1895 / 40 p. 6 (Deutscher Reichsanzeiger, Thu, 14 Feb 1895 18:00:01 GMT) scan diff

dem Herrn Abg. Brandenburg eine Verwahrung dagegen aussprehen, daß eine Verpflihtung des Staats, für die nothleidende Familie eines Vecurtheilten zu sorgen, vorliegt. Die Ausführungen des Herrn Vorredners könnten beinahe \o klingen, als wenn die Gerihte eine Schuld träfe an der Noth, in die die Familien durch die Verurtheilung des Familienhauptes gelangen. Einer derartigen Auffassung muß ich mit aller Bestimmtheit entgegen- treten. Es ift gewiß ein Unglück für die Angehörigen, wenn ihnen der Ernährer entzogen wird; aber es ist in diesem Falle niht mehr wie bei andern Unfällen, die gleichfalls nicht nur den Schuldigen, ssndern auch seine Angehörigen treffen.

Ich möchte deshalb kaum glauben, daß die Sache dazu angethan ift, daß der Staat die Sorge für die nothleidenden Familien über- nehme und sie den nah unserer Gesezgebung für die Unterstützung der Familien verpflichteten Armenverbänden abnehme. :

Zu dem Ausgabe-Etat, und zwar dem Titel „Gehalt des Ministers“ nimmt nach dem Abg. Dr. Rintelen (Zentr.): wiederum das Wort der :

Justiz-Minister Schönstedt:

Meine Herren! Ich danke zunächst dem Herrn Abgeordneten für seine Schlußbemerkung. Wenn ih auf den Eingang seines Vortrags zurückgehe, fo kann ih zunächst bemerken, daß die von meinem Amts- vorgänger vorbereitete Revision der Zivilprozeßordnung \sich gegen- wärtig in folgendem Stadium befindet:

Es ift ein Programm aufgestellt worden, welches unter Berück- fihtigung der vorliegenden Erfahrungen eine ganze Reihe von Fragen enthält, deren Beantwortung durch eine Kommission im Reichs- Justizamt erfolgen foll. Die Mitglieder der Kommission sind bereits bestellt und die Berufung derselben wird erfolgen, sobald die parlamentarishe Geschäftslage dem Reichs-Justizamt die nöthige Muße gewährt, was hoffentlih in kurzer Frist der Fall sein wird. Ein großer Theil derjenigen Punkte, welche der Herr Abg. Rintelen zum Gegenstand seiner Erörterung gemacht hat, befindet \ih in dem aufgestellten Programm.

Wenn im übrigen der Herr Abg. Rintelen die Zustände bei dem hiesigen Kammergericht zum Gegenstande seines Bortrags gemacht bat, fo kazn ich selbstverständliß den auf eigene Erfahrungen ge- stüßten Mittheilungen des Herrn Abgeordneten über diese Zustände nicht widersprehen. Ih möchte jedoch niht ohne weiteres zugeben, daß alle diese Uebelstände sch aus den Bestimmungen der Zivilprozeßordnung ergeben. Ih möchte es auch nit für an- gezeigt halten, aus den immerhin außergewöhnlihen Zuständen bei den Berliner Gerichten Schlüfse auf den Zustand der RNecht- fprehung im übrigen Theil der Véonarchie zu ziehen. Es ift selbst- verständlich, daß in einer Stadt wie Berlin, die in einem so’ außer- ordentlich lebhaften Aufschwung nah allen Richtungen begriffen ift, auch Anforderungen an die Behörden und namentlih an die Gerichte gestellt werden, die nicht ohne weiteres erfüllt werden können. Jch möhhte den Herrn Abg. Rintelen erinnern an seine eigene frühere Zeit und ihn fragen, ob nicht damals, als er zu Anfang der sechziger Jahre aw Kreisgericht in Dortmund wirkte, zu einer Zeit, wo der Aufs{chwung der industriellen Verhältnisse in Westfalen gleihfalls eine ganz un- gewöhnliche Zunahme der gerihtlihen Geschäfte zur Folge hatte, mit welcher die Bewilligung von Arbeitskräften nicht überall gleichen Sthritt halten konnte, ob niht damals ähnlihe Erscheinungen und ähnliche Uebelstände hervorgetreten sind, wie diejenigen, die nah seiner Schilderung jeßt am hiesigen Kammergericht vorhanden sind. Ich gebe zu, daß ein Theil dieser Uebelstände auf die Bestimmungen der Zivilprozeßordnung zurückzuführen sein wird, und rehne namentlich dahin die außerordentlich bäufige Vertagung der anstehenden Vertagungen, zu denen die Gerichte sich vorbereitet haben, um diese Vorbereitungen nach fünf, sechs Monaten vielleicht wiederholen zu müssen. Diese Vorbereitungen bängen allerdings eng zusammen mit dem in der Zivilprozeßordnung statuierten Parteibetriebe und ih glaube, daß allerdings dahin wird gestrebt werden müssen, diesem Pärteibetriebe gewisse Schranken zu ziehen. Aber 0 lau E een, L au ai den grundlegenden und maßgebenden Prinzipien der Zivil- prozeßordnung gerüttelt werden müsse, und daß wir wieder zu dem Verfahren zurückzukehren hätten, wie es in Altpreußen bis 1879 be- standen hat. Ich glaube, die absprecenden Urtheile über das neue Verfahren find vielfach darauf zurückzuführen, daß diejenigen Herren, die unter der Herrschaft des alten Verfahrens alt geworden sind mag es nun das preußische oder das hannoversche oder das rheinische Verfahren gewesen sein sich nicht fo leiht an ein ganz neues Ver- fahren gewöhnen, das von dem alten, was ihnen fo in Fleisch und Blut übergegangen ift, in vieler Beziehung abweicht.

