titels nicht be- indert werden soll. E

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Es L LEDE (nl): Es kann gar keinem Zweifel unter- tig bbia Gd dem Gebiet der &ürlorge noch außerordentli viel zu auSreidhen, Be und daß vor allem die. vorhandenen Mittel nicht vedürfe Bd) sondern einer „weiteren Ausgestaltung dringend die Verteil leser Grkenntnis ist unser Antrag entsprungen. Was nun Kinderfürsge 0 der Fonds an die einzelnen Vereine, welche si der nit iy lorge widmen, anlangt, so scheint mir, daß den Bedürfnissen *%* Un genügender Weise Rechnung getragen wird. Ich hoffe, daß

die zur Verfügung gestellten Fonds in Zukunft zwedmäßiger ver- wendet werden.

Abg. Dr. Fle ch (fortshr. Volksp.): Ih \&lieke mich den Aus- führungen des Vorredners voll und ganz an. Die Jugendfürsorge it eine der wichtigsten Aufgaben. Ihre Förderung muß daher mit allen Mitteln erstrebt werden. -Jch möchte aber den Antrag auf Erhöhung der zu diesem Zweck bereitgestellten Mittel nit als eine Anrufung des Staates betrachtet wissen, sondern als einen Antrag auf eine wirkfsame Ergänzung des Schulwesens. Von diesem Gesich!spunkt aus bitte ih die Negierung, ih1e crhöhte Aufmer1samkeit auf dieses Gebiet zu lenken.

Abg. Nosenow- (fortschr. Volksp.): Ein wesentlihes Mittel ur Vorbeugung gegen die Verwahrlosung der Jugend stellen zweifel- s die Bolfsfindergärten dar. Die Volfs indergärten forgen dafür,

ß lge i Beschäftigung nicht

igen und zu pflegen, eine geeignete Stätte finden, wo sie in ¡weckbmäßiger Weise beauffihtigt und verpflegt werden. Allerdings wäre es emvfe| enswert, wenn der Aufenthalt in diesen Kindergärten ohne Entgelt ermögliht würde.

Der Titel wird bewilligt.

Um 41/7 Uhr wird die weitere Beratung des Etats des Ministeriums des Jnnern auf Freitag, 10 Uhr, vertagt.

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die Kinder, deren Eltern infolg in der Lage find, ihre Kinder zu beauf

Koloniales.

_ Dem Reichstag ist soeben eine Denkschrift über die Entwicklung der Schußgebiete Afrikas und der Südsee für das Etatsjahr 1911/12 ugegangen, in der

es u. a. heißt:

Das Berichtsjahr (April 1911 bis April 1912) war für alle Schutzgebiete eine Zeit friedlicher Gntwidlung. Auf friedlilem Wege wurde unjer Kolonialbesiß durch die Erwerbung eines Teils Der Nachbarkolonie Französi\ch Kongo unter Abtretung eines Grenz- streifens von Kamerun wesentliÞh auégedehnt. Vereinzelte Unruhen unter der eingeborenen Bevölkerung in Kamerun, im Nordwesten von Deutsch Ostafrika und in den no% nicht unter Verwaltung ge- nommenen Teilen von Deutsch Neugutnea wurden ‘asch und ohne Schwierigkeit unterorüdt.

Die Organisation der Verwaltung hat in den Shußgebteten keine wesentliche Veränderung erfahren. Die Eingeborenenrechtspflege wurde weiter ausgedehnt, und man wird im großen und ganzen sagen können, daß ein immer größerer Kreis von Eingeborenen für die Biele und Methoden unserer Verwaltung Vertändnis gewinnt.

__ Die Medizinalverwaltung ist in der Vge, für Deutsh Südwest- afrika und Kamerun sowohl bei der weißen wie bei der farbigen Bevölkerung günstige Gesundbeits- und Sterblichkeitsverhältnisse sowie Fortschritte in der Bekämpfung der Epidemten festzustellen. In Deutsch Wafrifa {reitet zwar die Bekämpfung der Schlafkrankheit weiter fort, dagegen war dort der allgemeine Gesundheitszustand wenig be- [riedigend, da die rkrankungen erbeblich zugenommen haben. Auch in Togo laffen die Gesundheitéverhältnisse zu wünschen übrig. Die Sanierungsarbeiten in Lome sind zwar fortgeschritten, aber noch nit beendet. In Samoa verltef das Jahr, abgesehen von einer Masern- evidemtie, normal, während in Deuts Neuguinea gegenüber dem Vorjahre eine Verschlechterung der Gesundheitsverhältnisse zu ver- zeichnen ift.