Meine Herren, die Zivilprozeßordnung hat auf der anderen Seite doch einen ganz außerordentlihen Fortshriit in unser Gerichts- verfabren gebracht, und ich glaube, daß der Vortheil niht hoh genug zu schäßen ift, den eine mündlihe Verhandlung, der Vortrag der Parteien vor dem Geriht bietet, gegenüber dem bis 1879 üblih gewesenen Vortrage aus den Akten. Ich selbs kann aus meinen Erfahrungen bezeugen, daß von den Antralten und dem Publikum vielfach anerkannt worden if, welch außer- ordentliher Fortschritt durch Einführung der Mündlichkeit ent-

standen ist. Nun gebe ih zu, daß vielleiht die Grundsätze der Zivil- prozeßordnung nach einigen Richtangen zu weit zugespitt sind, daß ihre Vorschriften auch vielleiht in einer über das Maß des Gebotenen binauëgehenden Weise das Mündlichkeitsprinzip durchgeführt haben. In dieser Beziehung werden sih Einschränkungen finden lassen, und auch das wird Aufcabe der zu berufenden Kommission sein, über derartige Einschränkungen sich s@lüssig zu machen; sie find vorgesehen in den ihr vorzulegenden Fragen des von mir vorher erwähnten Programms. Meine Herren, ih hoffe, es gelingen wird, in den Berathungen dieser Kommission, der eine Reibe bervrorragender Praktiker aus den versicdenen Bun- deéstaaten angehören werden, den Weg zu finden, der uns aus den wirkli vorhandenen Uebelständen herausführen wird.

Im übrigen glaube ich, bemerken zu müssen, daß vielfah doch diese Uebelstände zurückzuführen find auf eine unrihtige Handhabung des Gesetzes, mag dies nun licgen in der Leitung der Verhandlungen oder in der Betreibung der Prozesse durch Nehtsanwalte. In leßterer Beziehung glaube ih nicht die Bemerkung unterdrücken zu können, daß nah meiner Erfahrung auch die Rechtëanwalte es siud, die durh die vielfahen Vertagungen die Prozesse Weise verlängern (sehr rihtig !), und ih glaube aus\prechen zu dürfen, daß es nicht unmöglich wäre, durch eine andere Praxis in dieser Be- ziehung bei den Herren Rechtsanwalten Abhilfe zu schaffen. Es läßt

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sih namentlich bei fo großen Gerichten, wie sie hier in Berlin be- ftehen, überhaupt nit vermeiden, daß die Herren, die eine bedeutende Praxis haben, gleichzeitig an verschiedenen Stellen aufzutreten haben, sei es in demselben, sei es in einem anderen Gericht, und wenn diese Herren es dann nicht einzurichten wissen, daß sie für einen Theil ihrer Geschäfte eine angemessene Vertretung finden, so ergiebt sch ja von selbst, daß sie an einem Theil derjenigen Orte, wo sie erwartet werden, fehlen müssen. Bei der überall bestehenden kollegialishen Konnivenz, gegen die ih im Prinzip nihts einzuwenden habe, die aber niht immer zum Vortheil der Parteien geübt wird, kann es dann nicht ausbleiben, daß folche Vertagungen von Prozeßverhaudlungen sih sehr häufig wiederholen. Ich habe hon mehrfach Veranlassung genommen, wo ih Gelegenheit hatte, mit Anwalten über diese Frage zu sprechen, denselben anheimzugeben, ob es nicht möglih fei, durch Assoziationen, wie sie anderswo bestehen, diese Schwierigkeiten einiger- maßen wenigstens zu vermindern. Wenn - ich zurückdenke an meine praktische Thätigkeit in Frankfurt a. M., so kann ih von daher mittheilen, daß kein angesehener Anwalt dort ohne Verbindung mit einem anderen ist, und daß die gesuchtesten und bedeutendsten Anwalte fast alle zu zweien oder dreien zusammenarbeiten. Dieses System is nach den mir gemachten Mittheilungen eigene Erfahrungen habe ich darüber nicht in Berlin noch wenig entwickelt, obgleih es an der nöthigen Zahl von Anwalten keineswegs fehlt. JFch meine, daß bei der großen und wachsenden Zahl von Anwalten bei den hiesigen Gerichten es niht unauéführbar sein dürfte, daß auf dem von mir angedeuteten Wege wenigstens “cine Milderung der bestehenden Uebelstände nach dieser Richtung hin erreicht würde, und ih möchte den Herren Anwalten, die hier im Hause sißen, diesen Gesichtspunkt besonders ans Herz legen. Jch glaube, wie gesagt, daß sehr viel geschehen kann durch eine bessere Handhabung des Gesetzes, und daß nicht lediglichß im Geseß allein der Grund der Vorwürfe zu suchen ist, die mit mehr oder weniger Berechtigung der bestehenden- Zivilprozeßordnung gemacht werden.

Abga. Roeren (Zentr.): Bei den formalistischen, bureaufratishen und zu Härten führenden Grenzen unseres Zivilprozesses ist in den leßten Jahren das Ansehen der Richter und das Vertrauen zu ihnen zurückgegangen. Nur, wenn der Richter wieder seine Ehre und seinen Stolz in der vollen Unabhängigkeit und Objektivität sucht, die ihn zur Unparteilichkeit befähigt, wird das Vertrauen in die Justizver- waltung zurückkehren. Aber auch andere Verhältnisse, auf die der Richter keinen Einfluß hat, wirken nachtheilig; so zum Beispiel das Mißverbältniß im Range der Justizbeamten, zu denen der Ver- waltungsbehörden. Der Verwaltungsbeamte steht bei gleiher Vor- bildung eine ganze Rangstufe über dem Justizbeamten und die Ver- waltung kann fih aus der Zahl der Affessoren die ihr passenden Kräfte nah Belieben auëwählen. Ih wollte aber das Haus auf eine andere Frage hinweisen: auf die bedingte Verurtheilung. Gegenüber der durch Abnahme der Sittlichkeit und NReligiosität immer mehr wachsenden Bevölkerung der Strafanstalten muß man zu der Meinung kommen, daß die S strafe ein Mittel zur Besserung niht in genügendem Maße ist. Für eine große Zahl von Verbrechern hat die Gefängnißstrafe nihts Abschreckendes und Entehrendes mehr, ja fie is für viele, je nah der Witterung, etwas Erwünschtes. Für eine andere Kategorie jedoch, die im Augenblick der Noth, der Erregung oder des Leichtsinns eine Strafthat begangen hat, ist die Gefängnißstrafe geeignet, das Ghrgefühl zu {wächen und die sittlihe Widerstandêëkraft zu lähmen. Oft is bei diesen son ordentlihen Leuten die erste Ge- fängnißftrafe der Beginn einer langen Verbrecherlaufbahn; ihnen joll durch die bedingte Verurtheilung der Weg zur Besserung erleihtert werden, indem man den Vollzug der Strafe auf drei oder fünf Jahre ausfeßt und die leßtere ganz erläßt, wenn der Verurtheilte innerbalb diefes Zeitraums keine neue Straf- that begeht. In England, Frankrei, Belgien und Luxemburg, wo die bedingte Verurtheilung eingeführt ift, fiat man die besten Er- fahrungen damit gemaht. Selbst in London beträgt die Zahl der Nückfälligen nah Einführung dieser Verurtheilung nur 5 9%/. Als Hauptbedenken maht man geltend, daß das Moment der Sühne, das in dem Strafvollzug liegt, bei der bedingten Verurtheilung fortfält. Das wäre rihtig, wenn man nur die körperliche Wirkung der Strafe, niht aber den moralischWen Druck durch die öffentlihe Verurtheilung in Betracht ziehi. Wenn man aber neben der Sühne auch die Besserung als Zweck der Strafe ansieht, fo wird diese durh die bedingte Verurtheilung gewiß besser erreiht. Das Begnadigungsrecht wird dur die bedingte Ver- urtheilung fkeineèwegs überflüssig gemacht, es bezieht sih auf ganz andere einzelne Fâlle. Wenn die Ober-Landesgerichts-Präsidenten und Ober-Staatsanwalte sih bei einer Umfrage früher gegen die Ein- rihtung ausgesprohen haben, so ift dies wohl darauf zurückzu- führen, daß die ersteren Beamten bei ihrem reiferen Alter Neuerungen abgeneigt sind, die leßteren aber als Organe des Strafvollzuges kein objektives Urtheil haben. Der Juristen- tag in Köln vom Jahre 1891, sowie eine Versammlung von Straf- anstaltsb-amten im Jahre 1894 haben si entschieden für die bedingte Verurtheilung ausgesprohen. Beide Male wurden die Nachtbeile und die Unwirksamkeit kurzzeitiger Gefängnißstrafen anerkannt. Es bedarf zur Einführung der bedingten Verurtheilung keines großen Geseßz- apparats, sondern nur der Einfügung eines Paragraphen. Zudem werden au finanzielle Vortheile dur die Reform erreit ; es werdcn jährlih Millionen gespart. Jch bitte den Herrn Minister, die Initiative für die bedingte Verurtheilung zu einem reichêgeseßlihen Borgehen zu ergreifen.

Justiz-Minister Schönstedt:

Meine Herren! Die von dem Herrn Abg. Roeren angeregte Frage, die ja an sih, wie er {hon in der Einleitung seines Vortrages be- merkte, dem Bereih der Neichsgesezgebung angehört, ift innerhalb der preußischen Justizverwaltung seit 1890 in derselben Lage geblieben. Mein Herr Amtsvorgänger hatte damals die in dem Vortrage er- wähnten Gutachten der Ober-Landesgerichts-Präsidenten und Ober-

| Staatsanwälte eingefordert, welche sich fast einstimmig ih glaube

daß | dieses Instituts in denjenigen Ländern fehle, die es bereits geseßlich

in häufig unerträglicher ;

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einzigen Stimme zur Zeit wenigstens der bedingten Verurtheilung er- flärten, und zwar aus einer Reihe von Gründen, die ja vom Herrn Vorredner angedeutet sind. Der wesentliße Grund war der, daß es noch an genügenden Erfahrungen über die Bewährung

mit Ausnahme einer gegen die Einführung

geregelt haben. Es war wohl kaum zulässig oder angezeigt, daß mein Amtsvorgänger sih an anderc Organe zur Erlangung dieser Gutaten wandte, als an die Ober-Landesgerichts-Präsidenten und Ober-Staats- anwalte, weil diese es doch sind, die diesen Fragen in der Praxis am nächsten stehen, die auch selbstverständlih ihre Gutachten nicht erstattet haben, ohne die ihnen unterstellten Landesgerihts-Präsidenten und Staatsanwalte darüber gehört zu haben. Jhre Gutachten drückten also zugleih die Meinung der überwiegenden Mehrheit der eben von mir genannten Beamten der ersten Instanz aus. Jch kann hinzuscten, daß auch der Herr Minister des Innern damals Veranlassung genommen hat, Gut- achten über dieselbe Frage von den Ober-Präsidenten, NRegierungs- Präsidenten und einer Anzahl hervorragender Strafanstalts-Direktoren einzuziehen, und daß nach Mittheilung des Herrn Ministers des

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Innern aus dem August 1891 auch diese Beamten überwiegender Mehrheit zur Zeit aus denselben Gründen, die für di, höheren Justizbeamten maßgebend waren, gegen die Einführung der bedingten Verurtheilung sih ausgesprochen haben. Auf demselben Standpunkt stand cin Kongreß der Gefängnißbeamten in Hamburg, wenn ich nit irre, im Jahre 1891. Richtig ift es, daß \päter ein in Köln abgehaltener Juristentag, dessen Mehrheit überwiegend aus rheinishen Juristen bestand, die vielleiht mehr, als es in anderen Provinzen der Fall sein würde, unter dem Eindruck der in Belgien gemahten Erfahrungen gestanden haben mögen, si mit überwiegender Mehrheit für die Einführung dieses Instituiz erklärt hat. Ob dasselbe der Fall gewesen if auf einem von Herrn Roeren erwähnten Kongreß der Gefängniß-Direktoren ist mir nihi bekannt. Wenn ih rihtig verstanden habe, hat die borî gefaßte Resolution sich mehr beschäftigt mit den Uebelständen unsere: kurzzeitigen Gefängnißstrafen, ohne direkt die Frage der bedingten Verurtheilung in den Bereich ihrer Resolution hineinzuziehen.

An und für \sih stehe ih dem Institut der bedingten Verurtheilung keineswegs grundsäßlich ablehnend gegenüber. Ich stimme au dey Herrn Abg. Roeren darin bei, daß es zur Einführung desfelben eines großen geseßgeberischen Apparats nicht bedürfen würde. Jh glaube daß, wenn auf ‘irgend einem verwandten Gebiet, z. B. dem Gebiet des Strafvollzugs oder der mehrfach angeregten Hinauéschiebung der Straf. mündigkeit jugendliher Personen, die Geseßgebung in Gang gesetzt würde, au eine eingehende, forgfältige Erwägung dieser Frage bej einer folhen Gelegenheit nicht umgangen werden könnte. Jch gebe au zu, daß die Zahlen, welche die belgishe Statistik ergiebt, etwas überaus Bestehendes haben, und gebe ferner zu, daß die Einführung der bedingten Verurtheilung für den Staat von sehr wesentlichem finanziellen Vortheil sein würde, insbesondere wenn angenommen werden Tönnte, daß in ähnlihem Umfang, wie es in Belgien geschieht, von der be, dingten Verurtheilung Gebrauch gemacht werden würde.