Die weiße Bevölkerung in sämtlichen Scchußtßgebieten ist von 21 600 am 1. Sanuar 1911 auf 23300. am L Januar 1912 ge- stiegen, hauptsächlich infolge der Vermehrung der Wetßen in Deutsch Südwestafrika und tn Deutsch Ostafrika. Hier sowohl wie in Kamerun ist diese. Zunahme zum Teil durch die Bahnbauten bedingt, während in Togo eine geringe Abnahme der weißen Bevölkerung dur Beendigung des Baues der Hinter- landbahn zu erklären ift. Auh für tie Südsee tit eine leine Zunahme der weißen Bevölkerung zu verzeihnen. Von der farbigen Bevölkerung der Schußzgebiete kann \{häßungsweise an- genommen werden, daß sie im ganzen eine Zunahme erfahren hat, wofür unser volkreichstes Schutgebiet, Deutsch Ostafrika, aus- \hlaggebend tl|t. In Samoa und in Deutsch Neuguinea haben sih die Chinesen beträhtlich vermehrt. Jn Deutsch Neuguinea hat die Verwaltung noi) eine besondere bevölkerungspolitische Aufgabe zu lösen begonnen, nämli die teilroeise Verpflanzung der Gingeborenenbevölkerung von den fleinen Atollen nah größeren Inseln. Cs erweist fich dtes namentlich aus dem Grunde ‘als notwendig, weil die von Zeit zu Zeit auftretenden Taifune Leben und Eigentum der Eingeborenen auf den tl-inen Atollen \hwer gefährden.

Eine erfreuliche Weiterentwicklung des Schulwesens wird aus allen Schußzgebieten gemeldet, zum Teil mit der Betonung, daß neue Bedürfnisse zu befriedigen varen, w'e die Einrichtung von Fort- bildungs\{ulen oder Pensionaten. Ebenso wird die Tätigkeit der Missionen beider Konfessionen von der Berwaltung der Schutzgebiete allgemein günstig beurteilt und in Deutsh Südwestafrika das fort- \chreitende gute Einvernehmen der Missionare mit der weißen Be- völkerung besonders bervöorgehoben.

Die weltwirt'{chaftlide Lage im allgemeinen war im Berichisjahre der Kolonitalwirtschaft sehr günstig.

_ Die Regelung der Arbeiterverhältnisse mat von den allgemeinen Grundlagen der Kolontalwirtschaft der Verwaltung am meisten Sorge. Ob durch Arbeitsordnungen allein dem immer drohender werdenden Arbeitermangel in der Farmwtrtschaft und im Bergbau Deutsch Südwestafcikas sowie den damit verbundenen Lohnsteigerungen ges steuert werden kann, erscheint bet den dortigen Eingeborenenverhält- nissen fraglih. Es wird wohl mit einer weiteren Heranziehung aus- wärtiger Arbeitskräfte gerechnet werden müssen. In den tropischen Schuygcbieten Afrikas konnte im Berichtsjahre den großen An- forderungen an den Arbeitsmarkt feitens der Pflanzungen und der Gisenbahnunternehmungen in der Hauptsache entsprochen werden. In Deutsch Ostafrika mehren sich aber die Klagen der Pflanzer über unzureihende Versorgung mit Arbeitskräften.

Die \{wierigen Fragen der Kreditörganisation in den Schuß- gebieten konnten im -Berihhtsjahre noch nicht gelt und erst im laufenden Jahre wenigstens zum Teil threr Löfung entgegengeführt werden. Es handelt sih dabei niht sowohl um deu rein faut- mnäunischen Kredit, der in der Hauptsahe dur die Deuisch- Ostafrikanishe Bank, die Handelsbank für Dstafrika, die Deutsch- Westafrikanische Bank und die Afrikabank untér erheblicher Ausdehnung der Geschäfte befriedigt wurde. Nur die fo wüns{chenswerte Errichtung von Filialen der großen deutschen Handel!sbanken in der Südîece kam troy aller Bemisihunaen der Ver- waltung nicht zustande. Die Entwicklung der wirtschaftlißen Ver- hältnisse in den Schußtzgebieten, insbesondere in Deutsch Südwest- afrika, erfordert, abgesehen von der Pflege des kaufmännischen Kredits, immec dringender die Schaffung von FKreditquellen für Farmer. Pflanzer und die siadtishe Bevölkerung, So- weit es ih hierbei um kurzfrisligen Betriebskredit handelt, witd die Organisation genossenschaftliher Darlehne kassen in Betracht tommen. Ansäße hierzu sind bereits vorhanden. Die Lösung der s{wierigen Aufgabe, für die Farmer in Deutsch Südwestafrika in Kreditinstitut für la-gfristigen Besißz- und - Meliorations-