Ich bin troy alledem der Ansicht, daß wir den Schritt nit thun fönnen, ohne weitere Erfahrungen zu sammeln. Jh glaube, die bestehenden Zahlen, die in den Jahresberihten der belgischen Regierung an die Kammern si vorfinden, sind doch nicht maßgebend, wenn niht noch eine längere Probezeit abgewartet wird. Es if richtig, daß in Belgien nach der vorliegenden Statistik in sehr um: fassendem Maße von dieser Einrichtung seit Geltung des Gesetzes von 31. Mai 1888 Gebrauch gemacht ist. Während nah dem ersten V riht, der fih über die Zeit vom 1. Juni 1888 bis zum Ende 18 also auf 19 Monate erstreckt, von den Zuchtpolizeigerihten in 86 Fällen von dem Recht Gebrauh gemacht worden ist, \ind dies Zahlen in den folgenden Jahren gestiegen : 1890 alfo für 12 Monate jedenfalls eine Steigerung auf 7932, im Jahre 1891 auf 10357, im Jahre 1892 auf 15 719, im Jahre 1893 auf 16 122. Erhebliÿ größer waren die entsprehenden Zahlen bei den Polizeigerihten, und fie stellen sich für die angegebenen Jahre auf 4499, 6377, 10836, 21791 und zuleßt im. Jahre 1393 auf 30576. Die ll der Rückfälligen war nah dem ersten Jahresberiht eine vershwindend geringe. Als rückfällig waren damals für die Zuchtpolizeigerihte 192, für die Polizeigerihte nur 54 angegeben, Aber auch diese Zahlen sind seitdem ganz erheblih gewachsen ; sie be- trugen für die von den Korrektionalgerihten bedingt Verurtheilten 1890 : 283; 1891: 581; 1892: 1106; 1893: 1187 und bei den dur die Polizeigerihte Verurtheilten find fie gestiegen von 54 im ersten Jahre auf 461 im Jahre 1893.

Nun würde cs nach meiner Ansicht niht zutreffend sein, die sich hieraus ergebeneni Prozentzahlen in Vergleihung zu seßen mit den durch unsere Kriminalstatistik festgestellten Durchschnittszahlen der Rückfälligen überhaupt. Man müßte die Zahlen zu Grunde legen, die die gleihen Vergehen zum Gegenstand gehabt haben, insbesondere also die ganze Reihe von Gewohnheité- verbreden auss{ließen, bei denen von der Anwendung der bedingten Verurtheilung nicht die Nede sein kann. Jch bin überzeugt, daß unsere Statistik sich gaaz erheblih günstiger stellen und daß der Prozentsaz der Rückfälligen ganz erheblich niedriger sein würde, wenn wir eine Statistik hätten, die nur die Strafthaten zum Gege stande hâtte, die wesentlich in Betracht kommen für die Anwendu der bedingten Verurtheilung nah dem belgishen Gesetz.

Es würde außerdem nicht rihtig sein, die Zahlen der Vr urtbeilungen und der Nückfälligen desselben Jahrgangs mit einandt zu vergleichen. Die Nückfälligen des Jahres -1893 sind selbsk verständlich nicht diejenigen, deren frühere Verurtheilungen in da Jahr 1893 fallen, sondern fie gehören in ihrer überwiegenden Mehrheit ohne Zweifel den vorhergehenden Jahrgängen an. E müßte auh nach dieser Richtung hin eine Bergleihung vorgenommen werden, um darüber Klarheit zu fewinnen, welcher Prozentsaß von NRükfälligen auf die bedingt Verurtheilten jedes einzelnen Jahrgangé entfällt. Dafür fehlen zur Zeit die genügenden Grundlagen und deé halb würde ich Bedenken tragen, jeßt {hon der Frage näher zu treten. Die Frage hat im übrigen manche anderen Bedenken. Nicht mit Unrecht ist die Besorgniß ausgesprohen worden, daß gerade in unferer Zeit, wo vielfa die Autorität des Staats und der Behörden gt \chwächt erscheint, oder wo wenigstens das Ansehen vor der Autorität des Staats vielfah mangelt, ein Gese, welhes zur Folge haben würde, daß ein großer Theil \trafrehtliher Verurtheilungen nit zur Ausführung käme, geeignet sein könnte, zu einer weiteren Shwächung der ftaatlihen Autorität beizutragen.

Ein weiteres erheblihes Bedenken, was von dem Abg. Roercn nit zur Sprache gebraht worden is, aber auch {hon eine Rolle bei den früheren Gutachten gespielt hat, ist die Gefahr, daß die Ein- führung der bedingten Verurtheilung zu einer ganz ungleihmäßigen

Behandlung der Angeklagten führen würde. Es ist eben ledigli in das persönliche individuelle Ermessen des Richters oder des zuständigen Gerichts, für das sih irgend welche Richtschnur garnicht geben läßt, gestellt,ob von der Befugniß der bedingtenVerurtheilungGebrauch zu machen sei oder nit. Und wie außerordentlich vershieden die Auffassunge! der Gerichte sind, ergiebt auch die belgische Statistik,welche für dasIahr189! unter anderem feststelli, daß von 48 Friedensgerichten, deren Bezirke zum theil in den bevölfertsten Theilen Belgiens lagen, daß bo? 48 Friedensrihtern kein Gebrauh gemaŸht worden sei von der Be fugniß, eine bedingte Verurtheilung auszusprechen. Es läßt daé {ließen auf eine sehr ungleihmäßige Beurtheilung der in Betra! fommenden Fragen, und diese Wahrnehmung verdient doch au bel der Einführung eines solchen Instituts wesentlih mit in Betracht 9“ zogen zu werden, L

So liegt gegenwärtig die Sachlage für das preußische Justi

mit

. Jh wiederhole, daß ich keinesw:gs ablehnend dem Vorschlage gegenüberftehe und daß ih insbesondere es nit für aus- loffen halten würde, ihm näher zu treten, wenn es sich darum handelt, einer neuen [Regelung der Bestrafung jugendliher Verbrecher náher zu treten; denn für die Anwendung auf jugendliche Verbreter sprechen die Gründe, die für die Einführung überhaupt vorzubringen sind, in stärkerem Maße als für andere. Ob und wann es dazu fommen wird, darüber mich auszusprechen, bin ih nicht in der Lage. Ich möchte noch mit ein paar Worten auf den ersten Theil der Rede des Herrn Abg. Roeren einzugehen, nicht um zur Sache selbst zu sprechen, sondern nur um die Thatsache zu konstatieren, daß, was die Hebung des Ansehens und die soziale Stellung der Justizbeamten ins- besondere gegenüber anderen Verwaltungszweigen angeht, nein hochver- ehrter Herr Amtsvorgänger hierfür mit ebenso viel Wärme als Energie bei den verschiedensten Gelegenheiten, leider ohne Erfolg, eingetreten ist. Jh halte es für meine Pflicht, dies hier öffentlich zn fonftatieren; ich möchte aber aus der Erfolglosigkeit dieser Bemühungen zugleich die weitere Folgerung ziehen, daß nicht zu große Hoffnungen auf dae, was ih in der Beziehung werde thun können, geseßt werde. Vie freundlichen Bemerkungen des Herrn Abg. Roeren könnten möglicer- weise doch zu einer irrigen Auffassung bezüglih dessen, was hier überhaupt erreichbar ist und was mit einiger Aussicht auf Erfolg er- strebt werden kann, Anlaß geben, wogegen ich mi von vornherein im Interesse der Sache selbst verwahren möchte.

Abg. de Witt (Zentr.) wünscht eine Erhöhung des Anfangs- gehalts der Richter: fo könne man vielleiht am besten dem Jung- gejellenthum entgegenwirken, das im Richterstande in bedenklider Weise vorberrsche und den Beamten oft verstimmt und grieëgrämig mache. Die Hebung des Nichterstandes in seiner Rangstellung sei sehr u empfehlen. Was solle man sagen, wenn ein Landgerichts- Präsident für seine Amtsrichter ein obligatorisches Arbeitsbuch einführe, ein Tagebuch, in das die Richter Beginn und Schluß jedes Termins einzutragen haben und das dem Landgerihts-Präsidenten vor- zulegen sei? Der Präsident habe die Richter geradezu auf das Niveau eines Referendars herabgedrüdckt. Erst infolge der entstandenen Er- regung fei die Verfügung zurückgenommen worden. Ein anderer Prä- sident habe sich nach dem Vermögen der Richter nicht nur und den ihrer Frauen, fondern auch dana erkundigt, ob noch ein Erbonkel, oder eine Erbtante lebe. Es sei sogar verlangt worden, taß Unterbeamte fatholischen Glaubens \{chriftlich darum einfommen müßten, wenn sie an fatholishen Feiertagen ihrer firhlihen Pflicht genügen wollten, und das in einer Zeit des Kampfes für Sitte, Re- ligion und Eng, Die Nichter find auch viel zu stark mit mecha- nishem Schreibwerk belastet, das die Erledigung der Arbeiten ver- zögern müsse. Jm neuen Etat sei zwar eine Anzahl neuer Richter- stellen eingestellt, ihre Zahl werde aber noch nit ausreichen, um die Arbeit zu bewältigen. \

Abg. Kir ch (Zentr.) dankt dem Minister für seine Stellung

gegenüber der Frage der bedingten Verurtheilung. Weniger hätten iha die Bemerkungen des Ministers über die Autorität gefallen. Die Autorität des Gesetzes sei gesunken infolge des Kulturkampfes und der Maigeseße. -Redner befürwortet sodann die Vermehrung der Ober- Landesgerichtsbezirke. Bisher habe man zumeist den Grundsatz be- folgt, in jeder Provinz ein Ober-Landesgericht einzurichten; durchbrochen sei dieses Prinzip „aber in der Rheinprovinz. Es würde sich empfehlen, für bestimmte Wirthschaftsbezirke Ober-Landesgerichte ein- zuführen, wenn nicht jeßt, so mindestens beim Inkrafttreten des neuen Bivilgeseßbuchs. Für den niederrheinish-westfälishen Industriebezirk würde sich auch ein besonderes Ober-Landesgericht einzurihten em- pfeblen. Eine Aenderung der Zusammenseßung der Straffammern bei den Landgerihten sei nöthig und nur durchführbar, wenn die Zahl der Richterstellen vermehrt würde. Den Refe- rendarien müsse die Abnahme der Eidesleistungen niht weiter ge- stattet werden. Die Landrichter hätten jeßt auch zu wenig Zeit, ih der Aufgabe der Heranbildung der Referendarien zu widmen. Die Page der Eidesleistung sei eine hohwihtige. Bezüglich der Heilig- altung des Eides scheine die Novelle für die Strafgeseßgebung auch niht das Richtige getroffen zu haben. Wenn der &id nicht mehr in der Hauptyerhandlung abgenommen werde, fondern im Vorverfahren, so geshehe dies nicht in öffentliher Sißung, in Gegenwart der erag und der Vertheidiger; hierin liege die Gefahr für den eugen.

Justiz-Minister Schönstedt:

Der von dem Herrn Vorredner zuleßt erwähnte Vorgang ist mir idt bekannt; ih kann mich daher dazu niht äußern. Im übrigen bezogen sih die Bemerkungen des Herrn Abgeordneten zum größten Theil auf die dem Reichstag zur Berathung vorliegenden Gesetz- entwürfe, und ih glaube daher, mich an dieser Stelle einer Erklärung enthalten zu dürfen, da alle diese Fragen eine eingehende Er- örterung im Reichstag finden werden. (Sehr richtig! rets.) Daß die auf Grund der dem Reichstag vorliegenden Geset- entwürfe in Aussicht zu nehmenden Organisationen in dem vorliegenden Etat noch nicht haben zum Ausdruck kommen können, it s\elbstver- ständlih. Dicjenigen Organisationen, die mit der Einführung des Zivilgeseßbuchs ih als zweckmäßig erweisen möchten, wird ganz gewiß der Justiz-Minister, der dann am Ruder sein wird, zum Gegenstand eingehender Erwägungen machen.

Der Herr Abg. de Witt, dem zu antworten ih vorhin unterlassen habe, hat eine Bemerkung gemacht über Verfügungen, die im Aufsichts- wege erlassen seien. Jch bemerke dazu, daß ih in keiner Weise ein Freund kleinlicher Beaufsichtigung und kleinlicher Kontrole bin. Die von dem Herrn - Abg. de Witt erwähnte Verfügung bezüglih der Führung eines Arbeitsbuches dur die Amtsrichter sie war mir gänzlich unbekannt ist, wie gleichzeitig mitgetheilt wurde, bereits wteder aufgehoben worden. Wir können sie deshalb begraben sein lassen. Aufgehoben ist au, wie die Herren aus den Zeitungen wissen werden, eine vor kurzem erwähnte Verfügung cines Ober-Landes- gerichts-Präsidenten, die ein zu weitgehendes Eindringen in die privaten Vermögensverhältnisse der Richter bezweckte. Auch dabei können wir es wobl bewenden lassen. (Sehr richtig!)