kredit zu schaffen, hat erst im laufenden Iahre festere Ge- stalt gewonnen. Immerhin hatten im Berichtsjahre die Ver- handlungen der „Ständigen Wirtschaftlihen Kommission der Kolonial- verwaltung“ über die Kreditorganisation in den Schutzgebieten diese Frage nach der Richtung geklärt, daß das Privaikapital für den langfristigen Besitz- und Meliorationskredit der südweft- afrikanischen Farmer nicht in Betracht kommt, daß vielmehr kür ein offentlih-rechtliches, mit fstaatliden Mitteln ausgestattetes Kreditinstitut diesen Bedinfnissen Nechnung tragen kann. Dieses Ziel wurde denn au bei den vorbereitenden Arteiten für die Schaffung einer Deutih-Südwestafrikanischen Landwirt\chafts- bank im Auge behalten. Daneben ging selbständig die Gründung eines privaten Kreditinstituts für den städtishen Bodenkredit in Deuts Südwestafrika einher, das im laufenden Jahre tn Tättg- keit getreten ist. Schließlich ist aus den hier eins{lägigen, die Ver- waltung beschäftigenden Fragen noch hervorzuheben die Schaffung von Spar- und Dahrlehnskassen für die Eingeborenen in unaseren Schutgebieten. Auch hierfür bieten sih bereits in den immer mehr bon den Cingeborenen benutzten Sparkassen derx Deutsch-Westafrikanti- hen Bank in Lome und der Gemeinde Daresfalam Ansäte bär. Ueber die Errichtung von Postsparkassen zunächst in Deutsch Ostafrika [{chweben noch Verhandlungen.

Die Kapitalinvestierung erfuhr einen RNüdtschlag gegenüber dem Vorjahr. Die an den Diamantenwerten erlittenen Berlujte \chreckten die Kapitalisten ab. Unsolide Gründungen und die Schwierigkeiten einiger Gefellshafien wirkten weiter auf die Zurückhaltung der Kapitalisten ein. Diese Zurückhaltung machte sich zunächst auch am BVörsenvberkehr mit Kolonialvapieren verstimmend bemerkbar.

Die Kurse der Diamantenwerte gingen andauernd zurüd. Weiterhin war aber ein wasendes Interesse für Werte solider Pflanzungs- gesellshaften zu beobahten. So fanden die Werte einiger Südsee- unternehmungen gesteigerte Aufnahme zu anziehenden Kursen. Wenn der Umsaß in kolonialen Wertpapieren troßdem im ganzen zurückgegangen ist, fo ift dies auch darauf zurüczuführen, daß die gewerb8mäßige Spekulation fih seit der großen Baisse in Diamantenwerten sehr zurückgezogen hat. Dafür hat fi erfreulicher- weise der Kreis folider Neflektanten vergrößert, der gute Kolontal- werte zu dauerndem Besiß erwirbt. Insofern {ist eine Konfolidierung des Marktes für koloniale Wertpaptere festzustellen, die sih in einem recht widerstandésähigen Kursstand für gute Kolontalunternehmungen zeigt. So ist es au zu erklären, daß die kolonialen Wertpaptere in der für die Börse fo fritischen Zeit des laufenden Jahres sich ver- hältnismäßig gut gehalten Haben. Die Verwaltung verfolgt diesen Sanierungsprozeß des Börfenverkehrs in kolontalen Werten mit regem Interesse, unterstützt, soweit es in ihrer Macht ist, die Bekämpfung von unsoliden tolonialen Gründungen und fördert solide Unter- nehmungen.

Bei der Frage einer möglich{#t ratiunellen, den praktischen Bedürfnissen der Kolonialpirtschaft Rechnung tragenden Gestaltung der Cilfenbahntarife, die einer befriedigenden Lösung entgegen- geführt werden soll, wird von dem Gesichtspunkte ausgegangen, daß bei den Cisenbahnen unserer Schutgebtete die direkte Renta- bilitäl zunächst nicht aus\chlaggebend sein darf. Jn Neulänbern, wo der wirtschaftlich erschliezende Einfluß der Etsenbahnen ntcht nur auf privatwirtschaftlihem, sondern auch auf dem s\taatswirt- schaftlichen Gebtete, wie in der Vermehrung der Steuer- und Zollerträgnisse, viel rascher, stärker und nachhaltiger hervortritt als in alten, mit Berkehrsmitteln gesättigten Kulturländern, wird man nicht bloß bet der Berechnung der Bauwürdigkeit etner Eisenbahn, sondern au bei der Geftalturg threr Tarife die tndirefte Frentabiltität besonders berütsidtigen müsen. Haben doh unsere Schutzgebiete durchweg mit der Betonung dieses Gesicht2punktes fon bei den Entshlüssen zum Bau der einzelnèn Eifeubahnstrecken, wte sich jeßt immer mehr herausftellt, die betten Erfahrungen gemacht. Die Verwaltung wird deshalb in der Tarifpolitik der Eisenbahnen die fisfalishen Interessen einstweilen _zurückstellen müssen und {h von der Zuversicht auf die reichen E1 schließungsmöglichkeiten unserer Schußzgebiete leiten lassen.