Es ist dann erwähnt worden, daß. die Nichter, insbesondere die Amtsrichter, vielfa in übertriebenem Maß mit mechanischen Arbeiten beschäftigt seien. Auch in der Beziehung ist ein gewisses Maßkalten den Herren Präsidenten {on von meinem Herrn Amtsvorgänger empfohlen worden. Vollständig werden die Richter sich nicht von mecanishen Arbeiten befreien lassen fönnen. Diese so- genannten / mechanischen Arbeiten sind zum großen Theil solche, : die eine rihterlihe Thätigkeit bedingen und eine rihterlihe Verantwortlichkeit mit sih bringen. Es gilt dies gfeonbere auch von den Versäumnißurtheilen, Kostenfestseßzungen, fgereltbeshlüssen u. st. w. Ich stehe auf dem Standpunkt, daß ih es S durchaus zulässig halte, wenn auf diesem Gebiet durch Vor- dect igungen der Gerichtsschreiber, soweit diesen ihre übrigen Arbeiten Me Zeit lassen, den Richtern die Arbeit erleihtert wird voraus- E daß das nit dazu führt, daß das Gefühl der Verantwortlich- nit eer Nerson des Richters abgeschwäht wird, und daß die Richter

ohne weiteres alles unterschreiben, was ihnen vorgelegt wird.

Das ift eine Gefahr, die nicht zu untershäßen ist. Es ift mir niht felten vorgekommen, daß, wie cine Nachprüfung der von den Bureaubeamten entworfenen Arbeiten ergab, diese Arbeiten nur in sehr flühtiger Weise revidiert waren. Soweit eine sorgfältige Nach- prüfung dur die Richter geschieht und soweit den Bureaubeamten die Zeit zu diesen Dingen nicht fehlt, würde ih keineswegs dagegen En zu erinnern haben, daß sie zu solhen Arbeiten herangezogen werden.

Der Herr Abg. de Witt ist demnächst au noch auf die Frage der Stellung der Richter, insbesondere die Gehaltsfrage, eingegangen. Jh glaube, daß i am besten tkue, beute diese Frage nicht näber zu berühren. Das Streben ist bei mir vorhanden, auch in dieser Beziehung die Stellung der Richter zu verbessern; aber es entzieht sich vollständig meiner Beurtheilung, ob es mögli sein wird, dieser Bestrebung Erfolg zu verschaffen. Die Gelegenheit dazu würde si bieteu bei einer etwaigen Einführung des Systems der Alterszulagen für die Rihtergehälter. Der Versu wird dann voraussihtlih gemaht werden, für den Erfolg ann ih nit einstehen. An und für si erkenne ih vollständig an, daß das Anfangsgehalt unserer Richter erster Instanz nit den An- forderungen entspriht, die an ihre Lebenshaltung gemaht werden und die aus der Natur ihrer Stellung si von selbst ergeben. Wenn ich dadurch, daß ih eine Besserung der Gehälter für die Richter erreichte, mir nicht nur den Dank der Richter, sondern auch den der jungen Damen zu erwerben vermöhte, so würde mich dies besonders glüdcklih machen. (Bravo! und große Heiterkeit.)

Auf eine Anfrage des Abg. Dr. Lotichius (nl.) erklärt der

Justiz-Minister Schönstedt:

Der Entwurf eines Geseßzes über Einführung der Grundbuch- geseße in denjenigen Theilen der Provinz Hessen - Nassau, in denen sie bisher noch keine Geltung haben, is mit der Begründung fertig- gestellt; er befindet sich im Augenblick in der Kanzlei des Justiz- Ministeriums und wird demnächst dem Staats - Ministerium vorgelegt werden. Wir werden also voraussihtlich sehr bald Gelegenheit haben, L die Fragen, die Herr Dr. Lotichius angeregt hat, uns zu unter-

alten.

Abg. Dr. Klasiag (konf.): An den vielen Vertagungen von Pro- tragen nicht die Anwalte die Schuld, sondern die Bestimmungen der Zivilprozeßordnung. Das in ihr durhgeführte Prinziy der Mündlich- keit, das wir der Aera Lasker verdanken, hat völlig Schiffbruch gelitten. Bedeutende Juristen sind übereinstimmend der Ansicht, daß wir mit der Zivilprozeßordnung einen Rückschritt gegen das alte preußische Verfahren gethan haben. Der Frage der bedingten Verurtheilung darf man nur mit Vorsicht näher treten. Ein großer Uebelstand liegt in ter Zusammenseßung des Nichterstandes. Die angesehene, unabhängige, gesicherte Nichter\stellung hat es herbeigeführt, daß immer weitere Kreise s{ch dem Studium der Jurisprudenz widmen. Dadurch entsteht ein zu starkes Angebot, sodaß \{ließlich die anderen Verwaltungen, fo die Finanz-, die Eisenbahn- und Post- verwaltung ihre Beamten aus den Gerichts-Assessoren wählen. Sie gehen dabei von dem Grundfaß aus, möglichst nur diejenigen Assessoren zu nehmen, die ihr Examen mit „gut“ bestanden haben. Der Rest bleibt für die Justizverwaltung. Dadurch drängen sich gewisse Elemente in den NRichterftand, welche im Interesse des preußischen Staats fern- gehalten werden müßten. Durch diese Elemente wird das Ansehen des Richterstandes ges{chwäht. Verbesserung des Gehalts und der Rangstellung find nur äußere Mittel für die Erhaltung des Ansehens; das allein wirksame Mittel muß von innen herauskommen bei der Aus- wahl der Richter. Meine Ausführungen stehen im Eintlang mit der Verfassung. Diese sagt nicht, daß derjenige, der das Examen bestanden hat, das Ret habe, zum Richter ernannt zu werden, sondern nur, daß er dazu tauglich werde. Wenn die Justizverwaltung nur den Willen hat, fo wird sich Abhilfe shon schaffen lassen. Jn der praktischen Ausführung denke ih mir das fo, daß zwar jedermann zum juristischen Examen zugelassen, aber offiziell dem Irrthum entgegen- getreten werde, als ob das Examen ein Net auf Anstellung ge- währe, und daß man vielleicht zu Assessoren nur die ernenne, die man später als Richter anzustellen gedenke (Abg. Gothein ruft : Alfo nah Konnexionen !). Der in diesem Zwischenruf liegende Vorwurf richtet sih nicht gegen mich, fondern gegen den Herrn Justiz-Minister. Jch will die Anstellung niht nach Konnexionen regeln, fondern fo, wie es das Ansehen des Nichtersiandes und das Gesammtinteresse des preußishen Staats fordert.

Justiz-Minister Schönstedt :

Meine Herren! Der Herr Abg. Klasing hat eine der {wierigsten Fragen berührt, die für die Justizverwaltung bestehen, eine Frage, die fortgeseßt cine der ernstesten Sorgen der Justizverwaltung bildet. Ich kann die von ihm angeführte Thatsahe nur bestätigen, daß die Justizverwaltung \ich in einer sehr s\{chwierigen Lage befindet, indem sie in den Vorbereitungsdienst alle die- jenigen aufnehmen muß, die in irgend einem Zweige des Staats- dienstes später Versorgung zu finden hoffen, und naher, wenn es zur Anstellung kommt, niht mehr aus der Fülle des Materials die geeigneten Kräfte s{öpfen kann, weil ihr gerade ein großer Theil der besten und tüchtigsten Kräfte durh andere Verwaltungs- zweige entzogen wird. Es ist durchaus richtig, daß seit lange die Praxis besteht, daß alle anderen Verwaltungen ihren Bedarf an juristisch vorgebildeten Beamten nur aus den Kreisen der besten und tüchtigsten Neferendare und Affsessoren entnehmen und zwar die letztern, wenn mögli, nur aus folchen, die mit dem Prädikat „gut* die große Staatsprüfung bestanden haben, und daß daher für die Justiz- verwaltung eine große Zahl minderwerthiger Leute zurütbleibt.

Nun, meine Herren, ist es sehr leiht gesagt, daß demnächst die Justizverwaltung die Maschen des Siebes etwas enger ziehen müsse bei der Auswahl derjenigen Perfonen, die fie zur Anstellung bringen will. Jch theile vom verfassungsmäßigen Standpunkte aus die Anshauung des Herrn Abg. Klasing, daß das Bestehen des Examens einen Anspruch auf Anstellung im Staats- dienst nicht gewährt, und daß das Staatshoheitsreht, welches dem König verfassungsmäßig die Anstellung der Beamten vorbehält, nicht dur irgendwelhe Ausführungsgeseße in seiner Wirkung beschränkt worden ist. (Sehr richtig! rechts.) Aber, meine Herren, wenn Sie mich vor èie prafktische Auéführung des Satzes stellen, daß ein An- spruh auf Anstellung nicht besteht, dann möchte ih doch dringend bitten, daß dann gewisse Grundsäße und Richtshnuren auf- gestelt werden, die für die Justizverwaltung in diesem Punkt maßgebend sein sollen. Wenn das nicht der Fall ist, dann würde ih die Stellung des Justiz-Ministers für eine der undankbarsten halten, die es überhaupt giebt; denn gegen ihn würden allein sich die Vor- würfe rihten, wenn mit Reht oder mit Unreht zurücgesette Personen keine Verwendung finden, und er allein würde in die Lage kommen, sfolhe Zurückweisungen aussprechen zu müssen. Die Justizverwaltung wäre es allein, die vor der verantwortungsvollen Aufgabe stände, bei der zahlreihe Fehl- griffe unvermeidlich sein würden. Doppelt {wer würde die An- wendung eines folchen Grundsages sein gegenüber allen denjenigen,

die unter ganz anderen Voraussetzungen în den Staatsdienst einge- treten sind mit der nit unberechtigten Erwartung, daß an einer Praxis, die, mag sie verfassungsmäßig geboten sein oder niht, doch eine hundertjährige Dauer in Anspruch nehmen kann, festgehalten werde, daß somit jeder, der seine Befähigung zum höheren Justiz- dienst bewiesen hat, au eine gewisse Anwarkishaft auf Anstellung im Justizdienst hat. Es würde ja niht ausgeschlossen sein, der. Anregung des Herrn Klasing Folge zu geben und für die Folge es flar auszusprehen, wie ih es ausgesprohen babe, daß das Bestehen des Assessor-Examens einen Anspruch auf Anstellung im Staatsdienst nit gewährt. Aber unter solhem Grundsaß auch alle diejenigen [eiden zu laffen, die unter anderen Vorausseßungen in den Staats- dienst getreten sind, das ist cin Entschluß, für den ih die Verantwort- lihfeit nicht ohne weiteres glaube übernehmen zu können. Die Schwierigkeiten für die Justizverwaltung, die daraus entstehen, daß thr Elemente angehören, die weniger geeignet find zu einer Verweridung im höheren Richterdienst, und deren Verwendung vielleiht dazu bei- tragen kann, auch das Ansehen der Justiz nah außen hin zu beein- trähtigen diese Schwierigkeiten sucht man in der Praxis nah Möglichkeit zu überwinden. Wenn einer der Herren in der Lage ift, mir ein radifales Mittel anzugeben, welches ohne Verletzung be- rehtigter Erwartungen und Ansprüche im stande wäre, hier eine Abhilfe zu shaffen, so würde ih ihm dafür sehr dankbar sein; vor- läufig weiß ih kein folches Mittel.

Abg. Dr. Eckels (nl.): Das Resultat der von Herrn Kl gewünschten Praxis würde eine Ueberfüllung des Réecbibanraliftcntes sein. Vielleicht wäre es besser, die Zahl der zum ersten Examen zu- zulasfenden Juristen zu beshränken. Wenn si Herr Klafing gegen das mündliche Verfabren ausspriht, so wird er damit in den neuen Provinzen, ¿- B. in Hannover, kein Verständniß finden. Das Zivil- gefeßbuch könnte möglicherweise {hon im nächsten Jahre an den Neichstag kommen. Wie lange dort die Verhandlungen dauern werden, ift freilich nicht abzusehen. Für die Uebergangszeit aber wäre es gut, bestimmte Anweisungen für Anlage von Muündelgeldern zu geben.