Hat fich die Landwirtschaft der Eingeborenen im wesentliden in den überkommenen Grenzen gehalten, so ist bei der europäiscen

Plantagenwirtschaft vielfach ein regêr Fortschritt zu verzeichnen. In

Deutsch Ostafrika ist besonders die günstige Entwicklung der Kautschufk- C á R A » 2 D pilanzungen bemerkenswert, während die Waumwollplantagen noch

ungünstige Ergebnisse hatten. Es dürfte dies in der Hauptsache auf die Wahl ungeeigneter Böden und Sorten zurüczuführen und deshalb für die Zukunft ein besseres Ergebnis zu erwarten fein. Auch die Kaffeeproduktion in Deutsch Ostafrika hat aroße Schwterigkelten über- winden müssen, bevor sie si, wie ties im Berichtsjahre der Fall war, günstiger zu entwickeln begann.

Die Farmwirtschaft in Deutsch Südwestafrika, die im Jahre 1911 durch Trockenheit ungünstig beeinflußt war, hat sih im Laufe des Jahres 1912 von dieser Schädigung erholt. Die Vermehrung der Farmen durch Verkauf und Berpachtung von Regterungsland sowie von Land der Gesellschastea, die beträchhtlihe Zunähme des Besitzes an Rindvieh und Schafen, besonders Wolls{afen, die fortsczreitende Ausdehnung des Anbaues von Feldfrüchten, Tabak, Obst und Wein, vielfah mit Hilfe künstliGer Bewässerung, lassen auf eine gute Lage der Farmwirtschaft im Berichtsjahre {chließen.

Was die Vermittlung des Bezugs und des Absaßes, den Handel, der sih sehr lebhaft gestaltete, anbelangt, so läßt sich über den Binnen- handel mangels einer zuverlässigen Statistik nur allgemein fagen, daß er in allen Schuygebièeten mit deren forts{reitender Erschließung durch Eisenbahnen und sonstige Verkehrêmittel von Jahr zu Fahr größere Bedeutung erhält. Fn Deutsch Ostafrika ist die beträhtlid:e Steigerung des Binnenhandels auh aus dem Ergebnis der Gerverbe- steuer ersihtlich.

Der in der Handelsstatistik erfaßte auswärtige Handel der Schutgebiete ist von 229 Millionen Mark im Kalenderjahre 1910 auf 240 Millionen Mark im Fahre 1911 gestiegen. Die Einfuhr stieg von 128 auf 142 Millionen Mark, während die Rus- fuhr von 101 auf 98 Millionen Mark fiel, Der Rüdcckgaug der Ausfuhr ist vollskändig durch die Minderung der Diaämantén- ausfuhr von Deutsch Südwestafri?a und der Phosphatautfuhr von Deutsch Neuguinea erklärt. Da diese beiden Ausfälle größer sind als der Nüt&gang der Gesfamtauéfuhr, so ergibt fich, daß dite fonsiige Ausfuhr zugenommen hat. Zu der bedeutenden Steigerung der Einfuhr haben gewiß die Eisenbahnbauten beigetragen, anderfeits ist aber auch, wie z B. in Togo, der Antèil der Cisentahn- baumatertalien an der Einfuhr, tem Vorjabr gegenüber, zurückgegangen.

Der Anteil Deutshlaads am Gefamthandel der Schußzgedbiete ist erfreuliherweise gesiiegen, namentli in Kamerun, wo fast die gesamte Zunahme des Handels auf den deutschen Anteil kam, ebenso in Deut|ch Ostafrika. Dagegen hat der deutsche Anteil am CEinfuhrhandel von Togo einen beträdhtliden Rüdtgang, haupt- säblich infolge des Ausfalls von Cisenbahnbaumaterialien, erfahren. In Deutsch Südwestafrila i| mit dem all- geineinen beträchtlihen Rückgang des Außenhandels auch der Unteil Deutschlands gegenüber dem Borjahre erheblich geringer ge- worden. In Samoa fällt die Einfuhrzunahme fast aanz auf Australien, die Ausfuhrzunahme dagegen in der Hauptsache äuf Deutschland. Jn Deutsch Neuguinea {ließliÞ hat dec Anteil Deutschlands bedeutend zugenommen, was um so bemerkenétwerter ist,

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