Justiz-Minister Schönstedt:

Soweit mir bekannt ist, findet ein Dringen im Aufsichtswege auf die Amtsgerichte nicht statt, daß sie Mündelgelder bei den Spar- kassen nicht anlegen sollen; der Standpunkt der Justizderwaltung ist vielmehr, daß es dem einzelnen Amtsrich{ter überlassen wird, zu prüfen, ob die Anlegung von Mündelgeldern bei den Sparkassen nah dem bestehenden Recht zulässig ist oder niht. Darüber sind die Mei- nungen der Richter verschieden. Jh selbs stehe auf dem Stand- punkt, daß es nihcht zulässig sei; aber ich würde auf dem Aufsichtswege niht in der Lage sein, die abweichende Ansicht eines ¿Amtsrihters zu forrigieren, sondern es würde das lediglih dem Beshwerdeweg und der Entscheidung der höheren In- stanzen überlassen bleiben. Deshalb glaube ih, daß die Befürchtung des Herrn Abg. Dr. Eckels, daß in besonders rigoroser Weise ver- fahren wurde gegenüber folhen Sparkassen, die auf soliden Grund-. lagen stehen, niht begründet ist. Im übrigen meine ich mich zu erinnern, daß vor kurzem der Herr Finanz-Minister von dieser Stelle aus auf die großen Verschiedenheiten in der Organisation, dem Ge- schäftsbetrieb und in der soliden Unterlage der Sparkassen hin- gewiesen hat, die es bedenklich machen, alle Sparkassen unter denselben Gesichtspunkt zu bringen. Es wird sich empfehlen, \sih auf den Standpunkt des Entwurfs des Bürgerlichen Geseßbuchs zu stellen, daß eine Prüfung stattzufinden hat in Bezug auf die Gewähr, die eine Sparkasse im Einzelfalle bietet. Auf diesem Standpunkt werden voraussichtlih au in Zukunft die geseßgebenden Faktoren stehen, die ih demnächst mit dieser Frage zu beschäftigen haben werden.

Abg. Dr. Lohmann (nl.) erklärt sich mit der Antwort des Fustiz- Ministers gegenüber den Ausführungen des Abg. Klasing Ae : Herr Klasing hätte den Weg angeben follen, wie er sih die Rein- baltung des Nichterstandes von unpassenden Elementen denke. Fn Bezug auf die Ueberlastung der Richter stimme er Herrn Klasing bei; es werde nöthig werden, die Richterstellen zu vermehren. Er bitte ferner, die Hinterlegung8ordnung zu revidieren und damit die zur Revision des Zivilprozesses eingeseßte Kommission zu betrauen.

_ Geheimer Dber-Justiz-Rath Vier haus erwidert: der Justiz- Minister sei bereit, fich zu dem Zweck mit den Reichsbehörden ins Einvernehmen zu seßen.

Abg. Parisius (fr. Volksp.): Ich halte unsere jeßige Zivil- prozeßordnung auch nicht für die beste. Jhre Einführung is aber nicht auf Lasker zurückzuführen, vielmehr auf eine Vereinigun hannoverscher und rheinländisher Abgeordneten. Den Herren Miquel, Windthorst und dem damaligen Justiz-Minister Leonhardt ist die neue Zivilprozeßordnung cher zuzuschreiben als Lasker. Was die Zahl der Nichter anbetrifft, so würden für Berlin nach der Einwohnerzahl 166 Amtsrichter nöthig sein; es waren bis jeßt 140, 8 sind in dem neuen Etat vorgesehen, es fehlen also immer noch 18. Unsere Genossenschafts- geseßgebung vom 1. Mai 1889 verlangt Revision der Geschäftsführung der Genossenschaften durch einen vom Nichter bestallten Sachverstän- digen, soweit die Genossenschaften nicht NRevisionsverbänden angehören. Ich möchte um cine Zusammenstellung der Genossenschaften bitten, die diesen Verbänden angehören und welche außerhalb derselben stehen, wie ih auch um Mittheilung darüber bitten möchte, welchen Ver- bänden das Recht der selbständigen Revisionen verliehen ist. Es ist auch wohl infolge der Ueberlastung der Registerrihter vorgekommen, daß Genossenschaften eingetragen wurden, deren Eintragung als nit berehtigt hätte verweigert werden müssen. Es fehlt an einem gang- baren Wege, richtig eingetragene Genossenschaften aus dem Genossen- schaftsregister herauszubringen.

__ Geheimer Ober-Justiz-Rath Vierhaus: Die Frage, wie nichtig eingetragene Genossenshaften aus dem Genossenschaftsregister ge- strichen werden können, ift bereits von der Justizverwaltung in Be- trat gezogen worden, und es wird mit den Reichsbehörden darüber eine Verständigung gesucht. Eine Aufstellung der Genossenschaften zu veranlassen, die dên Revisionsverbänden angehören, is seitens der großen Verbände noch nicht angeregt worden. Die Justiz- verwaltung könnte derartige Bestimmungen auch niht allein trefen, sondern müßte erst mit dem Bundesrath in Verbindung treten. Auch wäre damit eine große Arbeitslast für die Amtsgerichte verbunden. Ende 1893 hatten wir hon über 4000 Genossenschaften, und die Zahl derselben wächst unausgesetzt. Was die Zahl der Amts- richter in Berlin anbetrifft, so glaubt die Justizverwaltung den rih- tigen Weg eingeschlagen zu haben. Es sind nämlich die Richter felbst über das Maß ihrer Arbeitskraft gefragt worden ; daraus hat g er- eben, daß ihre Zahl ausreiht. Bis jeßt waren allerdings noh 17 ilfsrichter thätig, in dem neuen Etat sind 8 dieser Stellen mit etats- mbg Richtern beseßt.

bg. von Schalscha (Zentr.): Jh gebe Herrn Klasing Recht, daß man die Qualifikation zum Richterstande beahten muß. Aber nicht auf die Vornehmheit der Familie kommt es an, sondern auf die Nechtschaffenheit. Wenn ein Assessor einer Familie angehört, in der vielleiht bis zum Großvater hinauf s{chon intensiv gewuchert worden ist und er soll dann die Wuchergefeße anwenden, da würden doh wunderbare Dinge herauskommen. Worauf ih speziell hinweisen wollte, das ist die Art und Weise, wie die Zwangsvollstreckung in Land- güter erfolgt. Ein Landgut im Winter bei Frost und Schnee zu versteigern, ist ungefähr dasselbe, wie ein Oelgemälde im Dunkeln zu verkaufen. Es ist das eine besondere Härte gegen den Mann, der